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Brodowys Momentaufnahme

Als Kind und Jugendlicher hatte ich ein Hobby. Ich war Philatelist! Oder auf Deutsch: Ich habe Briefmarken gesammelt. Marken der Deutschen Post, jeweils einmal postfrisch und gestempelt. Meine kostbarsten Schätze waren allerdings Briefmarken, die ich in der Schweiz oder Österreich erworben hatte und die mich immer an die Urlaube erinnerten. Und noch kostbarer waren die ganz besonderen Marken, die mir mein Vater einmal aus Rom mitgebracht hatte: Von der Vatikanpost. Es waren eigentlich ja nur kleine Papierschnipsel, mir bedeuteten sie unglaublich viel. Heute könntest Du damit keinen Hund mehr hinterm Ofen hervorlocken. Von wegen »Darf ich Dir mal meine Briefmarkensammlung zeigen?« Eines habe ich mir bewahrt. Wenn ich heute einen Brief verschicke, was zunehmend seltener vorkommt, klebe ich immer eine Sondermarke drauf. Das schmückt den Brief und der Empfänger freut sich. Jetzt ist gerade eine neue Marke erschienen. Quasi das Postwertzeichen für meine Generation. Darauf abgebildet: Die Stars der Sesamstraße! Manchmal macht es Spaß, sich in die 70er Jahre zurück zu träumen. Als das Fernsehen in erster Linie ein Testbild zeigte und selbst damit noch mehr Qualität bewies als heute manch anderes Format. Kürzlich warb der Privatsender, der den unseligen Big-Brother-(Verzeihen-Sie-)Scheiß zeigt, mit einer großangelegten Plakatkampagne: »Du bestimmst, was ein Mensch wert ist!« Ich habe mir das Plakat genauer angeschaut, weil ich nach einer Auflösung suchte; weil ich hoffte, die meinten das nicht ernst; weil ich mir die Niedertracht eines solchen Satzes schlicht nicht vorstellen konnte. Aber sie meinten es ernst! Das Voyeurs-TV jagt von einem Tiefpunkt zum nächsten. Da ist es unvorstellbar, dass Anfang der 70er Jahre die Sesamstraße von einigen als skandalös und kinderschädlich betrachtet wurde. Der Bayerische Rundfunk klinkte sich deswegen sogar aus. Dabei war Jim Hensons Puppenwelt so herrlich anarchisch und sympathisch verrückt. Man denke nur an Oskar, das grantelige, grüne Monster, das in einer Mülltonne lebte. Wie viele meiner Generation könnten jetzt sofort dessen Lied »Ich mag Müll« mitsingen. Klar, so anarchisch wollte man seine Kinder nicht erzogen sehen. Pippi Langstrumpf hatte schon zuvor zu kindlichem Ungehorsam aufgerufen. Aber sowohl Astrid Lindgrens wunderbare Schöpfung als auch die Sesamstraßenfiguren hatten in ihrer Anarchie stets etwas zutiefst Fröhliches, verschmitzt Lächelndes und nicht zuletzt uneingeschränkt Humanistisches an sich. Denn bei allem ging es immer darum, sich und den anderen so zu akzeptieren, wie er oder sie ist. Anders als in der eklig-schmierigen Sat1-Werbung wollte die Sesamstraße Kindern vermitteln: Jeder Mensch ist unendlich viel wert! Ich finde, das ist ein guter Grund, diese Briefmarke zahlreich zu versenden. Matthias Brodowy/Kabarettist und Asphalt-Mitherausgeber

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