2021 03 Asphalt

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2,20 EUR davon 1,10 EUR Verkäuferanteil

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STRASSE WIRD WEIBLICHER OBDACHLOS MIT BABY

ROBERT HABECK

ENDE DER HOFFNUNG

Patricia ist eine von 60.000 Frauen ohne Wohnung.

Straßenzeitungen befragen den Spitzenkandidaten der Grünen.

Wenn der Gerichtsvollzieher die Wohnung nimmt.


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Unsichtbar

Sie schlafen hinterm Bahnhof, unter Brücken, in Hauseingängen – Menschen ohne Obdach. Die meisten von ihnen sind Männer. Doch seit Jahren wächst auch die Zahl obdachloser Frauen.

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Notizblock

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Angespitzt

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Dankbar nach Ostern Corona, Lockdown, kaum Perspektive. Ein Gespräch über Hoffnung, Kreativität und grobe Fehler mit Asphalt-Mitherausgeberin Margot Käßmann.

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Für faire Vermieter Mit einem Gütesiegel für Vermieter will das Pestel-Institut Hilfe bei der Suche nach Wohnungen in und um Hannover bieten. Gründer Matthias Günther im Gespräch.

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Aus der Szene

23 Das muss mal gesagt werden 24 Aus dem Leben von Asphalt-Verkäufer Micha

Rund um Asphalt/Impressum

32 Meine Worte Texte aus der Asphalt-Schreibwerkstatt

15 Habeck sozial

34 Buchtipps

Im September wird gewählt. Wir fragen die Spitzenpolitiker der demokratischen Parteien. Monat für Monat. Es geht um Wohnen, um Armut, um Lösungen. Zum Auftakt: Robert Habeck.

38 Silbenrätsel

36 Kulturtipps

39 Brodowys Ausblick

Titelbild: Todor Tsvetkov/iStock.com

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Das Asphalt-Prinzip

28 Mit Zwang geräumt

Jede Zwangsräumung kennt zwei Tragödien: eine geht ihr voraus, die nächste folgt ihr nach. Jedenfalls dann, wenn die Räumung in die Obdachlosigkeit führt, was viel zu oft geschieht.

Asphalt-Verkäuferinnen und -Verkäufer sind Menschen mit brüchigen Biographien. Irgendwann sind sie in ihrem Leben durch schwere Schicksale, Krankheiten oder traumatische Erlebnisse aus der Bahn geworfen worden. Heute versuchen sie, durch den Verkauf des Asphalt-Magazins ihrem Leben wieder Struktur und Sinn zu verleihen. Viele sind oder waren wohnungslos, alle sind von Armut betroffen. Sie kaufen das Asphalt-Magazin für 1,10 Euro und verkaufen es für 2,20 Euro. Asphalt ist eine gemeinnützige Hilfe-zur-Selbsthilfe-Einrichtung und erhält keinerlei regelmäßige staatliche oder kirchliche Zuwendung. Spenden Sie bitte an: Asphalt gGmbH bei der Evangelische Bank eG, IBAN: DE35 5206 0410 0000 6022 30, BIC: GENODEF1EK1.


hat Robert Habeck das Zeug zum empathischen, sozialen Handeln? Hat der grüne Spitzenmann Ideen für Lösungen sozialer Fragen? Wir, Asphalt und seine Partnerzeitungen in anderen deutschen Städten, haben ihn gemeinsam gefragt – Straßenzeitungsfragen. Weitere Interviews mit den Spitzenkandidaten der anderen Parteien zur Bundestagswahl werden folgen. Soziale Lösungen werden dringend gesucht. Immer mehr Frauen leben auf der Straße, leben verdeckt schonungslos wohnungslos, manchmal auch mit Kind. Manche fliehen vor Schlägen, andere vor Schulden. Wir haben für Sie – stellvertretend für aktuell rund 60.000 Notleidende – Patricia besucht, in einer Frauenunterkunft. Patricia wurde damals zwangsgeräumt. Von Rechts wegen. Das passiert nicht selten, zeigt unser Feature zum Thema. Und auch wenn die Betroffenen besten Willen zeigen, den drohenden Rausschmiss noch abzuwenden, wirkt das Gesetz manchmal unerbittlich. Experten fordern Reformen, doch die lassen auf sich warten. Und solange die Wohnungsnot in den Städten groß ist, das Bauen dem Bedarf nicht folgen kann, wird der Druck steigen. Auf Menschen mit Handicaps und Härtefällen. In der Pandemie mehr denn je. Über Schwächen der Pandemiebekämpfung, über wirklichkeitsfremde Maßnahmen der Regierungen und über Hoffnung auf mehr Leichtigkeit hat unsere Mit-Herausgeberin Margot Käßmann mit uns gesprochen. »Zuversicht«, sei das Gebot der Stunde. In der vorigen Asphalt hatten wir dafür geworben, unsere Petition zu unterschreiben. Zusammen mit 12 weiteren Straßenzeitungen riefen wir: »Gegen das Sterben auf der Straße – Öffnet die leeren Hotels für Obdachlose jetzt!« 118.000 Menschen sind unserem Aufruf bisher gefolgt – die größte Petition zum Thema. Danke all denen, die sich uns angeschlossen hatten. Wir haben die Petition Ministerpräsident Stephan Weil übergeben, stellvertretend für alle MPs und OBs. Er hat sich sehr interessiert gezeigt. Und wir zuversichtlich. In diesem Sinne.

Eine erkenntnisreiche Lektüre wünscht

Volker Macke · Redaktionsleiter

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Liebe Leserinnen und Leser,

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Foto: V. Macke

Konzept gegen Islamismus gefordert

Erste Wohnungen für Obdachlose Hannover. Ist das der Start für einen Wechsel in der Obdachlosenhilfe? Im Beisein von Ministerpräsident Stephan Weil und DGB-Chef Mehrdad Payandeh (li.) sowie »Ein-Zuhause«-Chef Eckart Güldenberg (re.) wurde das erste Housing-First-Projekt in Niedersachsen eingeweiht. Drei Männer in einer Küche: Nicht irgendeiner Küche, sie ist Teil einer 35-qm-Wohnung für Obdachlose. 15 solcher Wohnungen sind jetzt als Pilotprojekt in einem Neubau in Hannover-Vahrenwald entstanden, davon fünf für Frauen. Das neue Prinzip von Housing First heißt: Runter von der Straße, direkt hinein in eine echte Mietwohnung. Bedingungslos. Suchthilfe, Sozialarbeit, Selbsthilfe sollen folgen. Die Miete von 200 Euro zahlt das Jobcenter, also nur anspruchsberechtigte Obdachlose erhalten eine Chance. Bewerber gab es weit mehr als 15, am Ende habe man quasi gelost, so Güldenberg. Dennoch: »Eine eigene Wohnung ist etwas anderes als eine Unterkunft. Wer eine eigene Wohnung hat, hat die Möglichkeit, zu sich selbst zu finden«, lobte Weil das Pilotprojekt. Housing First sei nicht das Patentrezept, so der Ministerpräsident, aber ein »vielversprechender Ansatz«. Mitte März werden die Obdachlosen einziehen, eine Sozialarbeiterin kümmert sich vor Ort. Nachgehende Hilfen seien gesichert heißt es. Die Projekt-Stiftung »Ein Zuhause« plant schon den nächsten Schritt: Ein weiterer Bau in der Nachbarschaft für obdachlose Familien ist bereits in Planung. MAC

Osnabrück. Der Islamexperte Michael Kiefer hat dringend eine bessere Ausstattung der Schulen im Kampf gegen die islamistische Radikalisierung von Schülerinnen und Schülern angemahnt. Die Schulen bräuchten langfristige und genau auf sie zugeschnittene Präventionskonzepte, die von professionellen Fachkräften begleitet würden. Dafür sei mehr Personal in der Schulsozialarbeit notwendig. Die Regelstrukturen müssten gestärkt werden. Leuchtturmprojekte seien wenig hilfreich. Islamistische Haltungen und Vorfälle mit muslimischen Schülerinnen und Schülern stellten zwar nicht an allen Schulorten ein Problem dar. »Aber es gibt zum Teil gravierende Probleme«, erklärte Kiefer von der Uni Osnabrück. Das zeigten etwa der Mord an dem französischen Lehrer Samuel Paty und ein Vorfall in Berlin, bei dem ein elfjähriger Schüler einer Lehrerin mit Enthauptung drohte. Die Schule sei für die Radikalisierungsprävention ein äußerst wichtiger Ort, weil dort alle jungen Menschen zwischen dem sechsten und achtzehnten Lebensjahr erreicht würden. EPD

Konzept gegen Wölfe Hannover. Mit den Stimmen von SPD und CDU hat der Landtag den Abschuss von Wölfen erleichtert. Die Grünen stimmten dagegen. Eingeführt werden soll ein neues Wolfsmanagement nach französischem Vorbild. Infolge können die scheuen Tiere künftig leichter getötet werden, weil in diesem Modell mit Ober- und Untergrenzen argumentiert wird. Alle Tiere, die über einer bestimmten zahlenmäßigen Grenze im Land leben, können dann abgeschossen werden. Die Rede ist von 300 Tieren, aktuell wird der Bestand auf 350 Tiere zwischen Ems und Elbe geschätzt. Die Grünen favorisieren den Ausbau von Herdenschutzzäunen und Ausgleichszahlungen. MAC


Hannover. Mit einem Flugzeug aus Lesbos in Griechenland sind Kontingentflüchtlinge in Hannover gelandet. An Bord der Maschine befanden sich nach Angaben des Niedersächsischen Innenministeriums 116 Männer, Frauen und Kinder. Die Flüchtlinge hatten bereits in Griechenland einen Schutz zuerkannt bekommen. Sie werden zunächst im Grenzdurchgangslager Friedland bei Göttingen aufgenommen und dann auf mehrere Bundesländer verteilt. In Niedersachsen sollen 20 Geflüchtete aus Afghanistan und dem Irak bleiben. »Angesichts der nach wie vor prekären Lage insbesondere auf Lesbos ist diese Aufnahme aus Griechenland wichtig und richtig«, so Innenminister Boris Pistorius (SPD). Nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos im Herbst hatte die Bundesregierung zugesagt, 1.553 bereits in Griechenland als schutzberechtigt anerkannte Flüchtlinge aufzunehmen. Niedersachsen nimmt insgesamt 209 Personen aus diesem Kontingent auf. EPD

Hannover. Das Land Niedersachsen lehnt die Gründung einer landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft ab. »Das Land sollte nur Gesellschaften gründen oder sich dort beteiligen, wo die Aufgabe nicht besser anders erreicht werden kann«, sagte jetzt der Niedersächsische Finanzminister Reinhold Hilbers (SPD). »Das gilt auch für den sozialen Wohnungsbau. Das wichtige Ziel, den Wohnungsbau zu beschleunigen, gehört in private Hände und in die Hände der Wohnungsbaugesellschaften der Kommunen. Landeseigene Mittel müssen daher so verwendet werden, dass privates Kapital für den sozialen Wohnungsbau mobilisiert wird.« Eine solche Gesellschaft benötige Startkapital in erheblicher Höhe und es würde geraume Zeit dauern, bis die entsprechenden Strukturen stünden. Diese Zeit und das Kapital könnten besser genutzt werden. Privater und staatlich geförderter Wohnungsbau seien die bessere Wahl. Eine eigene Gesellschaft nur »Symbolpolitik«, so der Minister. Die eigene Fraktion widerspricht: Wir müssen Maßnahmen ergreifen, die sicherstellen, dass die bestehenden Fördergelder auch vollständig abgerufen und in den Bau von Sozialwohnungen investiert werden. Die Gründung einer Landeswohnungsbaugesellschaft könnte hierbei ein sehr wirksames Instrument sein«, so Alptekin Kirci, SPD-Experte für Bauen und Wohnen. MAC

In der Corona-Pandemie hat die psychische

Belastung deutlich zugenommen. Laut der KKH waren Arbeitnehmer in 2020 im Schnitt 42,9 Tage wegen chronischer Erschöpfung

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und Co. krankgeschrieben. Das sind 4,6 Tage mehr als noch 2019 vor der Pandemie, bei den Männern sogar 5,6 Tage mehr. Deutschlandweit betrug die Krankheitsdauer wegen psychischer

Leiden

43,7 Tage, 4,2 Tage mehr als 2019. Den stärksten Anstieg mit 7,1 Tagen verzeichnete die KKH in Thüringen, den geringsten in Brandenburg und Hessen mit je 2,1

Tagen. MAC

Beratung sofort nach Beitritt! Jetzt Mitglied werden! Kompetente Hilfe bei allen Fragen zum Mietrecht. Herrenstraße 14 · 30159 Hannover Telefon: 0511–12106-0 Internet: www.dmb-hannover.de E-Mail: info@dmb-hannover.de Außenstellen: Nienburg, Soltau, Hoya, Celle, Neustadt, Springe und Obernkirchen.

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Landesbaugesellschaft kommt, oder nicht?

ZAHLENSPIEGEL »AUSGEBRANNT«

Flüchtlinge in Hannover eingetroffen

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ANGESPITZT – DIE GLOSSE

Wir verdanken Corona viel Neues. Den »Schweinestau« zum Beispiel. Dieser, so erfuhren wir aus einem Beitrag der ARD, gefährde das Tierwohl. Sagte jedenfalls ein Schweinehalter, in dessen Hallen auch ohne Corona tausende von Tieren viehisch gedrängt stehen. Und jetzt

»SCHWEINEHALTUNG 4.0«

müssen die armen Schweine auch noch auf die Schlachtung warten!

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Unzumutbar! Ob die Tiere diese Ansicht teilen, wurde nicht überliefert. Allerdings ist Rettung in Sicht. So ist es jetzt zwei Forscherinnen in den USA gelungen, Schweinen die Bedienung eines Computerspiels per Joystick beizubringen. Genial! Das hilft zwar nicht gegen den Schweinestau, aber gegen die Langeweile im Stall. Und wenn demnächst tausende Schweine vor ihren Laptops im Stall hocken und »Schweine im Weltall« spielen, ist auch gleich die Digitalisierung der Landwirtschaft ein schönes Stück vorangekommen. Geht doch! Ulrich Matthias


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KAFFEE MIT KÄSSMANN

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Foto: zoranm/iStock.com

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DANKBAR NACH OSTERN Corona, Lockdown, kaum Perspektive: Die Pandemie zerrt an den Nerven vieler, besonders von Eltern und Kindern. Ein Gespräch über Hoffnung, Kreativität und grobe Fehler mit Asphalt-Mitherausgeberin Margot Käßmann. Lass uns über Corona reden. Ernsthaft. Das Land hatte im Februar einen verbindlichen Stufenplan für ein mögliches Lockdown-Ende vorgelegt. Reicht der?

noch immer nicht, wann die kleinen Läden und Kneipen öffnen dürfen und ob wir im Sommer in den Urlaub können oder nicht.

Ein solcher Plan ist in jedem Fall gut. Er ist überfällig. Die Menschen brauchen eine Perspektive, wann es wieder anders wird. Dass das nun so dezidiert aufgeschrieben wurde, ist ein wichtiger Schritt.

Ich bin sicher, dass die allermeisten Menschen längst nicht mehr damit rechnen, dass es dazu eine klare terminliche Aussage geben könnte. Aber uns wurde jetzt erstmals relativ klar dargelegt, unter welchen schlichten Voraussetzungen wir mit Lockerungen rechnen können. Die Eingriffe in unsere Grundrechte sind ja enorm. Da ist Verlässlichkeit wichtig und richtig. Dass manche Einschränkungen weiterhin nicht nachvollzieh-

Die Perspektive ist aber nicht zeitlich, sondern richtet sich weiterhin nach Inzidenzwerten. Wir erfahren also


KAFFEE MIT KÄSSMANN

Foto: Selim Korycki

bar sind und daher von vielen Menschen zurecht abgelehnt werden, steht dabei auf einem anderen Blatt. Beispiel: Warum darf der Käsestand auf dem Wochenmarkt verkaufen, der Blumenhändler aber nicht?

Welche Einschränkungen sind für dich nicht nach­ vollziehbar?

Die Einpersonen-Besuchsregel halte ich für fragwürdig. Sie ist wirklichkeitsfremd. Wenn eine Mutter zwei Kinder hat, und Mag auch in der Krise nicht schwarz sehen: sie diese Kinder, weil sie arBischöfin der Herzen Margot Käßmann. beiten gehen muss, bisher bei Oma und Opa abgeben konnte, dann muss sie jetzt entscheiden, welches Kind dort betreut wird. Das andere muss woanders hin, wenn beide älter als drei Jahre sind. In Niedersachsen. Woanders sieht es anders aus: In Rheinland-Pfalz gilt als Altersgrenze für diese Frage sechs, in Bremen 12 und in Bayern 14 Jahre. Dieser Föderalismus ist doch nicht zu begreifen.

Wäre es vielleicht klug, alle Verordnungen mit den zugrunde liegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen zu veröffentlichen? Das wäre überfällig. Denn Macht muss immer mit Transparenz einhergehen. Ansonsten kommt sie als Willkür daher. Es ist zum Beispiel nicht einzusehen, warum um die Ankäufe der Vakzine durch die EU so viel Geheimnis gemacht wird. Da möchte ich doch wissen, wann, »Die ständige wieviel und zu welchem Preis die Impfstoffe Verlängerung des gekauft wurden. Und wenn es stimmt, dass Israel, das seine Bevölkerung mittlerweile Lockdowns zeigt zu mehr als 50 Prozent durchimpfen konnauch so wenig te, das Doppelte für den Biontech-Impfstoff Kreativität und gezahlt hat, dann will ich wissen, wer entFantasie.« schieden hat, dass die EU so wenig zahlt. Wenn Milliarden zur Rettung der Wirtschaft ausgegeben werden, dann kann Deutschland auch Milliarden für Impfstoffe ausgeben. Das ist eine Vertrauensfrage ans politische System. Transparenz fördert Akzeptanz.

In der Krise geht es immer weniger um Selbstverantwortung. Direktiv wird gesagt, was zu tun ist. Ist das mittelfristig gefährlich, weil eine demokratische Republik nicht ohne Selbstverantwortung und eigene Einsicht auskommt?

Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich aktuell entmündigt und ausgeliefert. Das ist gefährlich. Die Unsicherheit, die Hilflosigkeit der Politik zumindest am Anfang der Pandemie, das ist alles zu verstehen. Mein persönlicher Eindruck ist, dass die Menschen aber nicht positiv mitgenommen wurden. Du wartest dann immer bis zum nächsten Entscheid der Ministerpräsidentenkonferenz und bekommst Ansagen. Das Gefühl ausgeliefert zu sein, deprimiert die einen und macht die anderen renitent. Die ständige Verlängerung des Lockdowns zeigt auch so wenig Kreativität und Fantasie. Beispielsweise könnten die Älteren in bestimmten Zeitphasen einkaufen gehen, damit sie dabei weniger gefährdet sind. Oder: Freie Taxifahrten, damit Menschen nicht dicht gedrängt in Bussen sitzen. Oder: Wer derzeit nicht arbeiten darf, könnte Altenheime beim Testen entlasten.

Beispiel: Gehe ich ohne Maske über den Opernplatz, obwohl da niemand anderes ist, dann verstoße ich gegen die Regeln. Das ist aber kaum nachvollziehbar, ich bin da ohne Einfluss, ohne Selbstverantwortung. Oder ich möchte mich gern mit zwei Menschen treffen und möchte nicht zu ihnen, sondern diese beiden zu mir einladen, und wir alle drei sind sonst sehr vorsichtig mit anderen Außenkontakten: Wir dürfen das eigentlich nicht. Ich aber kann das verantworten und verantworte das dann auch. Es kann in dieser Zeit natürlich leider auch passieren, dass mich ein Nachbar dann anzeigt. Ich fürchte, langfristig kann dieses aktuell direktive Regieren das Verhältnis der BürgerInnen zum Staat verändern.

Niedersachsens Ärztekammer-Präsidentin Mar­ tina Wenker forderte jüngst eine Direktive zum vollständigen Distanzunterricht für alle Kinder. Gleichzeitig kritisierte eine Initiative »Familien in der Krise« den Stufenplan des Landes, wonach die Inzidenzzahl unter 25 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen fallen müsse, bevor wieder ein täglicher Regelbetrieb für alle Kinder und Jugendlichen aufgenommen werde. Distanzunterricht, das ist doch ein Euphemismus. Unterricht findet allzuoft gar nicht statt. Da werden lediglich Aufgaben verschickt und dann müssen die Ergebnisse hochgeladen werden. Manchmal gibt es täglich eine Zoom-Konferenz. Sowas ist kein Unterricht. Zumal immer mehr Kinder aus diesem Notsys-


Die Bundesregierung hat jetzt eine Einmalzahlung für Kinder und für Bedürftige von 150 Euro beschlossen. Zu wenig? Ich freue mich für jede Familie mit Kindern über den Zuschuss, aber es hätte deutlich mehr sein sollen, wenn wir das mit anderen Hilfen vergleichen. Und damit ist das ganze Homeschooling-Problem überhaupt nicht gelöst. Es müssen Endgeräte her, sofort, und es hätten längst Schulungen für alle LehrerInnen geben müssen und es braucht flächendeckend taugliches Internet. Mir tun die Kinder leid. Eine Mutter hatte mir neulich geschrieben, dass sie Homeschooling mit einem älteren Smartphone zu bewerkstelligen versucht. Mehr habe sie nicht zur Verfügung. Das muss man sich mal in der Realität vorstellen.

Foto: RyanJLane/iStock.com

In Bremen bekommt laut der Agentur epd jeder, der älter als 16 ist, kostenlose FFP2-Masken. Sollte Niedersachsen dem Beispiel folgen?

Im Prinzip finde ich es nett, dass Leute kostenlose Masken bekommen. So wie es bundesweit für alle, die älter als 60 sind, diese Gutscheine gibt. Aber eigentlich müsste das alles nach sozialer Bedürftigkeit gehen und nicht nach Alter.

Wirst du dich selbst impfen lassen und kannst du Impf­ skeptiker verstehen? Wenn ich dran bin, werde ich mich impfen lassen. Ich habe als Kind noch die Pockenimpfung erhalten. Die Pocken sind jetzt ausgerottet. Das ist ein großer Erfolg. Oder nehmen wir die Kinderlähmung: Die war in der DDR damals viel früher besiegt als in Westdeutschland, weil es in der DDR eine Impfpflicht gab. Kinderlähmung ist eine schwer schädigende Krankheit.

Würdest du analog zu deinem Beispiel sagen, eine Impfpflicht in Sachen Corona wäre angezeigt? Eine Pflicht wird es nicht geben. Es wird aber kein Weg daran vorbeiführen, denjenigen, die sich impfen lassen, ihre Freiheitsrechte zügig wieder zurück zu geben.

Lass uns zum Ende mal schwarz sehen, denn das erscheint gar nicht mal so abwegig: Neue Mutationen erreichen uns schneller, als Biontec und Co. mit einer entsprechenden Anpassung der Impfstoffe hinterher kommen. Mutationen vereinen sich, es gibt immer schneller immer heftigere Varianten. Müssen wir uns als Gesellschaft irgendwann mit dem Erkranken und Sterben abfinden? Was für eine Gesellschaft wäre das? Sterben ist Teil der Realität. Aber eine Gesellschaft darf sich nicht damit abfinden, dass 1.000 Menschen pro Tag an und mit Covid 19 sterben. Wenn ich die Sterbezahlen jeden Morgen im Radio höre: 927, 1014, 1136, und mich stört das nicht, dann wäre das eine Gesellschaft ohne Empathie. Wir müssen alles, wirklich alles daran setzen, dass das verhindert wird. Gleichzeitig bin ich ein hoffnungsvoller Mensch, ich sehe da nicht so schwarz. Die sehr schnelle Entwicklung der Impfstoffe war eine enorme wissenschaftliche Leistung. Ich bin zuversichtlich, dass es der Wissenschaft gelingt, auch schnell genug Impfstoffe gegen die Mutationen zu entwickeln.

Okay, Zuversicht: Der Virologe Drosten sagt, mit dem Ende des Lockdowns wird es nichts werden vor Ostern. Wird Ostern 2021 das Fest der Auferstehung von Lebendigkeit und Freude?

Die Initiative »Familien in der Krise« fordert, dass ab sofort alle Kinder

Es wird eine schöne Auferstehungserfahrung sein, wenn wir uns wieder frei draußen treffen können. Ich bin überzeugt, es wird eine große Dankbarkeit für diese Normalität geben. Ein neues Bewusstsein dafür, welch ein Privileg es doch ist, sich frei und ohne Angst bewegen und treffen zu können.

mindestens im Szenario B unterrichtet werden.

Interview: Volker Macke

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tem herausfallen. Selbst bei Familien, denen es gut geht – die mit Haus und Garten – liegen die Nerven blank. Die Initiative hat Recht: Die Familien sind am Limit. Ich finde, dass die Kinder während des Lockdowns zuhause aufgesucht werden müssen. Notfalls werden eben mehr Sozialarbeiter eingestellt. Es kann nicht sein, dass die Schulen sagen: Ja, okay, 80 Prozent der SchülerInnen haben wir erreicht. die übrigen 20 Prozent schon seit zwei Monaten nicht mehr. Da muss doch jemand hingehen. Mit den aktuellen Situationen darf sich ein Kultusminister doch nicht zufriedengeben. Dazu kommt, dass nicht mal jedes Kind ein digitales Endgerät hat, um an den Schulangeboten adäquat teilnehmen zu können.

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Foto: G. Biele

UNSICHTBAR Sie schlafen hinterm Bahnhof, unter Brücken, in Hauseingängen – Menschen ohne eigene Wohnung und Obdach. Die meisten von ihnen sind Männer. Doch seit Jahren wächst auch die Zahl obdachloser Frauen. Selbst Familien sind immer öfter betroffen. Liebevoll wiegt Patricia ihren drei Monate alten Sohn im Arm hin und her. Er soll ein bisschen schlafen. Doch irgendwie will er dafür nicht so richtig die Umdrehungen kriegen. Zu laut und zu wuselig ist es hier in der Gemeinschaftsküche in der Unterkunft für obdachlose Frauen. Die Küche muss sich die 40-Jährige mit einer weiteren Familie teilen. Einer Mutter mit zwei Töchtern und einem Sohn. An der Wand in der Küche steht ein großer Tisch mit vier Stühlen. Auf der gegenüberliegenden Seite stehen Kühlschränke, ein Herd, eine Spüle und ein Schrank.

Die wenigen Ablageflächen die es gibt, sind mit Geschirr, Pfannen, Töpfen, Besteck und Essensachen zugestellt. Patricia zeigt auf eine große Tasche, die in der Küchenecke steht. Sie ist randvoll bepackt mit leeren Cola-Dosen. »Das sind seit einiger Zeit meine Wachhalter«, verrät sie schmunzelnd. Seit fast einem Jahr wohnt die frisch gebackene Mutter nun schon in der Frauenunterkunft in der Langensalzastraße 17 in Hannover. Die ersten vier Monate davon im Sleep in, danach hat sie ein Zimmer in der ersten Etage bekommen. Elf Qua­


Keine Anträge, kein Geld, keine Miete Anfang 2020 hatte Patricia noch ein richtiges Zuhause, in einer richtigen Wohnung. Etwa neun Jahre hat sie auf rund 48 Quadratmeter gelebt. Mit eigener Küche, eigenem Bad, und Zimmern, die man hinter sich zu machen konnte. Bis zu jenem bestimmten Morgen: »Plötzlich hat es Ding Dong gemacht. Dann durfte ich noch eine Tasche packen und das war es dann«, erzählt sie. Weil Patricia seit Monaten ihre Miete nicht mehr bezahlen konnte, wurde sie vom Vermieter schließlich vor die Tür gesetzt. Allerdings nicht ohne Vorankündigung und nicht von heute auf morgen. »Ich habe leider auch diese ›Briefkasten nicht aufmachen‹-Krankheit. Deshalb habe ich mich auch

Frauenunterkunft Langensalzastraße Seit Ende 2018 bietet die Unterkunft in der Langensalzastraße für 56 alleinstehende wohnungslose Frauen und deren Kindern ein Dach über dem Kopf. Zusätzlich gibt es noch einen Notschlafplatz-Bereich, den sogenannten Sleep in, in dem derzeit zwölf obdachlose Frauen in der Zeit von 17 Uhr bis zum nächsten Morgen um 9 Uhr einen sicheren und warmen Platz zum Schlafen finden können. »Seit etwa zwei Monaten können die Notschlafstellen auch am Tag in der Zeit von 10 bis 16 Uhr genutzt werden«, ergänzt Paulina Andrzejewska vom Betreiber Living Quater. (Asphalt berichtete). Während der Sleep in-Bereich zu den vorgegebenen Zeiten für alle Frauen offen ist, werden die Plätze für Aufenthalt in der Unterkunft vom Wohnungsamt zugewiesen. GB

Vor etwas mehr als zwei Jahren sind in der Unterkunft für Frauen in der Langensalzastraße die ersten Bewohnerinnen eingezogen. Es ist die dritte Einrichtung für obdachlose Frauen in Hannover.

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um die Briefe nicht wirklich gekümmert. Und ehe man sich dann versieht, sind ein paar Monate rum. Aber ich kann den Vermieter auch ein bisschen verstehen. Man lässt sich das ein paar Monate gefallen und irgendwann sagt man dann eben: Jetzt nicht mehr!«, zeigt Patricia trotz ihrer Situation Verständnis. Dass es zu den Mietschulden gekommen ist, dafür macht sich die zierliche Frau selber, aber auch das Jobcenter verantwortlich: »Ich hatte gearbeitet, dort aber nach einem halben Jahr wieder aufgehört. Dann musste ich neue Anträge stellen, obwohl sich ja im Vergleich zu vor dem Job nichts geändert hatte. Das Arbeitsamt hat dann alles zur Arge geschoben, Jobcenter hat hin und her geschoben, ist nicht so »Man wird sich richtig in Wallung gekomplötzlich bewusst, men, dann kam Corona, man kam nirgends mehr ich bin obdachlos. rein und dann habe ich es Ich wohne in einer total schleifen lassen. Hab Notunterkunft. Und mich nicht gekümmert, keiplötzlich fühlt man ne Anträge rechtzeitig absich als Versager.« gegeben. Und wenn keine Anträge da sind, dann gibt Patricia

Foto: G. Biele

dratmeter für sich und ihr Baby. Ausgestattet mit einem kleinen Spind, einem Tisch, mit Kinderbett und Liege sowie einem Wickeltisch. Im Zimmer verteilt stehen Taschen, voll mit Baby-Kleidung. »Es ist hier viel zu wenig Platz. Ich räume die Sachen immer von einer Ecke in die andere«, klagt sie etwas verzweifelt. Besonders am Anfang fiel es der 40-Jährigen alles andere als leicht, mit der Situation zurecht zu kommen. »Die ersten Wochen, da war das irgendwie alles zu viel. Man wird sich plötzlich bewusst, ich bin obdachlos. Ich wohne in einer Notunterkunft. Und auf einmal fühlt man sich als Versager. Dann hat man den kleinen Wurm auf dem Arm und will eigentlich was Besseres für den. Das ist schon hart. Wenn er dann geweint hat, habe ich oft mitgeweint«, schluchzt sie leise. Auch wenn die frisch gebackene Mutter erst mal froh ist, ein Dach über dem Kopf zu haben, schon alleine wegen des Kindes, so fehlt ihr dennoch das Gefühl von Häuslichkeit, einfach mal die Tür hinter sich zu machen zu können, auf dem Sofa zu sitzen und zur Ruhe zu kommen. »Wenn ich unterwegs bin, sage ich auch nie, dass ich jetzt nach Hause fahre. Ich sage immer, dass ich jetzt in die Einrichtung fahre. Weil, das ist einfach kein Zuhause«, sagt sie traurig. Doch das war auch mal anders.

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es auch kein Geld und dann wird auch keine Miete gezahlt. Und plötzlich sind dann vier, fünf Monate vorbei.« Nachdem Patricia vor die Tür gesetzt wurde, hatte sie gerade mal einen Monat Zeit, um ihre Sachen wieder auszulösen. »Ich frage mich, wer hat innerhalb von vier Wochen das Geld zusammen, um seine Sachen wieder auszulösen, wenn er gerade wegen Mietschulden aus der Wohnung geflogen und auf der Straße gelandet ist? Die haben alles, was in der Wohnung war vernichtet. Ich habe nichts mehr. Keine Fotos, keine Papiere, nichts mehr. Arbeitsverträge, Speicherkarten vom Fotoapparat, Kindheits-Andenken – alles weg. Mein ganzes voriges Leben vernichtet. Ich darf gar nicht darüber nachdenken, was alles weg ist. Dann könnte ich anfangen zu heulen«, sagt die 40-Jährige den Tränen nahe mit zittriger Stimme. Die ersten Wochen nach dem Verlust ihrer Wohnung hat Patricia mit ihrem Freund im Zelt am Fährmannsufer geschlafen, bevor sie durch Zufall vom Sleep in, den Notschlafplätzen in der Langensalzastraße, gehört hat. Und noch etwas hat sie in diesen ersten Wochen erfahren: »Es war gerade Anfang der

Corona-Zeit, da hatte ich Durchfall und ich musste mich ständig übergeben. Ich dachte ich hab ne Magenverstimmung und bin zur Ärztin gegangen. Die hat dann einen Test gemacht und mich beglückwünscht. Fünfmal habe ich den Test machen lassen, weil ich das einfach nicht wahrhaben wollte – schwanger. Das ist doch das letzte, was man will, wenn man gerade aus seinem Zelt kriecht«, betont sie.

Hohe Dunkelziffer Patricia ist kein Einzelfall. Nach letzten Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) hatten 2018 etwa 59.000 Frauen in Deutschland keine eigene Wohnung (geflüchtete Frauen nicht eingerechnet). Die Dunkelziffer liegt jedoch weitaus höher. In den meisten Fällen wird Obdach- und Wohnungslosigkeit eher als Männerproblem wahrgenommen, doch rund 30 Prozent aller Wohnungslosen in Deutschland sind Frauen. Weil ihnen die Situation oft peinlich

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12 Foto: picture alliance/imageBROKER | Rudolf

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Aktuell haben rund 60.000 Frauen keine Wohnung.

»Es wird ja schon immer ein großer Zusammenhang zwischen weiblicher Obdachlosigkeit und Gewalterfahrungen vermutet.«

ist, versuchen sie zunächst so lange wie möglich bei Freunden oder Bekannten unterzukommen. Viele ziehen dabei von Couch zu Couch, von Unterkunft zu Unterkunft. Gerade bei weiblichen Wohnungslosen ist das Couchsurfing weit verbreitet, weshalb hier auch häufig von verdeckter WohKatja Grieger, Geschäftsnungslosigkeit gesprochen führerin vom bff wird und sie daher im Straßenbild kaum sichtbar sind. Mietschulden, so wie in Patricias Fall, ist nur ein Grund, warum Frauen wohnungslos werden. Weitere Gründe sind beispielsweise die Trennung vom Partner, eine psychische Erkrankung oder die Flucht vor häuslicher Gewalt. Gerade zu Beginn der Corona-Krise stiegen daher die Befürchtungen, dass durch den harten Lockdown die Zahl der von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen und somit die Wohnungslosigkeit rapide zunehmen würde. Tatsächlich konnten die Mitarbeiterinnen des Bundesverban-

des Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff ) starke Schwankungen seit Beginn der Pandemie beobachten. »Während des ersten Lockdowns sind die Hilfeanfragen in den Beratungsstellen für kurze Zeit erstmal zurückgegangen. Als dann die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen wieder gelockert wurden, kam es bundesweit zu einem massiven Anstieg der Inanspruchnahme«, berichtet Katja Grieger, Geschäftsführerin vom bff. »Viele der Betroffenen haben uns berichtet, dass sie während des Lockdowns erstmal abgewartet hätten. Den Lockdown sozusagen überstanden hätten, in einer ziemlich unerträglichen Situation. Teilweise sei es sogar zu sehr eskalierter Gewalt gekommen«, so Grieger weiter. Und weil aufgrund der Kontaktbeschränkungen das soziale Umfeld und somit die soziale Kontrolle weggebrochen war, gab es auch weniger Menschen, die die Betroffenen darauf hätten ansprechen können. Denen aufgefallen wäre, dass vielleicht irgendetwas nicht stimmt.

Kaum Hilfsangebote Ob auch die Zahl wohnungsloser Frauen während der Corona-Krise stärker gestiegen ist, darüber kann Grieger nur spekulieren: »Es wird ja schon immer ein großer Zusammenhang zwischen weiblicher Obdachlosigkeit und Gewalterfahrungen vermutet. Viele Frauen haben aber auch Kinder. Ob man dann


Foto: Jörg Farys

bff: Frauen gegen Gewalt e.V. Rund 200 Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen sind im bff (Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe) in Deutschland zusammengeschlossen. Sie leisten den hauptsächlichen Anteil der ambulanten Beratung und Hilfestellung für weibliche Gewaltopfer. Hier können sich Frauen sowohl namentlich als auch anonym hinwenden und in einem ersten Beratungsgespräch klären, wie gefährlich ihre derzeitige Situation ist und welche Möglichkeiten der Unterstützung es für sie gibt. »Liegt jedoch gerade eine akut massive Gewaltsituation vor, dann sollte die Frau auf jeden Fall zunächst die Polizei rufen«, rät Katja Grieger vom bff. Einmal im Jahr werden in den 200 Beratungsstellen die Zahlen der stattgefunden Inanspruchnahmen abgefragt. »Über alle bff Beratungsstellen hinweg gab es im gesamten Bundesgebiet ungefähr 75.000 Frauen, die 2019 durch uns beraten wurden«, merkt Grieger an. Die passende Beratungsstelle vor Ort finden Betroffene unter www.frauen-gegen-gewalt.de. Unter der Nummer 08000 116 016 ist das bundesweite Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« rund um die Uhr kostenlos erreichbar. Dort ist auch eine Beratung in 17 Sprachen sowie eine Kontaktaufnahme mit Gebärdendolmetschung möglich. GB

Katja Grieger vom bff rechnet damit, dass es nach der

so eine Entscheidung trifft, glaube ich eher nicht. In den Beratungsstellen hören wir da eher von Aushalten. Aushalten, bis der Lockdown vorbei ist. Wo hätten sie auch hinsollen? In den Medien wurde ja so schon oft berichtet, dass die Frauenhäuser bereits überlastet sind.« Anders sehen die Erfahrungen in der Frauenunterkunft in der Langensalzastraße aus. »Seit ungefähr drei Monaten kommen vermehrt Frauen zu uns, die von zu Hause flüchten. Vor ihrem Mann. Meistens kommen die nachts und bleiben dann auch tagsüber noch hier, weil sie oft kleine Kinder bei sich haben. Das Problem ist, dass die Frauen in diesem Fall nicht wirklich obdachlos sind, denn eigentlich besitzen sie ja noch immer eine Wohnung. Deshalb gehören sie auch eher in ein Frauenhaus als zu uns«, sagt Paulina Andrzejewska. Weil die weibliche Wohnungslosigkeit in der Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen wird, gibt es in Deutschland noch viel zu wenig Hilfsangebote speziell für Frauen. Das soll sich in Hannover aber bald ändern: »Die Unterstützung wohnungsloser Frauen ist für die Stadtverwaltung ein wichtiges Thema. Derzeit werden in der Innenstadt drei Straßensozialarbeiter eingesetzt, darüber hinaus wird Netzwerkarbeit und einzelfallübergreifende Unterstützung angeboten, organisiert und weiterentwickelt. Ein spezifisches Angebot zur Unterstützung von Frauen in Wohnungslosigkeit gibt es derzeit zwar noch nicht, dieses ist aber in Vorbereitung«, sagt Christina Merzbach, Pressesprecherin für Soziales und Gleichstellung der Landeshauptstadt Hannover. Das größte Manko, das Patricia während ihrer Zeit auf der Straße erlebt hat, waren die sanitären Einrichtungen. »Es gibt für Frauen absolut keine Toilette, die benutzbar ist. Ich habe teilweise lieber in die Büsche gepinkelt, bevor ich auf irgendeine öffentliche Toilette gegangen bin. Allein die am Weißekreuzplatz – geht gar nicht. Gerade jetzt schreien alle immer so wegen Hände waschen und Hygiene – dort kann man das definitiv vergessen«, beklagt sie. »Und, es gibt viel zu wenig Einrichtungen für obdachlose Frauen, für behinderte Obdachlose oder für Mütter mit behinderten Kindern. Da muss auf jeden Fall noch viel mehr getan werden«, so Patricia weiter. Eigene Pläne für die Zukunft hat Patricia bisher noch nicht geschmiedet. Schließlich würde es ja doch immer anders kommen als man denkt. Aber: »Auf jeden Fall möchte ich wieder eine Wohnung haben. Eine eigene Wohnung und ankommen. Man möchte ja auch ein Vorbild sein. Ich sage immer, man kriegt nicht nur ein Kind, man ist auch verantwortlich für ein Menschenleben. Und wenn ich jetzt verkacke, dann mache ich ein anderes Leben mit kaputt. Und das geht gar nicht.« Dafür würde Patricia auch auf jeden Fall in Zukunft viel öfter ihren Briefkasten öffnen.

Corona-Pandemie viel aufzuarbeiten gibt, weil vermutliche viele Frauen mit ihren Problemen bis nach der Krise warten.

Grit Biele


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HABECK SOZIAL Im September wird gewählt. Die Straßenzeitungen Deutschlands läuten den Wahlkampf zur Bundestagswahl ein. Es geht um Wohnen, um Armut, um Lösungen. Wir fragen die Spitzenpolitiker und Kanzlerkandidaten der demokratischen Parteien. Monat für Monat. Zum Auftakt: Robert Habeck von Bündnis 90/Die Grünen. Herr Habeck, vor Ihnen sitzen 15 deutsche Straßenzeitungen, angesiedelt zwischen Kiel und München, Düsseldorf und Dresden. Gemeinsamer Nenner unserer Fragen: Wie rot sind diese Grünen eigentlich, die womöglich ab Herbst mitregieren?

Tatsächlich will Ihre Partei Hartz IV abschaffen und durch eine »Grundsicherung« ersetzen, eine staatliche Leistung, die mehr Geld verspricht und an weniger Bedingungen geknüpft wäre. Der Einstieg in ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Wenn mit »rot« gemeint ist, eine gerechtere, sozialere Gesellschaft zu schaffen, kann ich sagen: Wir haben in den letzten drei Jahren unser sozialpolitisches Profil deutlich geschärft.

Es ist richtig, dass wir Hartz IV überwinden wollen. Wir wollen eine Garantiesicherung, damit jede und jeder verlässlich vor Armut geschützt ist. Sie sollte mit mehr Geld mehr Teilhabe ermög-


Alle Kinder sollten dem Staat gleich viel wert sein. Das ist heute nicht der Fall. Gutverdiener erhalten für ihre Kinder faktisch mehr Geld, Kinder aus einkommensschwachen Haushalten haben deutlich schlechtere Chancen. Deshalb wollen wir eine Kindergrundsicherung, die allen Kindern garantiert, was sie zum Leben brauchen.

Und wenn nicht, würden Sie dann über eine Abschaffung des Ehegattensplittings Koalitionsgespräche platzen lassen? Politik bedeutet, Veränderungen voranzubringen – und nicht, sich durch rote Linien zu lähmen. Wir argumentieren jeweils für unsere Ideen und versuchen, das Beste zu erreichen.

... und Hartz IV? Wäre die Abschaffung für Sie verhandelbar? Es geht darum, politische Mehrheiten zu schaffen und dann möglichst viel durchzusetzen. Eine Status-Quo-Regierung wird es mit uns nicht geben. Was wir dann klima-, sozial- oder europapolitisch durchsetzen, hängt auch davon ab, wie gut wir bei der Wahl abschneiden.

Im grünen Grundsatzprogramm steht oft das Wort »Umverteilung«. Würden unter einem Kanzler oder Vizekanzler Robert Habeck die Reichen zur Kasse gebeten? Ich halte die höhere Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen für angemessen und notwendig.

Stört es Sie eigentlich, als »netter Mann von nebenan« rüberzukommen und nicht als Staatsmann? Muss das ein Gegensatz sein?

Heute tragen Sie ganz staatstragend Anzug. Was sagt der Staatsmann zur Corona-Krise: Würden Sie das Land in den knallharten Lockdown bis Ostern schicken, den Wissenschaftler um die Virologin Melanie Brinkmann als »No-Covid«-Strategie empfehlen?

lichen und Anreize geben, anstatt die Menschen mit Sanktionen zu gängeln. Von einem bedingungslosen Einkommen unterscheidet sich das, weil es eben doch an eine Bedingung geknüpft ist: Die Garantiesicherung sollen die erhalten, die sie brauchen.

Gegen Kinderarmut wollen die Grünen auch etwas tun: Eine steuerliche »Kindergrundsicherung« soll Kinder unabhängig vom Beziehungsstatus der Eltern fördern. Dafür soll das Ehegattensplitting weichen. Würden Sie eine schwarz-grüne Regierungsehe für die Abschaffung der ehelichen Splittingvorteile riskieren?

Ich sorge mich sehr, dass die Strategien nicht mehr greifen, die wir vor dem Auftauchen der britischen und südafrikanischen Mutationen aufgestellt haben. Wenn die Mutante deutlich ansteckender ist als die Urform, dann dürften die bisherigen Inzidenzwerte als Schwelle nicht ausreichen. Das trifft freilich auf eine schwierige Stimmung, auf die Not von Alleinstehenden und Familien, gerade den Ärmeren. Und es ist eine Mammutaufgabe für die Politik: Auf der einen Seite die Notwendigkeit, die Regeln einzuhalten, und auf der anderen den gesellschaftlichen Druck, mehr Freiheiten zu gewähren. Das ist der Unterschied zwischen Politik und Wissenschaft: Die reine wissenschaftliche Lehre führt nicht automatisch zu einer erfolgreichen Umsetzung.


Vorsicht muss Gebot der Stunde sein. Wenn wir zu früh lockern, gefährden wir den Weg aus der Pandemie. Und deshalb muss jetzt – und hätte schon längst – die volle Energie darauf gehen, die Voraussetzungen zu verbessern: Wenn wir als allererstes Grundschulen »Die größte und Kitas vorsichtig und schrittGerechtigweise für Wechselunterricht öffnen, müssen Millio­ nen von keitslücke sind Schnelltests an Kitas und Schunicht bezahlte len. Es braucht einen Kraftakt, Steuern.« um die Produktionskapazitäten für Impfstoffe zu steigern. Außerdem sollten jetzt schnellstmöglich alle Gesundheitsämter die Tracking-Software »Sormas« einführen, um live Infektionsherde nachzuverfolgen. Die nutzt nicht einmal die Hälfte Stand heute [9. Februar_Red].

Zoonosen wie Covid-19 entstehen, wenn der Mensch dem Tier zu wenig Raum lässt. Die Grünen wollen, dass Deutschland keine freien Flächen mehr versiegelt. Wollen Sie jungen Familien verbieten, auf dem Land zu bauen? Nein. Ich will, dass junge Familien gut wohnen können, auf dem Dorf und in der Stadt. Aber zu den Zoonosen: Unter anderem ist der globale Wildtierhandel, an dem Deutschland teilnimmt, eine echte Gefahr, weil er eben auch zoonotische Krankheiten begünstigt. Die Regulierung des Wildtierhandels muss daher ganz oben auf die Agenda …

... und wie sieht es mit dem Platz für heimische Wildtiere aus? Die Artenvielfalt ist auch durch den Verlust von Lebensräumen gefährdet. Die Bundesregierung selbst will den Flächenverbrauch halbieren. Und scheitert seit Jahren daran. Wir haben im Land eine starke Konkurrenz um Flächen: fürs Wohnen, für die Landwirtschaft, für Energie, für Infrastruktur, für Gewerbe … Es muss viel ineinander spielen: Es sollte zum Beispiel nicht günstiger sein, neue Flächen zu versiegeln, als die alte Tankstelle abzureißen, den Boden zu sanieren und dort zu bauen.

Ihre Partei will das Recht auf Wohnen im Grundgesetz verankern. Was versprechen Sie sich davon? Eine Umkehr von der sozialpolitischen Logik, wo-

nach ein wohnungsloser Mensch erst beweisen muss, dass sie oder er mit den eigenen vier Wänden verantwortungsvoll umgehen kann, bevor er einziehen darf. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Sicherheit eines Dachs über dem Kopf animiert dazu, verantwortlicher und selbstbestimmter zu leben. Das Wohnrecht und die Grundsicherung sind für uns Pfeiler einer die Würde des Menschen achtenden Gesellschaft.

Apropos Würde: Viele Obdachlose wollen nicht in die Winternotprogramme, weil sie Angst vor den Sammelunterkünften haben. Sie befürchten, ausgeraubt zu werden oder sich mit Corona anzustecken. In Hamburg trägt die grüne Regierungspartei die Großunterkünfte mit. Wie stehen Sie zum Ruf nach Einzelunterbringung? Die Hotels und Hostels stehen leer: Dort Zimmer bereitzustellen, könnte sowohl den Hoteliers wie Obdachlosen helfen. Es gibt ja dazu Vorstöße, vor allem von privaten Initiativen, aber auch von der öffentlichen Hand. Ich finde es absolut richtig, angesichts der Pandemie diese Angebote deutlich zu erweitern.

Bundestag und Europaparlament haben beschlossen, bis 2030 die Obdachlosigkeit abzuschaffen. Klingt schön, allerdings halten sich die Dinge oft nicht an EU-Beschlüsse. Sonst wären die EU-Gewässer seit 2015 in einem »guten Zustand«. Würde eine grüne Regierung Bundesmittel bereitstellen, damit die Kommunen Obdachlose in Wohnungen einquartieren wie es etwa Finnland vormacht mit seinem »Housing First«-Programm? »Housing First« überzeugt und korrespondiert mit unserer Forderung nach Wohnen als Grundrecht. Studien zufolge finanziert sich das quasi selbst: Man stellt am Anfang das Geld bereit, das man später wieder einspart, etwa für Sozialarbeit, Psychotherapie, Polizei, Prozesse. Wenn der Bund ernst machen will mit der Abschaffung der Obdachlosigkeit, sollte er den Kommunen bei »Housing First«-Programmen helfen.

Der Trend geht in die gegenläufige Richtung: In Großstädten wie Hamburg hat sich die Zahl der Obdachlosen in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Die Mehrheit stammt aus armen EU-Staaten. Sie kommen, um zu arbeiten, landen in prekären Beschäftigungsverhältnissen und stranden am Ende auf der Straße. Wie wollen die Grünen diese Elendsspirale beenden? Wenn Menschen ihr Leben in ihrem Heimatland aufgegeben haben, um hier zu arbeiten und dann scheitern, sind sie ja trotzdem da. Wenn dann nur Obdachlosigkeit bleibt, verschärft sich das Elend. Deshalb wollen wir sie besser sozial absichern. Entscheidend ist aber, schon früher anzusetzen, also konsequent gegen Schwarzarbeit und Drückerlöhne zu kämpfen. Damit beginnt die Spirale ja viel zu oft.

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Also keine No-Covid-Strategie?

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wenn Wohnen ein Recht ist, braucht der Staat auch Mittel, um es durchsetzen zu können.

Aus welchen Etats soll das Geld herkommen – für die Grundsicherung, für »Housing First«-Wohnungen, für Frauenhäuser: Wollen die Grünen weniger für Rüstung zahlen? Oder den Bauern weniger geben? Sollen die Steuern steigen? Die Investitionsausgaben würden wir kreditfinanzieren. Dazu gehören Neubauten und Sanierungen, aber auch der Bau von Frauenhäusern, Obdachlosenunterkünften. Wir werben seit langem dafür, die Schuldenbremse dafür zu reformieren, und es gibt jetzt auch Stimmen aus der CDU in die Richtung. Konsumtive Ausgaben wie die Garantiesicherung müssen sich aus Steuern refinanzieren. Die größte Gerechtigkeitslücke, die wir haben, sind dabei nichtbezahlte Steuern. Wenn wir konsequent Steuerbetrug bekämpfen würden, stünden EU-weit zwei- bis dreistellige Milliardensummen zur Verfügung. Da müssen wir handeln.

Schwerins Straßenzeitung hat jüngst ihre VerkäuferInnen gefragt, mit welchem Promi sie gerne Kaffee trinken würden. Die Menschen nannten Popstars, Sportler und SchauspielerInnen; mit einem Politiker wollte niemand Kaffee trinken. Warum ist Ihre Kaste so unbeliebt? Viele Unions- aber auch SPD-Politiker befürchten eine Sogwirkung, wenn EU-ArbeitnehmerInnen gleich behandelt würden, also dass dann immer mehr Arbeitslose aus Rumänien, Polen oder Bulgarien einwandern. Wie sehen Sie das? Im Moment geraten die Leute ja vor allem in miserable Beschäftigungsverhältnisse. Wenn man die Gleichbehandlung an das Suchen und die Aufnahme von Arbeit knüpft, ist sie gerechtfertigt. Die Leute kommen her, um zu arbeiten, und nicht, um zu verarmen.

Wie wollen die Grünen für billigen Wohnraum in teuren Städten sorgen? Bauen! Vor allem öffentliches Bauen hilft. Und wenn privat gebaut wird, sollten Quartiere einen Wohnungsanteil für Ärmere vorhalten müssen.

Vielleicht, weil Streit zum Wesen der Demokratie gehört und Streitende unsympathisch sind. Aber es ist in den letzten Jahren viel Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und Fairness der Politik verloren gegangen. Gewinne von Banken und Spekulanten wurden privatisiert, Verluste zahlte die Allgemeinheit. Was sich eingebrannt hat, ist das Gefühl, die Politik schützt die Macht, nicht die Menschen. Ich glaube, dass wir als Politikerinnen und Politiker sehr daran arbeiten müssen, dass Vertrauen wieder herzustellen.

Was wollten Sie als Kind mal werden? Sie meinen, nach Feuerwehrmann? Ich wollte schon früh Schriftsteller oder Politiker werden. Ich war immer Klassensprecher, Schulsprecher, Studierendenvertreter. Nur als ich Vater wurde, war ich erstmal nur: Papa.

Und was würden Sie als erstes ändern, wenn Sie Bundeskanzler wären?

Berlin hat einen Mietendeckel statt der Mietpreisbremse, der grüne Bezirk Friedrichshain trommelt für ein starkes Vorkaufsrecht der öffentlichen Hand bei Immobilien. Modelle für den Bund?

Am liebsten: Containern erlauben! Das ist gewiss nicht die wichtigste Reform. Aber das Verbot, brauchbare Lebensmittel zu retten, ist eine Sache, die mir besonders unsinnig erscheint und die man schnell ändern könnte.

Das sind Modelle für die extremen Hochpreisgebiete in den Kommunen. Es sind Eingriffe in den Markt, und man wird sehen, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Aber

Interview: Annette Bruhns | Fotos: Lutz Jäkel IM APRIL-ASPHALT: OLAF SCHOLZ IM INTERVIEW


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Foto: picture alliance/dpa | Peter Kneffel

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FÜR FAIRE VERMIETER Mit einem Gütesiegel für anständige Vermieter will das Pestel-Institut Hilfe bei der Suche nach Wohnungen in und um Hannover bieten. Es soll im heißgedrehten Markt mit der Ware Wohnen den Weizen von der Spreu trennen. Im Asphalt-StreetLIVE-Gespräch der Leiter des Instituts Matthias Günther. Herr Günther, Sie haben mit Ihrem Institut die Wohnsituation in Hannover analysiert. Woran hapert es aktuell am meisten? Es fehlten nach unserer Einschätzung im Jahr 2020 rund 8.000

bis 9.000 Wohnungen in der Region Hannover. Das betrifft im Wesentlichen dieses so genannte bezahlbare Marktsegment. In diesem Bereich sind die Wohnungsangebote besonders knapp. Wenn jemand auszieht und eine Wiedervermietung ansteht,


dann ist eine ehemals preiswerte Wohnung häufig nicht mehr preiswert, weil bei der Neuvermietung doch einiges draufgelegt werden kann.

Nun haben Sie ein Siegel an den Markt gebracht, das genau diese Entwicklung einschränken soll: »Mein Fairmieter«, wie funktioniert das? Es wird in Deutschland nun schon seit vielen Jahren darüber

Sozial, bezahlbar, fair »Meinfairmieter Gütesiegel e.V.« ist ein Verein in Gründung, das Siegel geschützt. Neben Matthias Günther vom Pestel-Institut in Hannover sind der Marketing-Experte Kay P. Stolp sowie der Wirtschaftsjournalist Gerd Warda Gründungsmitglieder des Vereins. Alle drei begleiten nach eigenem Bekunden das Thema »Wohnen für breite Schichten der Bevölkerung« in ihren Disziplinen seit mehr als 30 Jahren. Gemeinwohlorientierte Wohnungsunternehmen, die an einer Auszeichnung mit dem Gütesiegel »Meinfairmieter« interessiert sind, sollten die folgenden Kriterien erfüllen: 1. Durchschnittsmiete unterhalb der lokalen Wohngeldstufe 2. Modernisierungsmieterhöhung von maximal einem Euro je Quadratmeter 3. Gewinnausschüttung von maximal fünf Prozent auf das eingezahlte Kapital 4. Erfüllung eines Mindeststandards zum Sozialmanagement 5. Einsatz für das Wohlergehen der Mieterinnen und Mieter mit viel Herz und wohnbegleitenden Serviceangeboten (z. B. durch Mieterfeste, WohnCafés, Beratungsangebote etc.) Das Siegel soll ab 1. April 2021 verfügbar sein und dann für zwei Jahre Gültigkeit haben. Weitere Infos unter https://meinfairmieter.de MAC

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diskutiert, ob man eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit einführt, doch dafür wird es voraussichtlich auch in absehbarer Zukunft keine politischen Mehrheiten geben. Deshalb haben wir uns gedacht, kurz entschlossen nach vorne zu preschen und ein solches Gütesiegel zu kreieren. Wohnungsunternehmen, die klar zu ihrer sozialen Verantwortung stehen, können mit diesem Siegel jetzt nach außen dokumentieren, dass sie das tun. Es geht für diese Unternehmen, die das Soziale nicht nur in der Satzung stehen haben, sondern es auch leben, darum, dass sie sich abgrenzen können von den anderen.

Es heißt, es wird viel Schindluder betrieben mit Hartz-IV-EmpfängerInnen, deren Mieten ja vom Jobcenter übernommen werden. Man hat teilweise das Gefühl, dass manche Vermieter das Vermieten an Hartz-IV-Empfänger zum Geschäftsmodell erkoren haben und die Miete immer an der oberen Kante dessen festlegen, was die Jobcenter noch zu tragen bereit sind. Und zwar für Wohnungen, die eigentlich eher einen grottenhaften Zustand aufweisen.

Wer kann dieses Siegel beantragen? Im Grunde genommen jeder, der Wohnungen vermietet und sich den Kriterien, die wir jetzt endgültig festlegen, unterwirft. Die Kriterien betreffen die Durchschnittsmiete, die ein solcher Vermieter höchstens verlangen darf. Festgelegt werden wird, wie ein Vermieter mit der Modernisierungsumlage umgeht: Wir haben in vielen Städten inzwischen das Problem, dass die Modernisierung eher als ein Instrument zum Freiziehen von Häusern ist, um sie dann in Eigentumswohnungen umzuwandeln. Zudem werden wir als weiteres ökonomisches Kriterium festlegen, wieviel des gezeichneten Kapitals maximal an Dividende ausgeschüttet werden darf. Daneben wird es so genannte weiche Kriterien geben, wie beispielsweise das Sozialmanagement des Unternehmens.

Ein Gütesiegel taugt nur etwas, wenn überprüfbar ist, ob die Kriterien eingehalten werden. Überprüfen werden wir das im Einzelnen gar nicht müssen, weil die Unternehmen die Daten dann in ihren Geschäftsbericht übernehmen müssen.

Es sind viele Menschen, die mittlerweile auf genau diesen Sektor gucken müssen: Alleiner-


Also es gibt viel zu tun. Wann ist das Gütesiegel am Start, Herr Günther? Die Kriterien wollen wir Anfang März endgültig festgelegt haben. Ab Anfang April werden wir das Gütesiegel vergeben.

Wir wünschen damit viel Erfolg.

Foto: EPS

Interview: Claudia Fyrnihs/StreetLIVE*

Diplom-Ökonom Matthias Günther ist Leiter des Eduard Pestel-Instituts für Systemforschung in Hannover.

*StreetLIVE ist eine Kooperation von und

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Wir sehen ja, wie die Kosten der Unterkunft, die die Jobcenter zahlen, in den letzten Jahren deutlich gestiegen sind, ein Mehrfaches als der Anstieg der sonstigen Lebenshaltungskosten. Das heißt, in diesem Bereich der einfachen preiswerten Wohnungen wurde kräftig zugelangt. Und die Jobcenter definieren ja am Ende den Preis am unteren Marktsegment. Denn wenn jemand von einem Hartz-IV-Empfänger acht Euro pro Quadratmeter bekommt, warum sollte er an andere Leute, die wenig Geld haben, preiswerter vermieten? Das ist das Problem: Der Staat verspricht Wohnen für alle und dass er es im Rahmen der Kosten der Unterkunft dann auch bezahlt. Aber er verspricht etwas, was er selbst nicht hat, nämlich Wohnungen. Bei der Entwicklung der letzten Jahre ist dieser Staat erpressbar geworden, weil er Mieten übernehmen muss, die nicht mehr angemessen sind.

Foto: ilkercelik/iStock.com

ziehende, Studierende, Rentnerinnen und Rentner. Der Markt der Suchenden ist riesig groß.

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Rats-Ampel will 8-Euro-Mieten Die Rot-grün-gelbe Ratskoalition in Hannover will den sozialen Wohnungsbau in der Stadt stärken. Die laufenden Wohnraumförderprogramme der Landeshauptstadt sollen jährlich um weitere 500.000 Euro aufgestockt werden, so haben es die Mehrheitsfraktionen im Bauausschuss zum Rat der Landeshauptstadt beschlossen. Außerdem soll es neben den Sozialwohnungen und Belegrechtswohnungen einen neuen Programmpunkt mit bezahlbaren Wohnungen für Normalverdiener in Höhe von acht Euro Nettokaltmiete geben. Ein Beitrag zur Stärkung des Mittelstands, betont die FDP, ein Beitrag zur Lösung der Wohnungsnot der Mittelschicht, so SPD und Grüne. Menschen mit kleineren und mittleren Einkommen »müssen teilweise bereits mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Miete und Nebenkosten ausgeben«, so Elisabeth Clausen-Muradian, baupolitische Sprecherin der Grünen. »In den Finanzausschuss werden wir daher außerdem einen Antrag einbringen, um ab dem Jahr 2023 die jährliche Gewinnausschüttung der ›hanova Wohnen‹ an die Stadt Hannover um eine Millionen Euro auf dann nur noch 600.000 Euro zu reduzieren. Durch diesen weiteren Teilverzicht der Stadt auf eine Gewinnausschüttung durch die ›hanova Wohnen‹ soll es dieser ermöglicht werden, künftig ihren Fokus noch stärker auf den Bau bezahlbarer Wohnungen in Hannover für kleinere und mittlere Einkommen zu richten«, so die Ratspolitikerin weiter. Zudem soll sich die städtische Tochter ›hanova Wohnen‹ künftig stärker bei der Unterbringung von Wohnungs- bzw. Obdachlosen engagieren. Ihr soll in Erbpacht die Unterkunft Rote Reihe in der Schulenburger Landstraße und die Wohnimmobilie Schwesternhausstraße der Stiftung Rats- und von-Soden-Kloster übertragen werden. Sie sollen saniert werden und wieder für die Unterbringung zur Verfügung stehen. Dafür erhält das städtische Unternehmen eine Kapitalzuführung von zwölf Millionen Euro. MAC


Gobanyo und Co.: Busse für Obdachlose Hannover. Eine deutliche Aufstockung der Mittel für so genannte Kältebusse in Hannover hat im Februar der Sozialausschuss der Landeshauptstadt auf den Weg gebracht. Der Kältebus der Johanniter soll jährlich rund 15.000 Euro zusätzlich zu der bisherigen Förderung in Höhe von 20.000 Euro erhalten. Der Kältebus der Caritas wird künftig mit jährlich 11.000 Euro bedacht, und der Bus der Malteser soll mit 10.000 Euro gefördert werden. Gleiches gilt für das Zahnmobil. Ein ganz neues Projekt soll ein Duschbus der Malteser sein. In Hamburg gibt es dafür bereits ein Vorbild, den Gobanyo (Foto) mit abschließbaren Duschkabinen. Mit Wassertanks und Standheizung ist der Bus komplett unabhängig von öffentlichen Strom- und Wasserquellen. An vier Tagen in der Woche ist der Bus für jeweils fünf Stunden unterwegs, fährt drei feste Standorte in Hamburg an. Gegründet wurde das Projekt von dem ehemaligen Obdachlosen und Schriftsteller Dominik Bloh. 150.000 Euro will die Ratsmehrheit aus SPD, FDP und Grünen in die Anschaffung eines vergleichbaren Busses in Hannover anteilig investieren. Die beiden zentralen Anlaufpunkte für Obdachlose in Hannover, der »Mecki« und der »Kompass« – beide hinterm Bahnhof – erhalten zusammen rund 100.000 Euro von der Stadt, darin enthalten die medizinische Versorgung im »Mecki«, die auf 35.000 Euro aufgestockt werden sollen. Bisher gab es dafür 10.000 Euro. Die Förderung der Drogenhilfe Neues Land, die unter anderem den Container unter der Raschplatzhochstraße betreibt, soll um 30.000 auf künftig 75.000 Euro aufgestockt werden. Anträge der Linken, die Straßensozialarbeit zu stärken, wurden von den Mehrheitsfraktionen abgelehnt. MAC

Sozialarbeit plus Unterbringung Hannover. Unterbringung von Obdachlosen und Sozialarbeit mit ihnen wird in Hannover in Zukunft verzahnt. Nach jahrelanger Blockade im Rathaus erhält das Sozialdezernat einen neuen Fachbereich Teilhabe. Mit dem Neuzuschnitt geht der Bereich Unterbringung, der Geflüchteten und Obdachlosen städtische Quartiere anbietet, vom Baudezernat an Sozialdezernentin Sylvia Bruns (FDP, Foto unten). Die künstlich getrennten Bereiche Unterbringung und Sozialarbeit hatten in den vergangenen Jahren immer wieder zu einer weitgehenden Lähmung in der Wohnungslosenhilfe geführt. Asphalt hatte deshalb bereits 2016 bei Amtseinführung von Bruns‘ Vorgängerin Konstanze Beckedorf (heute Kulturdezernentin) gefordert, die Aufgabenbereiche in einem Dezernat zu vereinen. Nicht machbar, hieß es damals noch im Rathaus. Nun gilt: »Wir wollen zukünftig eine Sozialpolitik aus einer Hand«, so Oberbürgermeister Belit Onay. Die Sicherung gesellschaftlicher Teilhabe sei eine übergreifende Aufgabe. Die MitarbeiterInnen des neuen Fachbereichs sollen sich nun gleichermaßen um das Wohnen und Leben in Gemeinschaftsunterkünften und Wohnungen, um Beratung geflüchteter und obdachloser Menschen und um wohnungserhaltende Hilfen kümmern. Der neue städtische Baudezernent Thomas Vielhaber betrachtet den Verlust des Bereichs Unterbringung in Richtung Sozialdezernat nach Auskunft der Stadt »als zielführend«. Mit der Umstrukturierung würden Synergien geweckt. Rund 60 Gemeinschaftsunterkünfte hält die Landeshauptstadt instand. Unterkünfte werden neu errichtet, angemietet, umgebaut oder zurückgebaut. Insgesamt sind 5.600 Menschen in Hannover in Wohnheimen, Wohnprojekten, Notunterkünften sowie Notschlafstellen und Schlichtwohnungen untergebracht. MAC Foto: LHH

Foto: Julia Schwendner

AUS DER SZENE


Noch vor gut einem Jahr haben wir uns keine Gedanken darüber gemacht, was Corona für uns bedeuten kann. Es ging dann ziemlich Schlag auf Schlag, und wir merkten, dass diese Krankheit uns sehr wohl etwas angeht. Schnell kam auch das Thema Impfen auf und ich weiß noch, wie gesagt wurde, es könne durchaus zehn Jahre dauern, bis so ein Impfstoff auf den Markt käme. Nun ist gerade mal ein Jahr vergangen, auf der ganzen Welt wurde geforscht, und es ist nicht nur eines, sondern es sind etliche Seren auf dem Markt. Das ist doch wirklich eine Entwicklung, für die wir unendlich dankbar sein können. Wir bekommen ihn, den Impfstoff, wir alle, die ihn haben möchten. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber er steht uns zur Verfügung, und zwar kostenlos. Es nervt mich wirklich, wenn immer wieder – anstatt sich einfach mal zu freuen – negative Erlebnisse in den Vordergrund gestellt werden. Ja, es ist nicht schön, wenn jemand den ganzen Tag vergeblich versucht, einen Impftermin zu bekommen. Es ist auch nicht schön, wenn Briefe an unsinnige Adressa­ ten geschickt werden. Aber hurra, wir haben einen Impfstoff! Wir sehen hoffnungsvoll in die Zukunft. Wir freuen uns, wenn wir gesund sind. Wir freuen uns, wenn es uns einigermaßen gut geht. Wir freuen uns, wenn wir Miete und Essen bezahlen können, da geht es unendlich vielen Menschen auf dieser Welt ganz anders. Ich als Schwerstkranke sollte wahrscheinlich mit zu den Ersten gehören, die geimpft werden. Aber ich warte, und ich warte gern, bis ich vielleicht in zwei Jahren auch an die Reihe komme. Und dann bin ich dankbar. Karin Powser Karin Powser lebte jahrelang auf der Straße, bevor ihr eine Fotokamera den Weg in ein würdevolleres Leben ermöglichte. Ihre Fotografien sind mittlerweile preisgekrönt. Durch ihre Fotos und mit ihrer Kolumne zeigt sie ihre ganz spezielle Sicht auf diese Welt.

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Das muss mal gesagt werden …

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»AQUARIANER« Aus dem Leben: im Gespräch mit Asphalt-Verkäufer Micha (61). Hallo Micha, wie war das für dich, nach zwei Monaten Verkaufspause durch den Corona-Lockdown im Februar wieder Asphalt verkaufen zu können? Klasse! Ich habe zwar zuhause ein großes Freigehege, aber ich habe den Verkauf sehr vermisst. Es ist ja nicht nur der Verdienst, es ist ja auch das Gespräch mit den Leuten, das fehlt. Ich habe es an meinem Verkaufsplatz mit sehr netten Leuten zu tun und die habe ich vermisst.

Kannst du dich noch erinnern, wann du deine allererste Asphalt verkauft hast? Oh, das muss 1998 gewesen sein. Ich bin ja schon über 20 Jahre dabei. Genau weiß ich das nicht mehr. Aber ich weiß noch, wie ich zu Asphalt gekommen bin.

Und zwar? Ich habe damals im Tagestreff am Kötnerholzweg gesessen, denn ich war ja obdachlos und bin in Linden gestrandet. Da habe ich auch Platte gemacht. Ich trinke also dort so meinen Kaffee, Wetter war echt übel, da kommt ein Typ rein und sagt zu mir: »Hör mal, dich kenn ich. Du kannst doch was Besseres machen, als schnorren. Komm mal mit!« Naja, und so bin ich dann zu Asphalt und habe meine ersten Zeitungen bekommen.

Wie war dann der erste Verkauf für dich? Damals stand ich bei Minimal, so hieß das damals noch, auf der Limmerstraße. Erstmal passierte nix. Dann habe ich gedacht, wenn die Leute dich nicht sehen, dann müssen die dich wenigstens hören. Und da habe ich dann losgelegt. Weil ich zu dem Zeitpunkt ja noch gesoffen hatte, fiel mir das recht leicht. Denn, wenn du breit bist, sinkt die Hemmschwelle. Aber die Leute fanden das wohl ganz gut. Denn, nachdem am ersten Tag nix ging, waren am zweiten Tag dann alle Zeitungen verkauft. Und dann lief das immer so weiter. Irgendwann habe ich dann den Platz vorm Aldi in Limmer bekommen. Dort habe ich jemanden kennengelernt, auch ein Aquarianer wie ich, durch den bin ich in einen Verein gekommen. Und da bin ich heute noch.

Aquarianer? Was muss ich mir darunter vorstellen? Das sind Leute, die Fische züchten. Zierfische. Im Augenblick ist im Verein aber nichts los. Wegen des Lockdowns finden keine Treffen statt. Aber ich stehe weiterhin mit einigen in Verbindung.

Gibt es etwas, woran du dich aus deiner Kindheit gerne erinnerst? An ein Weihnachten. Da habe ich meinen ersten Goldfisch gekriegt. Mein Vater hatte sich irgendwann mal ein Aquarium zugelegt. Der erste Fisch, den er reingesetzt hatte, war ein Panzerwels. Das weiß ich noch wie heute. Und natürlich hatten

wir auch Guppys. Das erste Guppy-Weibchen, wie das Junge kriegte, da haben wir die ganze Nacht davorgesessen und haben zugeguckt. Über 100 Stück hat sie gekriegt. Ich habe mitgezählt. Irgendwann wollte ich dann auch einen Fisch haben. Naja, und dann an Weihnachten, ich kam ins Wohnzimmer, da war ein Tuch über so ein Rechteck aufgebaut. Da war dann Hansi drin, mein Goldfisch. Hansi hat zweieinhalb Jahre gelebt. Ich habe als Kind meine Goldfisch-Phase durchgemacht und meine Guppy-Phase. Das sind die Sachen, die jeder Aquarianer durchmachen muss. Und, bei dem Hobby bin ich heute noch.

Du hast gesagt, dass du früher Platte gemacht hast. Wie ist es dazu gekommen? Ich habe mich aus Dummheit in die Obdachlosigkeit gesoffen. Post blieb liegen – ›Kannste ja später aufmachen. Wird schon nicht schlecht‹. Kohle? – ›Klar, Amt zahlt ja‹. Mit de Kumpels einen saufen gehen? – ›Klar, Kohle ist ja noch da‹. Und irgendwann denkst du dann nur noch von einer Pulle bis zur nächsten. Die Post stapelt sich ungeöffnet, und auf einmal steht ein freundlicher Mensch vor der Tür und sagt: »Tja, wir haben versucht dich zu erreichen.« Das war es dann. Kannst nichts mitnehmen. Packst dein Bündel und siehst zu. Aber, ich hatte noch Glück. Ich habe da so einen uralten Stadtberber getroffen. Der hat mir alles gezeigt, wie alles geht und worauf man achten muss. Der hat mir alles beigebracht. Dafür bin ich heute noch dankbar.

Wie lange hast du dann auf der Straße gelebt? Insgesamt vier Jahre. Im Winter ist es hart. Sehr hart. Und ich möchte in der heutigen Zeit nicht mehr obdachlos sein. Das würde ich nicht mehr überleben. Es ist wahrscheinlich viel härter geworden. Ich wurde damals ein paar Mal überfallen. Im Wohnheim musste ich ums Überleben kämpfen. Man lernt Sachen, die will man nicht lernen. Man tut Dinge, die will man nicht tun. Und man sieht Sachen, die will man nicht sehen. Deshalb: ich bin froh, dass ich so nicht mehr leben muss. Ohne meine Frau wäre ich schon längst vor die Hunde gegangen.

Würdest du mit dem heutigen Wissen andere Entscheidungen treffen, im Gegensatz zu früher? Wenn ich etwas anders entschieden hätte, dann wäre ja mein ganzes Leben anders verlaufen. Dann hätte ich meine Frau nicht kennengelernt und ich wäre vermutlich nicht so glücklich. Deshalb glaube ich nicht, dass ich anders entscheiden würde. Aber, mit dem Wissen von heute würde ich nicht saufen. Und ich würde nicht mit dem Rauchen anfangen. Ansonsten bin ich eigentlich ein zufriedener Mensch. Und ich blicke auch voller Zuversicht in die Zukunft. Interview und Foto: Grit Biele


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Micha verkauft Asphalt vor »Rewe« in der Wunstorfer Straße in Hannover-Limmer und vor »Rewe« in der Heisterbergallee in Hannover-Ahlem.


RUND UM ASPHALT

Foto: Maridav/shutterstock.com

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Manchmal gibt es das, dass alles gut wird, irgendwann. Sonja hat eine Wohnung. Die Behörden spielen mit, das Gezerre hat etwas länger gedauert. Im Juli 2020 berichteten wir von den Auswirkungen des Lockdowns auf Sexarbeiterinnen (www.asphalt-magazin.de/das-magazin/archiv/). Wir sprachen mit Sonja über ihren Weg in die Prostitution, ihre finanzielle Not, ihre Obdachlosigkeit, und über ihre beiden Kinder in Bulgarien, die sie sehr vermisste. Monate verbrachten sie zuletzt gemeinsam in der Obdachlosenunterkunft in der Langensalzastraße. Mit Hilfe des Vereins Phoenix gelang Sonja jetzt das fast Unmögliche: Sie hat eine Wohnung für sich und die Kinder. Für ihren Kleinen (4) aber braucht es noch einen Kitaplatz, irgendwo zwischen Ricklingen und nördlicher Südstadt. Asphalt-LeserInnen helfen, wenn sie können, das wissen wir. MAC

gesucht – gefunden Unser Verkäufer Petru-Adrian sucht dringend ab 1.4.2021 eine neue, kleine Wohnung für sich und seine Frau, da er bald ein Nieren-Transplantat erhalten soll und dazu eine schimmelfreie Wohnung braucht. Sie sollte in Göttingen oder naher Umgebung sein und muss mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sein. [V-Nr. G-057/Göttingen] Angebote bitte unter 01590–91668741.

Impressum Herausgeber: Matthias Brodowy, Dr. Margot Käßmann, Rainer Müller-Brandes Gründungsherausgeber: Walter Lampe Geschäftsführung: Georg Rinke Redaktion: Volker Macke (Leitung), Grit Biele, Ute Kahle, Ulrich Matthias Gestaltung: Maren Tewes Kolumnistin: Karin Powser Freie Autoren in dieser Ausgabe: A. Bruhns, O. Cless, C. Fyrnihs, S. von Koch, E. Pfister, W. Stelljes Anzeigen: Heike Meyer Verwaltung: Janne Birnstiel (Assistentin der Geschäftsführung), Heike Meyer

Vertrieb & Soziale Arbeit: Thomas Eichler (Leitung), Romana Bienert, Sophia Erfkämper, Ute Kahle, Kai Niemann Asphalt gemeinnützige Verlags- und Vertriebsgesellschaft mbH Hallerstraße 3 (Hofgebäude) 30161 Hannover Telefon 0511 – 30 12 69-0 Vertrieb Göttingen: Telefon 0551 – 531 14 62 Spendenkonto: Evangelische Bank eG IBAN: DE 35 5206 0410 0000 6022 30 BIC: GENODEF1EK1

redaktion@asphalt-magazin.de vertrieb@asphalt-magazin.de goettingen@asphalt-magazin.de herausgeber@asphalt-magazin.de Online: www.asphalt-magazin.de www.facebook.com/AsphaltMagazin/ www.instagram.com/asphaltmagazin/ Druck: v. Stern’sche Druckerei, Lüneburg Druckauflage: Ø 26.500 Asphalt erscheint monatlich. Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 22. Februar 2021 Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte, Bilder und Bücher übernehmen wir keine Gewähr. Rücksendung

nur, wenn Porto beigelegt wurde. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte weitergegeben. Unsere vollständige Datenschutzerklärung finden Sie auf www.asphalt-magazin.de/impressum. Alternativ liegt diese zur Ansicht oder Mitnahme in unserer Geschäftsstelle aus. Gesellschafter:

H.I.o.B. e.V. Hannoversche Initiative obdachloser Bürger


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Spende für weitere Grabstätte

Foto: Petraq Naumi

Selbsterkenntnis, Selbstreflexion aber auch Wohltätigkeit – dafür steht die Freimaurerei. Dafür stehen auch die Brüder der Johannisloge »Wilhelm zur deutschen Treue«. Schon in den vergangenen Jahren haben sie regelmäßig Projekte von der Jugend- und Drogenberatungsstelle Drobs sowie des Männerwohnheims unterstützt. Weil die Freimaurerbrüder vom Asphalt-Ruheforst-Projekt so begeistert waren, haben sie sich dieses Mal für eine Spende zugunsten von Asphalt entschieden. So gab es von der Bruderschaft 5.000 Euro für den Kauf einer weiteren Grabstätte im Ruheforst Deister, damit unsere

Asphalt-Verkäuferinnen und -Verkäufer eine würdevolle letzte Ruhestätte bekommen. »Wir hoffen, damit einen Beitrag zu diesem Projekt gegeben zu haben, um die Umsetzung leichter zu ermöglichen. Und wir hoffen zudem, etwas Licht in das trübe Jahr 2020 gebracht zu haben«, sagt Jochen Becker, Schriftführer der Loge »Wilhelm zur deutschen Treue«. Den Spendenscheck hat unsere Geschäftsführer-Assistentin Janne Birnstiel (Mitte) von den Freimaurerbrüdern Gerhard Renner (li.) und Horst Jonigkeit (re.) sehr gerne in Empfang genommen. Vielen Dank an die Bruderschaft. GB

Korrektur In Asphalt 02/2021 hatten wir Kerstin Tack irrtümlich als MdL vorgestellt. Sie ist aber Mitglied des Deutschen Bundestages (MdB). Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen. RED

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»Asphalt baut Brücken« Franziska Stünkel, Filmregisseurin und Fotokünstlerin

»Durch den Verkauf des AsphaltMagazins haben Menschen in schwierigen sozialen Lagen die Möglichkeit eines eigenen Einkommens. Viele sind oder waren wohnungslos, alle sind von Armut betroffen. Die Gespräche mit den VerkäuferInnen machen »Asphalt« sehr wertvoll für uns alle. Es ist wichtig, dass wir in dieser Gesellschaft direkt miteinander sprechen und einander verstehen. Asphalt gibt uns die Möglichkeit dazu.«

on … Wussten Sie sch

regelmäßige seine Arbeit ohne … dass Asphalt e finanziert? chliche Zuschüss öffentliche und kir enerlösen sind aufs- und Anzeig Neben den Verk Förderer die rer Freunde und die Spenden unse ierung. nz zur Gesamtfina wichtigste Stütze ende: indung für Ihre Sp Unsere Bankverb Asphalt-Magazin 30 0410 0000 6022 IBAN: DE35 5206 EK1 BIC: GENODEF1 nk Evangelische Ba ck: Perspektiven Verwendungszwe

… mehr als eine gute Zeitung!

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Foto: Selim Korycki

Mietschulden bezahlt, die Kündigung bleibt. Melanie Fleischer blickt einer ungewissen Zukunft entgegen.


Jede Zwangsräumung kennt zwei Tragödien: eine geht ihr voraus, die nächste folgt ihr nach. Jedenfalls dann, wenn die Räumung in die Obdachlosigkeit führt, was viel zu oft geschieht. Corona könnte die Lage noch verschlimmern. Zwangsräumung heißt: raus aus der Wohnung und zwar sofort! Wenn erst Gerichtsvollzieher und die Polizei vor der Tür stehen, ist es in der Regel zu spät. MieterInnen, die bis zum Räumungstermin keine neue Wohnung gefunden haben, werden auf die Straße gesetzt. Wortwörtlich. Genau das ist es, was jetzt Melanie Fleischer droht. Bis Ende Oktober hat die alleinerziehende Mutter von fünf Kindern noch Zeit, sich eine neue Bleibe zu suchen. Dann soll sie ihre Wohnung räumen. »Was nach dem 31. Oktober sein wird, weiß ich nicht. Wie soll ich bis dahin eine ausreichend große Wohnung für mich und die Kinder finden?« Und das noch in Zeiten der Pandemie. Fleischer macht sich berechtigte Sorgen, denn große Hoffnung macht ihr da niemand, auch nicht das Wohnungsamt. Bei derart großen Wohnungen müsse man mit einer langen Wartezeit rechnen, hieß es in einer Mitteilung an die Alleinerziehende.

Mehr als 4.100 Räumungsurteile in Nds. Melanie Fleischer ist kein Einzelfall. Rund 50.000 Aufträge zur Zwangsräumung wurden deutschlandweit im Jahr 2019 erteilt, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Fraktion der Linken hervorgeht. Die Statistik wird vom Verband der Gerichtsvollzieher geführt und unterscheidet nicht zwischen Wohn- und Geschäftsräumen, allerdings sind auch die Zahlen für Bayern und Schleswig-Holstein nicht darin enthalten. Mit anderen Worten: jedes Jahr wird in Deutschland die Bewohnerzahl einer Großstadt zwangsgeräumt. Trotz eines leichten Rückgangs um 4,8 Prozent lagen die Zahlen in Niedersachsen mit 4.161 Räumungsaufträgen (4.371 in 2018) weiterhin auf einem hohen Niveau. Wie viele dieser Aufträge dann tatsächlich durchgeführt wurden, ist nicht im einzelnen bekannt. Für Oldenburg wurden in den letzten Jah-

ren jedoch jeweils Zahlen im hohen zweistelligen Bereich gemeldet, für Göttingen lagen sie etwas niedriger. Genauere Zahlen für Hannover verdanken wir einer Anfrage der Ratsgruppe Linke & Piraten. Demnach wurden im Jahr 2019 in der Landeshauptstadt 314 Zwangsräumungen tatsächlich durchgeführt. Also rund eine pro Tag, wenn wir die Sonntage nicht mitrechnen. Zu viel, wie Bau- und Sozialpolitiker Dirk Machentanz von den Linken meint: »Die Höhe der Zwangsräumungen in Hannover ist alarmierend. Die Pandemie hat daran nichts geändert, sondern die Lage der betroffenen Menschen noch verschärft. Hier muss in Zukunft im Sinne der Bürger und Bürgerinnen und nicht gegen sie gehandelt werden. Der Fall der alleinerziehenden Mutter zeigt, dass selbst eine berufstätige und fünffache Mutter vor der Obdachlosigkeit steht! So etwas ist zutiefst unsozial und muss aufhören!« Nun kann eine Zwangsräumung aus unterschiedlichen Gründen erfolgen. Sie kann Mieter treffen, die andere Bewohner schikanieren oder gar bedrohen oder auch den Messi, der seine eigene Wohnung völlig vermüllen lässt. In den meisten Fällen trifft es jedoch Menschen, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerieten und irgendwann ihre Miete nicht mehr bezahlen konnten.

Das lange Gedächtnis der Schufa Rückstände bei der Miete waren es auch, die Melanie Fleischer die Räumungsklage eingebracht haben. »Die Mietschulden haben sich nach und nach angehäuft. Obwohl alleinerziehend, war ich noch ganztags berufstätig, verdiente aber nur geringfügig, 450 Euro. Für die Kinder hatte ich in der Zeit jemanden zum Aufpassen. Doch dann bekam der Betrieb Probleme, die

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MIT ZWANG GERÄUMT

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Foto: Selim Korycki

Chefin zahlte erst nur noch Abschläge in Höhe von 100 Euro, dann wurde mir gekündigt«. Erst geht der Job verloren, dann die Wohnung. Eine Ereignisfolge, die nur zu oft vorkommt, aber auch viel Zeit für Hilfe ließe. Hier setzt die Stadt auch durchaus an mit ihren Wohnraumerhaltenden Hilfen und der mobilen Wohnbegleitung, räumt in ihrer Antwort auf die Anfrage der Linken & Piraten aber ein, in vielen Fällen sei es »aufgrund der bestehenden Mietrückstände und »Wir erwarten, dass einer damit verbundenen negativen Schufa alschon in der Phase, lerdings schwierig, neuen Wohnraum zu finden«. wo die Miete nicht Heißt im Klartext: Für die Betroffenen bleibt bezahlt werden nur die Straße oder die Obdachlosenunterkunft. kann, Unterstützung Beides möchte Fleischer sich und ihren Kindern ersparen, aber die Aussichten sind alles geleistet wird.« andere als rosig. Gerade in ihrer Situation als Dirk Machentanz, Fraktion der alleinerziehende Mutter mit fünf Kindern ist der Linken im Rat Hannovers Verbleib im gewohnten Umfeld – in ihrem Fall Hannover-Misburg – ein wichtiger Faktor. Die Kinder würden ihren Freundeskreis verlieren, zwei der Jungen mit Sprachdefiziten könnten die Förderkurse an der nahegelegenen Schule nicht fortführen, die Mutter müsste auf die gewohnte Unterstützung in der Nachbarschaft verzichten. Zudem ist sie wieder schwanger, im Juli, sagt sie, komme das

Mit fünf Kindern auf der Straße? Für die alleinerziehende Mutter inzwischen eine reale Gefahr.

nächste Kind. Keine einfachen Voraussetzungen für die Wohnungssuche, auch unabhängig von der Schufa. Linkenpolitiker Machentanz sieht hier die Stadt gefordert, die frühen Hilfen zu stärken und es gar nicht erst zu einem Räumungsurteil kommen zu lassen: »Wir erwarten, dass schon in der Phase, wo die Miete nicht bezahlt werden kann, Unterstützung geleistet wird. Dafür muss notfalls auch neues Personal eingestellt werden«. Die Wirksamkeit dieser frühen Unterstützung scheint durchaus belegt. Die Stadt berichtet, selbst in 34 Prozent der vom Team »Wohnungserhaltende Hilfen« betreuten Fälle, sei die drohende Zwangsräumung verhindert worden. Für ein Viertel der Betroffenen wurde »eine neue Wohnmöglichkeit gefunden« und nur drei Prozent wurden in einer Obdachlosenunterkunft untergebracht. Allerdings konnte eben in 36 Prozent der Fälle keine Lösung gefunden werden. Was aus diesen Menschen geworden ist, bleibt ungewiss. Über deren Verbleib lägen keine Informationen vor, heißt es lapidar von Seiten der Stadt.

Zwangsräumungen trotz Corona Aus den Augen aus dem Sinn? Die Stadt sieht nach eigener Auskunft keine Notwendigkeit, Mitarbeiter zur Begleitung von Zwangsräumungen abzustellen. Dabei kann so eine Räumung ein traumatisches Erlebnis für die Betroffenen sein. Machentanz regt hier an, die Stadt solle mit der Polizei reden, dass diese mehr Zurückhaltung übe und »nicht gleich so martialisch« auftrete. Wünschenswerter sei es aber, der Oberbürgermeister würde auch den Grundeigentümerverband mit zu diesem Gespräch bitten und Zwangsräumungen ganz aussetzen. Gerade während der Corona-Pandemie seien Zwangsräumungen von Wohnungen zu verhindern, fordern in Niedersachsen neben den Linken auch der


Kindern unter dem Weihnachtsbaum.

Deutsche Gewerkschaftsbund, der Deutsche Mieterbund und die Landesarmutskonferenz. »Wohnen ist kein Konsumgut, auf das man in Zeiten der Krise mal eben verzichten kann. Das Dach über dem Kopf ist existenziell und zentraler Bestandteil der Daseinsvorsorge«, so der Präsident des Deutschen Mieterbundes, Lukas Siebenkotten. Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) mahnte bereits zu Beginn der Pandemie eindrücklich: »In einer solchen Situation halten wir es nicht für verantwortbar, Zwangsräumungen von Wohnraum vorzunehmen. Menschen dürfen in dieser Situation nicht aus ihren Wohnungen geräumt und in Notunterkünfte eingewiesen werden, die schon jetzt überfordert sind und in denen eine Kontaktreduzierung nicht möglich ist. Deshalb müssen Zwangsräumungen ab sofort ausgesetzt werden«, erklärte Werena Rosenke, Geschäftsführerin der BAG W. Viele wohnungslose Menschen gehörten zur Risikogruppe, hätten aber keine Chance soziale Kontakte zu reduzieren und Schutz durch den Rückzug in die eigene Wohnung zu finden. Tatsächlich wurde für die Anfangszeit der Pandemie im Frühjahr 2020 ein Kündigungsschutz für Mieter erlassen, die wegen der Folgen des Lockdowns ihre Miete nicht zahlen konnten. Allerdings müssen die Beträge bis Juni 2022 nachgezahlt werden. Die Regelung galt von April bis Ende Juni 2020 und brachte für viele zumindest eine Verschnaufpause. Nicht wenige Fachleute befürchten allerdings, dass sich hier nur eine weitere Welle aufbaut. »Das dicke Ende ist absehbar«, meint auch Machentanz. Darauf deutet nicht zuletzt die Entwicklung der Mieten hin, die auch unter Covid-19 weiter steigen.

Kein Einsehen Inzwischen zeigt sich eine weitere Gesetzeslücke. Mit der gleichzeitigen ordentlichen Kündigung neben der fristlosen können die Vermieter bislang den Corona-Kündigungsschutz wegen Mietschulden umgehen. So wie im Fall von Melanie Fleischer. »Obwohl ich dem Vermieter meine Notlage geschildert habe, hatte der bislang kein Einsehen«, sagt sie. Dabei hat das Jobcenter inzwischen die ausstehenden Beträge bezahlt, sind sogar »Es ist niemandem die Anwaltskosten des Vermieters beglichen. Bislang ohne Wirkung. zu vermitteln, dass »Die Kündigung zum 31. Oktober ist die fristlose Kündirechtskräftig«, sagt die fünffache Mutgung wegfällt, wenn ter. die Mietschulden Die Linken und Grünen wollen das beglichen werden, künftig verhindern. Der Mieterbund unterstützt dieses Vorhaben: »Es ist die ordentliche Künniemandem zu vermitteln, dass die digung aber nicht.« fristlose Kündigung wegfällt, wenn Lukas Siebenkotten, Präsident die Mietschulden beglichen werden, des Deutschen Mieterbundes die ordentliche Kündigung aber nicht. Es ist schlichtweg unverständlich, dass sich bisher keine Bundesregierung dazu durchgerungen hat, dieser Forderung, die auch dem Gerechtigkeitsempfinden eines Durchschnittsbürgers entspricht, nachzukommen«, so Siebenkotten. Für Melanie Fleischer könnte all dies zu spät kommen. Dennoch möchte sie die Hoffnung nicht aufgeben, dass noch einmal verhandelt werden kann oder sich etwas anderes findet. Möglichst in der Nähe, der Kinder wegen und fünf bis sechs Zimmer müssten es schon sein, bei der großen Familie. »Eigentlich ist es ja ideal hier«, sagt sie und blickt nachdenklich einer ungewissen Zukunft entgegen. Ulrich Matthias

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Foto: privat

Ein Bild aus glücklichen Tagen: Melanie Fleischer mit ihren

Deshalb müsse hier nachgebessert werden, fordert der Deutsche Mieterbund. »Mieter dürfen keinesfalls mit Verzugszinsen belastet werden, wenn sie ihre Mietschulden in der Zeit nach der Corona-Krise begleichen«, so Präsident Siebenkotten. Deshalb fordern wir gemeinsam mit dem Gesamtverband der deutschen Wohnungswirtschaft (GdW) die Einrichtung eines ›Sicher-Wohnen-Fonds‹, der die Miete als Zuschuss oder zinsloses Darlehen übernimmt, damit das Mietverhältnis nicht belastet wird. Der Mieter soll dann wegen der Abwicklung nur mit dem Fonds, nicht aber mit dem Vermieter, zu tun haben. Für Mieter, die die Miete bis zum 30. Juni 2022 nicht nachzahlen können, müssen die Mietschulden endgültig vom Fonds oder anderen Sicherungssystemen übernommen werden.«

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Meine Worte

Texte aus der Asphalt-Schreibwerkstatt – Corona-bedingt aus den »Heimbüros« unserer Verkäuferinnen und Verkäufer.

Verfügungen machen Albträume In wenigen Tagen habe ich Geburtstag, könnte mich durchaus auch darauf freuen, wenn nicht aus meiner Sicht unverhältnismäßige Corona-Auflagen mir meinen »Ehrentag« (und nicht nur

Zeit

mir und meinen) vermiesen würden. Meine längst der Kindheit entwachsenen Kinder mögen mich, würden mich auch besuchen,

Meine Freunde fragten mich, warum ich so oft gute

aber menschenfeindliche, fast verbrecherische Freiheits- und Be-

Laune habe. Ich dachte nach und überlegte. Da fiel

wegungs-Einschränkungen per Anordnungen geben zu denken,

mir ein: Meine Oma hat mir viel beigebracht, zum

ob wir damit nicht etwas Verbrecherisches vorhaben.

Beispiel Zeit zu haben. Um den fröhlich tanzenden

Ein jedes der drei Kinder hat einen eigenen Hausstand. Derzeit ist

Schneeflocken zuzusehen.

aber ein Besuch von nur einer einzigen Person aus einem ande-

Als ich mal traurig war, weil ich meinte, keine Zeit

ren Hausstand zulässig. Ob überhaupt Bahnen fahren, Anreisen

zu haben, schneite es. Ich sah zu, wie alles in der

und Zwischenstopps so getaktet werden können, dass diese mich

Natur eingehüllt wurde. Wie mit einem weißen Um-

nacheinander (und somit auch ohne Kontakt der Kinder unterein-

hang, silbern und wie mit Diamanten bestickt. Diese

ander) besuchen können, macht mir Kopfschmerzen. Verhalte ich

Schönheit anzusehen und zu bemerken, erfordert

mich Verordnungs-Regel-widrig, wenn ich sie dennoch gemein-

eigentlich nur eines: Zeit!

sam empfange?

Asphalt-Verkäuferin Inge-Lore

Meine Fantasie reicht aus, dass »ordnungsliebende Menschen«, ich würde sie durchaus dann als Denunzianten bezeichnen, mir die Ordnungsmacht ins Haus schicken. Ich würde mich fragen, welche Art von »Abwendung einer Gefahren-Situation« für eine Auflösung dieses privaten Treffens und somit als Rechtfertigung der Verletzung von meiner Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 und 7 GG) angeführt werden kann und scheinbar auch darf? Wie es bei bereits erfolgten Auflösungen von Kindergeburtstagen geschehen ist, wo »Täter« im Bad/WC sich versteckten, aufgestöbert und dringend bestraft werden mussten. Darf ich nicht selbst entscheiden, ob ich mich einer Gefahr der Ansteckung aussetzen will?

Bitte lebendig Niemand hatte es so erwartet. Aber wir sind alle über den Jahreswechsel gekommen. Ich möchte hier Danke sagen an alle, die geholfen haben. Jeder tat das, was ihm möglich war. Das ist Gemeinschaft. Danke auch Gott, dass ich – so hoffe ich – alle Freunde, Verwandten und Kunden gesund und lebendig

Wer befreit mich aus diesen Albträumen?

wiedersehe. Wenn das alles mal vorbei ist.

Asphalt-Verkäufer Heinz-Dieter

Asphalt-Verkäufer Wolfgang


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Normal? Wer braucht eine Maske?

Ein Bankräuber, damit er nicht erkannt wird.

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Ein Vergewaltiger, damit er nicht wiedererkannt wird.

Ein Cowboy, damit er den Staub beim Reiten nicht einatmet.

Ärzte, damit sie keine Bazillen weitergeben können.

Ich, weil ich dazu gezwungen werde. Beim Fasching wird sich verkleidet. Jeder in das, was er gern sein möchte. Was möchten jetzt alle sein?

Nicht erkennbar. Keine Gefühle zeigen. Wie beim Pokern. Roboter können alles, nur keine Gefühle zeigen, weil sie keine haben.

Illustration: Robert Kneschke/fotolia.com

Asphalt-Verkäuferin Inge-Lore

Im Rahmen des Projekts Schreibwerkstatt können Asphalt-VerkäuferInnen kreativ Texte produzieren, spielerisch Ausdrucksweise und Wortschatz pflegen und insgesamt ihre sprachlichen und literarischen Kompetenzen verbessern. Und eigentlich soll die Asphalt-Schreibwerkstatt eine Präsenzveranstaltung sein. Seit Corona ist das nicht mehr möglich.

Für Respekt und Vielfalt Der Jahresbeginn bei 96plus stand ganz im Zeichen des „!Nie Wieder“Spieltages der Deutschen Fußball Liga. Dieser findet jährlich an den Wochenenden um den 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, statt. Dieses Jahr am 01. Februar bei unserem Heimsieg gegen den VFL Osnabrück. Die Initiative „Erinnerungstag im deutschen Fußball“ wurde 2004 in der Versöhnungskirche der KZ-Gedenkstätte Dachau gegründet. Sie besteht aus einem Bündnis aus Fangruppen, Vereinen und Verbänden aus dem Fußball und engagiert sich für eine würdige Gedenkkultur und für ein Stadion ohne Diskriminierung. In Absprache mit dem DFB veröffentlicht die „!Nie Wieder“-Initiative frühzeitig Stadiondurchsagen und Texte für Stadionmagazine. Diesmal gedachte Hannover 96 besonders jenen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert wurden. 96plus bekennt daher Farbe mit folgenden Aktionen: Die Eckfahnen waren in Regenbogenfarben zu sehen. Auf der West-Tribüne unserer HDI-Arena wurden zwei Banner errichtet, die mit der Aufschrift „Für Respekt“ und „Für Vielfalt“ versehen sind. Auch vor der HDI Arena wurde die Regenbogenfahne gehisst. Wir stehen auf – gegen Ausgrenzung.

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BUCHTIPPS Bildung als Hindernislauf Sie hat es trotz allem geschafft, das Abitur und das Studium! Trotz all dieser denkbar schlechten Voraussetzungen: der Herkunft aus dem Arbeiterviertel zwischen Industriepark und Müllverbrennungsanlage, dem Alkoholiker-Vater und der türkischen Mutter, die ihr ein fremdländisches Aussehen und einen ebensolchen Namen vermacht hat, aber nicht den Willen, sich zu wehren. Die Ich-Erzählerin in Deniz Ohdes erstem Roman »Streulicht« gibt ihren Namen nicht preis. Er ist ja gerade das Verräterische, er stempelt sie ab als eine, die nicht dazu gehört, die nicht vorgesehen ist für das Gymnasium, die nicht mitkommt in Mathe und Englisch. Dass sie bloß zu schüchtern ist, um den Mund aufzutun, merken die LehrerInnen nicht. Dass sie viel zu belastet ist von den Problemen zu Hause, können sie nicht wissen. Aber sie hätten vielleicht mal fragen können. Was Deniz Ohde in diesem autobiographisch geprägten Roman erzählt, ist keine Erfolgsgeschichte. Zwar hat die Ich-Erzählerin es geschafft, ihren Bildungsweg den Umständen abzutrotzen, aber es bleibt eine große Bitterkeit gegenüber all jenen, die sie nicht gefördert haben, sondern ihr mit Vorurteilen begegnet sind. Und obwohl sie ihren Traum verwirklicht hat, von diesem Ort neben dem Chemiewerk wegzugehen, nimmt sie ihn innerlich mit. Geprägt von der Resignation des Vaters, der dort vierzig Jahre lang Aluminiumbleche in Lauge getaucht hat: Das ist nichts für uns, Gymnasium, Studium, Kultur. Eine Erfolgsgeschichte kann allerdings die junge Autorin vorweisen: Deniz Ohde, aufgewachsen in Frankfurt, studierte in Leipzig Germanistik und heimst mit ihren Texten gerade einen Preis nach dem anderen ein. Mit »Streulicht« stand sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. PFIS Deniz Ohde | Streulicht | Suhrkamp Verlag | 286 Seiten | 22 Euro

Die Widerspenstigen von Nr. 13 Die Letzten, das sind gewöhnlich diejenigen, die das Licht ausmachen oder von den Hunden gebissen werden. Auch auf die Letzten im gleichnamigen Roman der 40-jährigen Autorin Madeleine Prahs trifft das einigermaßen zu, auch wenn am Ende dieser Geschichte noch nicht aller Tage Abend ist. Die Letzten, das sind die letzten drei Bewohner im unsanierten Haus Hebelstraße 13: Karl Kramer, Erdgeschoss, er war mal Logistiker, dann Hausmeister, jetzt ist er definitiv arbeitslos; Elisabeth Buttkies, 2. Stock Mitte, Deutschlehrerin a. D., krebskrank und oft ziemlich durch den Wind; das mit dem Wind gilt auch für die 28-Jährige unterm Dach, Marina Weber alias »Jersey«, sie studiert ein bisschen und trinkt dafür mehr, das Schicksal hat es nicht gut mit ihr gemeint, aber das gilt für alle drei. Das Haus gehört jetzt einer Firma und soll »modernisiert« werden, was nicht nur aus entsprechenden Schreiben in den Briefkästen hervorgeht, sondern bereits durch rüde Abbrucharbeiten bekräftigt wird – die Schuttberge im Treppenhaus wachsen, hier und da versiegt schon die Wasserleitung. Die Drei können sich eigentlich nicht leiden, aber allmählich gehen sie eine Zweckgemeinschaft ein, um Herrn Grube, dem Immobilienheini, Paroli zu bieten. Eines Tages steht er persönlich in der Tür der moribunden Buttkies, ab da beschleunigen sich die Ereignisse, sehr zu Ungunsten Grubes, was den drei WohnrebellInnen ganz neue Herausforderungen beschert. Dem Leser wiederum beschert das alles großes Vergnügen, lernt er doch drei echte Typen in ihrer ganzen Verrücktheit, Schlagfertigkeit und Lebenssehnsucht kennen. Ein witziges und doch ernsthaftes Buch, originell und clever erzählt. CLESS Madeleine Prahs | Die Letzten | dtv | 300 Seiten | 11,90 Euro


Als ihr ehemaliger Dozent unter ungeklärten Umständen stirbt, stößt Kunsthistorikerin Anna Bentorp auf die Spur eines Gemäldes aus der frühen Renaissance. Die Urfassung von Paolo Uccellos »Der heilige Georg und der Drache« galt bis dato als verschollen. Auf der Suche nach dem mysteriösen Bild gerät Anna in höchste Gefahr – denn es gibt einige einflussreiche Menschen, die jeden Preis dafür zahlen würden, das Kunstwerk an sich zu bringen. Statt die Ermittlungen der Polizei zu überlassen, versucht Anna Bentorp auf eigene Faust die Ermordung ihres Dozenten aufzuklären. Dabei gerät sie in einen Strudel aus immer neuen Verbrechen, stolpert buchstäblich über weitere Leichen und weiß schließlich nicht mehr, wem sie noch trauen kann. Die Suche nach der Wahrheit ist auch eine Spurensuche in der Vergangenheit zweier Gemälde. Offensichtlich ist das Schicksal der beiden Werke untrennbar miteinander verbunden und hat über die Jahrhunderte mehr als ein Todesopfer gefordert, angefangen bei den Medici. Margarete von Schwarzkopf ist mit diesem Kriminalroman ein Buch gelungen, das von der ersten bis zur letzten Seite spannend bleibt. Ganz nebenbei erfährt der Leser Wissenswertes über Malerei, die Geschäfte mit der Kunst und das Netzwerk von Galerien und Museen. Dem Leser sei geraten, das Buch nur in die Hand zu nehmen, wenn er viel Zeit hat. Denn es fällt schwer, es vor der letzten Seite wieder aus der Hand zu legen. KOCH Margarete von Schwarzkopf | Der Meister und der Mörder | 336 Seiten | 13 Euro

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Schütze die Menschenrechte mit deiner Unterschrift, deiner Spende, deinem Einsatz.

So erreichen Sie uns: https://amnesty-hannover.de Gruppe Oststadt-List Amnesty International Bezirk Hannover Fraunhoferstr. 15 · 30163 Hannover E: info@amnesty-hannover.de T: 0511-66 72 63 · F: 0511-39 29 09 Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft DE23 3702 0500 0008 0901 00 Stichwort 1475

Gerade erst ist Gabriele Berlotti zurück in sein Elternhaus im Alten Land gezogen, schon soll der Hamburger Hauptkommissar mit italienischen Wurzeln im Endspurt der Bürgerschaftswahl einen Journalistenmörder entlarven. Als ein weiterer Mord geschieht, stellen sich Fragen: Was sind Fakten – und was Fake News? Berlotti wird in seinen Ermittlungen behindert, seine Eltern geraten in Gefahr. Die Familie sieht sich ausländerfeindlichen Angriffen ausgesetzt. Daniel E. Palu ist mit »Mord im Alten Land« ein kurzweiliges Krimidebüt gelungen. Sein italienischstämmiger Kommissar, mit einem Fiat Cinquecento als Dienstwagen unterwegs, hat das Zeug zum absoluten Kultermittler. Lässig, lakonisch und nicht ohne Humor. Vollgetankt mit Espresso begibt sich Berlotti mit offenem Verdeck auf eine packende Spurensuche. Diese führt ihn entlang des Deiches vorbei an Apfelbäumen, Fachwerkhäusern und Leuchttürmen immer tiefer in einen Fall, der frappierende Ähnlichkeit zu einem der größten Medienskandale der letzten Jahrzehnte hat. Treffsichere, komische Dialoge und unverbrauchte Figuren. Gut. KOCH Daniel E. Palu | Tod im Alten Land | emons Verlag | 320 Seiten | 13 Euro

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Spannung ab Medici

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KULTURTIPPS Musik

Bühne online

Fiesta mit Che Sudaka

Talk & Show bei DESiMO

Ohne Frage – sie ist eine Kult-Band. Mit ihren optimistisch-­ rebellischen Texten, ihrer unendlich positiven Attitüde und Energie auf der Bühne und ihrem höchst wiedererkennbaren Sound-Mix ist die kolumbianisch-argentinische Band Che Sudaka eine der meistgeliebten Bands in der alternativen Latino-­ Szene. Drei Brüder, die mit Akkordeon, akustischer Gitarre, Samplern und Drum-Maschine die Zeit anhalten. Jedes Konzert ist eine schweißtreibende Fiesta im Hier und Jetzt, ein Moment der Einheit und Gemeinsamkeit, Respekt und Liebe. Mehr als 90 Minuten Cumbia, Reggae und Punk und die Möglichkeit, im Live-Chat mit der Band in Kontakt zu treten und die Fiesta mit allen gemeinsam zu feiern. Per Live-Streaming aus Barcelona. Sonntag, 14. März, Beginn 20 Uhr, Live-Stream, Ticket-Link unter www.kulturzentrum-faust.de, mit Erwerb des Tickets gibt es einen Link für den live Konzertgenuss oder zum späteren Schauen als Video on Demand, VVK 10 Euro (zzgl. Gebühren).

Allerlei Anekdoten, außergewöhnliche Absurditäten, Aha-Augenblicke und viel Abwechslung – das verspricht die nächste Runde von Talk & Show bei DESiMO. In dieser locker-luftig liebevoll-leichten Lockdown-Late-Show gegen den Winterblues wird mit »ausgesuchten Gästen, die wirklich etwas zu bieten haben«, entspannt geplaudert, spontan improvisiert, manchmal musiziert, oft gelacht. Als Spielpartner am Klavier wieder mit dabei: Matthias Brodowy mit seinen Einwürfen, Liedern und Texten – mal nachdenklich, mal lustig, mal beides. Und manchmal auch einfach nur albern. Zur Interaktion mit dem Publikum an den Bildschirmen behält der Kabarettist stets und ständig den Stream im Blick. Dienstag, 23. März, 20.15 Uhr, Talk & Show bei DESiMO, nähere Infos und Stream aus dem Apollokino unter www. spezialclub-livestream.de, Teilnahme für eine Person 14 Euro, dann stufenweise 24 Euro für 2 Personen, 30 Euro für drei Personen (es wird auf die Ehrlichkeit der ZuschauerInnen gebaut!).

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Hildesheim Slam

BALD SWINGT ES WIEDER

Das Warten hat ein Ende. Nach einer viel zu langen und langweiligen Pause meldet sich der Hildesheim-Slam zurück. Mit Victoria Helene Bergemann aus Kiel, Jesse James la Fleur aus Görlitz, Kaleb Erdmann aus Leipzig und Annika Blanke aus Oldenburg. Über das hervorragend ausgebaute Internet und Hildesheims einzigartige Glasfaserverbindung werden die vier Poetry-Slammerinnen und -Slammer in einer ganz besonderen Show um die Gunst des Publikums eifern. Mit Bildern und exklusiven Impressionen aus den privaten Umgebungen der KünstlerInnen, mit dem Musik-Kabarett der Kulturfabrik Löseke und dem Moderatoren-Duo Duschek & Döring, welches in bekannt charmanter Manier die Show aus den heiligen Hallen des Hauses begleitet, kommentiert und moderiert. Samstag, 27. März, Beginn 20 Uhr, Zoom, Tickets im VVK unter www.kufa.info.de, am Veranstaltungstag gibt es zum Ticket einen Link für die Veranstaltung, zu diesem Zeitpunkt endet der Vorverkauf, Eintritt 8 Euro, erm. 5 Euro.


»Zuhause«

Foto: Medhi Charkhian

Was und wo ist Zuhause? Das kann die Wohnung sein, das eigene Haus, das Appartement. Es ist aber auch Heimat, Familie, Geborgenheit. In ihren Arbeiten vermitteln die Preisträgerinnen und Preisträger des Vonovia Award für Fotografie 2019 und 2020 ein faszinierendes Spektrum dessen, was für jeden von uns »Zuhause« bedeuten kann. Es entsteht aus dem liebevollen Wahrnehmen des Vertrauten, des vermeintlich Selbstverständlichen ebenso wie aus dem Gefühl der Entfremdung, das durch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen, politische Verwerfungen und vielfach durch Migrationserfahrungen gewachsen ist. Aufgrund des erneuten Lockdowns konnte die Ausstellung zwar komplett aufgebaut, allerdings noch nicht eröffnet werden. Für Interessierte ist sie aber im Foyer des Museums von außen einsehbar. Im Internet gibt es eine Einführung von Museumsdirektor Reinhard Spieler sowie eine digitale Ausstellung im Reportage-Format mit Audios und Texten. Bis 09. April, jederzeit aufrufbar unter www.award.vonovia. de, kostenfrei.

Landschaften der Seele Natur und Landschaften sind sein Hauptmotiv. Seine Bilder laden zu einer Reise mit Farben und Formen ein. Je nach Stimmung des Künstlers sind seine Werke mal abstrakt oder realistisch, mal hell oder dunkel, mal traurig oder fröhlich, mal stürmisch oder ruhig. Genau so vielfältig wie seine Bilder, so verschieden sind auch die verwendeten Materialien, die von Pastellkreiden über Aquarell und Gouache bis hin zu Acryl reichen. In der Ausstellung »Landschaften der Seele« können Kunstliebhaber die Bilder des Malers Medhi Charkhian nach Ende des Lockdowns besichtigen. Eine Vernissage wird aufgrund der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen leider nicht stattfinden. Ab Ende des Lockdowns, montags, 16 bis 18 Uhr, dienstags, 10 bis 12 Uhr, Kulturbüro Südstadt, Böhmerstraße 8, Hannover, bei Gruppen von mehr als 2 Personen Anmeldung unter Tel. 0511 – 80 77 311 oder per E-Mail an kulturbuero. suedstadt@htp-tel.de erforderlich, Eintritt frei.

Ausflug Streetart und Graffiti Die Herrenhäuser Gärten, das neue Rathaus, Mousse T., Scorpions Sänger Klaus Meine und vieles mehr – an der Außenfassade des me and all-Hotels am Aegi hat der Hannoveraner Graffiti-Künstler Patrik Wolter alias BeNeR1 Sehenswürdigkeiten und Musikgrößen der Stadt auf einem Mural vereint. In der Lister Straße haben Philipp von Zitzewitz und sein Kollege Jascha Müller das Krümelmonster und den Leibniz-Keks auf das Einfahrts-Tor von Bahlsen gesprayt. An einer anderen Hauswand wiederum erblüht eine schillernde Unterwasserwelt. Wer mit offenen Augen durch Hannovers Straßen spaziert, kann noch viel mehr eindrucksvolle Graffitis entdecken. Allesamt legal gesprayt. Von Könnern und Kreativen, die die Gebäude in Hannovers Stadteilen mit ihren Bildern einzigartig machen. Auf verschiedenen, von der Stadt zusammengestellten Routen lassen sich die Kunstwerke wunderbar auf eigene Faust erkunden. Täglich rund um die Uhr, Kartenübersicht mit den entsprechenden Touren, Fotos und Infos zu den Kunstwerken und den Machern gibt es unter www.visit-hannover.com/ kulturforfree.

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Ausstellung

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SILBENRÄTSEL Aus den nachfolgenden Silben sind 20 Wörter zu bilden, deren erste und vierte Buchstaben – jeweils von oben nach unten gelesen – ein Zitat aus einem Band »Spruch des Tages, NDR 1« ergeben: be – biet – bung – che – che – cher – da – dig – eb – ehe – ein – ent – er – erd – fang – farm – gang – ge – ge – gel – gra – in – keit – kla – leb – log – los – lot – ma – me – mi – na – na – nerz – neu – no – on – on – rauch – re – ruhr – schrift – selbst – spren – stän – te – te – ti – ti – to – um – vor – wied – wo – wolf

1. russische Stadt nördlich von Moskau 2. Ackerunkraut 3. gezielte Informationssuche 4. Tiefstand des Wassers 5. Industriegebiet in NRW 6. Einleitung eines Rechtsstreits 7. Verlust des Erbanspruchs 8. Unternehmen mit Pelztieren

Unter den EinsenderInnen der richtigen Lösung verlosen wir dreimal das großartig illustrierte Bilderbuch »Alle hinterher« von Annika Scheffel. Hier lernen schon die Kleinsten, wie schön Teilen sein kann. Konflikte und Streitigkeiten kennt jeder. Um sich zu entschuldigen, muss man manchmal über seinen eigenen Schatten springen. Doch umso schöner ist es, wenn man danach wieder gemeinsam Spaß haben kann! Für Kinder ab 3 Jahren. Ebenfalls dreimal können Sie das Buch »Selbst gemacht – Nützliches und Kreatives für meinen Hund« von Martina und Jürgen Schöps gewinnen. Nicht immer sind die Spielsachen, die die Industrie für Hunde anbietet, gut oder gesund. In übersichtlichen Schritt-für-Schritt-Anleitungen zeigen die AutorInnnen, wie man Spielzeugtiere, Futterbeutel oder Decken näht, gesunde Belohnungen backt oder interaktive Intelligenzspiele aus Holz bastelt. Insgesamt viermal gibt es das spannende Hörbuch »Das Joshua-Profil« von Sebastian Fitzek zu gewinnen. Der erfolglose Schriftsteller Max hat sich noch niemals im Leben etwas zuschulden kommen lassen. Anders als sein Bruder Cosmo, der in der Sicherheitsverwahrung einer psychiatrischen Anstalt sitzt. Doch in wenigen Tagen wird er eines der entsetzlichsten Verbrechen begehen, zu denen ein Mensch überhaupt fähig ist ... Die Lösung des Februar-Rätsels lautet: Wer glücklich sein will, muss zu Hause bleiben. Das Silbenrätsel schrieb für Sie Ursula Gensch. Die Lösung (ggf. mit Angabe Ihres Wunschgewinnes) bitte an: Asphalt-Magazin, Hallerstraße 3 (Hofgebäude), 30161 Hannover; E-Mail: gewinne@asphalt-magazin.de. Einsendeschluss: 31. März 2021. Bitte vergessen Sie Ihre Absenderadresse nicht! Viel Glück!

9. Kreisstadt in der Nähe von Koblenz 10. Monogamie 11. Ernennung 12. männlicher Vorname 13. Eingliederung 14. tot 15. Glücksspiel 16. südamerikanisches Haumesser 17. Ausmaß 18. freie Erwerbstätigkeit 19. Amtsbezirk eines Bischofs 20. Teil der Personenbezeichnung


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Ausblick

Foto: pa

Brodowys

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Foto: Tomas Rodriguez

Disconnected »Du bist total disconnected, Matthias.« »Ich bin was?«, fragte ich verblüfft zurück. »Disconnected! Total!«, sagte er. »Kann überhaupt nicht sein«, erwiderte ich, »Ich war noch nie so ›connected‹ wie zurzeit. Zoomkonferenzen, Webinare, Livestreams. Und das, wo ich doch mit dem Internet eher auf Kriegsfuß stehe. Das Netz und ich, wir sind jetzt so dicke!« »Das stimmt. Ein bisschen Abnehmen stünde Dir gut zu Gesicht!« Ich hasse diese Ehrlichkeit. »Nein, Matthias, Dein eigentliches Problem ist genau das: Dein Leben findet im Internet statt. Aber mit der Welt, dem Kosmos, dem Universum bist Du nicht mehr connected. Du solltest zum Beispiel mal Waldbaden!« »Ich sollte was?« »Waldbaden! In den Wald gehen, umarme einen Baum! Spür das Leben in diesem Baum, fühl die Rinde! Das erdet Dich wieder!« Ich hatte schon davon gehört. Waldbaden. Bäume umarmen. Ja, du liebe Güte, warum nicht. Und andererseits: Warum? Ich gehe unglaublich gerne im Wald spazieren. Zu jeder Jahreszeit, auch im Winter. Ich liebe die Luft, die im Frühling so frisch, im Sommer so satt und im Herbst so erdig riecht. Das ist genussvoll. Und übrigens kostenlos. Möglicherweise habe ich schon längst im Wald gebadet, ohne es zu wissen. Manchmal gehe ich stundenlang durch die Wälder. »Ach, ganz ehrlich. Ich fühle mich total geerdet. Hab ja jetzt auch so viel Zeit. Ich bin ja quasi arbeitslos. Die Theater sind zu und ich lese endlos viel.« »Das heißt ja nu’ gar nix!«, fiel er mir ins Wort. »Eher im Gegenteil: Du verdrängst doch damit nur, wie disconnected Du bist.« Ich hasse diese Anglizismen. Disconnected. Da redet er davon, ich solle eins werden mit dem Kosmos, benutzt dafür aber eine Managersprache, die alles konterkariert. Er fuhr fort: »Gerade in Deiner Situation brauchst ein Clearing für die Seele!« Zack. Ich soll mich mit dem Universum connecten, um ein Clearing für meine Seele hinzukriegen. Und plötzlich muss ich an den Loriot-Sketch denken, in dem ein Mann von seiner Frau genötigt wird, gefälligst irgendwas zu machen, obwohl er eigentlich nur sitzen will. Woher kommt eigentlich dieser missionarische Eifer, dass wir so oft wissen wollen, was gut für die anderen ist? Es ist wie bei dem Paradox, wenn man jemandem ins Gesicht schreit: »Sei gefälligst frei!« Ich erde mich jedenfalls gerne auf meine Art und Weise. Und da ist Lesen wunderbar. Einsteigen in Geschichten, andere Welten, Phantasie. Naja, und wenn jemand vor der Glotze abhängt, aber dabei entspannen kann, wer bin ich, ihm diese Entspannung abzusprechen? Ich werde jedenfalls nicht mit Yoga anfangen. Obwohl es für mich sicherlich nicht verkehrt wäre. Bei mir gäb’ es allerdings statt des »Sonnengruß« eher den »schlafenden Elefanten«. »Matthias, ich glaube, Dir ist nicht zu helfen! Tja, musst wissen, was Du tust!« Ich erwiderte: »Genau!« Matthias Brodowy/Kabarettist und Asphalt-Mitherausgeber


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