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Angespitzt

»BESTANDSREGULIERUNG«

Jäger haben es auch nicht leicht. Im Unterschied zu den von ihnen geschossenen Tieren, vermehren sie sich ungehemmt. Allein in Niedersachsen gibt es mittlerweile 60.000 Jäger. Und wer erst einmal einen Jagdschein hat, will auch totmachen. Das muss man sich mal ausrechnen: Sagen wir, zehnmal auf die Jagd und jeweils zwei Tiere geschossen, macht bei allen Jägern im Land 1,2 Millionen tote Tiere. Pro Jahr!

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Die müssen ja irgendwo herkommen. Deshalb können gar nicht genug Tierarten in das Jagdrecht aufgenommen werden. In Niedersachsen sind es derzeit 55. Fehlt außer Goldfischen und Milchkühen nur der Wolf. Und der ist ein klarer Konkurrent. Immerhin gibt es Sonderabschussgenehmigungen. Wie kürzlich für zwei Rüden. Erschossen wurden aber zwei Welpen. Kann man verwechseln, sagt Olaf Lies. Minister für Umwelt (sic!). Auch Jäger werden älter, im Wald verdecken lauter Bäume die Sicht und abends wird es dunkel. Wer da noch zum Zuge kommen will, schießt auf alles, was sich bewegt. So kann es eben mal Welpen treffen oder einen Kollegen, wie letztes Jahr. Das ist dann auch eine Form der Bestandsregulierung.

Ulrich Matthias

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Foto: Virrage Images/shutterstock.com RAKETE IM KOPF

Am 1. Juli treten mit dem Glücksspielstaatsvertrag 2021 neue Regeln für Automaten, Wetten, Roulette und Co in Kraft. Ein maximal erreichbarer Kompromiss, sagt die Landesregierung. Ein Desaster, sagen Suchttherapeuten. Denn vieles, was bislang verboten war, soll künftig erlaubt sein.

Können beim Fußball beide Mannschaften gleichzeitig gewinnen? Oder beim Schach beide siegen? Oder die Kugel beim Roulette pair und impair gleichzeitig fallen? Der jüngst ratifizierte Glücksspielstaatsvertrag 2021 (GlüStV) nennt einleitend zwei Ziele: Die Entstehung von Glücksspielsucht verhindern und einen vermeintlich natürlichen Glücksspieltrieb ermöglichen. »Gleichrangig.«

Bei Thom fing es in einer Gaststätte hinterm Steinhuder Meer an. Das ist Jahre her. Er hatte eine kleine Reinigungsfirma aufgebaut, hatte eine Familie, Haus und Hof, zwei private PKW. Das Spiel am Automaten bot die Chance, einen kleinen finanziellen Engpass zu meistern. Automatenspiele müssen regelmäßig ausschütten, mit Glück hat man Glück, wenn man davorsitzt, auf die Räder starrt, die Tasten blinken und »Drück mich« rufen. Thom hatte Glück. Den richtigen Moment abpassen, das kann man können, wenn man übt, täuscht einem der Automat vor. Wenig später drückt Thom mit anderen. In der Spielhalle drücken alle, mehrere Automaten gleichzeitig. Längst ist es das ganze Ambiente, das Fokussieren, der Alltag draußen, die Gemeinschaft der Einzelkämpfer drinnen, der Kampf Mann gegen

Foto: MHH

»DOPAMIN KICKT«

Was passiert da eigentlich, wenn man spielsüchtig wird? Ein Gespräch mit Privatdozent Dr. Alexander Glahn, Leiter der Forschungsgruppe Abhängigkeitserkrankungen sowie der Suchtambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover.

Herr Glahn, was genau passiert im Körper eines Menschen, wenn er glückspielsüchtig wird?

Wir unterscheiden stoffgebundene und nicht stoffliche Abhängigkeiten. Im Falle des Glücksspiels haben wir es mit nicht stofflicher Sucht zu tun. Der Reiz beim Spiel, Gewinne oder auch nur die Aussicht auf Gewinne, die Aussicht, die Maschine zu besiegen, aktivieren im Limbischen System im Gehirn ein ganzes Botenstoff-System. Dopamin, Serotonin, Noradrenalin und viele weitere Stoffe sind daran beteiligt. Dopamin ist landläufig als Glückshormon bekannt. Man ist kurzfristig high vor Glück. Wenn Gewinne ein solches Wohlgefühl zur Folge haben, kann das dazu führen, dass der Spieler immer wieder diesen Dopamin-Kick sucht und in immer kürzeren Abständen wieder spielt.

Warum werden manche Glücksspieler süchtig, andere nicht?

Ein wesentlicher Faktor beim Glücksspiel ist die Ereignisfrequenz. Während beim Lottospiel nur zweimal pro Woche etwas passiert, kann am Automaten oder im Online-Casino quasi rund um die Uhr gespielt werden. Lotto ist also kaum suchtgefährdend, Automatenspiel, Sportwetten und Online-Casinos in hohem Maße. Die schnelle Folge kurzfristiger Erfolge am Automaten beispielsweise beeinflusst die Nervenverknüpfungen im Gehirn. Das Suchtgedächtnis entsteht. Je mehr und je häufiger der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet wird, umso mehr werden im Gehirn entsprechende Rezeptoren gebildet. Spielt man plötzlich nicht mehr, fehlen die Reize, fehlt das Dopamin. Verkürzt gesagt gibt es dann zu viele Rezeptoren für den normalen Hormonspiegel. Es kommt dann zu Entzugserscheinungen wie Unruhe, Schwitzen und Schlafstörungen. Solche Veränderungen im Gehirn lassen sich sogar mittels MRT sichtbar machen.

Sind bestimmte Menschen besonders gefährdet, gibt es also quasi schlechte Voraussetzungen?

Mehrere Faktoren spielen eine Rolle. Genetische Dispositionen, Lernmechanismen und dysfunktionales Verhalten bereits in der Familie, also Suchtverhalten irgendeiner Art. Studien zur Geldautomatenspielsucht haben ergeben, dass vor allem Männer zwischen 31 und 47 Jahren mit geringerer Schulbildung, Migrationshintergrund sowie Arbeitslosigkeit besonders betroffen sind. Eine Sucht für Online-Casinos entwickeln eher Jugendliche und junge Männer in ihren Zwanzigern. Aufgrund der extrem hohen Ereignisfrequenz in diesem Bereich braucht es hier auch nur rund zwei Jahre, bis aus dem ersten Spiel eine handfeste Sucht entsteht.

Wie helfen Sie den Menschen?

In Gruppentherapien werden unter anderem Strategien zur Selbststeuerung und Reduktion der Verhaltensexzesse aufgebaut, es geht aber auch um den Umgang mit Rückfällen oder den Aufbau von alternativen Freizeitaktivitäten. Erstes Therapieziel ist die Motivation, etwas ändern zu wollen. Dafür ist es nötig, dass die Betroffenen erkennen, was die positiven Aspekte ihres Spielverhaltens sind. Letztlich geht es darum, das schädigende Verhalten zu verlernen und durch ein gesundes Verhalten zu ersetzen. Völlige Abstinenz ist – anders als bei stoffgebundenen Abhängigkeiten – nicht Ziel unserer Spielsuchttherapie.

Wenn das Spiel mir so viele Glücksgefühle beschert hat, kann ich dann nach einer Therapie noch Glück empfinden oder bin ich durch den Kick-Missbrauch abgestumpft?

Jeder und jede kann lernen, wieder ohne den Stimulus Spiel Glück zu empfinden. Aber das geht nicht von heute auf morgen. Eine Therapie kann durchaus zwei Jahre dauern.

Maschine. Immer wieder Verluste, haarscharf dran vorbei. Beim nächsten Mal – da werden die Symbole wieder in Reihe stehen. Ganz sicher, dachte sich Thom.

Thom ist heute Asphalt-Verkäufer, hat mit einiger Mühe die Schulden im Griff, die Sucht kontrolliert. Er ist nicht allein. Zwei Handvoll Asphalter waren mal Glücksspielen verfallen. Wie aktuell rund 42.900 Menschen in Niedersachsen. »Menschen mit glücksspielbezogenen Problemen«, wie das die Niedersächsische Landesstelle für Suchtfragen (NLS) offiziell nennt. »Der Glücksspielstaatsvertrag 2021 stellt aus suchtpräventiver Sicht einen klaren Paradigmenwechsel der Glücksspielregulierung in Deutschland dar«, schreiben ebendiese landeseigenen NLS-Fachleute in einer internen Stellungnahme zum jüngst vom Landeskabinett beschlossenen Vertrag, und weiter: »Das staatliche Monopol für Glücksspiele, das bislang eine begrenzte und kontrollierte Zulassung vorsieht, wird durch ein großzügiges Lizensierungsmodell ersetzt, das private Angebote kommerzieller Glücksspiele und damit auch das Online-Glücksspiel mit seinen hohen Suchtgefahren legalisiert.«

Die harten warnenden Einwände haben nichts genützt. Im Juli geht es los. Mit den legalisierten Online-Casinos und Live-Sportwetten, mit mehr Werbung und weniger Restriktionen. »Es gibt noch eine Reihe ungeklärter Fragen: Wie werden die Vorgaben umgesetzt? Wer verpflichtet die Anbieter und wer kontrolliert sie? Mit welchen Mitteln?«, fasst die Suchtbeauftragte des Landes Niedersachsen, Bärbel Lörcher-Straßburg, die Folgen des Paradigmenwechsels für den Spieler- und Jugendschutz zusammen – das eine Ziel des GlüStV fest im Blick. Diese und weitere Fragen soll zwar eine neu zu schaffende länderübergreifende Aufsichtsbehörde in Sachsen-Anhalt klären. Allerdings, so Schätzungen von Verwaltungsfachleuten, erst in zirka vier Jahren. Solange wird der Aufbau der neuen Behörde brauchen, solange also werden die privaten, jetzt legalisierten Anbieter, die auf Malta und anderswo ihre Zentralen des bisher illegalen Online-Spielmarktes betreiben, bar jeder Kontrolle sein.

Menschen wie Thom sitzen derweil wöchentlich in den Sprechstunden von Silke Quast und Stefan Krüger. Quast ist eine von 24 halben Stellen im Land, die dezidiert Glücksspielberatung anbieten. 800.000 Euro lässt sich das Land das jährlich kosten. Seit zehn Jahren, der Ansatz wurde nie erhöht. Unabhängig von gestiegenen Personalkosten und insbesondere ungerührt davon, dass die Arbeitsbelastung kontinuierlich gestiegen ist. »Ich bin gestartet mit 25 Beratungsfällen im Jahr und bin jetzt bei 125«, sagt Quast, die bei der Suchtberatung des Diakonischen Werks Hannover angestellt ist. Hoch problematisch findet die Landessuchtbeauftrage Lörcher-Straßburg die seit Jahren ausbleibenden Finanzierungsanpassungen. »Meiner Meinung nach müsste das Geld verdoppelt werden.« Erst recht jetzt, wo mit dem neuen GlüStV der Bedarf – da sind sich alle Fachleute bundesweit einig – rapide steigen wird. »Je mehr ich als Staat liberalisiere, umso mehr Schutzmechanismen müsste ich eigentlich einbauen«, mahnt Lörcher-Straßburg.

Foto: G. Biele

»Was wir für Schicksale erleben ist schon schauerlich«, so die Suchttherapeuten Silke Quast und Stefan Krüger.

Geldmaschinen im Land

In Niedersachsen gibt es 1.169 Spielhallenstandorte mit insgesamt 14.748 Geldspielgeräten, zudem sind 3.223 Geldspielgeräte in Gaststätten angemeldet. Mit den Geräten in Spielhallen wurden 2019 gut 490 Mio. Euro in die Kassen der Betreiber gespült. Im Jahr 2012 waren es noch knapp 370 Mio. Euro, ein Plus von rund 33 Prozent. Im Vergleich zum Jahr 2006 gar ein Plus von 150 Prozent (2006: 195 Mio. Euro). In Geldspielgeräte in Gaststätten wurden nochmal rund 50 Mio. Euro versenkt, 20 Mio. Euro mehr als noch im Jahr 2012 und 25 Mio. Euro mehr als 2006 und damit ein Plus von 63 Prozent gegenüber 2012 und 102 Prozent mehr als 2006. Quelle: Trümper/Heimann, Angebotsstruktur der Spielhallen und Geldspielgeräte in Deutschland, 15. Auflage.

Aber das sieht bisher nicht danach aus. Längst reicht Quasts halbe Stelle nicht mehr für den Beratungsbedarf. Ihr Kollege Stefan Krüger unterstützt Quast seit einiger Zeit. Nicht jeder, der zur Beratung kommt, bleibt auch für eine längere Therapie, die Abbrecherquote ist hoch, wer bleibt habe aber eine gute Chance auf Heilung. »Doch viele folgen zunächst externem Druck aus der Familie oder seitens des Arbeitgebers«, sagt Krüger. Erst wenn die Bombe platzt, Privatinsolvenz unvermeidlich ist, weil alles Geld verspielt ist und alle Schulden nicht mehr getilgt werden können, beginnt für viele Spieler der mühsame Weg zurück. Schuldensummen von 40.000 bis 70.000 Euro allein durchs Spielen seien keine Seltenheit. »Was wir für Schicksale erleben ist schon schauerlich«, sagt Quast. »Oft glauben die Menschen dann immer noch, dass das mal eben schnell zu lösen ist, aber da irren sie. Manche brauchen sogar einen rechtlichen Betreuer, und viele bleiben zwei Jahre lang in Therapie.« Angesichts der schmerzhaften Wege, die heute schon die Spielsüchtigen gehen müssen, und angesichts ihrer Verluste, finanziell wie familiär, halten die Praktiker die mit dem neuen GlüStV vereinbarte Zulassung von Live-Sportwetten und Onlineautomatenspielen für geradezu fahrlässig. Influencer, die im Internet live zocken und zu hohen Wetteinsätzen auffordern, und Sportgrößen, die ungeniert zu Sportwetten animieren, werden dann zur Falle werden für Jugendliche und junge Erwachsene mit Hoffnung auf Teilhabe und schnelles Geld. Schon heute, so die NLS, haben trotz der Teilnahmebeschränkung »ab 18 Jahren« 61 Prozent der Jugendlichen im Alter von 16 bis 17 Jahren Glücksspielerfahrung. Und Kahn, Kimmich, Süle und Co werben schon heute munter für Sportwetten. Demnächst darf live in Echtzeit gewettet werden, aufs nächste Tor, aufs nächste Ereignis. »Das ist dann der ultimative Thrill, die Rakete im Kopf«, sagt Quast. »Der Tenor der jetzt anstehenden Legalisierung ist verheerend, jetzt werden diejenigen, die bisher illegal Onlinespiele angeboten haben, mit einer Lizenz belohnt«, so Krüger. »Aber, da darf man nicht naiv sein, hier werden schlicht neue hohe Steuer-

»Anders als beim Rauchen stirbt man beim Glücksspiel nicht – zumindest nicht direkt, die Suizidrate ist hoch.«

Bärbel Lörcher-Straßburg, Drogenbeauftragte des Landes Niedersachsen einnahmen generiert werden.« Rund 5,4 Milliarden Euro hat der Staat bundesweit im Jahr 2019 aus dem legalen Glücksspiel eingenommen, davon mehr als 50 Prozent aus Spielen an Geldspielautomaten. Der Gesamtertrag des legalen Marktes samt Automaten, Spielbanken, Pferdewetten, Lotto, Toto und Co betrug im Jahr 2019 rund elf Milliarden Euro. Im bisher illegalen Glücksspielmarkt bieten derzeit 290 Internetanbieter Online-Casinos, Online-Poker oder Online-Lotterien an. Und viele spielen schon heute munter mit, wie Zahlen der Suchthilfe zeigen: 17 Prozent der Menschen mit offiziell diagnostiziertem »pathologischen Spielen« gaben schon 2019 an, süchtig nach Online-Glücksspiel zu sein.

Weil es, so die Landesregierung, »mit den bislang zur Verfügung stehenden aufsichtsrechtlichen Maßnahmen nicht gelungen (war), das unüberschaubare Glücksspielangebot im Internet entscheidend einzudämmen«, soll dieses »Online-Glücksspiel ab Juli in ein Erlaubnisverfahren überführt« werden. Volker Macke

Foto: V. Macke

Nur im Bild hinter Gittern: Idole wie Oliver Kahn werben für Sportwetten.

LINDNER WILL CHANCEN

Im September wird gewählt. Die Straßenzeitungen Deutschlands* läuten den Wahlkampf zur Bundestagswahl ein. Es geht um Wohnen, Arbeit, Armut, um Lösungen. Wir fragen die SpitzenpolitikerInnen der demokratischen Parteien. Monat für Monat. Nach Habeck und Scholz heute Christian Lindner von der FDP.

Herr Lindner, Sie besitzen einen Porsche, eine Rennfahrerlizenz und einen Jagdschein, sind also ein gemachter Mann. Wir 20 Straßenzeitungen glauben, dass Sie trotzdem etwas mit obdachlosen Menschen gemein haben. Raten Sie mal, was.

Das Wort »gemachter Mann« finde ich rätselhaft, denn es klingt für mich nach dem Zutun von anderen. Tatsächlich bestreite ich seit meinem 18. Geburtstag meinen Lebensunterhalt selbst, geschenkt hat mir niemand etwas.

22. Lebensjahr von staatlichen Diäten. Allerdings reichen die Ihnen nicht: Sie haben allein in dieser Legislaturperiode mehr als 400.000 Euro dazu verdient. Wohlfahrtsverbände finden den Hartz-IV-Regelsatz auch zu niedrig und fordern eine Aufstockung auf 600 Euro. Gehen Sie da mit?

Mir können Sie solche zugespitzten Fragen gerne stellen. Aber auch eine Polizistin oder ein Krankenpfleger beziehen ihre Gehälter aus öffentlichen Mitteln. Es führt nicht weiter, wenn jede Tätigkeit, die sich aus Steuergeldern finanziert, mit Sozialleistungen verglichen wird. In der Sache bin ich dafür, dass sich die Höhe der Grundsicherung daran orientiert, welche Bedürfnisse bestehen und wie die Preise sich entwickeln. Das sollten Fachleute festlegen, das ist nichts für Wahlkampfversprechen. Viel wichtiger ist es mir, den Menschen zu erleichtern, sich durch eigenen Einsatz, Schritt für Schritt, aus einer Bedürftigkeit herauszuarbeiten. Ganz konkret halte ich die Hinzuverdienstgrenzen beim Arbeitslosengeld II für skandalös ungerecht.

Das wird die Straßenzeitungsverkäufer freuen, die Hartz IV beziehen. Wie stehen Sie zur Forderung, den Freibetrag beim Zuverdienst von jetzt 100 Euro auf 400 Euro anzuheben?

Genau das ist unsere Forderung. Jeder, der einen Euro hinzuverdient, muss mehr als die Hälfte davon behalten können. Übrigens muss auch die Höhe des Minijobs angepasst werden. Denn wenn der Mindestlohn steigt, haben viele Betroffene dennoch nicht mehr Geld, wenn es bei 450 Euro bleibt. Die müssen stattdessen die Arbeitszeit reduzieren, das bremst Aufstiegschancen. Deshalb sollte die Höhe des Minijobs immer das 60-fache des jeweiligen Mindeststundenlohns betragen.

Die Hinzuverdienstgrenzen beim ALG II sind skandalös ungerecht.

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz und der Grüne Robert Habeck fordern höhere Steuern für Gutverdiener. Wären Sie bereit, mehr abzugeben?

Zu glauben, es habe nur positive Folgen, wenn man Steuern erhöht, weil dann der Staat über mehr Geld verfügt, greift zu kurz. Es muss immer alles erst erwirtschaftet werden, bevor es verteilt werden kann. Die Aufgabe lautet doch, mehr gut bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen und in neue Technologien zu investieren. Dafür muss es Spielräume geben. Ich bin also für eine Senkung von Steuern für Beschäftigte und Betriebe.

Wie will die FDP die Kluft zwischen Arm und Reich verringern? Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung kommen wir immer

mehr in die Nähe von US-Verhältnissen bei der Vermögensverteilung.

Wir müssen die Aufstiegschance für jede Frau und jeden Mann erhöhen. Wir brauchen einen treffsicheren Sozialstaat, der für die Menschen ein Sprungbrett in die Selbstbestimmung ist und nicht wirkt wie ein Magnet, der Menschen eher festhält. Die größte Form der Ungleichheit ist für mich die der Bildung.

Was ist mit der Nirgendwo sonst in entwickelsozialen Verantten Gesellschaften entscheidet wortung jedes einzelnen EU-Mitder Zufall der Geburt so sehr über Lebenschancen. Das halte ich für einen Skandal! Wir gliedsstaats? brauchen mehr Frühförderung von Kindern, hinsichtlich des Spracherwerbs schon vor der Einschulung, und viel mehr individuelle Förderung an öffentlichen Schulen. Kein junger Mensch sollte die Schule ohne einen Abschluss verlassen.

Die SPD Nordrhein-Westfalen nannte 2009 Ihre Landes-FDP die »Partei der sozialen Kälte«. Grund: Die schwarz-gelbe Regierungskoalition kürzte die Landesgelder für Obdachlosenhilfe damals um 1,12 Millionen Euro. Sie sagten damals, die Kommunen seien alleine für die Obdachlosenhilfe zuständig. Sehen Sie das heute noch so?

Der Ausflug in die Geschichte ist noch nicht vollständig. Denn zeitgleich hat die von der FDP mitgetragene Bundesregierung die Kommunen von den Kosten der Grundsicherung im Alter entlastet. Das machte für die Städte und Gemeinden seitdem Hunderte von Millionen Euro an Einsparungen aus, die zum Beispiel für soziale Vorhaben oder Investitionen genutzt werden könnten. Oberstes Ziel: So lange es geht, müssen Menschen ihre Wohnung behalten können, sei es mittels Grundsicherung, Schuldnerberatung, gesundheitlicher Hilfestellung. Das muss nah am Menschen geschehen, also auf der kommunalen Ebene. Genauso vielschichtig wie die Problemlage muss das Hilfesystem sein.

Obdachlosigkeit ist heutzutage vorwiegend ein Ergebnis von Migration: Immer mehr Menschen aus armen EU-Ländern landen in prekären Arbeitsverhältnissen, sei es auf Schlachthöfen oder auf Baustellen oder als Putzkräfte, und im Winter dann oft auf der Straße. Was würde die FDP in einer Regierungskoalition tun, um dieses Elend zu stoppen?

Wir müssen über die Qualität der Arbeitsverhältnisse nachdenken, zum Beispiel im Bereich der fleischverarbeitenden Industrie. Und wir müssen die Verantwortung der Herkunftsländer stärken. Das ist eine Frage, die man hinsichtlich der Migration in Europa stellen muss: Was ist mit der sozialen Verantwortung jedes einzelnen EU-Mitgliedsstaats? Zum Arbeiten nach Deutschland zu kommen, darf nicht zu Verelendung führen. Es geht um eine unbearbeitete Aufgabe, die sich durch die Freizügigkeit innerhalb der EU stellt.

Die Mindestlöhne für Saisonkräfte liegen häufig unter dem gesetzlichen Mindestlohn von 9,50 Euro. Die SPD will den Mindestlohn auf 12 Euro abheben. Was versprechen Sie prekär Beschäftigten?

Eine Aufstiegsperspektive. Unsere Hauptanstrengung muss darin liegen, dass niemand dauerhaft zu den Bedingungen eines Mindestlohns oder generell prekär arbeiten muss. Die Perspektive sollte sein, immer wieder neue Qualifikationsangebote zu unterbreiten, und zwar maßgeschneiderte. Was die Untergrenze des Mindestlohns angeht: Wir haben gute Erfahrung damit, dies in die Hände einer unabhängigen Kommission zu legen, die dafür sorgt, dass der Mindestlohn regelmäßig angepasst wird, und dass die Lohnfindung nicht politisiert wird. Nicht parteipolitische Interessen dürfen eine Rolle spielen, sondern arbeitsmarkt- und sozialpolitische Erwägungen.

Die FDP spricht sich aus für »Housing First«, also dass Obdachlose erstmal eine Wohnung bekommen, ohne groß nachweisen zu müssen, dass sie dafür geeignet sind. Wie sollen die Kommunen das finanzieren?

Ich bin dezidiert der Meinung, dass wir die kommunale Ebene stärken müssen. Weil sich die Aufgaben der unterschiedlichen öffentlichen Ebenen verändern. Aufgaben, die der Staat den Gemeinden überträgt, muss er immer mitfinanzieren. Die Kommunen sind unser erstes Auffangnetz bei Notlagen.

In Wien gibt es neuerdings als Housing-First-Angebote »Chancenhäuser«: Hier werden Obdachlose – einzeln, als Paar, als Familie – für drei Monate einquartiert und beraten bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. In der Hälfte der Fälle mit Erfolg …

… klingt für mich nach einem guten Modell auch für deutsche Kommunen, ein maßgeschneidertes 360-Grad-Konzept aus der Obdachlosigkeit.

Ihre Partei fordert, dass der Staat elektronische Akten für obdachlose Menschen einrichtet, damit sie auch ohne Meldeadresse an ihre privaten Daten kommen können.

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Wären Sie für solche E-Akten für alle Bürger?

Unbedingt. Ich war vor einiger Zeit in Estland: Dort können Sie Ihre Meldeanschrift genauso leicht wie Ihre Anschrift im Amazon-Account ändern. Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung scheint mir besonders nach den Erfahrungen in dieser Pandemie enorm wichtig: Lassen wir Corona das letzte Kapitel im Leben des Faxgeräts gewesen sein!

Sie werfen den Grünen vor, den Menschen den Traum vom eigenen Haus zu vermiesen. Zugleich fehlen allenthalben bezahlbare Wohnungen. Dafür hören wir Sie weniger laut trommeln. Zufall?

Das Gegenteil ist der Fall: Keine Partei setzt sich ähnlich stark für bezahlbaren Wohnraum ein wie die FDP und ist auch bereit, die entsprechenden Entscheidungen zu treffen. Wer bezahlbare Wohnungen will, der muss so viel wie möglich bauen, beispielsweise hier in Berlin auch auf dem Tempelhofer Feld. Der muss Flächen bereitstellen. Und der kann nicht, wie die Grünen, bauliche Standards über Gebühr erhöhen und damit

Schütze die Menschenrechte mit deiner Unterschrift, deiner Spende, deinem Einsatz.

So erreichen Sie uns: https://amnesty-hannover.de Gruppe Oststadt-List Amnesty International Bezirk Hannover Fraunhoferstr. 15 · 30163 Hannover E: info@amnesty-hannover.de T: 0511-66 72 63 · F: 0511-39 29 09

Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft DE23 3702 0500 0008 0901 00 Stichwort 1475 verteuern. Weil dann nicht einmal mehr große Baugenossenschaften Mietwohnungen errichten können. Wir wollen die Wohnungsnot reduzieren durch mehr Angebot. Schlüssel dazu: Senken von Baustandards, Ausweisen neuer Flächen, weniger Grunderwerbssteuer.

Geht denn beides, wenn Deutschland die Pariser Klimaschutzziele erreichen will: Kann man den fortschreitenden Flächenverbrauch senken und zugleich mehr Wohnungen und Einfamilienhäuser bauen?

Der Klimaschutz ist eine globale Aufgabe. Nur in Hückeswagen im Bergischen Land CO2 einzusparen, indem man auf neue Einfamilienhäuser verzichtet, macht für das Weltklima keinen echten Unterschied. Die Grünen wählen für den Klimaschutz ihren Weg, wir einen anderen: globales Denken und Ideenwettbewerb. Wir müssen mit entwickelter Technologie die Steigerung des CO2-Ausstoßes begrenzen. Also etwa Millionen von Pkw in Deutschland mit synthetischen, klimafreundlichen Kraftstoffen versorgen – statt einseitig nur auf die Elektromobilität zu setzen.

Wie steht es mit dem Bau von Sozialwohnungen? Die SPD verspricht 100.000 pro Jahr. Gehen Sie da mit, und wenn ja, soll die der private Sektor bauen oder die öffentliche Hand?

Ich würde immer die Förderung von Menschen der Förderung von Steinen vorziehen. In die Sozialwohnung ist vielleicht der studentische Bafög-Empfänger eingezogen und hat sie noch als Professor bewohnt. Ich bin ein Befürworter individueller Wohnkostenzuschüsse, für die individuelle Bedarfslage. Privaten Bauträgern bestimmte Auflagen zu unterbreiten, halte ich für denkbar. Also zum Beispiel: Wenn jemand ein Haus mit acht Wohneinheiten baut, kann sie oder er die beiden Penthousewohnungen zu hohen Quadratmeterpreisen anbieten, solange in tieferen Etagen günstige Wohnungen entstehen. Diese Mischung hätte zugleich eine gesellschaftspolitisch wünschenswerte Pluralität zur Folge.

Sie haben vor einem Jahr zugelassen, dass ein FDP-Politiker mit Stimmen der AfD thüringischer Ministerpräsident wurde. Ein Fehler, haben Sie hinterher gesagt. Mit Ihren Positionen zu Corona sind Sie wieder nahe an der AfD: Sie fordern Öffnungen, für Läden, für Hotels – freilich bei mehr Schutz von Risikogruppen. Sie sa-

gen dabei nicht, dass Corona ein Virus ist, dass Ärmere viel häufiger trifft, weil sie beengt wohnen und nicht im Homeoffice arbeiten können. Ist Ihnen deren Gesundheit egal?

Sie haben eine Frage gestellt, die der Sortierung bedarf. Ich habe auf gar keinen Fall zugelassen, dass jemand mit den Stimmen der AfD gewählt worden ist. Sondern ein aufrechter Demokrat ist in eine Falle der AfD gelaufen. So hat es Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei formuliert. Zweitens ist die Pandemiepolitik der FDP nicht vergleichbar mit der der AfD.

Ich würde Wir wollen durch innovative Maßimmer die nahmen mehr gesellschaftliches

Förderung und wirtschaftliches Leben erlauvon Menschen ben, aber sehen das Risiko, das in der Erkrankung liegt und leugnen der Förderung es nicht. Man tut der AfD einen von Steinen Gefallen, wenn man sie in einem vorziehen. Atemzug mit der FDP nennt und verharmlost die politische Gefahr, die von ihr ausgeht. Dritter Punkt: Gesundheitsschutz darf nicht abhängig sein von Lebensverhältnissen. Masken oder Schnelltests müssen an Menschen abgegeben werden, die sich das nicht selbst leisten können, damit wirkungsvolle Hygiene keine Frage des Einkommens ist.

Olaf Scholz haben wir gefragt, was er macht, wenn er nicht Kanzler wird. Sie fragen wir, was Sie machen, wenn Schwarz-Grün Sie zum Tanz bittet: Werfen Sie wieder hin, wenn nicht nach Ihrer Pfeife getanzt wird?

Wenn es eine gemeinsame Choreographie gibt, sind wir gerne mit dabei. Aber nach der Pfeife anderer tanzen, beziehungsweise das, was vor der Wahl versprochen wurde, nicht zu liefern, wäre respektlos.

Und wenn Sie Vizekanzler wären: Was würden Sie als erstes versuchen zu ändern?

Für Aufstiegsgerechtigkeit sorgen! Meine Leidenschaft gehört denen, die ihren Weg gehen wollen. Keinem geht es besser, wenn wir »denen da oben« etwas wegnehmen, etwa durch eine Vermögenssteuer. Sondern die Frage ist: Wie ändern wir das Leben derer, die aufsteigen wollen. Da will ich für neue Chancen sorgen. *Die SpitzenpolitikerInnen-Interviews erscheinen in den Straßenzeitungen abseits (Osnabrück), Asphalt (Hannover), BISS (München), bodo (Dortmund), die straße (Schwerin), Donaustrudl (Regensburg), draußen (Münster), DRAUSSENSEITER (Köln), drObs (Dresden), fiftyfifty (Düsseldorf), FreieBürger (Freiburg), Guddzje (Saarbrücken), Hempels (Kiel), Hinz&Kunzt (Hamburg), Jerusalemmer (Neumünster), KARUNA Kompass (Berlin), KiPPE (Leipzig), RISS (Augsburg), Straßenkreuzer (Nürnberg), Trottwar (Stuttgart) mit einer Gesamtauflage von 346.000 Exemplaren.

IM JUNI-ASPHALT: SUSANNE HENNIG-WELLSOW IM INTERVIEW.

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