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Europas dunkle Seite

Moria auf Lesbos ist längst Synonym für Flüchtlingselend. Seit Corona ist es der drohende Tod. Fotografin Alea Horst war vor Ort und hat in der Enge und dem Schmutz hoffnungsvolle Menschen in Angst getroffen. Menschen, vor denen niemand Angst haben muss. 58 Kindern aus Moria will Deutschland jetzt eine Chance geben.

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Europa will sie nicht. Und kaserniert sie deshalb hinter Stacheldraht auf einer Insel in der Ägäis. Lesbos. Als Abschreckung für all die anderen auf der anderen Seite, in der Türkei, die darauf warten, weiterziehen zu können. 22.000 Flüchtlinge leben etwa zwei Kilometer vom Bergdorf Moria unweit der Inselhauptstadt Mytilini unter Planen, in Baracken und Zelten, auf den Nachbarinseln nochmal ebenso viele. Für 3.000 Menschen war das Camp und all seine sanitären Einrichtungen mal vorgesehen. 80.000 Griechen wohnen eigentlich auf der Insel. Und lange haben sie all den Fremden – typisch griechisch – so gut es ihnen selbst möglich war, Hilfe geboten. Doch die Stimmung kippt. Die Inselbewohner fühlen sich allein gelassen, die NGOs vor Ort sind überfordert und bei den Flüchtlingen macht sich Verzweiflung breit.

Der nasskalte Winter ist gerade vorbei. Die meisten haben ihn in schäbigen Sandalen verbracht. Nicht alle Bewohner des Camps Moria haben es durch die kalten Monate geschafft, sie

Foto: privat

»Ich kann die Sorgen der Menschen um Klopapier und Kinderbetreu- ung hier zwar verstehen, aber mir fällt es schwer, sie angesichts des Erlebten als wirkliche Probleme wahrzunehmen«, sagt Fotografin Alea Horst (37) nach ihrem Besuch Ende März in Moria. »Die Wes- tenhalde nimmt einem den Atem, wenn man auch nur kurz versucht, sich ein Schicksal hinter jeder Weste vorzustellen.« Und der heimliche Friedhof, den ihr einige Bewohner Morias gezeigt hatten, mache sie »tieftraurig, weil die Menschen selbst nach dem Tod vom Rest der Gesellschaft separiert sind. Nicht mal im Tod sind sie Teil der Gemein- schaft. Die meisten Gräber sind anonym.« Normalerweise fotografiert Horst Hochzeiten in Deutschland, manchmal aber will sie von Unglück und Elend in der Welt Zeugnis ablegen. So wie hier in Asphalt. MAC

liegen zusammen mit anderen, die schon tot aus den Fluten geborgen wurden, auf dem heimlichen Friedhof zwischen Macchie und Steineichen in den Bergen. Im Camp liege überall Müll, erzählt Fotografin Alea Horst. Manchmal meterhoch gestapelt, ein Paradies für Ratten. Es fehle an Kleidung, Schuhen und Socken. Strom gibt es – gelegentlich mal. Die Baracken und Zelte seien feucht und schimmlig. Duschen und Toiletten gibt es – zirka je eine für 250 Menschen. Und nun droht ein Virus, in der unhygienischen Enge sein grausames Werk zu verrichten. Eine Evakuierung fordern angesichts der desaströsen medizinischen Versorgung vor Ort jetzt Hilfsverbände. Das Diakonische Werk, die Caritas, Amnesty und viele andere. Sie vereinen sich derzeit hinter der Aktion #LeaveNoOneBehind.

Doch ausgerechnet Corona droht aktuell die jüngst keimende Hoffnung zumindest einiger Camp-Kinder von Moria zunichte zu machen. Vor rund sechs Monaten war Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius zu Besuch. Und war offenbar so erschüttert, dass er sogleich zumindest für einige hundert unbegleitete minderjährige Kinder von Moria ein besseres Leben forderte. Etwa 7.000 Minderjährige leben dort, davon 3.000 unbegleitete. »Die betroffenen Kinder könnten zum Beispiel über ein Sofortprogramm schneller in Deutschland und andere Länder gebracht werden«, schlug er im November 2019 dem Landtag vor. Eine Koalition der Willigen in Deutschland und Europa könne sich dafür stark machen und mithilfe von Sonderkontingenten zeitnah Kinder aufnehmen. Wohlwollen gab es. Bei einigen. Nach mehreren Absagen des Bundesinnenministeriums, ein Sofortprogramm aufzulegen, hatten sich Mitte März neun EU-Staaten bereiterklärt, zumindest 1.600 besonders schutzbedürftige Kinder aufzunehmen. Dazu gehören neben Deutschland auch Portugal, Litauen, Frankreich, Luxemburg, Irland, Finnland, Norwegen und Bulgarien. Federführend sollte dabei die EU-Kommission sein. Doch die Corona-Krise legt diese Bemühungen offenbar auf Eis. Nach langem Ringen hat Deutschland jetzt 58 Kindern aus Moria eine Perspektive angeboten. 6.942 aber nicht. Volker Macke

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