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Die eigene Tür

Housing First heißt Wohnen für Obdachlose ohne Bedingungen. In Hannover-Vahrenwald hat das erste landesweite Projekt dieser Art begonnen. 15 BewohnerInnen sind jüngst eingezogen. Einer davon: Asphalter Franz. Wir haben ihn besucht.

Ein kleiner roter Teppich, eine Grünpflanze, Vorhänge an bodentiefen Fernstern: der Anfang ist gemacht, das Leben auf der Straße Geschichte. Für Franz, möglichst für immer. Denn Franz hat jetzt einen Mietvertrag. Unbefristet. Im ersten HousingFirst-Projekt von Niedersachsen in Hannover-Vahrenwald. Housing First, ein Importkonzept aus Amerika, setzt in der Obdachlosenhilfe auf eigenen Wohnraum ohne Wenn und Aber: Erfolgreiche Sozial- und Suchtarbeit, Therapien und Schuldenregulierung sind dabei nicht länger Voraussetzung für eine Wohnung, sondern ihre Folge. So die Idee.

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Vor sechs Wochen konnte Asphalt-Verkäufer Franz (58) zusammen mit seinem Verkäufer-Kollegen Karl und 13 weiteren Glücklichen in den roten Klinkerbau der Stiftung »Ein Zuhause« im Karl-Imhoff-Weg einziehen: Neun Männer und sechs Frauen aus der hannoverschen Obdachlosenszene – zwischen 19 und 59 Jahren alt – haben nach einem von Stadt und Region durch-

geführten Losverfahren ihre bisherigen Bleiben in Massenunterkünften, Kleingärten, Sleep-Ins und den vorübergehenden Hotelunterbringungen gegen einen echten Mietvertrag eingetauscht. »Dieser Moment, als ich den Schlüssel für meine Wohnungstür bekam, das hat schon Freudentränen gemacht. Ihr könnt euch das vielleicht nicht vorstellen, aber das Gefühl zur ganz eigenen privaten Toilette gehen zu können, das ist einfach ganz großartig«, sagt Franz mit badischem Dialekt und rückt fürs Asphalt-Foto inmitten seiner eigenen vier Wände sein Käppi gerade. Er zeigt seine nagelneuen 35 Quadratmeter gern: »Kochzeile, Kühlschrank, Waschmaschine, alles war schon da, die Möbel suche ich mir gerade mithilfe der Sozialarbeiterinnen zusammen, ein schönes Sofa habe ich schon gefunden, das weiß ich alles sehr zu schätzen.« Franz ist kaputt, wie er sagt: Milz gerissen, verschraubte Wirbelsäule, ein chronisches Lungenleiden. »Der Arbeitsunfall, als ich fünf Meter tief vom Hochlagergerüst gefallen war, hat mein Leben in Unordnung gebracht«, sagt Franz. Das war vor Jahren, in Düsseldorf gestrandet, landete er in einer toxischen Liebesbeziehung in der Trinkerszene, löste sich daraus mit Mühe. Seit gut einem Jahr lebt er in Hannover. Zunächst mit Schlafsäcken auf Parkbänken am Fluss, dann mal am alten Flughafen, mal im Sleep-In in der Wörthstraße. Immer von der Hand in den Mund. 450 Euro-Jobs könnte er noch machen, sagt er. Hat aber aktuell keinen. So zahlt die Miete das Jobcenter. Für das Wenige, was er braucht, reicht ihm der Hartz IV-Regelsatz. »Schönes« finanziert er sich seit einigen Monaten über den Asphalt-Verkauf.

Freiheit und Verantwortung

Wer zu Franz oder den anderen Ex-Obdachlosen will, muss klingeln. Wie in jedem gewöhnlichen Mietshaus. So soll das sein. Die Sozialarbeit ist, anders als in Wohnheimen oder Unterkünften, nur ein Angebot, betont Susanne Kolb, die in 20 aktiven Jahren in der Obdachlosenhilfe gestählte Sozialarbeiterin vor Ort. »Manche nutzen unsere Hilfe häufig, andere kommen sehr gut allein klar, wieder andere haben eigene Betreuung über andere Träger wie die Zentrale Beratungsstelle.« Alle 15 BewohnerInnen seien höchst unterschiedlich. Manche kämen von Anfang an gut mit der ungewohnten Freiheit und Verantwortung fürs eigene Leben zurecht, andere bräuchten viel Unterstützung. »Einer unserer Bewohner stammt von der Szene am Weißekreuzplatz, kam hier ziemlich ungepflegt mit langem Bart an. 14 Tage später war der Bart ab, seine Wohnung blitzsauber, alles akkurat aufgeräumt. Der Mann erfüllt sich hier sein Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung, was er sich auf der Straße schlicht nie erfüllen konnte«, erzählt Kolb. Andere Bewohner brächten auch Wochen nach dem Einzug immer noch Besuch von der Straße mit, erzählt die Sozialarbeiterin. Auch zum gemeinsamen Trinken, warum auch nicht? Erstmal. »Die brauchen die alten Kontakte, die fürchten das Alleinsein,« erläutert Kolb. Housing First gebe ihnen die Zeit, die sie brauchen, um ihre Angelegenheiten in ihrem Tempo zu ordnen. Straße verändert Menschen, Wohnung aber auch. Der Weg zurück ist unterschiedlich lang.

Steigende Nachfrage

Der Bedarf an Housing-First-Wohnungen ist groß. Weit mehr als dreimal so viele Menschen aus der Obdachlosenszene hatten sich auf die 15 Wohnungen beworben. »Als das Projekt auch szeneöffentlich bekannter wurde, stieg die Zahl der Interessenten abermals«, weiß Stiftungsrat Andreas Sonnenberg, im Hauptberuf Chef des räumlich nicht weit entfernten Männerwohnheims Werkheim – einer großen Einrichtung der stationären Wohnungslosenhilfe. Dort werden dezidiert verbindliche Hilfepläne geschmiedet, die rund 200 Männer von der Straße mit klarer Struktur und Sozialarbeit auf ein Leben nach der Obdachlosigkeit in eigener Wohnung vorbereiten. Für einige dauert der Prozess Monate, für andere Jahre, manche bleiben aufgrund zahlreicher Hemmnisse dauerhaft. Einen Gegensatz zu seinem neuen Housing-First-Engagement im Karl-Imhoff-Weg sieht der Fachmann nicht: »Housing First kann die herkömmliche Wohnungslosenhilfe nicht ersetzen, es ist aber ein starkes neues Instrument für uns, Menschen, die wir bisher nicht erreicht haben, versorgen zu können, das zeigt gerade auch die steigende Nachfrage.«

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Foto: V. Macke Wohnen mit eigenen Briefkästen und Klingeln: Sozialarbeiterin Susanne Kolb mit Bewohner Franz vor dem Eingang des Housing-First-Hauses.

Die Sozialarbeit wird von der Stadt und Region Hannover für drei Jahre mit 240.000 Euro finanziert. So lange dauert die Phase als Modellprojekt. »Wir müssen den Menschen jetzt Zeit geben, sich einzuleben. Mittelfristig wird die spannende Frage sein, ob für alle Beteiligten Sozialarbeit als reines Angebot ausreichend ist, oder ob für den einen oder anderen Bewohner ein verbindlicheres Angebot bereitet werden sollte«, sagt Regionssozialdezernentin Andrea Hanke. »Allein in einer Wohnung zu leben stellt sicherlich gewisse Anforderungen an die Menschen, die es nicht mehr gewohnt waren, so zu leben.« Die sichere Finanzierung der dafür nötigen wissenschaftlichen Begleitstudie steht indes noch aus.

5,60 Euro kalt

Nicht nur in sozialarbeiterischer Hinsicht ist das Projekt im Karl-Imhoff-Weg besonders. Auch finanziell. »Wir konnten mit dem Bau der 15 Wohnungen zeigen, dass Wohnungsneubau mit ganz gewöhnlichen Fördermitteln für eine spätere Kaltmiete von 5,60 Euro pro Quadratmeter realisierbar ist«, betont Stiftungsrat Sonnenberg. Ein interessanter Hinweis in Zeiten, in denen sich die politischen Parteien mit Versprechen in Sachen Wohnungsbau auf den Kommunalwahlkampf vorbereiten. Ihm sei klar, dass das kleine Housing-First-Projekt den überhitzten Wohnungsmarkt in Hannover nicht substanziell beeinflussen könne, so Sonnenberg. »Wir finden für unsere Klientel deshalb keine Wohnungen, weil es sie auch für andere längst nicht mehr gibt. Kleine, günstige Zweizimmerwohnungen mit akzeptablen Nebenkosten sind Mangelware.« Gleichwohl plane die Stiftung schon das nächste Projekt: Auf dem zweiten, noch unbebauten Teil des von der Stadt Hannover zur Verfügung gestellten Grundstücks solle alsbald ein Haus für wohnungslose Familien entstehen. Asphalter Franz freut sich schon drauf: »Nachbarn zu haben, »Ihr könnt euch das das kann auch Glück vielleicht nicht vorstelbedeuten.« Vielleicht len, aber das Gefühl entstünden Freundschaften daraus. So wie die zum Asphalt-Kollezur ganz eigenen privaten Toilette gehen gen Karl, der nur drei zu können, das ist einTüren weiter sein klei- fach ganz großartig.« nes Appartement hat. Franz, Asphalt-Verkäufer Manchmal sitzen sie abends lange zusammen und erzählen, mal in der einen, mal in der anderen Wohnung. Denn zum Bedürfnis, die eigene Tür hinter sich zu machen zu können, gehöre doch auch das andere: »Das Bedürfnis, die Tür für andere zu öffnen.« Selbstbestimmt. Volker Macke/Jasmin Kohler/StreetLIVE*

*StreetLIVE ist eine Kooperation von

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