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Buchtipps

Die Lehren des Zehnmeisters

Klimawandel, Umweltverschmutzung, Rechtsextremismus, Fakenews, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Flucht und Einwanderung … – in »Realitätsschock« nimmt Bundes-Iro-Träger Sascha Lobo sich vieler Gegenwartsprobleme an. Und obwohl er im Vorwort einräumt, es wegen der durch die Buchform vorgegebenen Kürze nur in Auswahl, schlaglichtartig und subjektiv tun zu können, macht er es wohl gerade deshalb immer sachlich und fundiert und bringt sie auf den Punkt. Punkt. Hier bemerkt man seine langjährige Tätigkeit als Kolumnist angesehener Zeitungen und Zeitschriften. Der Name des Buches ist Programm. Lobo scheut sich nicht, auch Tabus anzusprechen und den Leser womöglich zu schockieren. Beispielsweise wenn er von der Frauenverachtung eines Teils der Einwanderer berichtet oder betont, dass ein Großteil der aus Afrika in die EU einwandernden Menschen vor allem aus wirtschaftlichen Gründen diese Strapazen auf sich nimmt. Dabei grenzt er sich aber deutlich zum rechten Rand ab und zeigt dessen widersprüchliche und heuchlerische Argumentation auf. NIN Sascha Lobo | Realitätsschock – Zehn Lehren aus der Gegenwart. | Kiepenheuer & Witsch | 400 Seiten | 22 Euro

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Wohnglück

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Fluchtfrauen

Einst führten sie ganz unterschiedliche Leben in ganz unterschiedlichen Kontinenten: Maisoun aus Syrien, Samsam aus Somalia und Zahra aus Afghanistan. Jetzt leben die drei Mütter in Baden-Württemberg. Autorin Heike Trojnar hat die drei Geflüchteten besucht. Trojnar ist Journalistin mit Erfahrung in der sozialen Arbeit. Mit Engagement und Einfühlungsvermögen gibt sie den Frauen eine Stimme und macht mit Worten – und eigenen Zeichnungen – anschaulich, was Bomben, Krieg oder eine drohende Zwangsverheiratung bedeuten können. Maisoun aus Syrien und ihre Familie lebten im Wohlstand. Als die Bomben fielen, wagten sie die Flucht übers Mittelmeer und durch völlig überlastete Flüchtlingslager wie Idomeni in Griechenland. Die Englischlehrerin Zahra wurde von ihrem Vater vor einer Zwangsehe gerettet, die ein mächtiger Paschtune der Familie aufdrängen wollte. Außer sich vor Zorn trachtete der Paschtune der Familie nach dem Leben – Zahra musste fliehen. Und die Somalierin Samsam wurde Opfer ihrer Liebe, die den Hass der Clans verursachte. Heike Trojnar gelingt es, Vertrauen zu ihren Interviewpartnerinnen aufzubauen und schmerzliche Erinnerungen vorsichtig zu berühren. Da kann man über ihre zuweilen sehr blumige Ausdrucksweise hinwegsehen. SYR Heike Trojnar | Es bleibt nur noch die Flucht | Oeverbos Verlag | 200 Seiten | 11,90 Euro

Menschenfüchslein

Anstelle der üblichen Kulturtipps empfehlen wir Ihnen auf diesen Seiten eine Reihe zu sätzlicher Buchtipps. Denn bis Redaktions schluss waren Museen und Kleinkunst noch unklar. Lesen geht immer. RED

Am linken Unterarm spannt die Haut, die Sylvia sich übergezogen hat. Auf einer Wäscheleine nahe dem Wald hat sie die gefunden, schlüpft rein, wird Mensch. Lernt, durch die Stadt zu gehen, mit dem schlechten Geruchssinn, den schärferen Augen zu hantieren, ein Smartphone zu bedienen mit ihren langen Krall …, nein, Nägeln. Wenn sie im Himmelwärts tanzt, sind das eher Sprünge als Schritte, ein bisschen raufen, ok, aber nicht zu fest in Menschenohren beißen. Sie muss lernen, was die Menschengesellschaft von ihr verlangt: »Du musst dich gut um ihn kümmern, sagt er. Ach so, denkt sie, überrascht. Muss ich das? Warum?« Aber sie schafft auch das: sich kümmern. Zum Beispiel um Jonathan, der aus Brasilien nach Wien zurückkommt, weil ihm die Liebe nicht so recht gelungen ist und der Aktivismus zu viel wurde. Am Rücken wachsen ihm zwei Tumore. Oder sind das Flügel? In Himmelwärts erzählt Elisabeth Klar von einem liebevollen FreundInnenkreis: Trans, Drag und auch die Grenzen des Menschseins selbst überschreitend, leben sie in einem Land, dessen Grenzen indes unangenehm eng werden. LIB Elisabeth Klar | Himmelwärts | Residenz | 160 Seiten | 20 Euro

Lügende Algorithmen

»Internet, Sprache, Alltag, Kunst, Momente« würde man aufzählen, müsste man Sonja Harters Themen auf den Punkt bringen. Die Grazer Autorin geht in ihrem vierten Gedichtband neue Wege ins Internet: Zu all ihren Gedichten findet sich eine virtuelle Entsprechung, die mittels QR-Code aufrufbar ist. Mit einem oft flapsig lakonischen Ton – im besten Sinne, versteht sich – nimmt uns Harter in einzelne Ausschnitte ihres Lebens mit und geht so verspielt und kreativ mit Sprache um, dass die eigene Kreativität bei der Lektüre geradezu angekurbelt wird. Und nichts Besseres kann in Corona-Zeiten passieren. »Bis die Lügen sich aus ihren Algorithmen schälen, kocht die Milch längst über«, liest es sich im titelgebenden Gedicht **#catporn** und während man noch darüber nachdenkt, welchen Lügen man in letzter Zeit so verfallen ist, schmunzelt man bereits bei Versen wie jenen über die »Lebenslüge, dass es etwas zu erleben gebe«. Zumindest da lässt es sich widersprechen, denn solange wir brav zuhause bleiben, sind Sonja Harters Gedichte Erlebnis genug. KATSCH Sonja Harter | katzenpornos in der timeline | Gedichte | luftschacht verlag | 104 Seiten | 15 Euro

Ermordung der Metapher

»Seit zwei Whiskyflaschen versuche ich nun schon / zu schreiben über: / eine Mutter, die versucht, den brennenden Sohn / mit ihren gestutzten Armen zu löschen […].« Die gewaltsame Zerstörung des menschlichen Körpers wird dem irakischen Lyriker und Aktionskünstler Kadhem Khanjar, geboren 1990 und wohnhaft bei Bagdad, als Leitmotiv durch seine Lebensrealität unablässig aufgedrängt. Die zerbröckelten Schädel, klebenden Hirne und kullernden Augen aus Sandra Hetzls Übersetzung für den mikrotext-Verlag sind hier nicht als Bilder, sondern wortwörtlich zu verstehen. Das Ich ist Mörder, Verräter, Trauernder, Hassender, Opfer. Durch Beschreibungen von Alltagshandlungen im Krieg fragen Khanjars Gedichte auch danach: Wie Mensch sein in der moralischen Verrohung, als Erbe eines Kinderfahrrads, als Überlebender? Ein Einzeiler trägt den Titel Ficken. Er lautet: «Ich knipse das Fleisch ab, bis zum Fingernagel.« Khanjars Gedichte sind keine Versuche. Sie sind, als poetische Zerstörungen von Heldentum und anderen Sinnangeboten martialischer Praxis, radikal im besten Wortsinn. BOY Kadhem Khanjar | Dieses Land gehört euch | Gedichte | mikrotext | 136 Seiten | 14,99 Euro

Hart gegen alle(s)

Gewalt und Messerstechereien sind im Problemviertel Pollock, Glasgow, an der Tagesordnung. Gefühle und Armut werden so gut es geht versteckt. Hier wächst Darren McGarvey unter vier Geschwistern auf, seine Mutter, eine Säuferin, schlägt. Als er zehn ist, lässt sie die Familie im Stich, mit 36 Jahren ist sie tot, Darren da gerade mal 18. Er beginnt, sich politisch im Viertel zu engagieren und wird zum Publikumsmagnet in den öffentlichen Medien. Darren ist talentiert in Kurzgeschichten, liest aber nicht, hat zu viel Respekt vor der Größe eines Buches mit tausenden von Wörtern. Lesen gilt eh als weibisch bei seinen Altersgenossen, die wie er arbeitslos, besoffen und emotional gestresst sind. Doch McGarvey kämpft sich heraus, ihm gelingt ein großer Wurf, das vorliegende Buch. Kaum eine Lektüre, die besser Empathie herstellt zur unterprivilegierten Schicht. Es helfe nichts, nur das System ändern zu wollen, sondern jeder sich selbst, radikal in seinen verkrusteten Ansichten – sowohl die Geldgeber für soziale Projekte, die häufig keine Ahnung von Basisarbeit haben, als auch Unterprivilegierte, die sich in ihrer Lethargie immer wieder nur als Opfer sehen. WIK Darren McGarvey | Armutssafari | Luchterhand Literaturverlag | 320 Seiten | 15 Euro

Ohne Plastik

Kunststoffe ermöglichen Fortschritt und Innovation. Ihre größten Vorteile bergen gleichzeitig die größten Gefahren für unseren Planeten. Plastik ist längst in unserer Nahrungskette angekommen, ein kurzlebiger Wegwerfartikel. Aus Erdölerzeugnissen gewonnen ist die Auflistung der veredelten Kunststoffe schier unüberblickbar. Die verschiedensten Kunststoffe trennen zu wollen gelingt kaum noch und es bleibt im Downcycling ein minderwertiges Produkt übrig wie in Sitzbänken verarbeitet. Der Rest wird in Müllverbrennungsanlagen unter Entstehung giftiger Gase zu Schlacke verbrannt. Das »Plastik Sparbuch« liefert detailliert Wissen und Tipps, wie Plastik vermieden und ersetzt werden kann. Ohne Untergangsstimmung oder erhobenen Zeigefinger. Wir entdecken Rezepte für knackige Gemüsechips, für alternative Kaffeekapseln bis hin zur Frischkäse-Alternative oder den Küchenschwamm aus Paketschnur, all das selfmade, plastikfrei. Ein Buch mit vielen Anregungen zum praktischen Umsetzen im Alltag. Für ein Bewusstsein in Richtung Nachhaltigkeit. WIK smarticular (Hrsg.) | Plastik Sparbuch | smarticular Verlag | 288 Seiten | 16,95 Euro

Ohne Unbeschwertheit

Kinderarmut in Deutschland bedeutet Armut in einem der reichsten Länder der Erde. Dabei geht es nicht um absolutes Elend oder Hungersnot, sondern um Entbehrungen und Benachteiligungen im Verhältnis zum allgemeinen Lebensstandard. Michael Klundt beschreibt in seinem Buch häufige Merkmale, Erscheinungsformen und Strukturen von Kinderarmut. Stigmatisierungen und Diffamierungen sind für die betroffenen Familien demnach oft schmerzhafter als materielle Einschränkungen. In Deutschland sind 19,6 Prozent aller Kinder von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Der Autor erklärt dieses Ausmaß mit der ungerechten Einkommensverteilung. Die obersten 30 Prozent der Gesellschaft besitzen laut Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung 91 Prozent des gesamten Vermögens in Deutschland. Klundt kritisiert, Bildung, Gesundheitsvorsorge und Renten würden – falsch – immer mehr privatisiert und stellt Gegenmaßnahmen vor. Ein spannendes und facettenreiches Sachbuch. MALA Michael Klundt | Gestohlenes Leben | Papy Rossa Verlag | 197 Seiten | 14,90 Euro

Spannung im Kosovo

Amanda Lund ist Unterhändlerin. Die beste, die Schweden hat. Der Auftrag: Sie soll in den Kosovo reisen und einen offenbar entführten Polizisten wieder frei bekommen. Vor Ort muss sie feststellen, dass sich der Kollege, der am engsten mit dem Entführungsopfer zu tun hatte, in illegale Drogengeschäfte verstrickt hat. Zu Hause in Stockholm versuchen derweil die Kollegen, das Leben des Entführten unter die Lupe zu nehmen, von dem außer ein paar entsetzlichen Schmerzensschreien beim Anruf der Geiselnehmer seit Tagen kein Lebenszeichen gekommen ist. Dann erreicht alle die Nachricht: das Lösegeld habe schon jemand bezahlt. Parallel hierzu jagt Ellen, eine ehemalige Polizistin, in einem Chrysler, dessen Kofferraum sie nicht öffnen kann, vom Kosovo aus nach Stockholm. Die Puzzleteile fügen sich, aus Episoden, Einsätzen, Zeugenaussagen und korrupten Kollegen wird nach und nach ein Gesamtbild. Das wiederum ist so überraschend in der Auflösung, so gut getimt, dass der Leser mit angehaltenem Atem liest. Dabei ist klar, dass die Autorin weiß, wovon sie schreibt: Sie war zwanzig Jahre bei Polizei und Militär, hat Auslandseinsätze mitgemacht und ist Politologin. IMM Anna Tell | Nächte des Zorns – Die Unterhändlerin | Rowohlt-Polaris | 347 Seiten | 16 Euro

Krimi conchiert

Der Luxemburger Koch Xavier Kieffer auf neuer Ermittlertour. Diesmal lädt ihn seine Jugendliebe Ketti Faber, inzwischen eine berühmte Patisseurin, die die köstlichsten Schokoladen und Pralinés herstellt, zum Besuch ihrer Herstellungsstätten bei Brüssel ein. Bei dieser Begegnung erzählt ihm Ketti von ihren Plänen, aus Afrika nicht nur weltklasse Kakaobohnen zu importieren, sondern dort auch eine Produktionsstätte für Kakao auszubauen, den Leuten dort unten Arbeit zu geben, etwas ganz Neues zu gestalten. Kurz darauf wird Ketti Faber ermordet. Und Xavier Kieffer kann es nicht lassen: Er will wissen, ob ihre Pläne in Zusammenhang mit ihrem Tod stehen. Ob da irgendwas gelaufen ist, was nicht koscher war und Ketti mordbereite Feinde machte. Die Spur, die er verfolgt, bringt nicht nur ihn selbst in Gefahr, sondern deutet auf Machenschaften hin, deren Realisierung für viele ein einträgliches Geschäft geworden wäre. Ein Krimi – licht, locker, schmackhaft. IMM Tom Hillenbrand | Bittere Schokolade | KiWi | 480 Seiten | 11 Euro

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