Serie
Dienstag, 14. August 2018
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Gelebte Nächstenliebe in Rossau Sommerserie «Eintauchen» (9): Martin Platter besucht die Lebens- und Glaubensgemeinschaft Güetli Eintauchen in eine Gemeinschaft, die nach christlich-abendländischem Glauben zusammenlebt und diesen auch praktiziert. Ebenso wie die Nächstenliebe, die jedem gilt und Menschen in schwierigen Lebenssituationen unbürokratische, niederschwellige Unterstützung bietet. ................................................... von martin platter Vor ein paar Wochen hat das Rossauer Güetli sein 50-jähriges Bestehen gefeiert. Gegründet wurde die Gemeinschaft in einer Zeit, in der sich die Gesellschaft aufmachte, um sich zu liberalisieren. Fünf junge Leute, alle unter 30, entschieden sich mit dem Einzug auf den Rossauer Gutshof bewusst für einen gemeinschaftlichen Lebensentwurf. Inspiriert von der Geschichte des jungen Lehrers Albert Gossweiler, der dank seinem Glauben an Gott und Bibelstudium aus tiefster Depression herausgefunden hatte. Dies machte Gossweiler auch seinen Mitmenschen zugänglich. Nebenberuflich beriet er Ratsuchende, baute Gebets- und Bibelkreise nach dem Vorbild landeskirchlicher Gemeinschaften auf, gründete 1961 den Verein Schweizerische Glaubensmission und ein erstes Begegnungszentrum auf dem Hasliberg. Das damalige Jugendzentrum Güetli wurde 1968 das zweite. Doch was ist das Güetli? Ist der Begriff «Institution» zutreffend? Die Antwort von Güetli-Leiter Emanuel Lippuner, dessen Vater 1968 einer der fünf Mitbegründer und erster Leiter in Rossau war: «Wir versuchen den institutionellen Charakter so gering wie möglich zu halten. «Institution» klingt unpersönlich, kalt und unnahbar. Also genau so, wie wir eben nicht sein wollen. Wir nennen uns ‹Lebenshaus›.»
Zwischenmenschlich barrierefrei Das Eintauchen in dieses Lebenshaus geschieht zwischenmenschlich barrierefrei. Niemand wollte mich im Güetli je bekehren. Ich mag die freundlichen Menschen, die friedliche Atmosphäre und die offene Gesprächskultur. Über Weltliches, aber auch über Religion und Glaube, die in unserer Gesellschaft auf dem Rückzug sind – und dabei viele Menschen rat- und vielleicht auch haltlos zurücklassen. Das Gros in unserer Gesellschaft lebt nach der Prämisse des Kapitalismus: Alles muss sich rechnen, alles muss sich lohnen,
Das Lebenshaus Güetli mit seinen freundlichen Bewohnern aus allen Alters- und vielseitigen Interessengruppen. (Bilder Martin Platter) Gewinnoptimierung und Eigennutz als höchste Ziele. Über die Auswüchse lesen wir tagtäglich in den Medien. Das Güetli kann sich den marktwirtschaftlichen Mechanismen zwar nicht völlig entziehen. Finanzielle Unabhängigkeit bedeutet Selbstbestimmung. Lippuner sagt dazu aber: «Es ist wichtig, dass wir unsere Lebenshaltungskosten selber erwirtschaften und zur Natur Sorge tragen. Es geht dabei aber nicht primär darum, Arbeitsprozesse um jeden Preis zu rationalisieren und den Gewinn zu maximieren. Wir leben und wirken nach sozialdiakonischem Prinzip. Bei uns steht der Mensch im Kontext mit dem Wort Gottes im Mittelpunkt. Wir sind wie eine Seilschaft in den Bergen. Je besser die Seilschaft funktioniert, desto grös-
Cornelia und Emanuel Lippuner haben sich im Güetli kennengelernt und sind das Leiterpaar des Lebenshauses.
seren Herausforderungen kann sie sich stellen.» Das Güetli trage auch Leute, die weniger wirtschafts- und gemeinschaftskompatibel sind. Menschen, die bewusst im Güetli leben, um nicht zu vereinsamen oder den Tritt im Leben wieder finden wollen. «Gemeinschaft kann auch Stress bedeuten. Man muss einander aushalten», schlägt Lippuner den Bogen zum starken Kollektiv.
Paulus: «Wer nicht arbeitet, soll auch nichts essen» «Wir orientieren uns am Apostel Paulus, der als Zeltmacher gearbeitet hat. Er sagte einst: Wer nicht arbeitet, soll auch nichts essen.» Klingt radikal. Und weiter? «Wir machen keine Spendenaufrufe für unsere guten Zwecke. Wir machen auch keine Schulden, beispielsweise zum Bauen.» Das sei eines der Grundprinzipien, so Lippuner. Damit das Güetli selbstbestimmt existieren kann, wurden verschiedene Erwerbszweige eingerichtet: Holz- und Waldwirtschaft, eine Gärtnerei mit Zierpflanzen, Gemüse- und Obstproduktion, Ackerbau, Nutztierhaltung, die Verarbeitung der Erzeugnisse zu Lebensmitteln und deren Verkauf auf dem Markt und im hauseigenen Hofladen in Rossau. Dazu das Gästehaus, das aber nicht als Erwerbszweig gilt, sondern als Dienstleistung. «Wir sind wie eine Grossfamilie. Prinzipiell kann jeder für eine gewisse Zeit zu uns kommen, der bereit ist, sich in unsere Gemeinschaft einzufügen», sagt Emanuel. Der Tagesablauf beginnt für die meisten um 7 Uhr mit dem Morgenessen und einem kurzen Wort aus der Bibel. Dann gehts an die Arbeit, die von einer 10-Uhr-Pause unterbrochen ist. Um 12.15 Uhr gibts Mittagessen. Die Mittagszeit dauert je nach Arbeitsbereich meist bis 13 oder 14 Uhr, Zvieripause, um 18 Uhr gibts Znacht. Abends werden individuelle Interessen
und Pflichten wahrgenommen: Feuerwehr, Telefonseelsorge, Hausandacht, Spielgruppen usw. Die Mitglieder arbeiten gemäss ihren Ausbildungen, Begabungen oder Vorlieben für einen geringen Bedarfslohn. Das Güetli übernimmt alle Versicherungs- und Sozialleistungen sowie Kost und Logis.
Ohne staatliche Unterstützung «Das Selbstwertgefühl zu stärken durch wertgeschätzte Arbeit ist uns ein zentrales Anliegen», erläutert Emanuel. «Durch einfache, naturnahe Beschäftigungen können wir viele Leute abholen, die Schwierigkeiten haben: Jugendliche in der Lehrvorbereitung, Jobtraining für jene, die sich in der regulären Arbeitswelt nicht (mehr) zurechtfinden, bei psychischen Problemen wie Burnouts. Unsere Dankbarkeit für die geleistete Arbeit ist die Wertschätzung gegenüber dem Menschen.» Leute, die ein Problem haben, würden weder stigmatisiert noch schubladisiert. «Bei uns sind alle Praktikanten. Wir erwarten ein hohes Mass an Selbstverantwortung, sonst passt unser weitgesteckter Rahmen nicht.» Man verzichte auf eine straffe Führung bei der Begleitung der Praktikanten, ebenso wie auf psychologisches oder psychiatrisches Fachpersonal. Bei Bedarf würden jedoch Fachstellen beziehungsweise Fachpersonen konsultiert. Das helfe, dass das Lebenshaus ohne staatliche Unterstützung auskomme. «Unsere Motivation ist in erster Linie christliche Nächstenliebe. Wir schenken den Menschen unser Vertrauen, versuchen die Leute bei der Ehre zu packen und bieten dafür relativ grosse Freiheiten und ein normales Leben in der Gemeinschaft», erklärt Lippuner das Betreuungskonzept. Gibt es auch Strafen? «Was immer schiefgeht, wir leben nach dem Gebot der Vergebung. Wir sehen diese Situationen als einen Prüfstein, als eine Bewährungsprobe.» Man könne so
allerdings nicht eine x-beliebige Zahl Menschen in schwierigen Lebenssituationen aufnehmen. Es brauche eine intakte Balance, damit auch die weniger Stabilen von der Gemeinschaft mitgetragen werden können – eben so, wie in der Seilschaft. Längst haben sich ähnliche Zentren nach dem Muster Gossweilers im süddeutschen Raum, in der Slowakei und mit der Mission am Nil auch in Afrika gebildet. Das Güetli zählt mit seinen 35 Mitarbeitern plus Kindern und Jugendlichen zu den grösseren und wird bald noch Zuwachs erhalten. An der Rossauerstrasse entsteht in einer alten Scheune neuer Wohnraum für Menschen, die sich in einer vorübergehenden Notlage befinden. «Eine Art Nachbarschaftshilfe», ergänzt Emanuel. «Wir wollen dass das, was wir leben, weitergetragen wird.»
«Eintauchen» Die Sommerserie hat Tradition beim «Anzeiger» Diesmal steht sie unter dem Motto «Eintauchen». Das Thema lässt vieles offen: Eintauchen kann man in eine fremde Szene, in einen Verein oder eine Religionsgruppe, in eine andere Rolle, Lebenshaltung oder eine neue Aktivität. Sie als Leser dürfen sich überraschen lassen – bis Mitte August in jedem «Anzeiger» aufs Neue. (tst.) Bereits erschienen: Mit Spass zum Wohlbefinden, 17. Juli; Leben hinter Schloss und Riegel, 20. Juli; Auf den Spuren von Quellnymphen, Gletschern und den Uerzliker Böcken, 24. Juli; Sandy von der Zürichstrasse 82, 27. Juli; Eine wohltuende Auszeit, 31. Juli; Jeder kann seine eigene Weltmacht sein, 3. August; Im «Heilbrunnen von Wängibad», 7. August; Rezeptionsjob auf dem Naturisten-Camping, 10. August.