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Kopf oder Bauch

Foto: Mohssen Assanimoghaddam/dpa/Picture-Alliance

Rassismus: Kopfsache oder Bauchgefühl? Eine Betrachtung von Asphalt-Mitherausgeber Rainer Müller-Brandes. Über die Ursprünge von Rassismus in uns und den Umgang damit – mit klarem Kopf und gutem Bauchgefühl.

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Unser Kopf sagt: »Ist doch Unsinn.« Weil jemand eine andere Haarfarbe oder eine andere Hautfarbe hat, soll er anders zu beurteilen sein als ich? Aufgrund weniger äußerlicher Merkmale? Natürlich weisen wir das weit von uns. Nur: Unser Bauch reagiert. Wie gehen wir damit um? Blicken wir zurück: Über lange Jahrhunderte haben wir Menschen keinen Austausch mit dem Fremden, dem Anderen gehabt. Und als es losging, begann sofort das Leid. Die Entdeckung Amerikas, die Eroberung Afrikas durch den Westen, der Beginn von Sklaverei, alles aufgrund eines scheinbar unausweichlichen Reflexes: Sieht jemand anders aus, hat er andere Bräuche, grenze ich mich ab. Der Bauch reagiert und führt zum Rassismus. Ist die Angst vor dem Fremden oder der Wille Fremdes beherrschen zu wollen, evolutionär angelegt? Vielleicht. Auch wenn ich es nicht gerne zugebe, letztlich scheint es so zu sein: Nur Vertrautes gibt Sicherheit. »Semper idem« – so lautete der Wahlspruch eines Kardinals, der gegen die Neuerungen in der katholischen Kirche kämpfte. »Immer dasselbe, immer derselbe.« Und heute? Millionen Menschen machen sich auf, weil andere Menschen ihnen das Leben zur Hölle machen – und suchen verzweifelt Sicherheit in der Fremde. Die Zukunft ist unabsehbar, die globale Macht des weißen, westlichen Narrativs zerbricht, Autoritäten zerfallen, Geschlechtergrenzen gleich

mit, wir schreiben Stellenanzeigen mit »m, w, d« – »d« für divers – aus. Kulturelle und religiöse Vermischung überall, die Kraft der Traditionen schwindet dahin. In dieser Situation reagiert der Bauch – und entwickelt einen Plan zur Rettung der eigenen Identität. Eine Identität etwa des Nationalen, obwohl die schon immer von Zuwanderung geprägt ist, denken wir nur an Namen wie Sarazzin oder Kowalski. Eine Identität, die dann im Rückblick schnell glorifiziert wird. Wer erinnert sich schließlich schon gern an die dunklen Zeiten, da würde schon viel Lebenserfahrung dazugehören. Identität ist wichtig, für uns alle, ohne sie geht es nicht. Aber ein übergroßes Interesse an der eigenen Identität wird schnell exklusiv und abweisend. Sie spricht anderen ab, was man für sich selbst behauptet. Immer mehr Menschen aus aller Welt kommen, suchen hier nach einem sicheren, besseren Leben. Der Bauch grummelt und fragt, ob das wohl alles so richtig ist. Deshalb reicht der Bauch nicht. Wir leben in einer Zeit, in der wir mit Flugzeugen in die entlegensten Winkel der Welt fliegen, in einer Zeit, in der Menschen aus aller Welt zu uns kommen. Deshalb muss die Begegnung mit dem Anderen – mit dem Fremden – Teil unserer Kultur werden. Dafür brauchen wir unseren Kopf, Bauchgefühle sind schließlich nicht alles. Aber das Ganze braucht Zeit, weil der Bauch erst mal verdauen muss, dass sich die Zusammensetzung unserer Gesellschaft binnen einer einzigen Generation grundlegend verändert hat. Als ich jung war, hatten wir in meiner Klasse einen Franzosen – für uns Kinder war er sowas von exotisch. Heute bilden Kinder von Eltern, die nicht in Deutschland geboren sind, in nicht wenigen Klassen die Mehrheit. Ja, das Ganze braucht Zeit. Zeit, die wir nicht haben. Deshalb ist es umso wichtiger, den Kopf anzuschalten. Auch bei den gegenseitigen Erwartungen. Kulturelle Gewohnheiten sind manchmal gegensätzlich, Konflikte bleiben dabei nicht aus. Manches ist zu akzeptieren, anderes nicht. Trotzdem ist klar: Unsere Welt ist ohne Migration nicht denkbar. Auch die Entwicklung der Welt nicht. Unsere jüdisch-christliche Tradition wäre ohne Migration nicht existent. Schon die Bibel weiß: Migration ist vielschichtig. Mal ist sie mit Verheißung verbunden: Abraham wurde eine neue Heimat versprochen, in die er ziehen sollte. Auftrag von oben. Mal ist sie negativ konnotiert, etwa als Folge von Vertreibung: Abrahams Sohn Ismael wurde mit seiner Mutter in die Wüste geschickt. Weil sie störten. Das Volk Israel, der Überlieferung nach aus Abraham hervorgegangen, wurde zum Wirtschaftsflüchtling, weil es zu wenig zu essen hatte. Und selbst Maria und Josef mussten mit dem Jesuskind Asyl suchen, weil sie verfolgt wurden. In solchen Zeiten der Migration seine Wurzeln zu behalten, auf sein Bauchgefühlt zu achten, und (!) den Kopf einzuschalten, um gemeinsam der »Stadt Bestes zu suchen«, wie es Prophet Jeremia ausgedrückt hat, davon berichtet die Bibel. Beides ist wichtig. Uraltes, nur eben manchmal vergessenes, menschliches Wissen ist das, das im Neuen Testament durch Paulus seine christliche Begründung erfährt. »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann und Frau, denn ihr seid allesamt eins in Christus Jesus.« (Galater 3,28), sagt er. Völlig undenkbar, völlig unmöglich in der damaligen Zeit, so etwas zu sagen. Paulus, das Christentum war seiner Zeit weit voraus. Bis heute? Immerhin, der Gedanke, eine Idee, ein Fundament, das Eingang in viele Köpfe, sogar in unser Grundgesetz gefunden hat. Gleich im ersten Artikel. Darauf will ich setzen.

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DNA OHNE POLITIK

Fünf Jahre ohne neue Musik von Thees Uhlmann sind vorbei. Jetzt ist sein gefeiertes Album »Junkies und Scientologen« erschienen. Der ehemalige Tomte-Sänger über späten Ruhm, Tote Hosen, Gerichtsvollzieher und die neue Gelassenheit, die – mit Verlaub – unglaublich gut zu seiner neuen Frisur passt.

Hi Thees, »Junkies und Scientologen« jetzt also, klingt ziemlich gut. Man hört, du hast jahrelang wie der Teufel Lieder geschrieben und sie dann tatsächlich alle wieder in die Tonne gekloppt. Stimmt das?

Ja, so war das tatsächlich. Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich keine Verbindung mehr zu den Songs hatte, die ich geschrieben habe. Vielleicht hätte ich da mehr auf mich hören sollen und nach dem Schreiben meines Buches »Sophia, der Tod und

ich« mal eine Pause machen sollen. Aber irgendwie dachte ich, es muss sofort weitergehen. Es gibt offenbar ein künstlerisches Grundgefühl, das man nicht ignorieren sollte. Auch thematisch habe ich mich zu der Zeit als Mensch in eine ganz neue Richtung entwickelt. Während ich in meinen Songs immer noch die ganz großen Themen angepackt habe, habe ich mich in Wirklichkeit eher für die kleinen, greifbaren Dinge des Lebens interessiert. Je älter ich werde, desto mehr möchte ich mich offenbar an Dingen abarbeiten, die ganz konkret sind. Mal ganz davon abgesehen, dass ich mich seit fünf Jahren nicht mehr verliebt habe. Warum sollte ich also darüber singen? Momentan sind mir meine Freunde beispielsweise vielleicht wichtiger, überlege ich dann.

Deshalb also dann beispielsweise ein Lied über einen Mann, der Frauen nach Hip Hop-Videodrehs nach Hause fährt? Ist der neue Thees Uhlmann ein Flaneur und Beobachter von Alltagsszenen?

Vielleicht. Nimm den Song »Junkies und Scientologen«, nach dem ja auch das neue Album benannt ist. Darin geht es ja wirklich von der größten Ordnungseinheit, Gott bzw. Kirche, bis zur kleinsten Micro-Einheit, Freundschaft. Ich zähle darin Namen von Freunden auf, die keiner kennt. Gut, man könnte mir da vorwerfen, dass ich zu offen bin in meiner Kunst, mich in meinen Texten plötzlich auch an die dunklen Plätze des Lebens traue. Das kannte man so vielleicht nicht von mir. Aber mal ganz ehrlich: Ich lehne es ab, dass Künstler normal und berechenbar sein müssen. Meine erste Aufgabe als Künstler ist es doch nicht erfolgreich zu sein, sondern da hinzugehen, wo sich zwischenmenschliche Phänomene abspielen. Meinetwegen auch menschliche Tragödien. Den Blick dafür zu schärfen und sich dabei selbst auch mal zurücknehmen zu können, das ist eine Art von Gelassenheit, die ich erst an mir entdecken musste.

Du stammst aus dem kleinen Ort Hemmoor in Niedersachsen und hast bereits zu Schulzeiten angefangen, Musik zu machen. Unter anderem wegen deiner Band Tomte, die du 1994 gegründet hast, hast du schließlich dein Lehramtsstudium aufgegeben, um weiterhin nur noch Musik zu machen. Hat es sich gelohnt? Oder: Was bedeutet dir das, dass du jetzt – mit 46 Jahren – soviel Wertschätzung bekommst?

Eigentlich habe ich mit Musikmachen angefangen, weil mir einfach unfassbar langweilig war in meinem Nest im Landkreis Cuxhaven. Und dann hatte ich eben – im Nachhinein betrachtet – gut 25 Jahre lang Zeit zu üben. Und das war enorm wichtig. Jeder 27-Jährige will doch heute sofort die große Karriere machen. Auch, wenn ich das nachvollziehen kann, bin ich froh, dass es bei mir – übrigens ähnlich wie bei Marcus Wiebusch und Sven Regener – aus irgendeinem Grund anders gelaufen ist: Es ist wirklich wunderschön, dass ich mit 46 so berühmt bin wie noch nie. Heute sind Rockbands ja oft zwischen 25 und 35 Jahre alt, powern sich aus, lösen sich auf, weil irgendjemand keinen Bock mehr hat und wenige Jahre später ist von dem ganzen Ruhm und Geld nichts mehr übrig. Da ist es doch um so vieles lustiger, wenn das umgekehrt passiert: Denn das ist normalerweise im Rock‘n‘Roll gar nicht vorgesehen. Wenn bei anderen die Karrieren schon vorbei sind, lege ich los. Und das genieße ich gerade sehr. Und: Ich glaube, dass mein Gehirn inzwischen so gefestigt ist, dass ich den Rummel ganz gut aushalten kann. Ein großer Vorteil, wenn man ein so unstetes Künstlerleben führt und heute mal hier ist und morgen dort.

Aber je berühmter man ist, desto mehr hat man vielleicht auch eine Vorbildfunktion als Künstler. Viele Bands, wie beispielsweise die von dir sehr geschätzten Toten Hosen, nutzen ihre Konzerte, um politische Statements zu verbreiten und vor ihren Fans Haltung zu zeigen. Wie ist da dein Anspruch?

Natürlich bin auch ich ein politischer Mensch und habe eine eigene Meinung. Aber – und das habe ich schon häufiger gesagt – sehe ich mich nicht in dieser Tradition von Bands, bei denen die politische Agitation total in der DNA verankert ist und auch zur Bühnenpräsenz gehört. Ich würde es fast als Frevel gegenüber den Toten Tosen oder Bands wie Feine Sahne Fischfilet Bessere Geschichten empfinden, die sich da und schönere Gedichte seit Jahren an der polials auf der AfD-Kundtischen Front engagiegebung. ren, wenn ich ab und zu mal von der Bühne herunter ein schlaues Statement loslassen würde. Das käme mir vor wie so ein PR-Gag, eine miese Marketing-Aktion. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich damit sowieso rein gar nichts bewirken würde. Mein Weg ist da ein anderer. Ich versuche meine Kunst so gut zu machen, wie es irgendwie geht. Ich möchte die Menschen einladen, daran teilzunehmen. Und wenn sie verstehen, dass sie auf meinen Konzerten die besseren Geschichten, die schöneren Gedichte und die interessanteren Menschen kennenlernen als beispielsweise auf AfD-Kundgebungen, dann habe ich mein Ziel erreicht. Ich glaube nämlich fest daran, dass viele Menschen, die rechtsradikale Par

Foto: Anemone Träger

Asphalt-Kollegin Christina Bacher findet Thees Uhlmanns neue Frisur ziemlich lässig.

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amnesty after work

Schreiben Sie für die Menschenrechte –gegen Verfolgung, Gewalt und Folter

Gemeinsam für die Menschenrechte Sie können helfen: Wir laden Sie herzlich ein, uns montags zu besuchen. Lassen Sie Ihren Tag mit einer guten Tat bei Kaffee, Tee und Gebäck ausklingen, indem Sie sich mit Faxen, Petitionen oder Briefen gegen Menschenrechtsverletzungen in aller Welt einsetzen.

Öffnungszeiten:

Montag 18 bis 19 Uhr after work cafe Dienstag 11 bis 12 Uhr, Donnerstag 18.30 bis 19.30 Uhr

amnesty Bezirksbüro Hannover

Fraunhoferstraße 15 · 30163 Hannover Telefon: 0511 66 72 63 · Fax: 0511 39 29 09 · www.ai-hannover.de

Spenden an:

IBAN: DE23370205000008090100 · BIC: BFSWDE33XXX Verwendungszweck: 1475 teien wählen, kein politisches, sondern ein psychisches Problem mit sich herumtragen. Denen geht es nicht gut. Man sollte ihnen bunte, farbenfrohe Alternativen …

Dennoch hast du – parallel zum neuen Album – gerade ein neues Buch vorgestellt, das quasi eine Hommage an die Toten Hosen darstellt, deren Fan du bereits als Junge warst.

Es ist ja nicht meine Idee gewesen, dieses Buch zu schreiben. Ich wäre niemals so vermessen gewesen, das vorzuschlagen. Ich wurde von meinem Verlag gefragt, habe erst einmal schlucken müssen und lange über das Angebot nachgedacht. Diese Band hat mich, wie keine andere, mehr als 30 Jahre meines Lebens begleitet und mich musikalisch sehr geprägt. Mein allererstes Konzert war ein Hosen-Konzert! Und plötzlich hat es mich selbst interessiert, mein Leben zu erzählen und die Hosen dabei in den Fokus zu nehmen. Das Ganze ist mir fast ein bisschen peinlich, weil es sich wie der bekannte amerikanische Traum anfühlt. Der Deal, auf den ich mich einlassen konnte, lautete: Ich schreibe das Buch, die Band liest das Manuskript und kann es komplett ablehnen – dann erscheint es auch nicht. Das haben sie aber nicht getan.

Du hast nach deinem abgebrochenen Studium zunächst in der Altenpflege gearbeitet und dich dann so durchgeschlagen. Dabei hast du nicht nur rosige Zeiten erlebt und – so habe ich jedenfalls gelesen – sogar mal Besuch von einem Gerichtsvollzieher gehabt. Hast du deshalb vielleicht auch eine Vorstellung davon, wie es sich anfühlt, wenn sich die Abwärtsschraube zu drehen beginnt und man beispielsweise obdachlos wird, wie viele unserer Straßenzeitungsverkäufer?

Ja und nein. Grundsätzlich hat Geld in meinem Leben nie eine große Rolle gespielt, ich kann damit einfach nichts anfangen. Ich weiß, dass ich als Altenpfleger damals 100 D-Mark schwarz verdient habe. Dann hört es auch schon auf mit der Einschätzung, was jemals so reingekommen und rausgegangen ist. Ich hatte nie teure Hobbys. Ich besitze kein Auto. So bin ich immer irgendwie über die Runden gekommen. Dafür hatte ich immer schon Probleme damit, meine Briefe zu öffnen. Ich weiß also was passiert, wenn du die Post einfach ungeöffnet liegen lässt. Dann kommt tatsächlich irgendwann der Gerichtsvollzieher. Der hat sich übrigens ziemlich gewundert, dass ich die ausstehen

den Rechnungen sofort beglichen habe, als er danach fragte. Und natürlich erinnere ich mich noch gut an Zeiten, in denen ich keine Krankenversicherung hatte und mir mein Freund Marcus Wiebusch Pizza gebacken hat, weil ich nichts zu essen im Haus hatte. Aber: Ich habe auch damals keine wirklich existenzielle Not empfunden, sondern – im Rückblick betrachtet – den Lebensstil eines Künstlers auch ein bisschen zelebriert.

Heute bist du Vater einer 14-jährigen Tochter. Welche Werte möchtest du ihr mitgeben?

Ich möchte ihr vor allem das Gefühl geben, dass sie sich bei mir sicher fühlt. Und, dass sie es mir immer sagen kann, wenn es ihr nicht gut geht. Meine Tochter hat mich schon häufiger gefragt, wie man auf der Straße landet und wie man aus so einer Situation wieder rausfindet. Wir wohnen ja aktuell in Berlin, da gehört Armut mit zum Stadtbild. Ehrlich gesagt, empfinde ich die Kreuzberger manchmal als so pseudo-liberal und hippiemäßig verpeilt, im Sinne von jeder, so wie er will, dass die ihre direkte Umgebung mit all diesen Problemen noch nicht mal mehr wahrnehmen: Niemand scheint etwas dagegen zu unternehmen, dass es immer mehr Junkies gibt. Exkremente in den U-Bahnstationen, Spritzen auf dem Bahnsteig – alles egal – Heroinrauchen nachmittags um Drei auf Parkbänken. Manchmal denke ich, ich habe in Berlin inzwischen mehr offene Beine gesehen als mein Großvater im Ersten Weltkrieg. Aber scheinbar ist das allen egal. Die Stadt freut sich, dass es sich auf Kreuzberg beschränkt, die Kreuzberger freuen sich, dass sie sich als tolerant wahrnehmen.

Im Grunde ist das ja auch die Botschaft deines Songs über den schwedischen Musiker Avicii, der sich mit 28 Jahren das Leben nahm. Trotz seines großen Erfolgs und seines Reichtums hat er es nicht geschafft, über sein psychisches Tief hinwegzukommen. Offenbar hatte er da niemand, an den er sich wenden konnte ….

Ja, davon handelt dieser Song. Selbst wenn die Kacke am Dampfen ist, kann man Hilfe von irgendwoher bekommen, davon bin ich überzeugt. Und ganz ehrlich: Wenn mir jemand erzählt, dass er an einer psychischen Erkrankung leidet oder das Konto mal wieder leer ist, finde ich diesen Menschen automatisch schon besser als vorher. Warum? Weil er seine Furcht vor Sanktionen überwunden hat. Davor habe ich einen großen Respekt. Scham und Angst entstehen ja nur durch die diffuse Angst vor Sanktionen. Und wenn man sich erstmals traut, über seine Probleme zu sprechen, ist das ein guter erster Schritt, sich in Zukunft wieder mehr zuzutrauen.

Apropos Zukunft: Was wünschst du dir? Auch und gerade wenn der Erfolg anhält?

Ich möchte mich weiterhin selbst spüren. Als Künstler ist es mir gerade nicht vergönnt, ein normales Leben zu führen – ich meine damit ein bürgerliches Leben, das ja viele anstreben. Und dennoch mag ich mein Leben, so wie es jetzt ist, sehr. Und ich möchte mir die Erkenntnis bewahren: Mal ist das Leben gut und mal ist es schlecht. Mit diesem Wissen kann ich sehr gelassen in die Zukunft schauen. Relativ neu ist für mich auch, dass ich dieses Streben nach Glück komplett aufgegeben habe. Und das macht mich tatsächlich glücklicher – so absurd es klingt. Überhaupt finde ich, dass das Leben durch den drohenden Tod automatisch immer ein bisschen sexier wird. Und das sind doch phantastische Aussichten.

Herzlichen Dank fürs Gespräch.

Interview: Christina Bacher/Draußenseiter

Foto: Ingo Pertramer

Wärst du nur zu mir gekommen Hättest mich gefragt Eine Gallenblase ist nicht wichtig Nur der nächste Tag Wir grüßen dich, Avicii Mit der Faust fest erhoben Spiel noch einen Song Alles Gute kommt von oben Du wartest auf die Liebe Und ich auf das letzte Bier Der Platz am Tresen neben mir bleibt heute leider leer Eine gute letzte Reise, zum Abschied leise winken Elektronische Musik kann man sich so selten schöntrinken Aus: Avicii.

FÜR MEHR WÜRDE

Der Besuch beim Friseur – für viele Normalität. Doch gerade Obdach- und Wohnungslose können sich das oft nicht leisten. Die Barber Angels springen ein. Sie bieten bedürftigen Menschen den Haarschnitt zum Nulltarif. Und geben so ein bisschen Würde zurück.

Auf den ersten Blick wirken sie wie eine Rocker-Gang. Sie haben schwarze Lederkutten an, besetzt mit Aufnähern. Auf der rechten Seite stehen mit weiß gestickten Buchstaben Land und Bundesland, in dem sie tätig sind. Auf Brusthöhe kann man den Verein B.A.B und den Namen des Mitglieds lesen. Ebenfalls aufgestickt in weißer Schrift. Doch ihr Markenzeichen sind nicht Schopper oder Bikes. Sie benutzen Kamm, Schere und Föhn. Und sie tun Gutes damit, die Mitglieder des Vereins »Barber Angels Brotherhood«. Sie geben obdachlosen und bedürftigen Menschen ein besseres Gefühl. Durch frisch gestylte Haare und gestutzte Bärte. Wie auch Carola Kherfani.

Aufmerksam geworden auf den Club ist die gelernte Friseur-Meisterin durch Facebook-Posts einer Bekannten. Weil sie das Projekt so toll fand, wollte sie unbedingt dabei sein. Vor fast genau zwei Jahren hatte sie schließlich ihren ersten Einsatz. Zunächst als Gast-Engel. Es war der 3. März und die Temperaturen waren extrem niedrig. Minus zwölf Grad hatte das Thermometer damals angezeigt. Frisiert wurde in einem Zelt. »Weil es so bitterkalt war, sind nur sehr wenig Gäste an diesem Tag gekommen«, erinnert sich die 39-Jährige. »Aber ein Gast war dabei, dem durfte ich die Haare schneiden. Als der mir sagte, dass ich das ja ordentlich machen soll, weil ich sonst Ärger be

Foto: G. Biele

Foto: Joachim Hasche

Barber Angel Carola Kherfani frisiert Obdachlose und Bedürftige kostenlos. Das Chapter in Niedersachsen zählt fast 20 feste Mitglieder. Bei ihnen sind Gäste, aber auch Zuwachs in den eigenen Vereinsreihen herzlich willkommen.

kommen würde, geriet ich erstmal voll in Panik«, erzählt Kherfani. Aber sie lieferte gute Arbeit ab. Nach einem Blick in den Spiegel wollte der Gast sie einfach nur in den Arm nehmen. Aus Dankbarkeit. »Er sagte mir, dass er sich im Spiegel wiedererkannt hat. Dabei hatte er richtig Tränen in den Augen. Ich war fix und fertig«, erinnert sich die dreifache Mutter. Tränen gab es am Abend dann nochmal. Denn der Tag hat Spuren hinterlassen bei Kherfani: »Als ich zuhause war, habe ich mich als erstes in die wärmende Badewanne gelegt. Dabei musste ich an die armen Menschen denken, die nachts draußen schlafen müssen. Ich fing an zu heulen und dachte nur: Und ich mache mir ins Hemd, wegen dreieinhalb Stunden frisieren in der Kälte.« Die Friseurin kommt ins Grübeln, ob sie weiterhin bei solchen Einsätzen mitmachen soll. Ob sie es seelisch verkraften würde. Doch nach ein bisschen hin und herüberlegen steht fest: Kherfani ist dabei. Sie wird ein Barber Angel.

Aktiv in fünf europäischen Ländern

Die Idee der Barber Angels stammt von Claus Niedermaier aus Biberach an der Riß. Gemeinsam mit befreundeten Kollegen gründete der Friseur am 27. November 2016 den Club »Barber Angel Brotherhood«. Seit November 2017 ist er als Verein beim Registergericht in Ulm eingetragen. Und als gemeinnützig anerkannt. Niedermaiers Motto: Menschen, denen es nicht so gut geht, die am Rande der Gesellschaft stehen, mit viel Engagement und Herz ein Stück Würde zurückgeben. Sie durch einen gepflegten Haarschnitt aufrechter gehen lassen.

Mittlerweile zählt der Verein mehr als 400 Mitglieder in fünf europäischen Ländern. In Deutschland, Österreich, Spanien, den Niederlanden und der Schweiz. Hauptsächlich gehören ihm Friseurinnen und Friseure an. Aber auch Freiwillige, die sonst nichts mit dem Friseur-Beruf zu tun haben, sind dabei. Sie alle tragen die gleiche Uniform, denn bei ihren Einsätzen sind alle gleich. Vom obersten Chef der Gemeinschaft bis hin zum kleinsten Lehrling. Und die Westen, die eher an eine Biker-Kluft erinnert, soll den Gästen mögliche Berührungsängste nehmen. Deshalb bekommt jeder Vereinskollege Zugriff

Ansprechpartner

Einsatztermine der Barber Angels finden Interessierte an den Schwarzen Brettern gemeinnütziger Organisationen wie Caritas und Diakonie oder in Bahnhofsmissionen und Kirchengemeinden. Zuständig für die Buchungen von Einsätzen der ehrenamtlichen Engel sind: - für Hannover, Göttingen, Niedersachsen: Carola Kherfani – 0178-7257118 - für Bremen, Oldenburg, nordwestliches

Niedersachsen: Concettina Michaelis – 0177-1907824.

auf eigene Barber Angels-Bekleidung. Aber auch Zugang zum Schulungskonzept der Bruderschaft und seinen Barber Angels-Namen. Der Verein finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge, Spenden und Lizenzen. Diese Gelder werden ausschließlich verwendet, um Material für Einsätze, Versicherungen, Messeaktivitäten, Mitgliederwerbung, Werbemittel und Verwaltung sowie satzungsbedingte Zuwendungen zu finanzieren.

Auf Carola Kherfanis Arbeitsweste steht Kalinka. Sie hat als Engel-Name einen Nickname gewählt. Außerdem prangen noch die Wörter Apostel und Zenturio auf der Kutte. »Jeder von uns ist ein Apostel. Das steht also bei allen drauf. Und Zenturio ist die Bezeichnung der Chefs der jeweiligen Bundesländer. Gemeinsam mit meiner Braunschweiger Kollegin Melli bin ich Zenturio für Niedersachsen. Und ich bin komplett für Hannover zuständig«, erklärt Kherfani. Zu ihren Aufgaben gehören unter anderem die Organisation und Leitung der verschiedenen Einsätze. »Und ich muss auch immer dafür sorgen, dass ich genug Friseurinnen, Friseure und auch Orga-Engel zusammenbekomme«, ergänzt die dreifache Mutter. Dafür kann sie in Niedersachsen auf 19 Vereinsmitglieder zurückgreifen. »Damit sind wir in Hannover zwar ziemlich gut aufgestellt, trotzdem reicht das noch immer nicht aus. Auch deutschlandweit sind wir noch zu wenig Engel«, betont Kherfani. Denn es gibt mittlerweile so viele Aufträge, dass sie fast jedes Wochenende zu irgendwelchen Einsätzen fahren könnte. Deshalb helfen sich die Barber Angels untereinander aus und frisieren ihre Gäste auch mal Bundesland übergreifend.

100 Prozent Aufmerksamkeit

Über die Ländergrenzen hinaus ist auch Concettina Michaelis im Auftrag der Barber Angels Brotherhood unterwegs. Die 47-jährige Friseurmeisterin ist Zenturio in Bremen. Doch weil es im nördlichen Niedersachsen noch keinen eigenen Barber-Chef gib, bedient sie diesen Teil des Landes mit. Dafür stehen ihr unter anderem Gast-Engel zur Verfügung. Zwei in Oldenburg, in Leer, Aurich und Nordenham. Aber auch hier dürften es gerne noch mehr werden, denn Einsätze und Charity-Anfragen gibt es auch im Norden reichlich. So sind Concettina und ihre sieben festen Engel unter anderem regelmäßig auf dem jährlichen Wohnungslosentreffen in Freistadt, auf dem Bremer Bahnhofsvorplatz, aber auch in der Christuskirche in Vegesack tätig. Erschreckend für Concettina ist, dass nicht mehr nur Obdachoder Wohnungslose die Dienste der Barber Angels in Anspruch nehmen. »Es kommen auch immer mehr ältere Menschen zu uns, die von Altersarmut betroffen sind«, merkt sie an. Eines haben sie aber alle gemeinsam: »Nachdem unsere Gäste einen tollen neuen Haarschnitt bekommen haben, gehen sie gleich viel aufrechter«, so die Bremer Friseurin weiter.

Laut Brotherhood-Satzung soll jeder Engel wenigstens ein Mal pro Monat einen Einsatz mitmachen. Kherfani war im vergangenen Jahr auf 18. So auch beim Sommerfest für Obdachlose im Stadion von Hannover 96. An ein für sie besonders emotionales Ereignis kann sie sich noch ganz genau erinnern: »Ich hatte einen Gast, der war schon vier Jahre nicht mehr beim Friseur. Beim Haare schneiden schlief er immer wieder ein. Dabei viel sein Kopf ständig nach vorne. Meine Kollegin musste mir helfen und seinen Kopf festhalten. Als ich fertig war, meinte der Gast zu mir, dass er schon lange nicht mehr so tief und fest geschlafen habe. Ich war richtig gerührt. Ich musste abbrechen, weil ich mal wieder heulen musste.« Im Gegensatz zu normalen Friseur-Besuchern, bekommen die Gäste der Barber Angels die volle Aufmerksamkeit beim Frisieren. Paralleles Arbeiten an zwei Personen gleichzeitig gibt es nicht. Erst wenn ein Gast fertig ist, kommt der nächste dran. Angeboten wird alles, außer Färben: Waschen, Schneiden, Föhnen, Bart rasieren. Aus versicherungstechnischen Gründen allerdings nicht mit dem Rasiermesser, sondern mit der Haarschneidemaschine. Und eine ausgiebige Kopfmassage ist auch noch drin. Als Lohn bekommen die Engel Umarmungen, Lob und wiederkehrende Gäste. Geld gibt es nicht. »Ehrenamt heißt das Zauberwort«, erklärt Kherfani lachend. »Im Gegenteil. Wir zahlen Beiträge für die Mitgliedschaft im Verein«, so die Friseurin weiter. Monatlich sind das 15 Euro, fürs ganze Jahr 180 Euro.

Kherfani ist mit Leib und Seele ein Barber Angel. Und auch die Familie hat sie bereits für ihre Leidenschaft begeistern können. »Mein Mann und meine Tochter sind Orga-Engel und auf vielen Einsätzen mit dabei. Mein 16-jähriger Sohn ist Ocululs, also Fotograf bei den Engeln. Selbst der Kleinste, mein achtjähriger Sohn, macht schon mit«, erzählt die Ehefrau und Mutter stolz. Berührungsängste hat sie bei ihren Einsätzen nicht. »Für mich sind unsere Gäste alles Menschen wie du und ich. Nur hatten die meisten von ihnen einfach nicht so viel Glück gehabt«, merkt die Friseurin an. Deshalb will sie ihnen ein bisschen was von ihrem abgeben: »Wenn es einem selber gut geht, dann kann man auch Menschen, denen es nicht so gut geht, etwas wiedergeben. So ein Haarschnitt gibt ganz viel Selbstwertgefühl wieder. Ehrenamt sollte viel größer geschrieben werden. Das tut nämlich niemandem weh.« Die Dankbarkeit der Gäste und das Leuchten in ihren Augen sind für Kherfani der schönste Lohn für ihre Arbeit als Barber Angel. Grit Biele/StreetLIVE*

*StreetLIVE ist eine Kooperation von

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