2017 01 Asphalt Poetry Spezial

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Spezial · 2,20 Euro

Poetry


GRUSSWORT

Liebe Leserinnen und Leser, Asphalt ist seit über 20 Jahren das führende Straßenmagazin in Hannover und Niedersachsen – einmalig, stadtbildprägend und in hohem Maße sozial anerkannt. Ich freue mich besonders, hiermit zur Sonderausgabe von Asphalt gratulieren zu können. Die Sammlung vereint größtenteils noch unveröffentlichte Beiträge von Autorinnen und Autoren, die die literarische Szene hier und jetzt prägen – Hannover vom Feinsten. Darunter Wolfram Hänel, Hartmut El Kurdi, Tobias Kunze, Kersten Flenter, Ninia LaGrande und viele Andere. Hannover hat sich zu einer Hochburg der Lesebühnen entwickelt. Diese Entwicklung wird in 2017 mit der in Hannover stattfindenden deutschsprachigen PoetrySlam-Meisterschaft einen Höhepunkt erfahren. Mit dem Sammelband von Asphalt wird nicht nur das kulturelle Profil Hannovers unterstrichen, auch die Arbeit von Asphalt und der Einsatz der Verkäuferinnen und Verkäufer erreicht hiermit eine noch größere Öffentlichkeit. Dazu möchte die Landeshauptstadt Hannover beitragen und fördert durch das Kulturbüro die Lesebühne im Januar 2017, die zugunsten von Asphalt stattfindet. Für die Initiative bedanke ich mich beim Team von Asphalt und hoffe, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, so viel Freude an diesem Band haben wie ich.

Ihr

Harald Härke

Kulturdezernent der Landeshauptstadt Hannover


»Die im Dunkeln sieht man nicht«, lautete der Arbeitstitel. Rund 4.000 Zeichen. Einzige Klammer: »Beginnt mit ›Neulich‹!« Ansonsten: »Schreibt was und wie ihr wollt, ihr seid die Künstler.« Das war die Verabredung im Sommer 2015 mit der Poetry Slam- und Lesebühnen­ szene in Hannover und Oldenburg. Dabei herausgekommen sind 13 Autoren­­texte erster Güte, Monat für Monat veröffentlicht in Asphalt. Von Dezember 2015 bis Dezember 2016. Ganz unterschiedlich in Gattung, Stil und Tempo. Ein Projekt, denn naturgemäß schließen sich Journalismus und Literatur aus. Wahr, präzise, verifizierbar muss das eine sein. Wortgewandt, dicht und mit emotionaler Resonanz das andere. Doch die Mischung hat funktioniert. »Eine Bereicherung jedes einzelnen Heftes«, das haben viele Asphalt-Leserinnen und -Leser in den vergangenen Monaten immer wieder zurückgemeldet. Im Grunde politisches Feuilleton, Schlaglichter auf Zeitgeschehen. Alle 13 Autorentexte haben wir deshalb zum Abschluss der Reihe hier in einer Sammlung zusammengefasst. Und somit so etwas wie ein Klassentreffen der Literatenszene des Landes veranstaltet. Ein Tipp, liebe Leserinnen und Leser: Lesen Sie die Texte – zumindest sich selbst – laut vor. Denn sie wollen gehört und nicht nur gesehen werden. So wie auf den Slam- und Literaturbühnen des Landes, wo die meisten von ihnen entstanden sind. Unser ausdrücklicher Dank geht an Johannes Weigel von der hannoverschen Lesebühne Nachtbarden, ohne dessen Netzwerkeinsatz die Reihe und letztlich auch dieses Heft nie zustande gekommen wären.

Volker Macke

Leiter der Redaktion

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EDITORIAL

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Strozeck, Schmierek,

Klackler und ich

Von Wolfram Hänel

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am Klingerplatz habe ich Strozeck wiedergetroffen. Es war kalt und regnete, aber das schien Strozeck nicht zu stören. Er saß auf einer Bank, hatte den Arm in Gips und starrte auf die lächerliche Werbefigur, die die Stadt in einer Art kollektiver geistiger Umnachtung zur Expo 2000 »erfunden« hatte. Obwohl ich Strozeck zugenickt und grüßend die Hand gehoben habe, hat er mich nicht erkannt. Wir waren zusammen auf der Volksschule am Rehmer Feld. Nicht weit davon entfernt gab es ein Lebensmittellager, da sind wir manchmal über die Mauer geklettert und haben die Ratten beobachtet. Oben auf der Mauer waren Glasscherben, weshalb Strozeck immer Schiss hatte, dass er sich die Hose zerreißt. Aber sonst war er ganz in Ordnung, und sein Großvater hatte eine Pistole, noch aus dem Ersten Weltkrieg, die haben wir heimlich geholt und dann hat Strozeck damit auf die Ratten geschossen. Als einer kam, hat er die Pistole schnell ins Gebüsch geworfen und wir sind abgehauen. Nur Klackler war nicht schnell genug, da haben sie ihn erwischt, aber er hat dichtgehalten und nichts gesagt.

Schmierek gehörte auch dazu. Er war ziemlich dick, konnte aber trotzdem ganz gut rennen und kannte ein paar fiese Tricks. Sich mit dem Griff von einem kaputten Regenschirm von hinten an einen anschleichen und ihm zwischen den Beinen hindurch in die Eier hauen und solche Sachen. Und Schmierek hatte ein Glasauge! Einmal waren wir auf dem Garagendach, und als wir runtergesprungen sind, ist das Glasauge rausgefallen. Wir haben es ewig gesucht, aber es war weg. Zwei Tage später hatte Schmierek ein neues, allerdings in blau, obwohl sein richtiges Auge braun war. »Braun hatten sie gerade nicht mehr«, hat Schmierek gesagt. Meistens hatte Strozeck die besten Ideen von uns, zum Beispiel das Stoppelfeld anzuzünden. Und als die tote Katze im Graben lag, hat er gesagt, dass wir sie mitnehmen sollen, also haben wir sie am Schwanz bis zur Schule geschleppt und auf den Lehrertisch gelegt. Allerdings hat Klackler dann plötzlich in den Papierkorb gekotzt, und das mit dem Stoppelfeld hatten sie inzwischen auch rausgekriegt, weshalb Strozeck von der Schule fliegen sollte. Ist er aber nicht, erst später. Da waren wir schon auf der Leibnizschule, Strozeck und ich, sogar in derselben Klasse. Die Leibnizschule war eine gymnasiale Lehranstalt für Knaben, und gleich am ersten Tag hat mir Frau Dr. B. eine gescheuert, weil ich auf dem Gang gerannt war,


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Foto: Wikimedia Commons

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Foto: Harald Koch

und das war verboten. Auf der Leibnizschule haben wir auch Das war das letzte Mal, dass ich Strozeck gesehen gelernt, dass der Russe grundsätzlich in den Keller kackt, weil habe. Bis zu diesem Tag am Klingerplatz, als er den er keine Klos kennt. Und dass die Neger vor allem Milchpul- Arm in Gips hatte und mich nicht erkannt hat. Aber ver brauchen. In Erdkunde hat der Lehrer Strozeck mal einen als ich vorgestern noch mal mit der Straßenbahn Schlag auf den Hinterkopf verpasst, so dass er mit dem Gesicht vorbeigefahren bin, war die dämliche Expo-Figur auf die Tischplatte geknallt ist. »Wenn du gerade gesessen hät- plötzlich verschwunden. Und ich bin mir ziemlich test, wäre das nicht passiert«, hat er dazu gesagt. Und auf der sicher, dass Strozeck was damit zu tun hatte. Klassenfahrt in die Berge hat ein anderer Lehrer einen Regelkatalog aufgestellt, was verboten war und was nicht. Dann hat er selber gegen eine der Regeln verstoßen und von uns verlangt, dass wir ihn mit Schlägen auf den nackten Hintern bestrafen. Klackler hat später eine Lehre bei Petermax Müller angefangen, und Schmierek ist aufs Internat gegangen. Was Strozeck gemacht hat, weiß ich nicht mehr. Aber einmal sind wir Wolfram Hänel (59), mehrfach noch alle zusammen ins Lister Bad gefahren. Da war das ausgezeichneteter Schriftstel­ Nichtschwimmerbecken noch mit einer Spundwand vom Mitler aus Hannover, hat bisher tellandkanal abgeteilt, und als Strozeck getaucht ist, hat er an die 100 Romane, Kinder ­ angeblich eine aufgequollene Wasserleiche vorüber treiben bücher und Theaterstücke sehen. Deshalb sind wir dann auch lieber in die Stadt gefahren veröffentlicht. Zuletzt »Haar­ und haben am Steintor in der »Rauhen Mütze« Bratwürstchen manns Erbe«, Krimi, zu Klam­ gegessen. Und Strozeck hat für alle bezahlt! Dass die Würstpen-Verlag, sowie »Unterm chen aus Pferdefleisch waren, wussten wir nicht. Schwanz und ümme Ecke«, Stadtbuch, Gmeiner-Verlag.


Neulich war gestern noch heute Von Annika Blanke

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las ich im Internet einen interessanten Satz. Ein Blogger merkte an, dass das englische Wort »war« – also »Krieg« – im Deutschen eine Vergangenheitsform ist. Das gefiel ihm. Und ich lese das und ertappe mich, wie ich denke: »Ja – aber was ist mit »Ich KRIEGE dich?«

Da draußen … ist Chaos vor unseren Fenstern. Auf meinem Balkon … streiten sich die Meisen um die verbliebenen Körner im schlaff herunter hängenden, neongrünen Kunststoffgef lecht und da draußen … ist Chaos. Es herrscht nicht. Es tobt nicht. Es ist. In meinem Supermarkt … gibt es neuerdings Spendenkisten für Lebensmittel, jemand hat mit Edding »Aber bitte nur für Deutsche!« drauf gekritzelt, bisher hat niemand den Stift oder den Mut gehabt, es zu übermalen, und da draußen … ist Chaos. Es herrscht nicht. Es tobt nicht. Es ist. In meiner Schule … geht morgens die Tür auf und Kinder kommen herein, verängstigt von zu viel anders und verlassen von allen guten Geistern, denn die dürfen sie nur bis zur Tür bringen, hin-

eingehen müssen sie alleine, 24 Augenpaare begutachten ein neues und dann vergleichen wir die Hausaufgaben. In der Pause … spielen zwei neue Beine mit zwanzig anderen Fußball und ich muss an den immer wieder heraufbeschworenen Spruch von Politik und Sportartikelindustrie denken, der besagt, dass sowohl die Musik als auch der Sport nur eine gemeinsame Sprache kennt, und dann stelle ich mir kurz eine Welt vor, in der alle Menschen nur noch entweder Musik machen oder Fußball spielen, und dann denke ich, dass ich das ganz schön doof fände, denn ich beherrsche weder ein Instrument noch kann ich singen, und dass ich zudem in der Grundschule in den Pausen immer dann ins Tor gestellt wurde, wenn beide Mannschaften so richtig Bock hatten, zweistellig zu spielen! Und dann frage ich mich, ob das immer so sein muss, dass eine Seite zu verlieren hat, und dann denke ich, dass das doch ziemlich ungerecht ist und dass es sowieso viel zu viele Menschen auf der Welt gibt, die gar nichts mehr zu verlieren HABEN, und da draußen … ist immer noch Chaos. Es herrscht nicht. Es tobt nicht. Es ist. Lautlos. Und ich weiß, wovon ich schweige. Ich weiß aber auch, dass unsere Lautlosigkeit lauter sein kann als alle gebrüllten Parolen zusammen.


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Foto: Renata Sedmakova/fotolia

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Und ich lese nochmal Probe (ob’s verständlich ist und rockt). Natürlich ist der Text nicht neu, doch viele haben’s verbockt und die müssen es nochmal hören, finde ich und du doch auch. Wir sind nicht allein, doch das zu wissen wird gebraucht, denn sonst fühlen wir uns wie … Greg: von Idioten umzingelt. Rechtes Gedankengut ist Dreck, »Gedankenschlecht« sollte es heißen und der Newsalarm, der klingelt. Und da steht mein Satz geschrieben. Kurz genug ist er für Twitter, für manch’ Gemüter viel zu groß: »Du, Mensch auf der Straße: Wenn sie dir sagen, dass ein anderer Mensch weniger wert ist als du, dann gibt es nur eins: Sag nein!« Und da draußen … bleibt das Chaos. Es herrscht nicht. Es tobt nicht. Es ist. Und bleibt. Schlimm.

Annika Blanke, geboren 1984 im ostfriesischen Leer, ist Wortakrobatin und Leh­ rerin für Deutsch und Eng­ lisch. Seit 2007 regelmäßig auf verschiedensten Büh­ nen von Westrhauderfehn bis Wien und von Norder­ ney bis New York City. Mal große Festivalbühnen, mal Schulen, mal die Buchmes­ sen, mal das Opernhaus Hannover. Foto: Matthias Stehr

Und verwechselt unser Schweigen nicht mit »Mir doch egal!« Wir sind nicht ohne Meinung, denn das wär’ uns zu banal! Unser stiller Protest …  … gleicht dem berühmten Manifest: Sie sind immer noch hier, Wolfgang, da draußen … vor der Tür. Du schriebst vor fast schon siebzig Jahr’n so inbrünstig dagegen an und doch sind sie noch HIER! Und Kollege Kästner hat geschaffen mit Stiften statt mit Waffen, schrieb gegen so viel Dummheit an für uns, die immer selben Affen …  … und ich sitz’ an meinem Fenster, ess’ ne Banane, denke nach. Nehme Block und Stift und Mut zusammen für den, ders Schweigen brach, und es schreibt sich aufs Papier, erst nur ein Wort. Dann zwei. Dann drei. Es klingt nicht schön gereimt und etwas holprig ist’s dabei.


Wir haben es wirklich nicht leicht Von Kersten Flenter

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denkt sich Bülent Mittelschmidt, man schulz! Sie könnten ja auch reich sein wie Dr. Überdruck, dann muss ja sehen wo man bleibt, und tritt ein Prakti- wären Sie wirklich arm dran. Misst Krankenpf leger-im-Praktikum Mittelschmidt bei kum als ambulanter Krankenpfleger an. Misst Krankenpfleger Mittelschmidt bei Rent- Arzt-im-Ruhestand Dr. Überdruck den Blutdruck. Sagt Dr. ner Meierschulz den Blutdruck. Sagt Meierschulz, Überdruck, ich habe es auch nicht leicht. Liegt mein Geld in ich bin jetzt 68 und habe eine Rente von 750 Euro, der Schweiz, werde ich verpetzt, liegt mein Geld auf der Bank, damit zähle ich zu den Armen im Lande. Über ist es nix mehr wert, liegt mein Geld im Schrank, kommen mir wohnt Dr. Überdruck, der hat die Wohnung die Osteuropäer mit dem Enkeltrick, zahle ich Steuern, kriegekauft von dem Mann mit dem russisch klingen- gen die Armen Geld und strengen sich nicht mehr an, dass es den Namen, der das Haus gekauft hat, und ist jetzt ihnen besser geht, die soziale Hängematte, Sie verstehen, das 80, also der Dr. Überdruck, nicht der Mann mit dem kann ich doch nicht unterstützen; park ich meinen Audi Q7 vor russisch klingenden Namen. Da er mit 80,9 Jahren dem Haus, zünden sie ihn an, stell ich ihn in die Garage, sieht stirbt, also der Dr. Überdruck, und meine Lebens- ihn ja keiner, und außerdem passt ein Q7 in keine Lindener erwartung um elf Jahre geringer ist als seine, bin ich Garage, ich hab es wirklich nicht leicht, sagt Dr. Überdruck. Sagt Mittel­s chmidt, Demenz mal, Dr. Überdruck, Ihr Blutbald dran. Sagt Mittelschmidt zu Meierschulz, Armut ist druck ist bei 360 zu 240, kann es sein, dass Sie sich aufregen? relativ, denn es könnte schlimmer kommen, Sie Sagt Dr. Überdruck, Wer sind Sie? Sagt Mittelschmidt, Ich bin haben immerhin noch eine Wohnung. Sagt Meier- dein Enkel, erkennst du mich nicht mehr? Sagt Dr. Überdruck, schulz, Na klar, und auch als Obdachloser hätte ich ich will spazieren gehen, ich bin noch nicht tot. Sagt Mittelnoch Glück, denn ich könnte ja auch ein Obdach- schmidt, Sie müssen sich ausruhen, Dr. Überdruck, legen Sie loser in Indonesien sein. Sagt Mittelschmidt, Und sich doch noch ein wenig in die soziale Hängematte, genieselbst dann hätten Sie noch Glück, denn Sie könn- ßen Sie Ihre Steuergeschenke. Sagt Dr. Überdruck, von Genuss ten ja auch … Ach, jetzt reicht es aber, Herr Meier- kann keine Rede sein, es ist anstrengend, zu kontrollieren, ob


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Foto: lenetsnikolai/Fotolia

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weil, ich möchte vom Leben nur, dass es mich mit schönen Augenblicken entlohnt. Da kann ich es mir leisten, ein Arschloch sitzen zu lassen, sagt Mittelschmidt, und geht hinaus in einen sonnigen Tag.

Kersten Flenter, 1966 geboren in Hannover, seit vielen Jahren rastlos textender Ruhepol im turbu­ lenten Linden. Zuletzt erschienen der Erzählband »Wir sind nicht für die Wirklichkeit gemacht, ­sondern für die Liebe«, Mutma­ ßungen über in die Jahre gekommene Männer. Sowie die Textsammlung »Bevor du mich schön trinkst«, zeit­ gemäße Tresen­lieder. Man kann Flenter natürlich auch zuhören. Foto: Angela Wulf

das Geld auch richtig arbeitet. Sagt Mittelschmidt, Geld arbeitet aber nicht, Dr. Überdruck, oder haben Sie schon mal einen Hunderteuroschein schwitzen sehen? Deshalb macht Geld reich. Arm ist, wer arbeiten muss, auch das ist jetzt bewiesen. Gibt selbst die Bundesregierung zu. Sagt Dr. Überdruck, Die hab ich nicht gewählt. Sagt Mittelschmidt, Die hat niemand gewählt und keiner gewollt, die Reichen nicht und erst recht nicht die Armen. Sagt Dr. Überdruck, Helfen Sie mir jetzt aufs Klo, Mittelschmidt, und Mittelschmidt tut es. Sagt Dr. Überdruck weiter, ich habe schon -zig Regierungen unter mir rumschwurbeln sehen, am Ende müssen wir alle selbst sehen, wo wir bleiben. Ich kann mir Medikamente leisten und Zahnersatz, Wellnesswochenenden und Nahrung ohne Krebserreger, und wenn doch mal was schiefgeht, hab ich meine Anwälte. Der eine fährt SUV, der andere wird von einem überfahren, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sagt Mittelschmidt, es ist schön, dass wir darüber gesprochen haben, Dr. Überdruck, aber jetzt gehe ich, denn ich arbeite nicht für Arschlöcher. Sagt Dr. Überdruck, aber Sie können mich doch nicht hier auf dem Klo sitzen lassen, ich bezahle schließlich Ihre Firma für Ihre Dienste. Auch für die Dienste an meinem Arschloch! Sagt Mittelschmidt, bevor er geht: Aber Dr. Überdruck, Ihre Bezahlung hat doch gar keinen Wert für mich,


Frau Rammstedt N E U L I C H

stand Frau Rammstedt an der Straßenecke, an der vor zehn Jahren eine Frau auf dem Fahrrad umgefahren wurde. Frau Rammstedt kannte die Frau gar nicht und hatte von dem Unfall auch nur in der Zeitung gelesen. Trotzdem war sie noch am gleichen Tag, als der Artikel erschienen war, an die Ecke spaziert und hatte dort einen Blumenstrauß abgelegt. Frau Rammstedt war nicht die erste, die an der Straßenecke um die ihr unbekannte Frau trauerte. Vor ihr mussten schon andere Menschen dagewesen sein, die kleine Abschiedsbriefe und ebenfalls Blumen niedergelegt hatten. Frau Rammstedt las sich alle Briefe durch. Die Verfasser mussten Menschen gewesen sein, die die Frau kannten. Sie schrieben sehr emotionale und private Worte. Frau Ramm­ stedt sog die Sätze ein. Danach fühlte sie sich schon ein bisschen besser. Es war nämlich so, dass Frau Rammstedt sich manchmal durstig fühlte. Aber dann half kein Wasser und kein Kaffee. Frau Rammstedt halfen nur Gefühle. Aber wo sollte Frau Rammstedt Gefühle herbekommen? Man geht ja nicht einfach in den Supermarkt

Von Ninia LaGrande

und kauft sich ein paar Gefühle ein. Ab und zu denkt Frau Rammstedt, dass das eine schöne Lösung wäre. Ein Gefühlssupermarkt. Sie würde dann so einmal die Woche dorthin spazieren und ihre Gefühlsreserven auffüllen. Es würde in dem Supermarkt natürlich nicht nur positive Gefühle geben. Manchmal brauchte man auch negative Gefühle, um die positiven überhaupt wieder schätzen zu können. Frau Rammstedt mochte Gefühle. Aber sie hatte niemanden, mit dem sie diese Gefühle austauschen konnte. Deshalb las Frau Rammstedt so gern. Sie las gern die Zeitung, vor allem die Anzeigen. Die Todesanzeigen, die Heiratsannoncen, die Geburtsanzeigen, die Gratulationen zur Einschulung, Silberhochzeit oder zum 50. Geburtstag. Die schönsten Anzeigen schnitt Frau Rammstedt aus und klebte sie in ein Album. An manchen Tagen, immer dann, wenn es in der Zeitung nichts besonders Gefühliges zu verkünden gab, immer dann kochte Frau Rammstedt sich einen Kaffee und nahm sich das Album zur Hand. Sie blätterte es durch und versank in die schwarzauf-vergilbtem-Zeitungspapier festgehaltenen Gefühle. Eine Weile hatte Frau Rammstedt versucht, Freunde zu finden. Sie wusste, dass aus zufälligen Begegnungen manchmal richtig dicke Freundschaften wachsen konnte. Da sie selten zufällig jemandem begegnete, stellte sie einen Klappstuhl hin-


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Foto: Julija Sapic /123rf

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gesammelt und zuhause ihr Album damit verziert. Manchmal ging Frau Rammstedt auch zu den Beerdigungen völlig fremder Leute, nur um im Anschluss die Angehörigen zu umarmen und ihnen zuzuflüstern, wie leid ihr das alles täte. Wenn sie in solchen Momenten zurückumarmt wurde, dann war Frau Rammstedt eine ganze Woche lang richtig glücklich. Zuhause kochte Frau Rammstedt sich dann wieder einen Kaffee, las ihr Album und wartete auf weitere Ereignisse.

Ninia Binias alias Ninia LaGrande, geboren 1983, lebt als Mode­ ratorin, Autorin und Poetry-Slammerin in Hannover. Seit 2015 moderiert sie ihre eigenen Style-Fernsehformate bei RTL. Für Aktion Mensch ist sie Testimonial der neuen Glücksloskampagne. Im August 2014 ist ihr Erzählband »Und ganz, ganz viele Doofe!« im Blaulicht-Verlag erschie­ nen. Seit 2008 bloggt sie unter ninialag­ rande.de. Außerdem ist sie ein gefragter Gast bei Konferenzen und Podiumsdis­ kussionen zu den Themen Feminismus, Inklusion und Social Media.

Alexandra Reszczynski

ter ihre Haustür und lauschte tagelang dem Geschehen im Treppenhaus. Immer, wenn sie hörte, wie gerade jemand die Treppe rauf oder runter ging, öffnete sie mit einer gefüllten Mülltüte wie zufällig ihre Tür und rief: »Ach, Frau Bodendecker!« Oder: »Ach, Herr Ponsken!« Je nachdem, wer ihr nun gerade begegnete. Frau Bodendecker oder Herr Ponsken oder eben jemand anders waren immer sehr kurz angebunden, weil sie selbst den Müll wegbringen oder einkaufen oder zu einem Arzttermin mussten und so ergaben sich nur ganz kurze Gespräche, die in Frau Rammstedt noch nicht einmal die Oberfläche eines Gefühls ankratzten. Deshalb ließ Frau Rammstedt diese Maßnahme sein und verlegte sich lieber auf öffentlich angekündigte Gefühlsversammlungen. So spazierte sie ab und zu an eben jener Straßenecke vorbei, an der die Frau auf dem Fahrrad gestorben war. Oder sie stellte sich einen Tag lang in die Nähe des Standesamtes und beobachtete mit respektvollem Abstand all die glücklichen Paare, die aus der Tür traten und sich gratulieren ließen. Einmal hat Frau Rammstedt nach einer Trauung einige Blütenblätter ein-


Der Tütenmann

Von Johannes Weigel

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fuhr ich mit Paul mit der S-Bahn in die indem er sich langsam und missmutig an den Reißverschluss Stadt, umsteigen. Paul ist sieben Jahre, alt genug seines Parkas fasste. Nun ist es so, dass mit einer Monatsum vorauszugehen und sich einen Platz seiner Wahl karte des Großraumverkehrs Hannover, wie ich sie aus meiauszusuchen. Die beiden prall gefüllten Pfandfla- nem Portemonnaie zog, am Wochenende drei Kinder und schentüten bemerkte er nicht, für den Unterschied ein Erwachsener mitfahren können. Allerdings nur, wenn sie zwischen gewöhnlichem Müll und wertvollem zusammengehören, was Kontrolleure grundsätzlich zu hinLeergut hat man mit sieben nicht so den Blick. Ich terfragen getrimmt werden. »Nur sie beide?« fragte die Kartenvermisste den Pfandf laschensammler zur Pfand- knipserin also. Ich schüttelte den Kopf und machte eine Geste, flaschensammlung, aber da sich mein Sohn schon die den Mann einschließen sollte. Ich wusste nicht, ob er eine gesetzt hatte, teilten wir uns eben den Vierer mit der Fahrkarte hatte, aber so sollte es jedenfalls kein Problem geben. »Ich frag nur, weil er sich so an den Kragen gefasst hat …«, wertvollen Plastikware. Der Tütenbesitzer ließ sich Zeit, bis er ankam schob sie noch nach, in meine Richtung. Der Mann ließ den und den Platz neben seinen Wertstoffen einnahm. Reißverschluss seines Kragens los und ich zuckte nur mit den Seinen feindseligen Blick nahm ich hin. Paul achtete Schultern. Was sollte ich dazu schon sagen: »Fahrgäste, die nicht darauf. Auch nicht auf den fiesen Tabakgeruch sich an den Kragen fassen, sind als Selbstfahrer zu betrachdes Mannes, der offenbar eine Nikotinpause auf ten? Das habe ich in den Beförderungsbedingungen gar nicht der Zugtoilette eingenommen hatte. Kindern sind gefunden!«. Als wir in den Hauptbahnhof einfuhren, zog ich meine Gerüche egal, und solange Paul jetzt nicht plötzlich mal musste, kam ich damit klar. Angespannt Jacke an und half Paul mit seiner. Ich nahm Rucksack, Koffer war ich trotzdem, was soll ich sagen, aber das Miss- und Reisetasche zur Hand und beeilte mich, den Platz freizumachen, um endlich aus dem kalten Tabakdunst zu kommen. trauen beruhte bestimmt auf Gegenseitigkeit. Eine Kontrolleurin durchbrach unsere halbge- Außerdem wollte ich nicht der letzte an der Tür sein, in Gedanmütliche Dreisamkeit, indem sie nach den Fahr- ken bei dem wieder mal zu knapp kalkulierten Anschlusszug, ausweisen fragte. Der Flaschensammler reagierte, den wir bekommen wollten.


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Fotos: V. Macke

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Die Durchsage hatte bereits auf die Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante hingewiesen, als der Flaschensammler zwei Wörter sprach. Zwei Wörter, die auf den Gegenstand in seiner Hand hinwiesen, den ich in der Eile des Zusammenpackens offenbar auf dem Sitz hatte liegenlassen: »Ihr Geld!« Schweiß perlte auf meiner Stirn, als mir der Flaschensammler mein Portemonnaie überreichte. Es war ziemlich prall gefüllt, wenngleich hauptsächlich mit Fünfern, so dass ich es nach der Kontrolle nicht mehr in meine Hosentasche hatte zurückstecken wollen. Aus der Jacke war es dann wohl beim Aufstehen auf den Sitz gerutscht. »Danke!« sagte ich und sah den Mann zum ersten Mal richtig an, nicht nur beiläufig aus den Augenwinkeln. Er sah fertig aus, seine Augen waren so rot wie seine Haare weiß, und mit seinen Bartstoppeln hätte man einen Küchentisch abschleifen können. Aber er lächelte. Er freute sich darüber, sich revanchiert zu haben, darüber, dass er kein Almosen hatte annehmen müssen, vielleicht auch darüber, dass er gerade etwas Gutes hatte tun können. Als wir die Bahn verlassen hatten, warf ich beiläufig einen Blick in das Portemonnaie. Misstrauen sitzt tief. Auch wenn es manchmal bescheuert ist. Ich kam nicht dazu, darüber nachzudenken, warum und wieso das so ist, wie es ist, da ich mit meinem Sohn an der Hand zu Gleis 3 flitzen musste, wo

hoffentlich der Anschlusszug wartete. Wenn dieser wie üblich ein, zwei Minuten Verspätung hatte, hatten wir eine Chance, ihn zu erreichen.

Johannes Weigel, 1971 in Gunzenhausen  – irgendwo in Franken – geboren, ist seit 20 Jahren in und um Hannover zuhause. 2007 hat er die Lesebühne »nachtbarden« im Theater am Küchengarten (TAK) in Hannover-Linden mit­ gegründet, schreibt »über den Wahnsinn des Alltags«. Fortan regelmäßig auf und hinter der Bühne präsent. Jeden dritten Dienstag im Monat. Wenn er nicht schreibt oder liest, ist er Geograf und kümmert sich um die Anbindung von Windparks ans Stromnetz.


Mit Kafka auf der Meilenbank Von Katja Merx

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»Hör ma’ warum beginnst du deine Geschichten eigentlich immer mit ›Neulich…‹ und betonst dabei so komisch das ›Neu…‹ im Wort? Das geht mir auf den Keks, mein Freund!«, unterbricht Burki barsch seinen Kumpel Brian. Beide sitzen seit dem frühen Morgen auf einer Parkbank, die eigentlich gar keine Parkbank ist, sondern Meilenbank heißen müsste, denn sie steht mitten auf der Flaniermeile ihres Lieblingsstadtteils. Beide gönnen sich schon zu früher Stunde ein Fläschchen Bier. Ist ja schließlich Montag und Montag ist Schontag, so sagt Burki jedenfalls immer. »Ach, jetzt bin ich wieder schuld, oder was?« »Ja, Schuld! Schuld sind immer die anderen, oder was? So bist du doch gestrickt, mein Freund.« Burki lacht, während er Brian kräftig auf die Schulter haut. Zur Versöhnung sozusagen. »Und, Brian, jetzt verrat mir doch mal, warum du dir schon am Morgen einen Halben genehmigst. Nehmen wir doch mal kein Blatt vor den Mund. Warum trinkst du?« Im Grunde genommen hätte sich Burki diese Frage sparen können, denn die beiden Männer kennen die Antwort bereits. Gelangweilt entgeg-

net Brian: »Die Gesellschaft ist schuld.« Und Burki nickt mit einem wissenden Ausdruck im Gesicht. »Aha! Da haben wir’s. Schuld sind immer die anderen. Du bist nur das Opfer einer gemeinen gesamtgesellschaftlichen Intrige, die dir das Leben schwer machen will. ›Der Grundsatz, nach dem ich entscheide, ist: Die Schuld ist immer zweifellos.‹ Kafka. In der Strafkolonie. Irgendeine brutale Story. Das war kein Zuckerschlecken damals.« Brian starrt bedröppelt auf sein Bier, als die Hohe Priesterin vorbeischlendert und sich lautstark mit den Stimmen, die nur sie hören kann, streitet. »Was ist mit der eigentlich nich’ richtig?«, will Brian wissen und beobachtet fasziniert die sich in Rage redende Frau mit den bunten Flipflops. »Die spirituellen Punks sind schuld. Die lassen ihr keine Ruhe.« »Schöner Scheiß.« »Jepp.« Eine ganze Weile sitzen sie nur so da und schauen dem Treiben auf der Straße zu. Die Menschen an der Haltestelle warten auf die Bahn, die sie zu ihrer täglichen Verpflichtung bringt. Ein sich endlos wiederholendes Ritual, das Burki und Brian gerne mit dem Spruch »Und ewig grüßt das Murmeltier« quittieren und sich dabei köstlich amüsieren. »Wem geht’s hier eigentlich schlechter?«, lachen sie dann und prosten sich zu. Dass ihr Lachen an manchen Tagen bitterer klingt als sonst, würden sie nie zugeben.


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Foto: M. Eickhorst

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für deinen eigenen Allerwertesten. So sieht das nämlich aus.« »Aha. Und warum sitzt DU dann hier mit mir rum?«, überrascht Brian seinen Freund mit einer Gegenfrage. Nach kurzem Zögern antwortet der: »›Alles, was nicht Literatur ist, langweilt mich.‹ Kafka. Ein schlauer Mann!« Womit mal wieder der Schuldige gefunden wäre.

Katja Merx, 1973 geboren, im Harz aufgewachsen, in Hanno­ ver das Schreiben entdeckt: überwiegend Kurzgeschich­ ten, wenig (Un-)Lyrisches, gerne schwarzhumorig. Mit­ begründerin der Lesebühne »Zuckerwort und Peitsche« und Dazugestoßene der Lese­ bühne »OraL«. Schreibt fürs örtliche Magazin »Stadtkind« und macht Musik mit der Band »beatbar«

Foto: Bettina Fischer

»Hör ma’ …«, nimmt Burk i den Faden ihres Gesprächs wieder auf, »glaubst du wirklich diesen ganzen Mist mit der Schuld?« »Wie jetzt?«, fragt Brian. »Na, dass du trinkst, weil die Gesellschaft schuld ist?« »Naja, meine Frau is’ auch schuld …« »Ich bitte dich, Brian!« »Ja, wer hat mich denn rausgeworfen aus der gemeinsamen Wohnung, bitteschön! Elke!« Burki schnippt einen Fussel von seiner Hose. »Ma’ ehrlich, sie hat dich rausgeworfen, weil du getrunken hast …« »Und daran is’ die Gesellschaft schuld. Und meine Frau.« Leicht ist es nicht, mit Brian zu diskutieren, aber Burki gibt nicht auf. »Aber hör ma’ …« »Ich möchte jetzt nicht.« »Pass auf, mein Freund, die Sache ist doch die: ›Verbringe die Zeit nicht mit der Suche nach einem Hindernis. Vielleicht ist keines da.‹ Kafka. Keine Ahnung, wann er das gesagt hat.« Ein genervtes Stöhnen ist neben Burki zu vernehmen. »Aber ich weiß, warum er das gesagt hat!«, lässt Burki seinen Kumpel wissen, obwohl ihm der längst den Rücken zugedreht hat. »Kafka meint, du sollst mal deinen Hintern in Bewegung setzen. Du bist ein Macher, mein Freund. Du bist Entscheidungsträger. Du trägst Verantwortung


Von all dem Blei in unseren Venen

Von Henning Chadde

N E U L        neulich ICH,

endete die für uns be­­

kannte Zeit …

1 Die Kabelbinder sind zu eng. Sie zerschneiden meine Handgelenke und drei Rippen sind wenigstens gebrochen. Atmen schmerzt, es ging alles brutal schnell. Blitz-schnell. Was zu erwarten war. Und schon wieder sind mir nichts als die Hände gebunden, dabei hätten sie doch Großes schaffen wollen. Für uns. Welch Irrsinn, denn mehr, als dieser finale, von Panik getriebene Versuch fiel mir letztlich nicht ein. Ich wollte dir nur beweisen, dass wir wirklich ein Mal den Himmel würden berühren können und alles würde anders dann. Ich wollte endlich hoffen auf deine Zuversicht. Und jetzt das hier. Glaube nicht, dass es dir imponieren wird, weiß vielmehr, wie du deinen Kopf schütteln wirst: Verloren, leicht zur Seite geneigt, knabberst du mit deinen Zähnen fassungslos nervös an den Lippen und seufzt leise. Mit diesem glanzlosen Blick in deinen braunen Augen. Wie habe ich diesen Anblick geliebt! Doch nun: Bye, bye kleines Glück …

2 Wir lebten bei Wasser und Brot. Das hat sich nie geändert. Im Frühling unserer Liebe schon tanzten wir bei Tütensuppen und billigem Wein über den Rand des Vulkans. Damals ernteten wir noch lachend seine Asche. Wie gerne habe ich dir die Sterne vom Himmel gelogen, dabei waren die Taschen längst leer und mehr Gold als mich, hatte ich nicht. Ich weiß bis heute nicht, was es ist, das sich den Menschen zum Mond träumen lässt, nur, um sich dann doch in das Universum im Dahinter zu sehnen. Ob es die Neugier ist, oder die Unrast, seine Natur, oder Drang; ich weiß nur, dass du nun losgehen wirst. So lange schon wütete dein leerer Blick wie ein Kometenhagel in meinem Inneren. Ich floh ihn und wusste doch: die Eiszeit, sie würde kommen. Und dann bleiben. Mein Königreich? War für zwei nicht groß genug. Mit all diesen fixen Worten und nix als Eselskarotten vor der Nase, die einen hospitalistisch zum Durchhalten von einem Tag in den nächsten schleppten. Das war kein Stoff für Märchenwelten – du nanntest mich immer deinen Lügenbaron. Schließlich kroch der Rost in unsere wund geschlagenen Seelen. Von all den Liebesmalen blieben nur tiefe Stiche ins Mark. Und Phantomschmerzen von den Ankereisen, die ich in Deine Nerven schlug, um zu bleiben. Und doch nie recht wusste wie. Wie all Deine Träume halten?


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Foto: V. Macke

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3  Sie waren schon da, als ich noch mit dem Plastikrevolver stotternd vor dem Schalter stand. Draußen lehnte nichts als das Klapprad an der Wand. Ein Plan für die Zukunft sieht anders aus. Alles fühlt und fühlte sich wie in Trance. Wie die letzten Monate. Und Jahre. Und wie die, die nun kommen, in denen ich nichts außer Einem wissen werde: dass du nicht warten wirst. Immerhin: Eine Entscheidung, die wir nie zu treffen wagten, ist nunmehr gefallen. Niemals Rom gemeinsam im Frühling und auch nicht nächsten Mai. Ich bitte dich nur eins: Bleib. Nur noch ein kleines bisschen länger. Nur noch dieses eine Mal …

Henning Chadde ist Autor, ist Kultur­ manager und ist Moderator. Und Mithe­ rausgeber des Online-Journals für Han­ nover langeleine.de. Seit über 20 Jahren organisiert und moderiert er Lesungen und Lesereihen in Hannover und Umland. Unter anderem »Macht Worte!« – der hannoversche Poetry Slam, die LeseShow »Überholspurpiraten« sowie den Kulturkiosk. Überzeugter Lindener und Papa.

Foto: Susanne Haupt

Schlussendlich erschien’s dir, als riesele die Zeit wie Sand durch Hand-zwischenweiten, als verflöge alles dahin. Und ich hab’ panisch versucht es wieder einzufangen, dir all die verlorenen Paradiese von Herzen versprochen. Du hast mir geglaubt. Lange. In all diesen wachen Nächten, in denen Zentimeter zwischen uns schweigend zu Kilometern wurden, in denen ich flehend in die Dunkelheit flüsterte: »Warte. Nur noch ein kleines Weilchen. Warte doch!« Wie oft nur hörte ich mich das sagen. Es musste etwas passieren.


Anni N E U L I C H

Von Marlene Stamerjohanns

besuchten wir drei Freundinnen Anni zum letz- Weit hinterm Deich, wo die Schafe stehen, kann ten Mal im Altenheim, Anita spielte auf der Mundharmonika, Anni das Watt sehen. »Lauf Anni, lauf bis zum Priel.« wir sangen alte Lieder und Anni dirigierte mit dem Teelöffel Die fetten Nichten sind am Ziel. Die machen derweil sitzend im Gitterbett, das war neulich und jetzt ist sie ano- einen Test zum Pfingstfest, Mobilität testen. nym abgeschoben worden in den Untergrund, wir wissen nicht Da! Anni steckt fest mit beiden Beinen im Watt. Sie verliert den Halt. Ihr Rufen hallt zu Bauer Ubbo wann und wie und wo sie liegt, aber hier ist ihre Geschichte. Ubben. Der holt sie raus mit Urlaubsgästen. Die traAnni ist neunzig. Sie lebt alleine als Frau im Anbau zwischen gen sie zu den Nichten, die gerade Jever Pils testen. Stall und Scheune, wo die Kühe und das Schweine-Vieh ange- Am Pfingstmontag liegt sie nieder wieder im Anbauhaus. Alleine versagen ihre Beine. Die fetten Nichzählt und abgezählt sich durch den Winter quält wie sie. Weit hinter Aurich ist der Winter kalt und schaurig, traurig ist ten ziehen Leine. das Leben für Anni hinter Aurich. Noch tragen sie die Beine. Jetzt wird die Story immer schlimmer. Kinder hat sie keine. Doch jeden Monatsersten kommen mit dem Fahrrad zwei fette Nichten, um sich häuslich bei ihr einzurichten. Für ein Zelt Aus dem Ämterzimmer von der Stadt kommt ne reicht das Geld. Doch für die Welt sind sie nicht mobil. Perma- Dame, die heißt Hildegard. Anni prookt platt. Die nent insolvent träumen sie vom Campingplatz mit Wohnmobil. Dame sagt, dass Anni den Mund zu halten hat, weil sie jetzt der Vormund ist, und im Namen der Stadt Anni prookt Ostfreesenplatt, träumt vom Watt, wo sie schon muss sie für die Alten Ausweis, Papiere und das als Kind im Schlick gebuddelt hat. Wenn die Erde platt wäre, Geld verwalten. Zwei Teddys und ein Foto hier von könnte sie auf dem Deich stehen, bis Amerika sehen. Das wäre ihrem Mann kann sie behalten. Der Mann ist nicht ihr Mann, da ist der Schwager drauf, mit dem sie gar schön. nichts anfangen kann. Draußen steht ein Krankmobil. Anni hinten rein, Jetzt wird die Story immer schlimmer. tatütata. Da ist schon Wilhelmshaven, wo die Alten Anni rückt das Sparbuch raus. Pfingsten steht vorm Anbau schlafen, abgezählt und angezählt von dem Rest der Haus ein gebrauchtes Wohnmobil. Anni hinten rein. Da ist Welt. Das Gitter vor dem Bett hält, damit sie da nicht rausfällt. Neben ihr liegt eine Oma im Wachkoma. schon Hooksiel achtern und vörn Schillighörn.


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Foto: Diego Azubel/Picture-Alliance

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Anni sagt … »Jetzt ist das Schluss mit Honig um den Mund. Jetzt geht das rund mit Vormund. Ich bin alt und noch nicht kalt, jetzt übe ich Gewalt, dass es knallt.« Und sie zielt ihr ganz gezielt mit Jedes Jahr zum Geburtstag schicken ihr der Krücke eine Zahnlücke in den Vormund. die fetten Nichten Ostfriesentee, den Der ist jetzt bunt und wund. Auf dem Boden liegt die Hildegard, die jetzt außer der Zahnlücke von echten, dass sie an sie dächten. der Krücke noch ein blaues Auge hat. Die Perücke Doch was geht ab? In der Alten Git- fliegt nach Oma im Wachkoma. ter Schweinewelt? Der Rest ist schnell Später kommen Sanitäter. Bringen Hildegard erzählt. Anni rückt den Rollstuhl weg. Da sieht hinaus in ein Krankenhaus. Die sieht ganz alt sie an der Ecke eine Krücke, die nimmt aus. Anni rückt die Krücke raus. sie mit unter die Bettdecke. Nur die Teddys kennen die Verstecke. Abends, Als sich das Lauffeuer ausgelaufen hat im Heim wenn sie schlafen soll, zielt sie gezielt mit und in der Stadt, kriegt Anni ein Einzelzimmer. der Krücke nach der Mücke auf der Bett- Sie spricht jetzt immer feines Hochdeutsch mit decke. der Polizei. Alle sind dabei. Sie ist der revoluzzer wortverputzer. Das Fotobild von ihrem Mann Sie wird fünfundneunzig. Und weil sie hängt an. Jetzt ist sie der Held in der Schweine­ Geburtstag hat, kommt die Dame Hilde­ gitter Altenwelt. gard von der Stadt, die ihr die ganze Wohnung geklaut hat. Da kommt sie Tu was, mach Liebe, bevor du mit der Krücke nach der Mücke … auf die Bettdecke zielst. schon! »Guten Tag Frau Anni, Geburtstags- Tu was, mach Liebe, bevor du ohne app und twitkind, wie mich das freut, heute hab ich ter durch das Gitter nach den jungen KrankenZeit, wie mich das freut. Sie werden gut pf legern schielst. Tu was, mach Liebe, besuch betreut? Wie mich das freut.« mal wieder deine Oma.

Marlene Stamerjohanns, 1937 geborene Froese, ist die Grande Dame des Poetry Slams. Wohnt heute in Wil­ helmshaven und hat 30 Jahre lang in Hannover als Heilprak­ tikerin gearbeitet. Vor Jahren stand sie in Wien – eher zufäl­ lig – erstmals auf einer Poe­ try-Slam-Bühne. Hat gleich den zweiten Platz und fortan weitergemacht. Politisch und wortgewaltig war sie schon als die meisten anderen Poe­ try-Slamer von heute noch Kinder waren oder erst wel­ che werden sollten.

Foto: privat

Ein Meter zwei Meter Box. Der kleine Teddy erzählt dem großen Teddy auf dem Schrank, wie krank die hier alle sind.


Narben Von Tobias Kunze

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erinnerten wir uns, als wir unvorbereitet nass wurden im Schauer eines unberechenbaren Sommers, zurück.

Wir rissen (& fickten) uns die Löcher in die Knie. Unsere Mütter flickten uns die Löcher in den Knien. Pflaster bedeckten die Wunden, ein Pusten heilte den Schmerz, wir gesundeten und eilten lichtwärts. Wir warteten auf Wärme, aus Kälte schnitten wir Schnee, aus Sonne schmiedeten wir Pläne, und aus Regen gründeten wir Seen und Segen und Segel und segelten selig verwegen dahin.

Heiße Kriege, kalte Kriege, die Kuba-Krise, Tschernobyl, die Wiedervereinigung, den Balkankrieg, den Nahostkonflikt, den elften September, Irak, Afghanistan und die Handystrahlung. Doch wir hatten verloren: unsere Unschuld, unsere Naivität, unsere Phantasie und unsere Spontanität. Wir widmeten uns Alltagen, Fahrkarten und Falschparken – Hauptsache Halbschatten – und lahmen Unterhaltungssparten. Um die Zeit der kurzen Tage so auszufüllen, wie man es uns gesagt hatte: mit Antworten und Arbeiten, mit allen gebotenen Regelmäßigkeiten und mit Ernst. Und erst als eine Null im Raum stand, bemerkten wir, dass wir keine drei mehr waren, keine sieben mehr, keine elf, keine vierzehn.

Sehnsucht kam erst viel später. Als wir die Zeit bemerkten, als wir die Pflichten kennen lernten und dass Tage ein Ende haben, das immer viel zu schnell kam.

Wir tragen Hemden und Verantwortung, Helme und Hausordnung.

Wir waren nicht arm, wir gaben und nahmen. Die Tage waren warm, und wir haben noch Narben von ersten Erfahrungen mit Dingen, die härter waren als wir, aber wir hatten überstanden.

Wir steigern das Bruttosozialprodukt durch Radiohören. Werfen uns die Bälle nicht mehr zu, sondern lesen Zeitung. Diskutieren durch Handys und lassen Laptops unsere Schöße erobern statt Träume. Spielen nicht mehr Räuber und Gen-


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Foto: fotolia/Haz

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Öde Leiern und dröge Feiern statt Blödeleien: schöne Zeiten. Wir richten uns in Katalogsortimenten ein als Vorzeige-Frischhaltefolienfamilien. Gefährliche Klischees bauen sich als wütende Wogen im toten Winkel auf und branden an den Fransen unserer Teppiche. Unsere Ideale knäulen sich als Zivilisation von Staubmäusen tief unter der Realität der Sofagarnitur. Der Bauschaum der Evolution landet als Sahne auf der Geburtstagstorte unserer unterdrückten Sehnsüchte. Wo Abenteuer waren: Narben. Wo Ideen waren: Terminkalender. Wo Sehnsüchte waren: Ausflüchte. Wir hatten so lange gewartet, bis wir nicht mehr wussten auf was. Nun waren wir nass – aber so richtig traurig waren wir nie, weil uns bei allem Sinn, aller Sinn- und Besinnungslosigkeit, nicht in den Sinn kommt, was wir vermissen: den Unsinn. Das Zelebrieren der Momente zarten Schauderns einer unbewusst erfüllten Sehnsucht.

Tobias Kunze, 1981 geboren in Hanno­ ver, hat als Performance-Poet, Rapper, Autor, Moderator und Veranstalter mehr als 1.000 Auftritte hinter sich. Er las auf Bühnen in ganz Deutschland sowie auf Zypern, in Paris, Straßburg und Reims, Luxemburg, Barcelona, Bozen, Tallinn und Tartu, Ischewsk, Zürich, Basel und Wien. Seine Auftritte sind wie ein Graffiti: laut, bunt, wild, chaotisch – und prägend. In Hannover ist er bekannt als Teil der Lesebühne Nachtbarden im Theater am Küchengarten sowie der Rap-Band BIG TUNE. Kunze gibt zudem Slam-Work­ shops und Schreibseminare für Kinder und Jugendliche. Derzeit entwickelt er eine deutschtürkische Poesie­ werkstatt und krea­ tive Lerntechniken gegen Analphabe­ tismus. Foto: Jan Blachura

darm, haben Probleme mit Rheuma und Gedärm, zitieren aus der Zeitung statt aus der Phantasie, zittern wegen Börsenkursen, haben Apathie.


Trotzige Engel

Von Rita Apel

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las ich, dass Forscher der Universität von Toronto herausfanden, dass Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen, die Temperatur ihrer Umgebung niedriger einschätzen als Menschen, die sich akzeptiert fühlen. Eine interessante Tat­ sache, spricht man doch oft von »sozialer Kälte«. Deshalb halte ich auch so viel von einer Organisation, die sich die »Suppen­engel« nennen und ich möchte dazu ermuntern, öfter mal etwas Geld für die Suppenengel zu spenden. Sie versuchen nicht nur, Obdachlosen mit Nahrung zu helfen, sie verteilen auch Wärme in Form von Suppe. Man könnte ja auch Butterbrote verteilen, aber Suppe ist schon etwas Besonderes. Seit der Steinzeit, also kurz nach der Domestizierung des Feuers, bereitet der Mensch Suppen zu. Schnell erkannte man, was das Gute an Suppe ist: Sie reicht immer für alle. Ein altes Sprichwort sagt: »Fünf sind geladen, zehn sind gekommen. Tu’ Wasser zur Suppe, heiß alle willkommen.« Wahrscheinlich ist mit der Suppe die Gastfreundschaft entstanden, weil es ja viel einfacher ist, Wasser zur Suppe zu geben als noch mal loszuziehen und ein weiteres Mammut zu erlegen. Suppe ist immer noch ein schöner Willkommensgruß, wenn man Gäste hat. Suppe als Vorspeise passt immer, auf Speisekarten steht sie weit vorne. In letzter Zeit fiel mir aber auf, dass viele Restaurants keine Suppen mehr anbieten, son-

dern nur noch Süppchen. Im Moritz Kunstcafé gibt es Cremiges Pastinaken-Süppchen, mit Zimtbutter vollendet, dazu Rote-Bete-Chips. Das Schlossparkhotel Sallgast bietet den Zungenbrecher BlaukrautSauerkirsch-Süppchen mit grünem Apfelschaum, und Goldschmidts Park, das besondere Restaurant in Sowieso, offeriert Süppchen vom Hokaidokürbis mit Chili und Curryblättern, dazu gebeiztes Red King Salmonfilet. Mal davon abgesehen, dass Salmonfilet ein unglücklich zusammengeschustertes zweisprachiges Ungeheuer ist, so ungefähr wie der Name Britney-Angelique, habt ihr vielleicht auch bemerkt, dass Süppchen einen anderen Zweck haben als Suppen. Süppchen sind da für Leute, die eigentlich keinen Hunger haben. Süppchen sind feine Vor­ speisen. Suppen aber sind etwas Größeres, Suppe kochen heißt, riesige Töpfe zu benutzen. Und Suppe ist nicht nur Nahrung, sondern auch Wärme und Liebe. Ja, natürlich Liebe. Wenn ein guter Freund krank ist, dann sagt man doch: »Leg du dich hin, ich koche dir eine Hühnersuppe.«, oder hat man je gehört,


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Foto: Photocase

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Freut euch, wenn ihr demnächst wieder den alten Karnevalsschlager hört: »Es ist noch Suppe da!«, denkt an die rührende Hilfsbereitschaft und an hilfsbereites Rühren. Und damit immer genug zum Rühren da ist, tut bitte den Suppenengeln öfter mal was in den Topf!

Rita Apel kommt aus Bremen und nimmt seit vielen Jahren erfolgreich an Poetry Slams teil. Im Oktober 2014 gewann sie die Landesmeisterschaft Bremen/ Niedersachsen, im Jahre 2015 wurde sie Vizemeis­ terin. Ihre Texte sind oft lustig, aber auch nachdenk­ lich und verarbeiten den ganz normalen Wahnsinn in ihrer Umgebung. Sie war jahr­ zehntelang Grundschullehre­ rin, hat das Vorlesen in jeder Frühstückspause geübt. Wenn sie mal reich und berühmt ist und ihr Leben verfilmt wird, möchte sie nicht von Veronika Ferres gespielt werden. Foto: privat

dass einer sagt: »Oh Schatz, du siehst elend aus, warte, ich mach dir schnell ein getrüffeltes Ziegenkäserisotto?« Suppe hilft zum Glück nicht nur gegen Hunger, sondern auch gegen Kälte. Und die Suppe der Suppenengel ist vor allem gedacht für Menschen, die frostiger Atmosphäre ausgesetzt sind, die eisige Blicke ertragen müssen, denen die kalte Schulter gezeigt wird, die schon manchen unterkühlten Empfang erleben durften und oftmals eiskalt angeschwiegen werden. In den letzten Jahren wächst die Zahl der Menschen, die ihre Umgebung als gefühlskalt und kaltschnäuzig erleben. Und es gibt auch immer mehr Menschen, die kalte Füße bekommen haben, weil sie fürchten, auch bald zu den eiskalt Abservierten zu gehören. Und wenn ich daran denke, dass wir immer nur die Spitze des Eisbergs sehen, dann läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Ganz warm ums Herz wird mir aber, wenn ich höre, dass es Menschen gibt, die das nicht kalt lässt, die das Eis brechen, und die Hilfe nicht lange auf Eis legen. Menschen, die Suppe kochen gegen zwischenmenschliche Vergletscherung. Bei den Suppenengeln gibt es keine Süppchen für den kleinen Hunger zwischendurch, sondern Nahrung, Wärme und Nächstenliebe. Da können sich die Süppchen mal warm anziehen! Das, was die Suppenengel tun, könnten Süppchenengelchen niemals schaffen.


Zweites Leben – gedacht Von Robert Kayser

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war Herr P. müde. Sein Hut war leer. Aber er hatte sowieso keine Lust, die Leute anzusehen und zu grüßen und danke zu sagen. Er saß nur da und war müde. Sein Leben schien ihm rückblickend insgesamt nicht so recht gelungen. Und der Blick nach vorn konnte ihn auch nicht aufmuntern. Als er jung war, hatte er sich das Leben irgendwie anders vorgestellt. Der Blick nach vorn war ein stetiger Quell der Freude gewesen. Wenn es mal nicht so gut lief, brauchte er nur nach vorn zu schauen, auf ein langes Leben voller Möglichkeiten. Nun wollte er wieder jung sein, frisch und voller Energie und Lebensdurst. Und vor allem wollte er zurück in die gute alte Zeit seiner Jugend. Heute würde er nicht jung sein wollen, in dieser überreizten, hektischen, grellen Gegenwart. Zurück in die klare Einfachheit wollte er: Zettel und Stift, Notizbücher vollkritzeln, Radiosendungen zuhören, Telefonnummern auswendig wissen. Das schwungvolle und doch beruhigende Drehen der Wählscheibe, Ausdruck von Stil, Indikator für Stimmung und Charakter. Jeder Mensch drehte die Wählscheibe anders, und Herr P. konnte an dieser kleinen Bewegung

mehr ablesen als so mancher Psychologe in einer ganzen Sitzung. Das Klackern in der Leitung, während die Scheibe zurückdreht, Ärgernis der Eiligen, der Effizienzprediger, aber vielmehr doch kurze Bedenkzeit für die nächste Ziffer und Stimulans für die Phantasie, ein Ruf ins unendliche Telefonnetz, das die Welt umspannte und bis an die entlegensten Orte reichte. Briefe schreiben! Und Anschriften auswendig wissen. Postleitzahlen nicht nachschlagen müssen, weil jede Stadt nur genau eine hat. Jede Nacht betete er vorm Einschlafen, er möge aufwachen als junger Mann mit Schulabschluss in der Hand. Weiter wollte er nicht zurück, denn den Abschluss würde er nicht mehr schaffen. Und im Elternhaus wohnen wollte er auch nicht mehr. Aber die Weisheit des Alters würde er schon gern behalten wollen. Das wäre zwar ein komisches Gefühl, mit seinem heutigen Geist wieder in einem jugendlichen Körper zu sein. Aber alles andere wäre ja sinnlos. Ohne seine Erfahrungen würde er ja wieder den gleichen Quatsch machen und nichts wäre anders. Im Alter säße er dann wieder auf der Straße vor einem leeren Hut und wäre müde. In seinem zweiten Leben würde er Postbeamter werden. In einer Zeit, als die Post noch in der Lage war, einen Brief auch dann zuzustellen, wenn er nur ungenau oder leicht fehlerhaft adressiert war.


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Foto: Enolabrain/fotolia

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und kaufte sich ein Wählscheibentelefon. Damit setzte er sich ans Hohe Ufer und wählte eine zufällige Nummer. Und wenn am anderen Ende jemand abnahm, würde Herr P. gern mal wissen wollen, wie glücklich derjenige wohl gerade sei, auf einer Skala von eins bis zehn. Und dann würde er ihm eine Postkarte schreiben, die er auch auf dem Flohmarkt kaufen und etwas unpräzise adressieren würde, mit einer alten Postleitzahl.

Robert Kayser kommt aus Hannover und hat 2008 angefangen, Kurzge­ schichten zu schreiben. »Faulheit ist die Mutter der Kurzgeschichte«, sagt er. Selbsterlebt und unverfälscht. Damit ist er ein gern gesehener Gast auf Lesebühnen und Poetry Slams im ganzen Land. Sein erstes Buch »Guerillaspießer« ist kürzlich im Blaulicht-Verlag erschienen und im gut sortierten Buchhandel erhältlich.

Foto: privat

Er würde jede noch so wirr adressierte Postkarte ihrem designierten Empfänger zuführen. Besser als der Absender wüsste er, wohin ein Brief zugestellt werden wollte. Eine Beamtenlaufbahn! Ein ruhiger, gleichmäßiger, ebener Weg. Eine Lauf bahn führt nicht bergauf und bergab, sie ist ohne Hindernisse. Nur der Sold geht bergauf, langsam, aber stetig, und verlässlich vor allem! Und am Ende der Laufbahn steht eine verlässliche Pension, die er rechtzeitig antreten würde, bevor die ehrenwerte Bundespost sich in einen seelenlosen Konzern verwandelte. Ach Quatsch, dachte Herr P., so ein Quatsch! Er musste ein bisschen kichern ob seiner nostalgischen Verzückung. Postbeamter! Ha! Zurück in die Jugend, Mann, Mann, Mann. Er fing an zu lachen, was etwas holprig klang, weil er es lang nicht mehr getan hatte. Seine Lache war sozusagen eingerostet und er bekam einen Hustenanfall, der in ein immer lauteres Lachen überging. Die Passanten schauten komisch, aber Geld in den Hut werfen konnten sie jetzt eh nicht mehr, denn er hatte sich lachend aufgerichtet, seinen Hut geschnappt und auf den Kopf gesetzt, wo er hingehörte. Er ging zum Flohmarkt


L’ivresse Von Judith Simon-Graf

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erwachte ich im Bett des Perlmuttfar- entgegen, allesamt männlich und menschlich. Nicht ein verbenen. Ebenmäßig nackt lag er neben mir und sein hasster Hound war dabei. Sie grölten und pöbelten und waren selbstzufriedenes Brummen verriet tiefen Schlaf. ausgesprochen hässlich anzusehen. Ich bereute meinen voreiVom Bier schwirrte mir der Kopf. Ich erhob mich ligen Entschluss und sah mich schnell nach einer Ausweichmühsam, suchte Louise’ Kleidung zusammen und möglichkeit um. Doch ehe ich mich meiner verdammten Resteinmal mehr fasste ich in dieser Nacht den Ent- betrunkenheit wegen dazu entschließen konnte, wohin ich schluss, möglichst wenig Gewohnheiten der Ande- ausweichen könnte, hatten sie mich schon entdeckt und wankren für mich selbst zu nutzen. Eine davon war das ten lauthals auf mich zu. »Ja hallooo, wen hamwa denn da…? Biertrinken. »Alteeer, was ne heiße Braut … heyhey, waddewaddema … Trotz Blutalkohol gelang mir mein geübtes Schleichen recht gut, lautlos und komplett bekleidet wie heisstn du, ey?« Und so weiter und so weiter. Es war jene üble Art von verließ ich Théos Wohnung, tappte die drei Stockwerke hinab und trat durch die schwere Eingangs- An­mache, die mir schon damals als Andere äußerst zuwider tür auf die nächtliche Großstadtstraße hinaus. Ich gewesen war, und die mich auch schon damals empfindlich zögerte kurz, wie ich mich wohl bewegen sollte, ent- wütend gemacht hatte. Ich behielt mein Tempo bei und starrte schloss mich aber – etwas fahrig - noch ein wenig durch sie hindurch bis ans Ende der Straße. Als ich sie passiemenschlich zu bleiben, zog die Stiefel über und pol- ren wollte, trat mir ein besonders Erbärmlicher in den Weg und terte los. Klackediklack in Louise’ Schuhwerk. Auf- fasste mich beim Ellenbogen. »Lass mich los«, fauchte ich. Er aber zog mich dichter zu recht. Offen. Weithin sichtbar. Coole Stadtteile wie dieser schliefen nie. Über- sich heran. Ich konnte seinen miesen Atem riechen. »Willste ficken…Wir könnten dir …alle hier…’n Gefall…« all schlenderten Leute. Je früher der Morgen, desto Mein Schlag kam völlig überraschend. Blut schoss ihm lauter erschienen sie, und als ich um die zweite Ecke bog, kam mir ein Trupp betrunkener Jugendlicher aus der Augenbraue, er ließ sofort los, stand wie erstarrt und


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Foto: Photocase

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schon schlug ich ein zweites Mal zu. Diesmal erwischte ich ihn am Ohr. Wieder einmal mehr überrascht darüber, wie scharf meine Fingernägel tatsächlich waren, ließ ich das Ohr auf den Gehweg fallen, sprang zur Seite und griff mir den Nächsten. Es war ja wirklich ein zu leichtes Spiel mit ihnen! Allesamt waren sie zu langsam, zu doof, zu betrunken und zu überrascht, um sich wehren zu können. Jäh fühlte ich mich vollkommen nüchtern, absolut lebendig und extrem wohl in meiner rasierten Haut. Ich trennte den Zweiten von seiner Nasenspitze, riss dem Dritten eine Menge Haupthaar vom Kopfe und stürzte mich auf den Vierten, der wie ein Sack zu Boden ging und mir auf ­d iesem Wege seinen blassgelben Bierbauch präsentierte. Während ich mein Werk vollendete, flüchteten Nummer fünf und sechs. Über die Balkone der Nachbarn kletterte ich lautlos in Louise’ Wohnung zurück. Ihre dämlichen Stiefel hatte ich im Gebüsch verstaut. Dort lagen auch ihre restlichen Kleidungsstücke, die mich beinahe die ganze Nacht beengt und gequält hatten und überdies nun ziemlich blutgetränkt waren. Sauber und nackt, aber bereits mit einem Hauch von Bartschatten am Leib, kroch ich durchs Schlafzimmerfenster, zu ihr ins Bett und weckte sie zärtlich. Immer noch war ich berauscht. Doch es war nicht das Bier, was mich in jenen glückseligen Rausch verfallen ließ, der

meine Sinne anspitzte, mein Blut pulsieren ließ und meiner Kehle ein andauerndes Brummen entlockte. »Schau mal, Louise«, schnurrte ich, »was ich dir mitgebracht habe.« Und ich legte ihr mein Geschenk auf die Brust.

Geboren in den letzten Zügen der 60er, wuchs Judith Simon-Graf samt zwei Geschwistern relativ wohlbe­ hütet auf. Der Bruder ein Freak, die Schwester eine ewige Schönheit, sie, die Mittlere, mit jeder Menge Haarfarben und ­Frisuren samt Grenzerfahrungen. Stets mit genügend Phantasie im Kopf. Ihre 90er waren früh rebellisch, später besetzt durch zwei Früchte ihrer Lenden. Kreati­ vität wurde zugunsten nack­ ten Überlebens hintangestellt. Seit 2007 schreibt sie. Gelesen hat sie leise und auch mal laut, vor Publikum, und auch im The­ ater. Zurzeit ist es ruhiger in ihr geworden. Sie schreibt trotz­ dem. Oder gerade deshalb.


Die Oma-Patrouille Eine (H)om(m)age von Hartmut El Kurdi

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Verb »anschreien« suggeriert ja eine gewisse Zielgerichtetheit, ein Sicheinanderzuwenden. Die Karawanenführerin brüllte jedoch irgendwelche von mir nicht zu entschlüsselnden Botschaften geradeaus nach vorne, ohne sich auch nur einmal Als ich meine jetzige Wohnung bezog, scannte ich nach hinten umzudrehen, und ihre Kollegin antwortete ihr mein Umfeld nach betrachtenswerten Menschen ebenso desorientiert, mal in Richtung Häuserwand, mal in und Phänomenen. Und relativ schnell fielen mir Richtung Mops, allerhöchstens mal gegen den Hinterkopf ihrer damals zwei sehr alte Damen auf, die zweimal am vorauseilenden Gesprächspartnerin bellend. Der Mops bellte Tag gemeinsam mit einem kleinen Hund – einem nie. Ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, ob Möpse überhaupt Mops – eine Runde um unseren Wohnblock drehten. bellen können oder vielleicht nur japsen. Oder heiser kläffen. Immer waren sie zusammen unterwegs. Aber nicht Manchmal steigerten sich die lautstarken Gespräche der Omas etwa nebeneinander, den Hund in die Mitte neh- zu einem Donnerhall des Gebrülls und in diesen Momenten mend, nein: Oma Nr. 1 ging stets voran und Oma war klar: jetzt wird sich nicht mehr unterhalten, jetzt wird ein Nr. 2 folgte ihr im Abstand von ca. fünf Metern. Der beinharter Konflikt ausgetragen! Einmal ging Oma Nr. 1 nach einem solchen Streit einfach Hund wurde von Oma Nr. 2 an einer langen Leine hinter sich hergezogen, so dass die drei Wesen den weg und ließ Oma Nr. 2 mit ihrem Hund alleine. Und die konnte Eindruck einer wundersamen kleinen Prozession das kaum fassen. Ungläubig starrte sie hinter der Deserteurin her, unterbrach ihr Starren nur kurz, um sich hilfesuchend machten. Das Kurioseste daran war jedoch, dass die auf der Straße umzusehen: Haben Sie das auch gesehen, ist Damen sich, während sie so karawanenartig die das nicht unglaublich, fragte ihr Blick, den aber niemand aufHäuser umkreisten, lautstark unterhielten. Eigent- nahm, außer mir. Von mir wollte sie aber wohl keine Bestätilich »unterhielten« sie sich nicht, sondern schrien gung, denn als sich unsere Augen trafen, schaute sie schnell sich an. Nein, auch das trifft es nicht ganz, denn das wieder weg. Das überraschte mich überhaupt nicht, denn ich endete es. Überraschend und plötzlich. Begonnen hatte es vor drei Jahren.


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Foto: fotolia/fongleon356

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Drei Tage später erzählte mir eine alteingesessene Nachbarin, was geschehen war. Es war ja auch nicht schwer zu erraten gewesen. Über das Schicksal des Mopses wusste sie jedoch auch nichts. Manchmal stelle ich mir vor, wie er jetzt im Tierheim oder bei irgendeiner verzogenen Nichte der alten Dame in der Ecke herumliegt, kurz seine Schlappohren spitzt und denkt: Was für eine deprimierende Ruhe!

Hartmut El Kurdi lebt und arbeitet als Schriftstel­ ler, Performer und Exil-Braunschweiger mit Kasse­ ler Wurzeln in Hannover. Er schreibt Theater­s tücke, Hörspiele, K inderbücher und Kolumnen (u.a. für die TAZ, ZeitLeo und Stadtkind). Zuletzt von ihm erschienen: »Revolverhelden auf Klas­ senfahrt« (Edition Tiamat) und »Erwachsene verstehen« (Carlsen Verlag). Foto: privat

ging sowieso davon aus, dass die beiden in einer Parallelwelt lebten, in der nur alte Omas und Möpse existierten, allenfalls noch Dackel. Und in der komische Typen, die Zeitungen in Altpapiercontainer füllten, mit Sicherheit keine adäquaten Mitleider abgaben. Trotzdem litt ich mit ihr und fragte mich: Was wird morgen sein? Werden die beiden morgen wieder zusammen auf Streife gehen, oder war hier vielleicht eine jahrzehntelange Freundschaft auseinandergebrochen? Natürlich patrouillierten sie am nächsten Tag wieder gemeinsam die Straße entlang als sei nichts gewesen, und selbstverständlich schrien sie sich dabei in ihrem üblichen High-Energy-Konversationston an und sorgten damit für meine Beruhigung und Unterhaltung. Als ich dann neulich vom Einkaufen zurückkehrte und mir eine der alten Damen alleine, ohne ihre Partnerin und deren Hund und daher logischerweise nicht schreiend, auf dem Bürgersteig begegnete, dachte ich: Nanu, hat es wieder Streit gegeben? Und das auch noch unbeobachtet von mir? Ich bog um die Häuserecke, wachen Blickes, auf der Suche nach Oma Nr. 2, die ja wieder irgendwo erschüttert rumstehen musste. Aber ich sah sie nicht. Weder an diesem Tag, noch am nächsten oder übernächsten.


IMPRESSUM

Geschäftsführer: Reent Stade Redaktion: Volker Macke Anzeigen: Heike Meyer Asphalt gemeinnützige Verlags- und Vertriebsgesellschaft mbH Hallerstraße 3 (Hofgebäude) 30161 Hannover Telefon 0511 – 30 12 69-0 Fax 0511 – 30 12 69-15 Spendenkonto: Evangelische Bank eG IBAN: DE 35 5206 0410 0000 6022 30 BIC: GENODEF1EK1 Gesellschafter: Diakonisches Werk Hannover H.I.o.B. e.V. – Hannoversche Initiative obdachloser Bürger


2 Grußwort 3 Editorial

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INHALT

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Wolfram Hänel: Strozeck, Schmierek, Klackler und ich

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Annika Blanke: Neulich war gestern noch heute

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Kersten Flenter: Wir haben es wirklich nicht leicht

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Ninia LaGrande: Frau Rammstedt

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Johannes Weigel: Der Tütenmann

14

Katja Merx: Mit Kafka auf der Meilenbank

16

Henning Chadde: Von all dem Blei in unseren Venen

18

Marlene Stamerjohanns: Anni

20

Tobias Kunze: Narben

22

Rita Apel: Trotzige Engel

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Robert Kayser: Zweites Leben – gedacht

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Judith Simon-Graf: L’ivresse

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Hartmut El Kurdi: Die Oma-Patrouille. Eine (H)om(m)age

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Impressum



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