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Ulrich Woelk: Total

Ulrich Woelk

Total

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Robert Rauschenberg Sub-Total (Aus der Serie: Stoned Moon) 1971 Lithografie 20,4 cm x 32 cm

Vielleicht käme es manchen übertrieben vor, zehntausend Kilometer zurückzulegen, um eine totale Sonnenfinsternis zu erleben, aber es ist auf keinen Fall übertrieben, am Tag der Finsternis achtzig Meilen zu fahren, um ins Zentrum des Kernschattens zu gelangen. »Wir hätten hier doch neunundneunzig Prozent«, hat meine Tochter beim Frühstück moniert. Sie sitzt auf dem Rücksitz des Wagens und döst. Natürlich erscheint ihr die knapp zweistündige Fahrt unnötig. Neunundneunzig oder hundert Prozent Sonnenbedeckung – sie fragt sich, wo da der Unterschied liegen soll. »Er ist gewaltig«, habe ich ihr erklärt. »Bei einer Sonnenfinsternis verdeckt der Mond die Sonne und sein Schatten zieht über die Erdoberfläche«, ich war mir nicht sicher, ob ihr dieser Zusammenhang wirklich klar war, obwohl sie – hoffte ich jedenfalls – das in der Schule gehabt haben musste, »und die Frage ist, ob du im Schatten bist oder draußen. Draußen ist es immer noch hell, auch direkt am Rand. Dunkel ist es erst im Schatten. Und da am besten im Zentrum.«

Wir fahren auf dem Highway 85 nach Osten. Unser Ziel ist Clemson, eine kleine Universitätsstadt an der Grenze zwischen Georgia und South Carolina. Ich habe mich kundig gemacht: Auf dem Weg des Mondschattens liegt Clemson perfekt in der Totalität.

Während wir schweigend über den Beton des ziemlich monotonen Highways rollen, erinnere ich mich – nicht verwunderlich, angesichts des bevorstehenden Ereignisses – an meine Mond- und Weltraumbegeisterung als Junge. (Zugegeben, es schmerzt mich ein wenig, dass meine Tochter dieses Interesse von mir nicht geerbt hat.) Ich war neun Jahre alt, als die Amerikaner auf dem Mond gelandet sind. Am Steuer sitzend denke ich wieder an die vielen Sondersendungen im Fernsehen, die damals liefen: das »Apollo-

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Wenn ich darüber nachdenke, habe ich am Erfolg der Apollomission eigentlich nie gezweifelt. Ich hatte damals ein ziemlich unerschütterliches Vertrauen in die technischen Fähigkeiten der Amerikaner, und offenbar brennen sich solche kindlichen Überzeugungen sehr tief ein, stelle ich gerade fest. Deswegen wundere ich mich jetzt, als wir Ausfahrt um Ausfahrt hinter uns lassen, dass so viele dunkelgraue Gummireste von zerfetzten, offenbar geplatzten Autoreifen zu beiden Seiten (oder auch auf) der Straße herumliegen.

Von deutschen Autobahnen kenne ich das nicht, und ich frage mich allen Ernstes, ob in Amerika Reifen schlampiger gefertigt werden oder ob dafür minderwertiger, billiger Gummi verwendet wird. Es scheint mir jedenfalls ein Widerspruch darin zu liegen, zum Mond geflogen zu sein und Autoreifen herzustellen, die offenbar allenthalben platzen. Aber wahrscheinlich ist das Unsinn. Wahrscheinlich gibt es einen ganz gewöhnlichen Grund für die vielen Reifenreste.

Wie auch immer, mein USA-Bild ist damals, zu Mondlandezeiten, geprägt worden, und eine gewisse Grundsympathie für dieses Land hat sich über alle Realitätschecks der vergangenen fast fünf – unfassbar, ich verdränge die Zahl sofort wieder – Jahrzehnte erhalten. Jedenfalls habe ich den Eindruck, dass meine fiebrige Aufregung bei meiner ersten USA-Reise – da war ich sechzehn und also ungefähr im Alter meiner Tochter – sich recht deutlich von der Teenager-Gelangweiltheit unterscheidet, mit der diese sich zumeist durch die Straßen schiebt. (Das stimmt aber auch nicht ganz, denn bei der Ankunft in New York vor zwei Wochen war sie sehr euphorisch. Sie meinte: »Wow, genau wie in Gossip Girl!«)

Die Ankündigungsschilder der Rastplätze mit ihren Subway- und Taco-Bell-Schnellrestaurants ziehen im Rhythmus der Ausfahrten vorüber. Nach einer guten Stunde biegen wir vom Highway auf die Route 76. Die Universität von Clemson hat einen botanischen Garten, der, wie in den USA üblich, mindestens hundertmal so groß ist wie europäische botanische Gärten. Im Grunde ist es ein riesiger Park, und als wir dort ankommen, stellt sich, wenig überraschend, heraus, dass man praktischerweise mit dem

Auto hineinfahren kann. Das tun wir. Wir suchen uns einen Platz auf einer leichten Anhöhe und packen unser Picknick aus.

Bis zur totalen Verfinsterung bleiben uns noch etwa anderthalb Stunden. In den Spezialbrillen schiebt sich die Mondscheibe blassgrau vor die milchig weiß leuchtende Sonne. Und ganz so, wie ich es vorausgesagt habe, wird es dabei in der ersten Stunde kein bisschen dunkler, obwohl die Sonnenscheibe irgendwann schon zu zwei Dritteln bedeckt ist. Wenn man es nicht wüsste, würde man hier unten nichts davon bemerken. Erst eine Viertelstunde vor der Totalität ändert sich das Licht allmählich. Es ist nach wie vor hell, aber jetzt eher so wie kurz vor Sonnenuntergang, obwohl die Sonne hoch am Himmel steht. Und fünf Minuten vor der Bedeckung habe ich das Gefühl, auf einer perfekt ausgeleuchteten Theaterbühne zu stehen – aber immer noch keine Spur von Finsternis im Wortsinne.

Doch dann geschieht es: Innerhalb von Sekunden wird der Himmel dunkelblau und die leuchtende Sonne zu einer kreisrunden, pechschwarzen Scheibe, umgeben vom schwachen Schimmern der Korona. Die Grillen fangen an zu zirpen wie in der Nacht, und über das Gelände des botanischen Gartens tönen Applaus und entzückte Ausrufe. Wir sind, wie wir dadurch erfahren, nicht allein hier. Zusammen mit anderen feiern wir ein ergreifendes kosmisches Fest. Zweieinhalb Minuten lang sind wir in einer anderen Realität, einer, in der uns das Weltall, das Universum ganz nah ist.

Und dann ist der Zauber vorbei. So schnell, wie es dunkel wurde, wird es wieder hell. Bereits die winzigste Lücke zwischen Mond- und Sonnenscheibe reicht dafür aus, das Licht kehrt zurück. Und auch das wird von uns und dem unsichtbaren Publikum in unserer Nähe mit Applaus und Jubel begrüßt. Es ist wunderbar, dass die Sonne uns wieder leuchtet – vor allem jetzt, da es ist, als hätten wir das Geheimnis dahinter entdeckt.

Als ich meine Tochter in diesem Moment ansehe, hat sie Tränen in den Augen (wie ich). Das macht mich glücklich. Etwas hat sie also doch von mir.

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Robert Rauschenberg

Der Künstler Robert Rauschenberg, geboren 1925 in Port Arthur, Texas, ist mit seinem vielschichtigen Werk keiner Stilrichtung zuzuordnen. Vielmehr überschritt er bewusst Grenzen der etablierten Kunstrichtungen und gilt als ein Wegbereiter der Pop Art. Er war hauptsächlich Maler, Grafiker und Fotograf, inszenierte aber auch Choreografien, arbeitete als Tänzer und entwarf Bühnenbilder und Kostüme. Berühmt ist seine Werkserie der »Combine Paintings« – Assemblagen aus abstrakten Gemälden und darauf befestigten dreidimensionalen Gegenständen sowie Fotografien, Postkarten und Grafiken. Im Jahr 2008 verstarb er auf Captiva Island, Florida. Ulrich Woelk

Der Autor Ulrich Woelk, geboren 1960, wuchs in Köln auf und studierte Physik und Philosophie in Tübingen. Er arbeitete bis 1995 als Astrophysiker an der TU Berlin. Seitdem ist er freier Schriftsteller. 1990 erschien sein Debütroman »Freigang« im S. Fischer Verlag. Es folgten viele weitere Romane, Theaterstücke und Essays, die in diverse Sprachen übersetzt wurden. Sein Roman »Der Sommer meiner Mutter« war für den Deutschen Buchpreis 2019 nominiert. Ulrich Woelk wurde für sein Werk u.a. mit dem aspekte-Literaturpreis, dem Thomas-Valentin-Preis und dem AlfredDöblin-Preis ausgezeichnet.

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