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Schreiben, lesen, singen

Rolando Villazón ist ein Multitalent: Er singt, inszeniert Opern, nimmt Platten auf und schreibt Romane. Am 16. Juni erscheint sein Neuester, »Amadeus auf dem Fahrrad«, der durch seine Tätigkeit als Intendant der Mozartwoche in Salzburg inspiriert wurde. Mit Asphalt spricht er über seine Leidenschaften, Heimat und Glauben.

Herr Villazón, Sie leben in einem Vorort von Paris. Sind die Straßen in Ihrem Viertel menschenleer?

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In meiner Straße sind eigentlich nie viele Menschen. Gestern war ich wählen, da waren noch viele draußen. Ich finde es ein bisschen schade, dass wir Polizei brauchen, um sicherzustellen, dass die Leute zuhause bleiben. Aber viele machen es freiwillig. Es ist schwierig, diese Pause vom normalen Leben zu akzeptieren. Jetzt müsste eigentlich jeder »Die Pest« von Albert Camus lesen.

2021 wollen Sie mit Claudio Monteverdis wegweisender Oper »L‘Orfeo« in konzertanter Aufführung auf Tour gehen. Die Tournee musste wegen der Corona-Pandemie ins nächste Jahr verlegt werden. In der Titelrolle werden Sie gemeinsam mit dem Ensemble L‘Arpeggiata unter der Leitung von Christina Pluhar auf der Bühne stehen. Sie haben jetzt viel Zeit, sich intensiv mit Monteverdi zu beschäftigen.

Ich habe meine Rolle natürlich schon gesungen, aber diese

Pause ist eine Möglichkeit, noch tiefer in diese wunderbare Musik einzutauchen.

Sie haben früher als Geschichtslehrer gearbeitet. Haben Sie sich bei der Vorbereitung auf die Oper »L‘Orfeo« mit Monteverdi und seiner Zeit befasst?

Es interessiert mich, ich bin aber noch nicht sehr tief in diese Zeit eingetaucht. Ich habe ein Buch mit Briefen von Monteverdi. Man muss das aber nicht gelesen haben, um etwas wirklich gut zu singen. Die Briefe von Mozart habe ich allerdings gelesen, bevor ich die Rolle des Don Ottavio in »Don Giovanni« gesungen habe. Dabei habe ich mich in den Menschen Mozart verliebt und seine Musik mit anderen Ohren gehört. Auch Monteverdi begleitet mich schon lange, ich habe von ihm bereits Orfeo, Ulisse, »Il combattimento di Tancredi e Clorinda« und die Madrigale gesungen. Die ganze Information, die ein Darsteller braucht, kommt aus dem Stück selbst – und aus den anderen Künstlern, mit denen er singt und spielt. Bücher und Kunst helfen einem, ein Gefühl für die jeweilige Zeit zu bekommen, aber man ist ja kein Teil der Gesellschaft von damals. Wir leben heute.

Wie bereiten Sie sich generell auf eine Rolle vor?

Vielleicht ist es für einen Sänger oder Musiker hilfreich, ein philosophisches Essay oder einen Roman von Diderot zu lesen, wie »Jacques der Fatalist und sein Herr«. Bei einem Regisseur ist das anders, weil man verantwortlich ist für ein Universum, das man aufbaut. So viel Information wie möglich macht dieses Universum reicher und genauer. Christina Pluhar ist für unsere »L‘Orfeo«-Aufführung musikalisch verantwortlich. Sie ist quasi die Regisseurin. Wenn ein Sänger mit zu vielen Ideen ankommt, kann es auch ein Problem für das Projekt sein, weil es dann schon zu sehr definiert ist. Man muss flexibel sein.

Als »Geburtsstunde des abendländischen Musiktheaters« gilt der 24. Februar 1607 – der Tag der Uraufführung von Claudio Monteverdis »L‘Orfeo« am Hof des Herzogs von Mantua. Warum berührt uns diese frühe Oper heute noch?

Heute berührt sie uns sogar noch mehr als vor 100 Jahren. Monteverdi und die ganze »Musica Antica« wird von großen modernen Orchestern aufgeführt. Natürlich gibt es auch eine Bewegung, die alte Musik mit alten Instrumenten spielt. Diese frühen wunderschönen Harmonien und Dissonanzen sind in der klassischen und der romantischen Periode verschwunden. Aber mit der zeitgenössischen Musik sind sie zurückgekehrt. Bei Puccini ist die Oper eine Kunstform mit großer Vokalgeste und gezielter Übertreibung – aber von einem Meister komponiert. Ich habe mich bewusst dazu Wir fühlen diese Welt. Bei Monteentschieden, verdi gibt es diese große musikanicht religiös zu lische Gestik nicht, weshalb seileben und tiefer ne Opern am alltäglichen Leben dran sind. Viele spätere Komponisten haben sich an seiner Oper in die Kunst einzutauchen. »L‘Orfeo« orientiert, sie ist der Archetyp einer Geschichte von Liebe und Tod. Monteverdi bringt das Einfachste mit dem Schwierigsten zusammen. In diesem Mythos steckt von jedem von uns etwas drin. Das zeichnet große Unterhaltungskunst aus. Sie ist in diesen Zeiten unglaublich wichtig.

Was genau macht also das Stück so zeitlos?

Seine moderne musikalische Sprache, der theatralische direkte Kontakt und die archetypischen Figuren.

Rolando Villazón

Geboren als Rolando Villazón Mauleón am 22. Februar 1972 in Mexiko-Stadt, besucht er in den 1970er und 1980er Jahren eine deutsche Schule. Nach einer Gesangsausbildung am nationalen Musikkonservatorium startet Rolando Villazón Ende der 1990er Jahre seine Europakarriere. Zu den Höhepunkten gehören die Rolle des Nemorino in der Oper »L‘elisir d’amore« an der Winter Staatsoper 2005. Ebenfalls an der Seite von Anna Netrebko singt er die Rolle des Alfredo in »La Traviata« bei den Salzburger Festspielen 2005. Netrebko und Villazón gelten jetzt als das Traumpaar der Oper. 2007 nimmt er die französische Staatsbürgerschaft an. 2011 inszeniert er seine erste Oper (»Werther«) an der Opéra de Lyon. 2014 erscheint mit »Kunststücke« sein erster Roman in deutscher Übersetzung. Nach »Lebenskünstler« (2017) folgt nun, im Juni 2020, sein neuester Roman: »Amadeus auf dem Fahrrad«. Bis heute hat er rund 35 Schallplatten veröffentlicht. Als Intendant der Mozartwoche in Salzburg wird er das weltweit wichtigste Mozartfestival bis 2023 künstlerisch gestalten. Rolando Villazón hat mit seiner Frau Lucia zwei Söhne und lebt im Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine. ON

Foto: Felix Broede/Deutsche Grammophon

Foto: APA/picturedesk.com/Picture-Alliance

Rolando Villazón, seine Frau Lucia und die Söhne Matteo (re.) und Dario bei der diesjährigen Mozartwoche in der Salzburger Residenz.

Hat Monteverdi unsere abendländische Musik grundlegend verändert?

Absolut! »L‘Orfeo« wird als die allererste Oper bezeichnet. Aber er war ja nicht der einzige Komponist seiner Zeit, sondern Teil einer Bewegung, die auf der Suche war. Damals war die große Frage, ob man Musik mit Worten überhaupt zusammenbringen darf. Aber Monteverdi hat Unsere ganze Geschichte macht uns es getan, und zwar so, dass jedes seiner Stücke aus heutiger Sicht ein echter Schatz zu dem, der wir ist. Er war ein Genie. Für sind. Die Heimat ist mich ist sein »L‘Orfeo« so nur ein Teil von magisch wie eine Erzählung unserer Geschichte. von Jorge Luis Borges. Es gibt darin keinen Punkt und kein Komma zu viel oder zu wenig. Und dennoch hat Monteverdi genügend Platz für Kreativität gelassen. Unsere Regisseurin kann zum Beispiel entscheiden, wer was mit wem spielt. Die Proben mit Christina Pluhar und L‘Arpeggiata sind fantastisch. Man spielt einfach neun Stunden ohne Pause durch.

Welche Herausforderungen musikalischer Art kommen da auf einen Sänger zu?

Jede Rolle hat ihre eigene Herausforderung. Bei Orfeo kommt es darauf an, die Balance zu finden zwischen dem, wer ich als Sänger und Künstler bin und dem, was die Musik von diesem Sänger und Künstler braucht. Man kann diese Rolle nicht wie den Alfredo in »La Traviata« singen. Es gibt andere Stücke, bei denen man die Musik nutzen kann. Hier geht es darum, ernsthaft in der Rolle zu bleiben und sich auf die Geschichte zu konzentrieren. Es reicht nicht, nur schöne Töne zu machen, man muss Farben finden zusammen mit all den anderen Kollegen, Sängerinnen und Sängern. Das hat etwas mit Stil zu tun. Schreibt man Variationen von Themen und neue Noten oder hält man am Original fest. Christina Pluhar möchte es gern pur machen und nur kleine Kadenzen hinzufügen.

Weil das Stück in seiner Urform perfekt ist?

Ja, aber man hat das Gefühl, dass Monteverdi Sängern und Musikern auch Freiheiten lässt. Ich mag es, ein Stück so nah wie möglich am Original zu singen. Hier und da gibt es bei Monteverdi die Möglichkeit, einen Ton höher zu gehen. Aber nur zwei, drei Noten lang und dann wieder zurück, um zum Beispiel ein Gefühl von Licht zu verstärken, (trägt singend ein Beispiel vor) Koloraturen zu singen, wäre hier nicht angemessen.

Wo proben Sie?

Hier in Paris. Ich hoffe für unsere Welt, dass wir jetzt proben können. Alles andere würde heißen, dass das Virus nicht mehr unter Kontrolle ist. Dies ist die größte Krise unseres Lebens. Und trotzdem sind wir jetzt angehalten, für ein paar Monate auf unserem Sofa zu bleiben und uns von unseren Lieben vorübergehend zu verabschieden. Ich stamme aus Mexiko, meine Eltern haben dort auch schlimme Krisen erlebt, aber eher wirtschaftlicher Art. Natürlich gibt es auch Menschen, die durch das Virus Angehörige verloren haben. Das ist schlimm. Zufällig habe ich letztes Jahr »Die Pest« von Albert Camus noch einmal gelesen. Es ist ein starkes Buch. Camus ist ein Philosoph der Realität und nicht der Hoffnung.

Gerade Opernstars achten besonders auf ihre Stimme und haben Angst vor Ansteckungen aller Art. Wie gehen Sie mit der Corona-Panik um?

Jetzt fühlen alle Menschen, was wir Sänger unser ganzes Leben fühlen. Jemand hustet oder niest und man denkt: Vorsicht! Aber ehrlich gesagt bin ich als Sänger im Moment nicht wichtig. Es ist viel wichtiger, dass wir als Menschen Solidarität zeigen und diejenigen unterstützen, die jeden Tag 20 Stunden im Krankenhaus arbeiten oder die ganze Zeit alleine sein müssen. Manchmal helfen schon Kleinigkeiten, indem man alten Leuten Lebensmittel vorbeibringt. Wir müssen alle aufpassen, uns nicht anzustecken und andere nicht zu gefährden. Keine Angst zu haben, ist nicht der richtige Weg, wir sollten Angst um den anderen haben. Also deshalb lieber zuhause bleiben, das ist für viele gar nicht so schlimm.

Wie wichtig ist die Bühne für Sie? uns verhalten, hängt vom Leben ab und Sie fehlt mir schon, aber ich habe mich mit Keine Angst zu nicht vom Tod. Ich glaube an Mozart. Ich der Situation arrangiert. Ich liebe es auch, haben, ist nicht der habe mich bewusst dazu entschieden, nicht zu schreiben und zu lesen. Ich habe viele richtige Weg, wir religiös zu leben und tiefer in die Kunst einandere Aktivitäten. Was würde ein Bühnenkünstler vermissen? Wahrscheinlich den Kontakt mit dem Publikum. Aber jeder sollten Angst um den anderen haben. zutauchen. Ich habe eine atheistische Vision von der Welt entwickelt. Demnach könnte es vielleicht einen Gott geben. Ist dieser Gott Mensch vermisst gerade den Kontakt mit jemand, der uns beschützt? Nein, das glaube Familie und Freunden. Wenn du den Applaus vermisst, bist du ich nicht. Ich vertraue der Wissenschaft, habe aber auch FraNarzisst und hast jetzt ein Problem. Singen kann ich aber auch gen. Am Ende sind mir die Daten wichtiger. In der Corona-Krise ohne Bühne. Diese Situation zeigt uns, was wirklich wichtig ist. sollten Entscheidungen nach Zahlen und Fakten getroffen wer

Sie müssten eigentlich wissen, was Einsamkeit ist: Nach

den, statt nur auf Gott zu vertrauen.

dem Schulabschluss wollten Sie Priester werden und verWie würden Sie Ihr mexikanisches Temperament umbrachten einige Monate in den Bergen in einem Kloster. schreiben?

Es war ein großes Haus mit vielen Brüdern. Aber ich hatte die Mein Temperament ist nicht so, wie es ist, weil ich Mexikaner Möglichkeit rauszugehen. Ich musste nicht die ganze Zeit an bin. Es ist so, weil ich ich bin. Zum Beispiel ist das Temperaeinem Platz bleiben. ment von jemandem wie dem lateinamerikanischen Tenor Juan Diego Flórez, den ich bewundere, komplett anders als Welche Rolle spielt der Glaube heute in Ihrem Leben? meines. Er wurde als der Roger Federer der Oper bezeichnet. Keine. Ich habe viel gelesen, nicht nur in der Bibel, sondern Das ist ein super Satz, einen genialen Künstler zu beschreiben. auch über andere Religionen und Philosophen. Auch atheisAber nicht alle Peruaner sind so wie Juan Diego, und nicht alle tische Literatur. Entweder man hat Glauben oder man hat ihn Mexikaner so wie ich. Natürlich bin ich geprägt durch meine nicht. Das ist ein Gefühl, das hat nichts mit Intelligenz zu tun. Herkunft, aber ich bin jetzt fast so lange in Europa wie ich in Und wenn es weg ist, ist es weg. Es gibt Zeiten, in denen ich es Mexiko war. Die Kindheit ist eine besonders wichtige Zeit, aber vermisse, in anderen nicht. Es ist vielleicht schwieriger, ohne unsere ganze Geschichte macht uns zu dem, der wir sind. Die die Hoffnung zu leben, dass nach dem Tod noch etwas kommt. Heimat ist nur ein Teil von unserer Geschichte. Aber ich glaube, das ist die Realität. Die Entscheidung, wie wir Interview: Olaf Neumann

Familie

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