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Einleitung
Ausgangslage: Ein Standort unter Druck
Eine leistungsfähige und nutzerfreundliche öffentliche Verwaltung ist nicht nur eine Frage von Komfort und Service für Bürgerinnen und Bürger. Für Unternehmen ist sie die unverzichtbare Voraussetzung für internationale Wettbewerbsfähigkeit und damit entscheidend für Standortentscheidungen im internationalen Wettbewerb.
Zuletzt hat dieser Standortfaktor immer weiter an Bedeutung gewonnen. Denn die deutsche Industrie – egal ob börsennotierter Konzern oder mittelständisches Familienunternehmen – erlebt aktuell den umfassendsten Strukturwandel seit Jahrzehnten. Die notwendigen Klimaschutzanstrengungen zwingen zu einer anderen Energieversorgung und weniger CO2-Verbrauch, unterbrochene Lieferketten und Fachkräftemangel erschweren eine dauerhaft verlässliche Produktion, die Digitalisierung erfordert völlig neue Prozesse und Produkte und die Elektromobilität führt zu fundamentalen Veränderungen in deutschen Schlüsselbranchen.
Gute Rahmenbedingungen sind entscheidend dafür, dass diese immensen Herausforderungen von Unternehmen zugleich als Chancen genutzt werden können. Deshalb ist die Erhaltung unseres gesellschaftlichen Wohlstandes mittelfristig nur möglich, wenn sich Unternehmen auf eine leistungsfähige, sichere, einfache und serviceorientierte Verwaltung verlassen können.
Deutschland verfügt über eine äußerst leistungsfähige öffentliche Verwaltung, die im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit, Sachkompetenz und Verlässlichkeit ohne Zweifel zu den Weltmarktführern zählt. Mit motivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern arbeitet sie weitestgehend frei von Korruption und in normalen Zeiten erwartbar und gründlich.
Demgegenüber steht zum einen jedoch eine nur schwach ausgeprägte Nutzerfreundlichkeit und Veränderungsfähigkeit. Leistungen werden zu selten aus Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer geplant und viel zu häufig auf Grundlage verwaltungsinterner oder politischer Belange, was sowohl Bürgerinnen und Bürger als auch Unternehmen betrifft. Letztere jedoch mit besonderer Stärke, denn mit rund 200 Behördenkontakten pro Jahr sind Unternehmen „Poweruser“ der öffentlichen Verwaltung. Zum anderen hat sich die Digitalisierung behördlicher Prozesse nicht annähernd im selben Tempo entwickelt, mit dem sie in anderen Lebensbereichen bereits Einzug gehalten hat. Wie schleppend die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung hierzulande voran kommt, zeigt auch der Vergleich mit anderen Ländern, wie zum Beispiel im „Digital Economy and Society Index“. Unternehmen sehen sich in Deutschland weiterhin langwierigen, aufwendigen und papiergebundenen Verfahren gegenüber.
Digital Economy and Society Index
Der Digital Economy and Society Index (DESI) der Europäischen Kommission analysiert jährlich die digitale Leistungsfähigkeit aller EU-Mitgliedsstaaten. Untersucht werden die fünf Dimensionen Konnektivität, Humankapital, Nutzung von Internetdiensten, Integration digitaler Technologien und Digitale öffentliche Dienstleistungen. 2020 belegte Deutschland insgesamt Platz 12 von damals 28 EU-Ländern. Betrachtet man jedoch die für dieses Papier maßgebliche fünfte Dimension, zeigt sich ein anderes Bild. Im Bereich E-Government landet Deutschland mit Platz 21 abgeschlagen auf einem der hinteren Ränge. DESI zeigt für Deutschland also ein großes Verbesserungspotenzial, das hierzulande jedoch nur unzureichend genutzt wird – insbesondere im Vergleich zu anderen EU-Ländern: Seit 2017 ist Deutschland um vier Plätze abgestiegen.
Die öffentliche Verwaltung muss in ihren historisch gewachsenen, häufig auch von inneren Zielkonflikten geprägten und wenig auf Kooperation angelegten Strukturen Antworten auf zunehmend dynamische und komplexe Zusammenhänge in Wirtschaft und Gesellschaft finden. Diese Antworten münden für Unternehmen meist nicht in mehr Effizienz, Effektivität und Geschwindigkeit, sondern in einer höheren Regelungsdichte und zusätzlicher Bürokratie. Trotz vielfacher Bestrebungen zur Reduktion unnötiger Bürokratie1 haben die Belastungen seit 2011 zugenommen, wie der Jahresbericht des Normenkontrollrates für das Jahr 2020 zeigt. Fast drei Viertel dieser zusätzlichen Belastungen entfielen auf die Wirtschaft. Die skizzierten Herausforderungen zu bewältigen und unternehmerische Kernaufgaben innovativ zu erfüllen, wird dadurch
immer schwieriger. Die bei der Digitalisierung beobachtete Innovations- und Transformationsschwäche der öffentlichen Verwaltung manifestiert sich unter anderem auch in der unzureichenden Umsetzung der Energiewende, der zögerlichen Bekämpfung der Klimakrise oder der dürftigen Umsetzung von Homeschooling während in der Corona-Pandemie.
2022 online umgesetzt werden müssen, sind bisher . nur wenige deutschlandweit verfügbar. Die hohe inhaltliche Sachkompetenz im öffentlichen Dienst geht noch zu selten mit ähnlich starken Kompetenzen in den Bereichen Prozessteuerung, Projektsteuerung, Transformationsmanagement und entsprechender Möglichkeiten der Digitalisierung einher.
Besonders relevant werden diese Schwächen auch mit Blick auf die demografische Entwicklung. Etwa 1,3 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Sektors werden bis 2030 in Pension oder Rente gehen. Das Bundesverwaltungsamt beispielsweise wird in den nächsten acht Jahren fast 40 Prozent seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlieren. Um diese Entwicklung abzufedern, wird die öffentliche Verwaltung nicht nur neues Personal gewinnen, sondern auch ihre Arbeitsweise anpassen müssen. Vor dem Hintergrund des großen Vertrauens von Bevölkerung und Unternehmen in die öffentliche Verwaltung, der hohen Sachkompetenz ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie der Innovationskraft des Standortes Deutschland gibt es allen Grund, mit Zuversicht auf die anstehende Transformation zu blicken. Entscheidend für ihren Erfolg sind der Gestaltungswille, die Verantwortungsübernahme und die Entscheidungsbereitschaft der Politik.
Damit die öffentliche Verwaltung in Deutschland – in Ballungsgebieten genauso wie in ländlichen Regionen – leistungsfähig bleibt, muss sie kooperativer, agiler und digitaler werden. Dafür sind umgehend gewaltige Kraftanstrengungen nötig, die gleichzeitig eine einmalige Chance zur Bewältigung der enormen Herausforderungen unserer Gegenwart bieten.
Was wir mit diesem Impulspapier erreichen wollen
Damit diese umfassende Transformation gelingt, braucht es vor allem einen starken politischen Willen zur Veränderung („Tone at the Top“), eine zielgerichtete Umsetzung mit Erfolgskontrolle und die ständige Bereitschaft umzusteuern sowie einen klaren Blick auf die relevantesten Probleme:
.Es fehlen passende Strukturen, um schnell und zielgerichtet auf neue
Rahmenbedingungen und ressort. übergreifende Herausforderungen zu reagieren. Die Prozesse der administrativen Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen, sowie auch innerhalb derselben Verwaltungsebene, sind teils ineffizient und erschweren innovative Ansätze . sowie die Umsetzung von Gesetzen. Für Gesetze fehlen in der Regel klar formulierte und messbare Ziele und Prüfsteine, um ihre Wirksamkeit . regelmäßig prüfen zu können. Die Digitalisierung kommt trotz großer Kraftanstrengungen nicht schnell genug voran. Von den 575 Verfahren, die laut Onlinezugangsgesetz (OZG) bis Ende
Angesichts des erkennbar hohen Problembewusstseins in der aktuellen politischen Debatte und der anstehenden Bundestagswahl besteht die einmalige Gelegenheit, jetzt die Weichen für die Zukunft zu stellen. Zur Sicherung des Standortes Deutschland und des Wohlstandes muss die öffentliche Verwaltung 4,1 Mrd. Euro besser werden. Dazu müssen die richtigen Ideen mit der nötigen Ambition und klarer Zuständigkeit verknüpft werden. Dieses Papier greift aus der Perspektive Mehrbelastung durch der Industrie bestehende Vorschläge zu Bürokratie sind für Reformen der öffentlichen Verwaltung Unternehmen in auf, gibt neue Anregungen und will Mut machen, die nötigen VeränderunDeutschland seit 2011 gen jetzt beherzt anzugehen – und zwar hinzugekommen. als Chefinnensache bzw. Chefsache der künftigen politischen Führung unseres Landes. Ziel ist es, die Verwaltung durch entschlossene Strukturreformen zu befähigen, die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft effektiv zu unterstützen. Alle in diesem Impulspapier genannten Maßnahmen zielen deshalb darauf ab, die bestehenden Stärken und die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung zu erhalten und ihr Innovations- und Transformationsfähigkeit auszubauen.
Der BDI-Expertenrat Moderner Staat
Der Bundesverband der Deutschen Industrie e. V. (BDI) hat einen prominent besetzten Expertenrat Moderner Staat initiiert, um Politik und Verwaltung bei der Bewältigung der anstehenden Transformationsherausforderungen beratend zu unterstützen und den Anliegen der Wirtschaft eine Stimme in der öffentlichen Diskussion zu verleihen.
Mitglieder
.Prof. Dr. Gerhard Hammerschmid,Professor für . . Public and Financial Management, Hertie School Dr. Matthias Heiden, CFO, Software AG Dr. Gunther Kegel, Präsident, ZVEI | CEO, . Pepperl+Fuchs Dr. Martin Klein, General Manager Public Services . . Industries, SAP Christa Koenen, CIO/CDO, DB Schenker Frank Mattern, Geschäftsführer, Frank Mattern . Advisory and Investments Iris Plöger, Mitglied der Hauptgeschäftsführung, . BDI Stefan Schaible, Global Managing Partner, Roland . . Berger Dr. Jochen Schmitz, CFO, Siemens Healthineers Dorothea Störr-Ritter, Mitglied, Nationaler Normenkontrollrat | Landrätin, Landkreis . Breisgau-Hochschwarzwald Dr. h. c. Frank-Jürgen Weise, Vorsitzender des Vorstands, Gemeinnützige Hertie-Stiftung
Vorgehensweise und Aufbau
Es existieren zahlreiche Vorschläge, wie die öffentliche Verwaltung in Deutschland verbessert werden sollte.2 Der Expertenrat hat unter anderem diese Vorschläge als Basis genommen und darauf aufbauend das vorliegende Impulspapier entwickelt.
Bei den in diesem Papier vorgeschlagenen Maßnahmen zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltung Deutschlands wurde insbesondere Wert darauf gelegt, der neuen Bundesregierung konkrete Vorschläge zur Umsetzung in den ersten 100 Amtstagen bzw. innerhalb der Legislaturperiode zu unterbreiten. Alle Vorschläge sind nach Meinung des BDI-Expertenrates Moderner Staat zeitnah umsetzbar und stehen vor dem Hintergrund der knappen Ressourcen der öffentlichen Hand in einem eindeutig positiven Kosten-Nutzen-Verhältnis.
Das vorliegende Papier gliedert sich in sechs Themenkomplexe
. . . . . . Strukturen auf Bundesebene Zusammenarbeit der föderalen Ebenen Gesetzesvorbereitung und Rechtsetzung Verfahren und Prozesse Innovations- und Transformationsmanagement Kompetenzen und Fähigkeiten
Nach einer Statusanalyse wird jeweils ein Zielbild definiert für dessen Verwirklichung abschließend konkrete Handlungsmaßnahmen empfohlen werden. Diese werden, wo möglich, unterschieden in Maßnahmen, die die neue Bundesregierung in den ersten 100 Tagen anpacken sollte und Maßnahmen, die sie innerhalb ihrer regulären Amtszeit bis Ende 2025 umsetzen sollte.
2 . Unter anderem folgende Dokumente wurden berücksichtigt: Nationaler Normenkontrollrat (2021). Leistungsfähige Verwaltung – . . Zukunftsfester Staat. Nationaler Normenkontrollrat (2021). Monitor Digitale Verwaltung #5. Nationaler Normenkontrollrat (2020): JAHRESBERICHT 2020 des . . Nationalen Normenkontrollrates. Nationaler Normenkontrollrat (2019). Erst der Inhalt, dann die Paragrafen. Nationaler Normenkontrollrat (2017). Mehr Leistung für Bürger und . Unternehmen: Verwaltung digitalisieren. Register modernisieren. Heilmann, T. und Schön, N (2020). NEUSTAAT: Politik und Staat müssen sich ändern. 64 Abgeordnete & Experten fangen bei sich selbst an – mit 103 Vorschlägen. FBV. . Dresdner Forderungen für die digitale Verwaltung von morgen. Vorgestellt beim Fachkongress des IT-Planungsrats im März 2021. Abgerufen am 18.08.2021 unter https://www.it-planungsrat.de/fileadmin/itplanungsrat/der-it-planungsrat/fachkongress/fachkongress_2021/Tag_2_ . Kommunaleverwaltung_weiterdenken.pdf. Ausgewählte Positionen politischer Parteien, darunter die Wahlprogramme zur Bundestagswahl 2021 von CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD,
FDP und Die Linke.