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Buchtipps

Auftauchen

»Der Tim ist tot.« Ein Anruf aus dem Urlaub. Paulas zehnjähriger Bruder ist im Meer ertrunken. Ausgerechnet. Tim, der das Meer über alles liebte, noch die Namen der entlegensten Tiefseefische kannte. Paula rutscht aus der Trauer in eine Depression, tief wie der titelgebende Marianengraben. Als sie sich auf Anregung ihres Therapeuten traut, Tims Grab zu besuchen, nachts, um jeden unnötigen Kontakt zu vermeiden, trifft sie auf Helmut, 83, der hier heimlich die Urne seiner Ex-Frau ausbuddelt, um die Asche in Südtirol zu verstreuen. Das skurrile Paar begibt sich auf einen Roadtrip, um auf die eine und die andere Art abzuschließen. Die Frankfurter Autorin Jasmin Schreiber arbeitet ehrenamtlich als Sterbebegleiterin und Sternenkinderfotografin. Ihren ersten Roman hat sie ihrem Bruder gewidmet. Es ist ein auf seltsame Art gleichzeitig trauriges und leichtes, ernsthaftes und versponnenes Buch. Meerestiefen bilden seine Kapitelüberschriften, beginnend unten im Marianengraben. Das letzte Kapitel heißt »0«, Paula ist aufgetaucht. BP Jasmin Schreiber | Marianengraben | Eichborn | 254S. | 20 Euro

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Verstehen

Wenn eine Buchveröffentlichung kaum mit den Tagesnachrichten Schritt halten kann, zeigt sich die Relevanz und Dringlichkeit ihres Themas. 78 Menschen wurden durch rechte Terroristen getötet, seit Karolin Schwarz die Arbeit an »Hasskrieger« aufgenommen hatte, wenige Tage nach dem Erscheinen tötete der Attentäter von Hanau zehn Menschen. Die Netz- und Rechtsradikalismus-Expertin zeigt, wie Radikalisierung im Netz in Terrorakte mündet und wie ein Tätertypus entstanden ist, der das Internet als Werkzeug nutzt und die Taten für eine weltweite Öffentlichkeit inszeniert. Den Massenmord im neuseeländischen Christchurch mit 51 Toten streamte der Täter bei Facebook, der Attentäter von Halle streamte über die Gaming-Plattform Twitch. Der Hanauer Terrorist betrieb eine rassistische Website und veröffentlichte ein dann umgehend vielfach gespiegeltes Video. Karolin Schwarz gewährt in »Hasskrieger« Einblicke in ein »globales, rechtsradikales Ökosystem«. Sie benennt Akteure, »Spielanleitungen« und Techniken der rechten Mobilisierung im Netz – und nimmt im Schlusskapitel »Was tun?« Politik und Justiz, Internetkonzerne, Medien und die Zivilgesellschaft in die Pflicht. BP Karolin Schwarz | Hasskrieger. Der neue globale Rechtsextremismus | Herder | 224 S. | 22 Euro

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Wohnglück

+ 13.8OO Wohnungen + Durchschnittskaltmiete von 5,76 pro m 2 + über 7O% geförderter Wohnraum + nachhaltige Entwicklung der Stadt + ein Herz für unsere Mieterinnen & Mieter

Von morgen

Kultur hat zu, aber Lesen geht immer. Auch in Covid - 19 - Zeiten. Anstelle der üblichen Kulturtipps empfehlen wir Ihnen auf diesen Seiten mit Herz und Hirn eine Reihe zusätzlicher Buchtipps. Gerne. RED

Wer Sibylle Bergs GRM, das wichtigste Buch des vergangenen Jahres, gelesen hat, lebt in einer Art Dauer-Déjà-vu. Der Roman hat eigentlich alles schon erzählt. Den Kollaps der Globalisierung, Daten-Tracking als Gemeinwohlerzählung (heute von Corona-Spreadern), das abrupte Ende der Arbeit und das Grundeinkommen als Sedativum. Nun strahlt in keinem der Bücher von Sibylle Berg die warme Morgensonne, aber wie falsch es ist, bei der vielfach ausgezeichneten Bühnen- und Buchautorin einfach ein Faible für den Weltuntergang zu vermuten, zeigt eindrücklich der soeben erschienene Interviewband »Nerds retten die Welt«. Für das Schweizer Magazin Republik führte sie Interviews mit Expertinnen aus Politologie und Pathologie, aus Neurowissenschaften und Meeresökologie, aus Geschlechterforschung und Robotik. Und diese Interviews vibrieren geradezu vor Begeisterung für Welterkenntnis, sind mitreißend und überraschend und eine Einladung, denn: »Unfertige Zustände reizen zum Denken«. Weil Frau Berg Texte durchkomponiert, lautet das letzte »Optimismus«, und weil sie im Heute lebt, finden sich neben den Texten QR-Codes, die einem Fußnoten und Links aufs Handy schicken. BP Sibylle Berg | Nerds retten die Welt. | Kiepenheuer & Witsch | 336 S. | 22 Euro

Von Solidarität unter Mietern

Mit den drastischen Versuchen zur Eindämmung des neuen Coronavirus erwächst unmittelbar eine Einkommenskrise, mit den Folgen für die Gesamtökonomie drohen massive Jobverluste. Die Bundesregierung reagiert früh mit Regelungen zur Stundung von Mietschulden, doch dass Konflikte auf dem Wohnungsmarkt in neuer Form aufbrechen werden, scheint abzusehen. Der Journalist Peter Nowak und der Filmemacher, Fotograf und Soziologe Matthias Coers haben in ihrem kurz vor Corona – und auf dem Höhepunkt der Wohnungskrise – veröffentlichten Band »Umkämpftes Wohnen«, eine Würdigung und gleichzeitig so etwas wie eine »best-practice«-Sammlung zur MieterInnen-Selbstorganisation in den Städten zusammengestellt. Interviews, Manifeste und Selbstbeschreibungen von Stadtteilinitiativen und Nachbarschaftsgruppen werfen Schlaglichter auf die MieterInnenkämpfe in Berlin, Leipzig, Frankfurt, aber auch in Barcelona, Pozna ń oder Athen. Die Autoren sehen ihren Sammelband als »ermunternden Beitrag zur neuen Solidarität in den Städten«. BP Peter Nowak, Matthias Coers | Umkämpftes Wohnen. Neue Solidarität in den Städten | Edition Assemblage | 144 Seiten | 10 Euro

Von unten – echt!

Um mal anders anzufangen: Schönes Thema, die NZZ hätte aber lieber einen Roman gelesen, das sei keiner. Die SZ hätte wie die »taz« gern einen klug reflektierenden Ich-Erzähler angetroffen, aber seine Klasse lasse man ja nicht einfach hinter sich. »Also gerne mehr Unterklassenliteratur. Aber bei der literarischen Durchdringung des Stoffs ist noch Luft nach oben«, motiviert die ZEIT. Wenn das deutsche Feuilleton klingt wie der Studienrat vor dem aufs Gymnasium verirrten Jungen mit den Büchern in der Aldi-Tüte, wird es interessant. Christian Baron, Journalist, aufgewachsen in Kaiserslautern, hat die Geschichte seiner Kindheit aufgeschrieben. Eine je nach Sprachgebrauch des Bewertenden arme, »asoziale« oder bildungsferne Kindheit. Sohn eines prügelnden und saufenden Möbelpackers und einer depressiven und früh versterbenden Mutter, Unterschicht. Aufgeschrieben hat Baron sie nicht als ein Didier Eribon, als reflektierender Intellektueller, der die politische Geschichte seines Landes anhand seiner Biografie entwickelt, sondern unmittelbar, ungeschützt, fast zärtlich und allein mit der Sprachlosigkeit seines ehemaligen Milieus als Material. Empfehlenswert. BP Christian Baron | Ein Mann seiner Klasse | Claassen | 288 Seiten | 20 Euro

für Kids BUCHTIPPS Ein Freibadsommer

»Ich ließ mich fallen. Durch die eiskalte Luft. Kurz darauf klatschte ich aufs Wasser. Das tat weh. An den Füßen und am Bauch. Aber immerhin war ich gesprungen. Die Omas freuten sich. Katinka und Robbie brachten mir meinen Bademantel, so als wäre ich ein Boxer.« Die Bukowskis sind fünf, leben im Wohnblock hinter den Gleisen, auf drei Zimmern. Sommerferien sind lang, Urlaub heißt Schwimmbad, allenfalls, täglicher Eintritt ist teuer. Gottlob haben die Bukowski-Geschwister Alf, der sich unbedingt vom Zehner trauen will, die rotzige Katinka, die sich kaum vom Französischlehrbuch trennen kann, und der introvertierte Robbie ein Kleinkind vor dem Ertrinken gerettet. Da sind sie Helden. Noch toller als der neue Status aber ist die Dauerfreikarte für das Freibad im Sommer. Der Bremer Will Gmehling, der mit »Yeti in Berlin« vor fast 20 Jahren erstmals als Kinderbuchautor auf sich aufmerksam machte, schreibt leise, gefühlvoll-lakonisch, wie ein Maler. Arm sein ist bei ihm weder nett, süßlich noch revolutionär, es ist einfach so. Die Drei erleben trotzdem Abenteuer. Feine, kleine, auf heißen Steinen. MAC Will Gmehling | Freibad | Peter Hammer Verlag | 160 Seiten | 14 Euro | ab 10 Jahren

Ein Ausrufezeichen

»In der Schule lehren sie uns die Regeln von Punkt und Komma. Aber wer erklärt uns, wie man ein Zeichen setzt?«, fragt Jochen Mariss in seinem Gedicht »Zeichensetzung«. Vielleicht »ein mutiges, weithin sichtbares Ausrufezeichen, dort wo tosendes Schweigen ein Unrecht übertönen soll«. Der Sammelband »Wer tanzt schon gern allein« in dem Herausgeberin Karin Gruß neben Mariss weitere 31 namhafte AutorInnen und IllustratorInnen zusammenkommen lässt, ist so ein Ausrufezeichen. Es sind Geschichten und Gedichte zur Demokratie, die zu erodieren droht. Ein Buch das weiß, dass Grundrechte etwas sind, was immerwährend und aktuell, mehr denn je, zu verteidigen und – zu verstehen sind. Liebevoll gestaltet, schön und vielfältig erzählt, ist der Band ein Bildungsund Bilderbuch in einem. Das funktioniert als Lese- und als Vorlesebuch. Kann gut sein, dass das nicht ohne zu diskutieren ablaufen wird. Denn da steckt Wahrheit drin, und »Wahrheit«, das weiß Katze Kicki in der Erzählung von Christa Kožik, »riecht bitter-süß«. So wie dieses Buch. MAC Karin Gruß (Hg.) | Wer tanzt schon gern allein? | P. Hammer Verlag | 120 S. | 22 Euro | ab 7 Jahren

Was brauchst Du?

»Es ist lange her«, beginnt der Erzähler, da habe er als Kind sechs Wochen ins Krankenhaus gemusst. Weil er nichts Wichtiges vergessen wollte, packte er drei Koffer, zwei öffnete er erst gar nicht. Seitdem habe er »ab und zu darüber nachgedacht, was man wirklich braucht«, verrät er: »Es ist mehr, als man denkt, und weniger, als man glaubt.« Der da eine Kindheitserinnerung zu Ende denkt, ist Christoph Hein, Philosoph, in der DDR Volksbühne-Dramaturg, erster gesamtdeutscher PEN-Präsident, beinahe jährlich ausgezeichneter Romancier. Mit 75 hat er mal wieder ein Kinderbuch geschrieben. Es ist wunderbar. Auf die Einleitung folgen kurze Kapitel zu den »20 wichtigsten Dingen im Leben« – etwa: ein Freund, Mama, ein Bett, Hoppelpoppel, eine Katze, eine Tante Magdalena, Geschichten, etwas Weiches, ein Fahrrad, Verliebtsein. Und das ist erst die Hälfte. Geschrieben ist das mit einer so freundlichen Klugheit und einem leisen Humor, dass man am Ende gleich von vorn beginnen möchte. »Alles, was du brauchst« ist auch dank der Bilder Rotraut Susanne Berners bereits druckfrisch ein Klassiker. BP Christoph Hein | Alles, was du brauchst | Carl Hanser | 64 S. | 15 Euro | ab 5 Jahren

Was gehört wem?

Annie hat schlechte Laune. Ihre Mutter ist mit ihr in die dümmste Stadt der Welt gezogen, die darüberhinaus noch total hässlich ist, ihre neuen Mitschüler sind alle behämmert und das Wetter ist furchtbar. Auf ihren Streifzügen trifft sie Kurt, der sich ein beheiztes Suppenfahrrad gebaut hat und vor dem Supermarkt Suppe verteilt; wer nicht viel Geld hat, muss nichts zahlen. Annie mag Kurt. Er sei immer dort, wenn Suppenwetter sei, sagt er. »Wenn Suppenwetter ist, spürt man das am ganzen Körper.« Doch als Annie mit Nikita, dem etwas seltsamen Wetterfrosch aus ihrer Klasse, vor dem Supermarkt auf Kurt wartet, kommt der nicht. Als sie ihn schließlich aufspürt, erfährt sie, dass sein Rad gestohlen wurde, was Containern und was ein gepflegter Kräutergarten ist, und dass Kurt ein ganz anderes Leben führt als die Erwachsenen, die sie kennt. Nämlich eins in einem alten Kran am Hafen, mit Kohleofen und Solarzellen. Der Debütroman von Lucie Kolb ist eine zupackend und ohne nervig erhobenen Zeigefinger erzählte Geschichte über Außenseiter, über Armut und Wegwerfgesellschaft. BP Lucie Kolb | Suppenwetter | Südpol | 152 S. | 13,90 Euro | ab 9 Jahren

Ganz. Schön. Traurig.

Lea hat es als Letzte erfahren. Weil sie die Sendung nicht gucken durfte, in der Mama aufgetreten ist. So muss sie von ihrer besten Freundin Noa hören, dass Mama sterben wird. Weil der Krebs wieder da ist, schlimmer als je zuvor. Lea macht das wütend. Dass alle es schon wissen. Und dass alle jetzt Mitleid haben. Und dass alles so ungerecht ist: »Mamas dürfen sich nicht verändern. Mamas müssen immer gleich bleiben.« Leas Herz schreit und so werden aus Lea und Noa Nichtfreundinnen und Lea kriegt »Prügelkrebs«. Nicht nur der nette Konrad bekommt das schmerzhaft zu spüren. Als das Patientenbett bei Leas Zuhause einzieht, merkt Lea, was alles nur Mama kann. Und langsam dämmert es, dass Mama ihre Aufgabe mit dem Gesundwerden nicht mehr schaffen wird. Und so packen Lea, ihr großer Bruder Lucas, Papa und Leas kluge, starke und traurige Mama so viel Liebe wie möglich in die letzten Wochen. Moni Nilsson traut sich mit »So viel Liebe« was, beschreibt konsequent aus der Sicht des Mädchens Lea, wie es sich anfühlt, wenn der Krebs die Familie überfällt. In vielen – auch munteren – ehrlichen episodenhaften Kapiteln berührt sie die Druckpunkte, wenn alles relativ wird. Das erzeugt viel Nähe und macht Weinen. Gemeinsam Lesen tut gut. MAC Moni Nilsson | So viel Liebe | Carlsen Verlag | 126 Seiten | 12 Euro | ab 10 Jahren

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