2020 03 Asphalt

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2,20 EUR davon 1,10 EUR Verkäuferanteil

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GRENZGÄNGER DROGENHILFE

STERBEBEGLEITUNG

KÄSSMANN

Backstage: Impressionen aus dem »Stellwerk« Hannover.

Hospizarbeit: Im Vertrauen Abschied nehmen.

Auslandseinsätze: Ex-Bischöfin fordert Augenhöhe für Afrika.


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»Augenhöhe für Afrika«

Als Botschafterin von »terre des hommes« ist Ex-Bischöfin Margot Käßmann im globalen Süden unterwegs. Ein Gespräch über Kriege, Armut, Christen und fehlende Empathie.

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Notizblock

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Angespitzt

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Kreide gegen Catcalls Sexuelle Belästigung auf der Straße: Eine Gruppe junger Leute macht öffentlich, was meist Männer meist Frauen meinen sagen zu dürfen. Auf der Straße und im Netz.

23 Das muss mal gesagt werden 24 Gut zu wissen 25 Rund um Asphalt 25 Impressum 26 Aus dem Leben von Asphalt-Verkäufer Martin

28 Rund um Asphalt 30 Nachgefragt

14 Abschied im Hospiz In Würde sterben. Das wünschen sich die meisten. Vor allem aber ohne Qualen. Doch gerade Krebspatienten haben häufig einen Leidensweg vor sich. Für sie ist ein Hospizplatz oft ein Gewinn.

34 Buchtipps 35 März-Tipps 38 Silbenrätsel 39 Brodowys Momentaufnahme

Titelbild: Jan Kräutle

Asphalt-Verkäufer und -Verkäuferinnen reden über das Thema »Stolz«.

Das Asphalt-Prinzip

19 backstage

Das Stellwerk hinterm Bahnhof: Zuflucht für Menschen am Rande der Gesellschaft. Hier finden Konsumenten harter Drogen Hilfe und Beratung. Wir werfen einen Blick hinter die Kulissen.

Asphalt-Verkäuferinnen und -Verkäufer sind Menschen mit brüchigen Biographien. Irgendwann sind sie in ihrem Leben durch schwere Schicksale, Krankheiten oder traumatische Erlebnisse aus der Bahn geworfen worden. Heute versuchen sie, durch den Verkauf des Asphalt-Magazins ihrem Leben wieder Struktur und Sinn zu verleihen. Viele sind oder waren wohnungslos, alle sind von Armut betroffen. Sie kaufen das Asphalt-Magazin für 1,10 Euro und verkaufen es für 2,20 Euro. Asphalt ist eine gemeinnützige Hilfe-zur-Selbsthilfe-Einrichtung und erhält keinerlei regelmäßige staatliche oder kirchliche Zuwendung. Spenden Sie bitte an: Asphalt gGmbH bei der Evangelische Bank eG, IBAN: DE35 5206 0410 0000 6022 30, BIC: GENODEF1EK1.


für einige ist es Ärgernis, für andere angsteinflößend, für die Nutzer aber ist es Zuflucht am Rande der Gesellschaft: das »Stellwerk«. Da hinten neben dem Hauptbahnhof von Hannover zwischen Amtsgericht und Bahndamm. Menschen, die harte Drogen konsumieren, kommen hierher, finden Rat, Hilfe und saubere Bestecke. Wir waren mit Block und Kamera vor Ort und haben inmitten der sterilen Räume – Menschen getroffen. Frei und gleich an Würde und Rechten. Einer von ihnen ist bei uns Titelbildmodell: Benny. Außerdem finden Sie in dieser Asphalt-Ausgabe Margot Käßmann – die einstige EKD-Vorsitzende und Bischöfin der Herzen – im Exklusivinterview genau zehn Jahre nach ihrem berühmten Predigtsatz »nichts ist gut in Afghanistan«, mit dem sie die Auslandseinsätze der Bundeswehr kritisiert hatte. Würde sie das heute immer noch so sagen? Und wie steht sie zu Christenverfolgung und Militär, zu Afrika und Klimawandel? Das Gespräch legen wir Ihnen zur Lektüre wärmstens ans Herz, liebe Leserinnen und Leser. Und als soziale Straßenzeitung ist Asphalt ohnehin immer nah an den Grenzgebieten, offen, ehrlich, ungeschönt. Sterben ist so ein Grenzgebiet. Es ist immer da, und es wird in der Regel doch weit weggeschoben. Wir waren in einem Hospiz, haben einen Sterbenden begleitet; er fand das gut, dass wir so genau hingesehen haben. Und wir als Würdeprojekt sagen: Genau davon muss es dringend mehr geben. Damit Würde auch am Lebensende garantiert ist.

Eine interessante Lektüre wünscht

Volker Macke · Redaktionsleiter

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Liebe Leserinnen und Leser,

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Foto: Serhii Krot/shutterstock.com

NOTIZBLOCK

Eigenheime immer teurer Hannover/Oldenburg. Die Immobilienpreise in Niedersachsen sind gestiegen. Seit 2009 habe sich der Durchschnittspreis für ein Einfamilienhaus in den nachgefragten Regionen des Bundeslandes in etwa verdoppelt, sagte Innenminister Boris Pistorius (SPD) bei der Präsentation des Immobilienmarktberichtes 2020. Zu diesen Regionen zählten neben den Städten Hannover, Braunschweig, Oldenburg, Osnabrück und Wolfsburg auch die Landkreise Vechta und Gifhorn. »2018 wurden im Durchschnitt noch 190.000 Euro bezahlt, 2019 waren es schon 212.000 Euro«, sagte Pistorius. Dabei schwankten die Preise regional stark unterschiedlich. Während in der Stadt Hannover mit 465.000 Euro weit mehr als das Doppelte des Durchschnittswerts fällig werde, sei es im Landkreis Holzminden mit 100.000 Euro weniger als die Hälfte. Neue Eigentumswohnungen verteuerten sich zwischen 2009 und 2019 in mehr als der Hälfte der niedersächsischen Landkreise oder kreisfreien Städte um mindestens drei Viertel. Mussten Käufer vor zehn Jahren in Hannover 2.340 Euro pro Quadratmeter bezahlen, waren es im vergangenen Jahr 4.660 Euro. Anzeichen für eine mögliche Immobilienblase in Niedersachsen gebe es aktuell trotz der dauerhaften Steigungen in allen Bereichen weiterhin nicht, betonte Pistorius. EPD

Offene Atomlagersuche Hannover/Berlin. In der Diskussion um den künftigen Standort für ein Atomendlager mit hochradio­ aktivem Müll warnte Niedersachsens Energieminister Olaf Lies (SPD) die anderen Bundesländer, sich von vornherein auszugrenzen. »Wir brauchen ergebnisoffene Untersuchungen, um den richtigen Standort zu finden, bei dem kein Bundesland ausgeschlossen werden darf«, sagte Lies. Die Endlagersuche werde eine höchst kontroverse Debatte in Deutschland auslösen. »Umso mehr brauchen wir ein nachvollziehbares Verfahren, in dem alle verfügbaren geologischen Daten einfließen.« Gerade Niedersachsen habe in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gesammelt, ergänzte der Minister. Sowohl die Vorgänge rund um die Asse als auch beim Lager Gorleben seien »Mahnung und Warnung«, wie eine nationale Endlagersuche nicht laufen dürfe. »Wir werden kein breit akzeptiertes Ergebnis kriegen, wenn der gesamte Suchprozess nicht völlig transparent abläuft.« EPD

Dissens bei Netz-Identitäten Bremen/Hannover. Bremen schließt sich der niedersächsischen Bundesratsinitiative für eine Identifizierungspflicht im Internet nicht an. Eine solche Pflicht schränke das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aller Nutzerinnen und Nutzer ein. Laut der Bundesratsinitiative zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes sollen Nutzer bei der Registrierung in sozialen Netzwerken Namen, Anschrift und Geburtsdatum angeben. »Wenn Nutzer ihre persönlichen Daten hinterlegen, sind diese im Falle eines Strafermittlungsverfahrens beim Betreiber abrufbar«, begründete Innenminister Boris Pistorius (SPD) den Vorstoß. Aus dem Bremer Justizressort hieß es nun ablehnend, eine solche Identifizierungspflicht wäre eine sicher willkommene Erweiterung des Big-Data-Geschäftsmodells der Diensteanbieter. So ließen sich die zahlreich gesammelten Daten letztlich auch noch einem Namen und womöglich Adressen zuordnen, was noch genauere und lukrativere Nutzerprofile ermöglichen würde. EPD


Neonazi-Salafist verurteilt

Hannover. »Faire Handelsbeziehungen, ein grundlegendes Existenzminimum in allen Ländern und eine nachhaltige Eindämmung der kriegerischen und gewaltförmigen Konflikte«, hat die Landesarmutskonferenz (LAK) anlässlich des UN-Welttages der sozialen Gerechtigkeit gefordert. »Nur so kann Demokratie dauerhaft erhalten werden«, so LAK-Geschäftsführer Klaus-Dieter Gleitze. Armut und Ausgrenzung seien ein weltweites Übel. In Niedersachsen sei neben Arbeitslosigkeit mittlerweile auch Armut trotz Arbeit eine weitverbreitete Ursache für Ausgrenzung. »Menschen mit Niedriglohn, prekären Beschäftigungsverhältnissen, Alleinerziehende und immer mehr SeniorInnen sind auf Grund rasant steigender Mieten in den Ballungsräumen von Wohnungsnot bedroht«, so Gleitze. Das sei sozialer Sprengstoff. Zudem produziere globale Armut Migration. »Wenn wir die Globalisierung nicht fairer gestalten, wird die weltweite Spaltung der Gesellschaften zwischen Arm und Reich immer größer. Von den zahlreichen globalen Konfliktlinien profitieren immer mehr rechtspopulistische Parteien.« MAC

Northeim/Oldenburg. Weil er im Gefängnis einen Wärter ermorden wollte, ist ein 29-jähriger Salafist vom Landgericht Oldenburg zu weiteren 14 Jahren Haft verurteilt worden. Der deutsche Konvertit, der bereits 2017 wegen eines versuchten Sprengstoffanschlags auf Polizisten für gut drei Jahre inhaftiert wurde, hatte vor rund einem Jahr den Wärter unter »Gott ist groß«-Rufen mit Gabelstichen in den Hals töten wollen, konnte von Mithäftlingen aber abgehalten werden. Der bekennende ISIS-Sympathisant entstammt der Neonaziszene in Berlin, später Northeim. Der Verfassungsschutz schätzt die Zahl der Salafisten auf 900 Personen, die der Rechtsextremisten auf rund 1.200 – wie groß die Schnittmenge ist, ist unbekannt. MAC

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Rund 118,6 Tonnen Vorhänge­

schlösser im Wert von etwa 795.000 Euro wurden im vergangenen

ZAHLENSPIEGEL »(ZU) FEST«

Jahr nach Niedersachsen eingeführt. Unklar ist, wie viele davon an Brücken hängen. Rund 41.000 Mal pro Jahr wird in Nieder­sachsen geheiratet, auf 10.000 Einwohner kommen 52 Hochzeiten. Rund 16.000 Ehen werden jährlich geschieden. Den Scheidungsantrag stellten zu 51,8 % die Frauen und zu 41,8 % die Männer. In den übrigen 6,3 % der gerichtlichen Eheverfahren wurde das Verfahren gemeinsam beantragt.

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LAK: »Sicherheit durch Gerechtigkeit«

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ANGESPITZT – DIE GLOSSE

»Fasten ist mehr als Abspecken oder Genussmittelverzicht.« Hat Detlef Klahr jetzt gesagt. Detlef Klahr ist Regionalbischof in Emden und kennt sich von daher gut aus mit wenig und darben. Meint aber noch mehr: Für die Wochen bis Ostern empfiehlt der Gottesmann das – ganz neu im Fastengeschäft – »Nörgelfasten«. Und damit dieser empfohlene Verzicht aufs Meckern, Lamentieren, Schimpfen nicht zur allgemeinen Sprachlosigkeit verkommt, empfiehlt er sogleich die quasi revolutionäre verbale Tat: Über »Zuversicht« reden, oder besser gesagt zuversichtlich sprechen. Nun gut, hören wir uns selbst skep-

»7 WOCHEN OHNE«

tisch sagen. Versuchen wir’s: »Wir schaffen das. Wenn nicht das dann irgendwas.« Schon nicht schlecht. Oder dies: »Die SPD braucht einen eigenen Kanzlerkandidaten!« Oder das: »96 muss nicht in die dritte Liga!« Ja, lasst uns verrückt sein. Weiter so. Zuversicht! Wie wäre es hiermit: »Echte Männer brauchen keine SUVs.« »Blackrock spendet an Bedürftige.« »Hannoveraner können lachen.« Jetzt läuft’s, denkt euch selber mal was aus! Und kurz vor Ostern dann alle zusammen das Highlight: »Always look on the bright side of life.« Alles kla(h)r? Volker Macke Anzeige

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KAFFEE MIT KÄSSMANN

Foto: Picture-Alliance/HELMUT FOHRINGER/APA/picturedesk

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Das eine Afrika: Kinderarbeit in einer illegalen Mine in Burkina Faso. Das Mädchen ist eins von 11.000 dort schuftenden Kindern.

»AUGENHÖHE FÜR AFRIKA« Lange war sie in der Kirche auch für Entwicklungsdienst zuständig und für den Ökumenischen Rat der Kirchen auf Reisen. Als Botschafterin von »terre des hommes« ist Ex-Bischöfin Margot Käßmann heute noch im globalen Süden unterwegs. Ein Gespräch über Kriege, Armut, Selbstbewusstsein, Christen und fehlende Empathie. Liebe Margot Käßmann, ziemlich genau zehn Jahre ist deine berühmte Aussage »nichts ist gut in Afghanistan« her. Dafür gab es Lob und auch viel Kritik. Wie stehst du heute dazu? Ich würde das heute noch ganz genau so sagen. Besonders dramatisch ist, dass sich in diesen vergangenen zehn Jahren nichts

verbessert hat in Afghanistan, es ist eher schlimmer geworden. Die damals für mich so überraschend heftige Reaktion erfolgte vermutlich auch deshalb, weil wir in Deutschland mit dem von Oberst Klein seinerzeit befohlenen Angriff auf zwei Tanklaster das erste Mal realisiert hatten, dass die Bundeswehr nicht als eine Art Technisches Hilfswerk dort Brunnen bohrt und Mäd-


KAFFEE MIT KÄSSMANN

chenschulen baut. Sondern dass wir uns in einem Krieg außerhalb des NATO-Gebiets engagieren. Der von Einigen formulierte Vorwurf der Naivität war heftig. Ich solle mich doch mit den Taliban in ein Zelt setzen und verhandeln, hieß es. Heute ist klar, dass die Amerikaner längst mit den Taliban verhandeln, weil sie realisiert haben, dass es an den Taliban vorbei keinen Frieden in diesem armen geschundenen Land geben kann.

Gleichzeitig sind Taliban eine islamistische Organisation. Solche Organisationen wachsen allerorten in der muslimischen Welt. Besonders auch in Nordafrika. Die Bundeswehr soll laut Verteidigungsministerium daher künftig in der Sahelzone aufgestockt werden. Auch weil dort zunehmend Christen verfolgt werden. Christenverfolgung ist in vielen Ländern grausame Realität. Aber dass sie als Begründung für Auslandseinsätze der Bundeswehr dienen soll, halte ich für fatal, weil der christliche Glaube nun gerade einer ist, der Gewalt radikal infrage stellt. Martin Luther King hat sehr gut gesagt, dass das Gebot der Feindesliebe das schwerste ist, das Jesus uns hinterlassen hat. Gerade erst im Februar wurde Pastor Lawan Andimi von der Terrororganisation Boko Haram brutal ermordet. In seiner letzten Botschaft sagte er: »Ich möchte, dass alle Menschen, ob nah oder fern, Kollegen und andere, Geduld haben. Weint nicht, macht euch keine Sorgen, aber dankt Gott für alles.« Von solchen Christen bin ich tief beeindruckt. Sie sind überzeugt, dass Rache nur die Spirale der Gewalt weitertreibt. Ich weiß sehr wohl, dass die Einsätze der Bundeswehr im Ausland durch den Bundestag legitimiert sind. Aber ich stelle nachhaltig infrage, ob solche Einsätze wirklich dem Auftrag der Bundeswehr entsprechen. Die Freiheit Deutschlands wird nicht am Hindukusch verteidigt.

Das andere Afrika: Mittelschichtsfamilien in Ugandas Hauptstadt Kampala genießen Freizeit.

heit über Gott und die habe ich. Das gibt es auch bei Christen, bei Juden und auch bei Hindus und Buddhisten. Religion kann nur eine friedliche Religion sein, wenn sie sagt: Ich habe meinen Weg zu Gott gefunden und ich respektiere, dass andere einen anderen Weg gefunden haben. Islamistische Terroristen akzeptieren nicht, dass es Vielfalt im Glauben gibt. Das aber ist, so sagen andere Muslime, Verrat an ihrer eigenen Religion.

Also auch nicht in Mali? Auch nicht in Mali. Die ganzen militärischen Interventionen der vergangenen 20 Jahre haben doch gezeigt, dass sich weder im Irak noch in Libyen oder Syrien die Lage insgesamt verbessert hat. Tony Blair hatte zugegeben, dass man 2003 im Irak einmarschiert sei, ohne ein Konzept für danach zu haben. Was wissen wir wirklich über die kulturellen und politischen Gegebenheiten in den betreffenden Ländern? Was denken wir eigentlich? Dass wir nur militärisch intervenieren müssen und schon gibt es dort überall feine demokratische Staaten, die ihre Regierungen von unten wählen?

Gibt es Aggressionen von christlichen Bevölkerungsgruppen gegenüber Muslimen in Afrika oder eher umgekehrt? Im Moment ist der Terror von Muslimen, die fundamentalistisch sind, dominant. Das Problem ist für mich in jeder Religion aber nicht der religiöse Mensch, sondern der fundamentalistisch religiöse Mensch. Denn der erklärt: Es gibt nur eine Wahr-

Der christliche Weltverfolgungsindex berichtet von rasant wachsender Christenverfolgung in afrikanischen Ländern. Vorneweg Libyen, Sudan, Eritrea, Somalia, neu auf der Liste Burkina Faso und Kamerun. Gestiegen ist die Verfolgung fast überall in der Sahelzone. Ist Krieg zur Durchsetzung von Menschenrechten nicht legitim? Militärische Intervention aus humanitären Gründen ist ja seit Anfang 2000 immer wieder ein Argument gewesen. Ich halte das für schwierig, Krieg so zu legitimieren. Viel sinnvoller erschiene mir, die Milliarden, die wir beispielsweise in Afghanistan für den Krieg gezahlt haben, in Prävention und Mediation, in den Aufbau von sozialen Strukturen, in die Stärkung der Zivilgesellschaft vor Ort zu investieren. Das tun wir aber nicht. Wir warten, bis die Konflikte so sehr eskaliert sind, bis wir sagen können: Jetzt hilft nur noch die militärische Intervention. Aber dass wir so uninteressiert sind an dem, was sich beispielsweise im Südsudan, dem ärmsten Land der Welt, abspielt, dass


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Foto: Andy Spyra

Foto: Picture-Alliance/Yannick Tylle

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Bundeswehr in Mali: Als Teil von MINUSMA, der gefährlichsten UN-Mission weltweit, sind deutsche Soldaten im Kampf gegen islamistischen Terror aktiv. Laut Verteidigungsministerium soll der Einsatz ausgeweitet werden.

wir wenig bis kein Interesse an den dort hungernden Kindern, wohl aber Interesse an vier im Zoo des Nachbarlandes Sudan verhungernden Löwen zeigen, das zeigt ganz bizarr, wie unsere Aufmerksamkeit vielleicht auch gelenkt ist. Grundsätzlich: Ich weiß, dass der Mensch schuldig werden kann, wenn er nicht mit Waffen eingreift, das ist mir bewusst. Ich weiß aber auch, dass der Mensch schuldig wird, wenn er Waffen benutzt. Aus meiner christlichen Überzeugung bleibe ich dabei, militärische Interventionen nicht zu befürworten.

Zeigt das Beispiel von den Löwen auch, dass uns die nötige Empathie fehlt, um Afrika nicht allein zu lassen? Mein Eindruck ist, dass Afrika von den Europäern immer noch nicht als Kontinent auf Augenhöhe gesehen wird. Nach dem Motto: Da ist alles kaputt, chaotisch, da funktioniert nichts –

warum sollen wir Geld reinstecken? Aber viele von uns sehen nicht, dass es ungerechte Handelsstrukturen gibt, dass wir mit unserer Altkleiderflut dort den Markt überschwemmen, dass das billige Fleisch von subventionierten Hühnern aus Europa die Hühnerzucht in Afrika oft kaputt macht und dass wir davon profitieren, wenn Kinder in Somalia in Minen unter untragbaren Umständen die Rohstoffe für unsere Handys abbauen. Dieses »wir haben uns hier was erarbeitet« und jenes »dort funktioniert nichts« empfinden viele Menschen aus Afrika als Rassismus. Und das verstehe ich gut.

Dein zweiter Halbsatz damals in der Predigt bezog sich aufs Klima. Auch diesbezüglich sei »nichts gut«. Heute ist der Klimawandel gesellschaftliche Konfliktlinie wie kaum etwas anderes. Schon fordert Bundesentwicklungs-

1990 wurde Margot Käßmann Beauftragte für den Kirchlichen Entwicklungsdienst der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. 1994 wurde sie Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, 1998 Bischöfin der Landeskirche Hannovers, 2009 Ratsvorsitzende der EKD. Anfang 2010 sagte sie die seinerzeit umstrittenen Worte »Nichts ist gut in Sachen Klima, wenn weiter die Gesinnung vorherrscht: Nach uns die Sintflut! … Nichts ist gut in Afghanistan.« Kurze Zeit später kündigte sie einen »Gedenktag der verfolgten Christen« an.


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minister Gerd Müller (CSU) die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen auf, Afrika ins Zentrum ihrer Klimaschutzpolitik zu stellen. Richtig so? Jein. Den Satz sagte ich, weil seinerzeit die UN-Klimakonferenz in Kopenhagen gerade gescheitert war. Dieses Scheitern war angesichts der längst bekannten Prognosen und der Dringlichkeit des Wandels sehr problematisch. Bereits in den Neunzigern – ich war für die Evangelische Kirche in Kurhessen-Waldeck für entwicklungspolitische Fragen zuständig – war Afrika zu fördern, uns so klar, dass wir eine klium uns ein Flüchtmaneutrale agrarwirtschaftliche Entwicklung und den lingsproblem zu Mittelstand in Afrika stützen ersparen, ist ein müssten. Stattdessen aber falsches Motiv. wurden und werden von den Europäern die korrupten Eliten wie Gaddafi, Mugabe oder Isabel dos Santos hofiert. Aus egoistischen wirtschaftlichen Interessen. Diktatoren hofieren und gleichzeitig Menschenrechte proklamieren, das halte ich ohnehin für sehr problematisch.

Könnte nicht Klimaschutz aus egoistischem Wirtschaftsinteresse was bringen? Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöp-

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fung gehören zusammen. Schon vor 30 Jahren war uns klar, dass die Klima­frage eine Gerechtigkeitsfrage beinhaltet. Der Klimawandel trifft in seinen Auswirkungen zuerst die, die am stärksten unter Ungerechtigkeit zu leiden haben, während die Nationen, die am meisten Emissionen produzieren, zurzeit jedenfalls noch am wenigsten unter den Folgen leiden. Wir spüren sie zwar mittlerweile auch. Aber die Versteppung, die Trockenheit, die Versalzung des Grundwassers, die Ernteausfälle, all das trifft geballt Afrika. Kriege um Wasser werden sich in Afrika in nicht ferner Zukunft vermutlich massiv abspielen. Das ist ein Trauerspiel.

Die Interessen der EU und Deutschlands sind auch, Flüchtlingsursachen zu minimieren. Afrika nur zu fördern, um uns ein Flüchtlingsproblem zu ersparen, das ist schon sehr egozentrisch. Das ist ein falsches Motiv. Ich wünsche mir, dass wir aus Nächstenliebe oder nennen wir es Solidarität heraus wollen, dass Menschen auch in Afrika Nahrung, Obdach, Bildung und Zugang zu medizinischer Versorgung haben können. Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild. Da wünsche ich mir natürlich, dass jeder von eigener Arbeit mit seiner Familie in Frieden und Sicherheit leben kann.

Du bist und warst viel in Afrika. Wie ist das für dich persönlich? Zunächst einmal erlebe ich bei jedem Besuch eine ganz große Gastfreundschaft. Da wirst du nach Hause eingeladen, zum Essen – sehr warmherzig ist das. Überall wo ich bisher war, ob das Uganda ist oder Ruanda, Äthiopien, Kenia, Südafrika, Simbabwe, ist das eine sehr liebevolle Kultur mit Fröhlichkeit. Ganz ehrlich, in Deutschland eine Kirche allein schon zum Lächeln zu bringen ist außerordentlich schwierig, in Afrika wird in Kirchen viel gelacht. Kommunikation ist dort oft entspannter. Und Frauen sind dort häufig ziemlich selbstbewusst. Es gibt guten afrikanischen Journalismus, eine sehr gebildete afrikanische Zivilgesellschaft. Das ist das eine Afrika. Gleichzeitig gibt es das andere: Ich war in einem Flüchtlingslager in Kenia für Sudanesen. Die dortigen hygienischen Bedingungen waren unbeschreiblich schlecht. Oder in Uganda begegnete ich Frauen, die ein bis zwei Stunden zu einer Wasserstelle unterwegs waren, um dieses Wasser dann zum Kochen zu benutzen. Und dieser Tümpel war in einem Zustand, da hätte ich das Wasser eigentlich nicht mal berühren wollen. Da wird mir klar, was für ein Privileg es doch ist, als Frau nach 1945 in Deutschland geboren zu sein.

Vielen Dank für das Gespräch. Bis zum nächsten Mal im Juni. Interview: Volker Macke


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Foto: Catcallsofhannover

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KREIDE GEGEN CATCALLS Sexuelle Belästigung auf der Straße: Eine Gruppe junger Leute macht öffentlich, was meist Männer meist Frauen meinen sagen zu dürfen. Auf der Straße und im Netz.


Foto: Catcallsofhannover

Foto: G. Biele

Mehr Infos zur Initiative unter: catcallsofhannover catcallsofnyc Infos über Belästigungen sind auch per Mail an catcallsofhannover@gmx.de möglich.

Mit Straßenkreide fein säuberlich gemalt steht es geschrieben: »Ich will dich in den Arsch bumsen.« Ganz schön unangenehm, das so groß zu lesen. Noch unangenehmer das so zu hören. Mit diesem Satz hatte sich eine junge Frau an Catcalls gewandt. Die Initiative hat sich vorgenommen, Belästigung im öffentlichen Raum sichtbar zu machen, erläutert Lisanne. Die 22-jährige Lehramtsstudentin hat den hannoverschen Ableger von Catcalls gegründet. »Die Frau ging nach Hause, jemand fuhr mit dem Fahrrad an ihr vorbei und rief ihr das zu. Fuhr dann aber weiter«, berichtet Lisanne. Anderer Ort, anderer Spruch: »Darf ich dir an den Arsch fassen, du geile Fotze?« Oder: »Du bist also auch so eine unentschlossene Schlampe.« Oder: »Ey, bist du noch Jungfrau?«. Mit bunter Kreide malen Lisanne, Lucie, Rasmus und Amelie die übergriffigen Sprüche großflächig

»Catcalls of Hannover«, das sind Jura-Studentin Lucie (22), Heilerziehungspfleger Rasmus (22), Landschaftsarchitekturstudentin Amelie (25) und Lehramtsstudentin Lisanne (22) (v.l.n.r.).


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auf Asphalt und Pflaster. Dazu immer dieselben Hashtags: #StopptBelästigung, #Ankreiden. Und dazu noch ihren Instagram-Account: Catcallsofhannover. Instagram, das App-basierte soziale Netzwerk für Fotos und Videos, ist das Medium der Gruppe. Dort sammeln die AktivistInnen Fotos ihrer Aktionen und da erfahren Follower auch die jeweiligen Hintergründe zu den angekreideten Sprüchen. Es sind meist Erlebnisse aus dem Alltag junger Frauen. Und die sind nicht selten. Mehrmals pro Woche ziehen Lisanne, Lucie, Rasmus und Amelie los, um die Catcalls öffentlich zu machen. Katzenrufe, der Begriff steht für Belästigung im öffentlichen Raum. Sexuell anzüglich, unangemessen, unanständig. Meist von Männern gegenüber Frauen. Aber auch gegenüber Transsexuellen, queeren oder sonst irgendwie anderen Personen. Immer geht es dabei um Körper, Körperteile, meist mit direkter sexueller Aufforderung. Hintergrund beim Sprücheklopfer ist dabei oft ein vermeintliches Gefühl von Überlegenheit, Dominanz, Herrschaft oder zumindest eben diese Gefühle darüber erlangen zu wollen. Dort, wo Catcalls entstehen, da sollen sie angeprangert werden, das ist das Prinzip der AktivistInnen. In Bahnhofsnähe, Partyszeneplätzen, Fußgängerzonen. Die Initiative macht damit Politik, bewusst anstößig – so anstößig wie die Belästigung selbst. Die Reaktionen auf die Kreideschriftzüge fallen gemischt aus. Eine Straßenumfrage unter Passanten zeigt Zuspruch: »Sehr, sehr gut die Sache.« Oder: »Ich finde das ganz geil, dass darauf aufmerksam gemacht wird.« Es gibt aber auch Ablehnung: »Muss nicht sein, das so hin zu schreiben, es wäre besser, das privat zu händeln oder die Polizei einzuschalten.« Oder: »Man geht mit sowas nicht an die Öffentlichkeit, sowas macht man mit sich selbst aus.« 2016 gestartet in New York, gibt es die weltweite Catcalls-Bewegung seit vergangenem Sommer auch in Hannover. Seitdem kommen wöchentlich rund drei neue Erfahrungsberichte rein. »Es ist schön, dass so viele Menschen den Mut haben, sich mitzuteilen«, sagt Lisanne. »Schön auch, dass so viele das wahrnehmen: Hey, es ist nicht okay, dass ich so behandelt wurde, dagegen möchte ich mich irgendwie wehren, zumal man das in Deutschland leider auf polizeilicher oder gerichtlicher Ebene in solchen Fällen kaum kann.« Besonders freut die AktivistInnen der Zuspruch vieler älterer Frauen, wenn diese die Malaktionen auf Straßen und Plätzen beobachten. Immer wieder würden diese dann von eigenen

Erlebnissen aus einer Zeit berichten, in der die patriarchalische Dominanzkultur solche Aufschreie noch undenkbar scheinen ließen. Kritik an den dann so genannten »Schmierereien« verweise als argumentative Unterstützung häufig auf den Jugendschutz, erzählt die Catcalls-Gruppe. Kindern müsse man das nun wirklich nicht zu lesen geben. »Wir sagen dann, dass Kinder das immer auch hören – von Männern, die so über Frauen reden, und das ist das eigentliche Problem.« Jasmin Kohler/Volker Macke/StreetLIVE* *StreetLIVE ist eine Kooperation von und

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Foto: G. Biele

ABSCHIED IM HOSPIZ In Würde sterben. Und im Kreise der Liebsten. Das wünschen sich die meisten. Vor allem aber ohne Qualen. Doch gerade Krebspatienten haben häufig einen Leidensweg vor sich. Mit Schmerzen, Übelkeit, Erbrechen. Für sie ist ein Hospizplatz oft ein Gewinn. Sonnenstrahlen funkeln durch die Fenster. Sie machen das Zimmer hell und freundlich. An der Wand steht ein großer Tisch mit zwei Stühlen. Auf dem Tisch stehen Fotos. Von den erwachsenen Kindern und den Enkeln. So, dass man sie auch im Liegen gut sehen kann. In der Mitte des Zimmers zwei Betten. Dicht nebeneinander. Eins ist leer. Nur eine glatt gezoge-

ne Decke und ein Kopfkissen liegen drin. In dem anderen Bett liegt Ralf-Otto Burgdorf. Frisch rasiert und mit kurzem grauen Stoppelhaar. Er hat einen blauen Kapuzenpullover an, die Bettdecke ist bis zum Bauchnabel hochgezogen. Links neben seinem Bett steht ein Infusionsständer mit Perfusor. Über den bekommt der hagere Mann Medikamente gegen die Schmer-


Diagnose mit Folgen Ralf-Otto Burgdorf ist auf pflegerische und medizinische Hilfe angewiesen. Weil der Dachdeckermeister längere Zeit mit enormen Bauchschmerzen zu kämpfen und ständig Probleme beim Toilettengang hat, lässt er sich gründlich untersuchen. »Durch Ultraschall hat mein Arzt im April 2019 dann Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt«, erzählt der 57-Jährige mit langsamer rauer Stimme. Weil diese Erkrankung lange symptomlos bleibt, ist sie tückisch. Erst spät bekommen Patienten Beschwerden wie Oberbauchschmerzen und Verdauungsstörungen. Deshalb wird Bauchspeicheldrüsenkrebs oft erst entdeckt, wenn er bereits weit fortgeschritten ist. Dann aber sind die Chancen auf Heilung meist nur noch sehr gering. Am 08. April wird der Familienva-

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ter operiert. »Die Ärzte wollten gucken, ob man noch was machen kann. Als ich wieder wach geworden bin und nicht auf der Intensivstation lag, wusste ich schon Bescheid. Es war nichts zu mehr machen. Sie hatten mich also nur aufgeschnitten, nachgeguckt und wieder zugenäht«, sagt Burgdorf. Doch aufgeben war keine Option. Ärzte prognostizieren noch drei Monate Lebenszeit ohne Chemotherapie, etwa sechs bis acht Monate mit Chemotherapie. »Ich habe mich dann für eine Chemotherapie entschieden. Ich wollte ja leben«, gibt sich Burg­dorf kämpferisch. Eine Zeit voller Torturen beginnt. Die Chemotherapie schwächt den Körper, zusätzliche Erkrankungen kommen hinzu, weitere Operationen folgen. Aber es gibt auch schöne Momente. Gemeinsam mit seiner Familie geht es nochmal in den Urlaub. Nach Spanien. »Den wollte ich unbedingt noch machen. Von den 14 Urlaubstagen hatte ich dann auch fünf schöne Tage, bevor ich in Spanien für den Rest der Zeit ins Krankenhaus gekommen bin«, verrät der 57-Jährige. Vom Krankenhaus in Spanien geht es dann direkt ins Krankenhaus in der Heimat und von dort zunächst wieder nach Hause. In die eigenen vier Wände. Unterstützt wird Burgdorf ab jetzt von einem ambulanten Pflegedienst. »Die waren immer mal für zehn Minuten da, um mir mein Schmerzmittel, das Morphin, über die Pumpe zu verabreichen. Aber ich hatte den Einen Teil ihrer Arbeitszeit nutzt Nicole Eindruck, dass es nicht wirkFriederichsen (li. im Bild) für Öffentlichkeitslich ausgebildete Pflegekräfarbeit. Mit ihrer Kollegin Kerstin Patzner-­ te waren. Die Schläuche von Koch (re.) bespricht sie noch Details für die meiner Pumpe wurden nicht Jubiläums-Veranstaltung des Hospizes. ordnungsgemäß gespült, wodurch es dann zum Stau kam. Natürlich habe ich fürchterliche Schmerzen bekommen. Niemand war dann erreichbar, um zu helfen«, bemerkt Burg­ dorf kopfschüttelnd. Schon bald steht fest: Zu Hause geht es nicht mehr. Ralf-Otto Burg­ dorf kommt zunächst auf die Palliativstation in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). »Im Juni hatten wir erstmals Kontakt mit dem HosSeit 2003 ist Kurt Bliefernicht Leiter des piz Luise aufgenommen. Denn Hospizes Luise. Foto: G. Biele

zen. Ganz langsam, aber kontinuierlich. Auf dem Stuhl am Tisch sitzt seine Frau Ariane. Seit November 2019 wohnen die beiden gemeinsam im Hospiz Luise in Hannover. Vor 25 Jahren hat die Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul in Hildesheim das Hospiz Luise gegründet. Es befindet sich im Hannoverschen Stadtteil Kirchrode und war das erste stationäre Hospiz in Niedersachsen. Bis zu acht Patienten kann das Hospiz gleichzeitig aufnehmen. Fünf Patientenzimmer befinden sich im Obergeschoss des Hauses, drei im Untergeschoss. Sie sind in erster Linie zweckmäßig eingerichtet, denn allein schon wegen der Hygiene müssen bestimmte Standards eingehalten werden. Und auch die bestmögliche Versorgung durch die Pflegekräfte sollte stets gewährleistet sein. Daher ist es wichtig, dass nichts im Weg steht. Um dem Zimmer dennoch einen wohnlichen Hauch zu verleihen, ist persönliches Mobiliar, wie beispielsweise der bequeme Lieblingssessel zum Ausruhen, immer gern gesehen. Für eine heimische Atmosphäre sorgen daneben ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer und der gemeinsame Essbereich im Wintergarten im Erdgeschoss des Hauses. Hier können die Patienten zusammenkommen, sich austauschen, gemeinsam essen oder auch einfach mal abschalten. »Insgesamt 17 Hauptamtliche und 27 Ehrenamtliche kümmern sich im stationären Bereich um die Belange unserer Patienten und deren An- und Zugehörigen«, sagt Kurt Bliefernicht, Leiter des Hospizes Luise.

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Foto: G. Biele

die Palliativstation ist ja auch nur eine Durchgangsstation«, betont Ariane Burgdorf. Im November dann die erlösende Nachricht: Im Hospiz Luise ist ein Platz frei geworden. Der Dachdeckermeister und seine Frau ziehen gemeinsam ein. »Das ich hier einen Platz bekommen habe, ist für mich wie ein Sechser im Lotto. Diese Versorgung hier, die kriege ich sonst nirgends. Auch wenn ich zu Hause einen ganzen Harem an Frauen hätte. Was die Pflegekräfte hier leisten und wie würdevoll sie mit mir umgehen, habe ich noch nie erlebt«, schwärmt Burgdorf. Immer wieder befeuchtet er sich mit einer kleinen Sprühflasche, gefüllt mit Wasser, seinen trockenen Mund. Trinken fällt ihm mittlerweile schwer und auch das lange Reden geht nicht mehr ganz so leicht.

Individuelle Pflege und Betreuung Ralf-Otto und Ariane Burgdorf sind seit 28 Jahren verheiratet. Sie haben einen Sohn und zwei Töchter.

Foto: Kurt Bliefernicht

Bei ihren täglichen Ablaufplanungen versuchen die Mitarbeitenden im Hospiz Luise die Bedürfnisse der Patienten immer mit einzubeziehen. »Wir treffen beispielsweise Verabredungen mit ihnen, wann wir sie waschen, ob sie zu den Mahlzeiten in den Wintergarten kommen möchten oder ob sie lieber im Zimmer essen. Jeder Tag wird sehr individuell gestaltet und sieht daher immer anders aus«, erzählt Nicole Friederichsen, Krankenschwester im Hospiz. Bei all dem ist die würdevolle Begleitung zum Lebensende für alle das Wichtigste. Dabei soll die Symptomlast der Patienten so gering wie möglich gehalten werden. »Viele genießen es, in eine ruhige Atmosphäre zu kommen. Wo sie Zeit haben, mit der Familie Abschied zu nehmen. Sich mit dem Thema Tod und Sterben auseinanderzusetzen. In erster Linie wird hier aber erst nochmal gelebt, bevor gestorben wird«, beschreibt Friederichsen die Grundhaltung aller Kollegen. Regelmäßig kommt eine Musiktherapeutin ins Haus und hin und wieder gab es auch schon mal Konzerte für die Patienten. Aber: »Wir versuchen schon herauszufinden, was für die Patienten von Bedeutung ist oder ob sie einfach nur die Ruhe genießen möchten« betont Friederichsen.

In der eingesegneten Kapelle oder auch Andachtsraum des Hospizes, findet ein Mal in der Woche ein Gottesdienst statt. Hier können sich Patienten, Angehörige oder Mitarbeitende aber auch einfach mal für ein bisschen Ruhe zurückziehen.

Hospiz in Zahlen Die Geschichte der Hospize geht bis ins Mittelalter zurück. Ein Hospitium (lateinisch für Hospiz) war damals eine kirchliche oder klösterliche Einrichtung, die sich um Pilger, Bedürftige, Fremde, Kranke oder auch Schwache kümmerte. In Frankreich gab es 1842 eine Einrichtung, die sich erstmals speziell mit der Pflege von Sterbenden beschäftigte. 1967, also mehr als 100 Jahre später, wurde das erste stationäre Hospiz im Sinne der Palliativ Care bei London eröffnet, wo 1982 auch das erste Kinderhospiz entstand. In Deutschland wurde das erste stationäre Hospiz 1986 in Aachen gegründet. Inzwischen gibt es deutschlandweit etwa 240 stationäre Einrichtungen, davon mehr als 15 für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene und mehr als 300 Palliativstationen in Krankenhäusern sowie über 1500 ambulante Hospizdienste. Finanziert wird die Arbeit in einem deutschen Hospiz durch die Kranken- und Pflegekassen. Hierfür fechten die Betreiber regelmäßig Bedarfssatzverhandlungen aus. 95 Prozent der Kosten übernehmen dann die Kassen, fünf Prozent muss der Betreiber über Spenden und über das Ehrenamt selbst finanzieren. Patienten zahlen für ihren Aufenthalt im Hospiz nichts.


a m n e s t y a f t e r wo r k

Kurzfristige Ziele setzen Neun Wochen wohnen die beiden nun schon im Hospiz Luise. Das Zimmer verlässt Ralf-Otto Burgdorf kaum. Die Krankheit hat ihn geschwächt. »Ab und zu bekommen die Pflegekräfte mich so stabil, dass ich meine ganze Energie aufbringe und in den Rollstuhl kann. Dadurch bin ich jetzt schon zwei Mal unten im Aufenthaltsraum gewesen und konnte gemeinsam mit anderen Patienten essen«, erzählt er. Aufgrund seiner fortgeschrittenen Erkrankung kann der 57-Jährige jedoch nur noch Miniportionen zu sich nehmen. Die meiste Zeit des Tages verbringt Burgdorf im Bett. Wasser in den Beinen und im Körper belasten ihn zusätzlich. Dafür bekommt er regelmäßige

Gemeinsam für die Menschenrechte Sie können helfen: Wir laden Sie herzlich ein, uns montags zu besuchen. Lassen Sie Ihren Tag mit einer guten Tat bei Kaffee, Tee und Gebäck ausklingen, indem Sie sich mit Faxen, Petitionen oder Briefen gegen Menschenrechtsverletzungen in aller Welt einsetzen. Öffnungszeiten: Montag 18 bis 19 Uhr after work cafe Dienstag 11 bis 12 Uhr, Donnerstag 18.30 bis 19.30 Uhr amnesty Bezirksbüro Hannover Fraunhoferstraße 15 · 30163 Hannover Telefon: 0511 66 72 63 · Fax: 0511 39 29 09 · www.ai-hannover.de Spenden an: IBAN: DE23370205000008090100 · BIC: BFSWDE33XXX Verwendungszweck: 1475

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Eine feste Größe im Haus ist der gemeinsame Mittagstisch. Lymphdrainagen. »Ansonsten ist es nur ein Warten, dass ich Jeder der kann und Zeit hat, nimmt daran teil. Patienten, der dann würdevoll die Seite wechsle. Woanders könnte ich das Hausmeister, die Kolleginnen aus der Pflege, Mitarbeitende aus wahrscheinlich nicht. Aber hier wird mir so viel Angst genommen, dass ich mich nicht fürchte, die Seite dem Sekretariat und Besucherinnen und zu wechseln«, verrät der Familienvater. Besucher. »Das wird von unseren Ehren»In erster Linie wird Seitdem der Hobby-Hühnerzüchter von amtlichen immer ganz liebevoll begleitet. seiner unheilbaren Krebserkrankung erDie sind sozusagen die Gastgeber für uns. hier aber erst nochfahren hat, hat er sich immer wieder kleine Das ist wirklich schon ein Ritual hier«, vermal gelebt, bevor Ziele gesetzt. Nicht zu weit im Voraus. Die rät die 46-jährige Krankenschwester. Einzigestorben wird.« Ziele sollen schließlich erreicht werden. ge Regel: man muss pünktlich um 12 Uhr Ariane Friederichsen, Kranken»Ich wollte unbedingt Weihnachten noch im Wintergarten sein. Trotz der täglichen schwester im Hospiz Luise erleben. Nochmal mit der ganzen Familie Konfrontation mit dem Sterben und dem feiern. Die Schwestern hier haben das dann Tod arbeitet Nicole Friederichsen gerne im Hospiz. Für sie ist ihr Beruf Berufung. »Ich kann mir keinen ermöglicht. Sie haben das Zimmer so umgeräumt, dass die gebesseren Arbeitsplatz vorstellen. Schon als junge Auszubilden- samte Familie genügend Platz hatte«, erzählt Burgdorf begeisde habe ich mich viel um Patienten gekümmert, die im Sterben tert. Wieder befeuchtet er mit seinem Spray den Mundraum. Er lagen. Ich habe immer akzeptiert, und das muss man, wenn wirkt erschöpft. Sein nächstes Etappenziel, Silvester zu feiern, man in einem Hospiz arbeitet, dass das Leben endlich ist und erlebt Burgdorf ebenfalls. Und seinen Geburtstag am 04. Januar. Da kommt der Familienvater sogar noch mal nach Hause. »Das das Sterben dazu gehört«, bestätigt sie. Ralf-Otto Burgdorf bekommt nicht nur Unterstützung und war das Schönste, was ich erlebt habe. Die Schwestern hier im Trost von den Pflegekräften und den Ehrenamtlichen. Auch seine 53-jährige Ehefrau ist immer für ihn da. »Seitdem mein Anzeige Mann hier im Hospiz ist, habe ich noch nicht wieder zu Hause geschlafen«, erzählt sie etwas erschöpft. Zwar ist sie in der Zeit von 12 bis 17 Uhr regelmäßig zu Hause, kümmert sich um das Büro der Firma und geht ein Mal in der Woche in einem Steuerbüro arbeiten, den Rest der Zeit ist sie aber fast ununterbrochen bei ihrem Mann und gibt ihm Halt und Kraft. »Ich glaube, Schreiben Sie für die Menschenrechte – für ihn ist das Wichtigste, dass ich einfach nur da bin«, bemerkt gegen Verfolgung, Gewalt und Folter die 53-Jährige. »Wo ich kann, unterstütze ich ihn. Ich helfe ihm beim Waschen, reibe meinen Mann mit Pflegemitteln ein, bringe Getränke mit oder wenn er Lust darauf hat, auch mal ein Eis.« Sie selbst schöpft ihre Kraft aus dem Zusammenhalt der Familie. Und: »Weil mein Mann und ich uns eben lieben. Das ist wohl das Wichtigste überhaupt«, betont sie.

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Hospiz haben den Wünschewagen von den Maltesern gebucht und die haben mich dann nach Hause gefahren. Mit 75 Gästen konnte ich so meinen Geburtstag feiern«, erzählt er gerührt. Als nächstes möchte er am 24. Januar gemeinsam mit seinen Kindern Urlaubsfotos gucken. Dann kommen diese nämlich aus der Karibik zurück, von einem Urlaub, den Ralf-Otto und Ariane Burgdorf ihnen geschenkt haben, weil sie selber diese Reise nicht mehr antreten konnten. Es war das letzte Ziel, das der 57-Jährige noch geschafft hat. Einen Tag später hat Ralf-Otto Burgdorf die Seite gewechselt.

Foto: privat

Grit Biele

Rund 75 Verwandte, Freunde und Bekannte haben am 04. Januar gemeinsam mit Ralf-Otto Burdorf seinen 57sten Geburtstag gefeiert.

Aufnahmekriterien Jeder Antrag auf einen Platz im Hospiz wird zunächst gründlich geprüft. Klare und strenge Aufnahmekriterien sorgen dafür, dass nur diejenigen in ein Hospiz einziehen dürfen, die diese Hilfe auch wirklich benötigen. »Der Patient muss zu diesem Zeitpunkt eine unheilbare, weit fortgeschrittene Erkrankung haben und die Lebenserwartung wird nur noch für Tage bis wenige Wochen vermutet«, erklärt Kurt Bliefernicht, Leiter im Hospiz Luise. Außerdem müsse der Patient eine hohe Symptomlast aufweisen, wie Übelkeit, Schmerzen, massive Unruhe, die in der häuslichen Versorgung nicht beherrschbar ist. Und, der Arzt muss die Aufnahme in ein Hospiz aus medizinischer Sicht begründen. »98 Prozent unserer Patienten sind Krebspatienten im Endstadium. Die restlichen zwei Prozent sind neurologische Erkrankungen wie ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), MS (Multiple Sklerose) oder eine schwere COPD (Chronisch Obstruktive Lungenerkrankung)«, so Bliefernicht. Maximal sechs Monate dürfen die Patienten im Hospiz bleiben. Zeichnet sich ein längerer Aufenthalt ab, muss der Arzt erneut eine Begründung einreichen, warum die Unterbringung im Hospiz weiterhin notwendig ist. Die durchschnittliche Verweildauer eines Patienten im Hospiz beträgt 19 Tage.

96-Profis helfen in der Essenausgabe Die Augen der Besucher wurden groß als die 96-Profis Michael Ratajczak und Philipp Ochs die Ökumenische Essenausgabe betraten. Neben vielen Fragen, die die beiden beantworteten, halfen sie den ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern bei der Ausgabe des Essens an Bedürftige. Viele Gäste freuten sich ebenfalls über die mitgebrachten 96-Schals und die warme Bekleidung, die die Profis vor Ort verteilten. Der Besuch von Ochs und Ratajczak war Teil der 96plus-Woche in der Ökumenischen Essenausgabe. Wie bereits in den vergangenen drei Jahren verzichtete Hannover 96 im vergangenen Jahr auf das Versenden von Weihnachtsgrüßen in Papierform. Der damit gesparte Betrag wurde stattdessen an die Ökumenische Essenausgabe gespendet, die in diesem Jahr erstmals in den Räumlichkeiten der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hannover an der Lavesallee stattfindet, die den Gemeindesaal und das Foyer zur Verfügung stellt. Bereits einige Tage zuvor eröffneten 96-Präsident Martin Kind und Dr. Christian Rosenkranz, Geschäftsführer von 96plus-Hauptpartner Clarios, die 96plus-Woche bei der Ökumenischen Essenausgabe und verteilten ebenfalls Essen und Gebäck.


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backstage Das Stellwerk hinterm Bahnhof: Zuflucht fĂźr Menschen am Rande der Gesellschaft. Hier finden Konsumenten harter Drogen Hilfe und Beratung. Ein Ort, den viele Hannoveraner scheuen. Wir werfen einen Blick hinter die Kulissen.



»Auch Schwerstabhängige haben Anspruch auf Teilhabe und Würde.« Nutzer des Stellwerks, auf den Bildern der linken Seite im Uhrzeigersinn: Maurice, Karsten, Anastasia,

Fernroder Straße, zwischen Amtsgericht und Bahndamm. Das ist mitten in der Stadt und doch denkbar weit entfernt von den glitzernden Schaufenstern der City. Wäre man auf der Suche nach einem Gegensatz zu »Aufenthaltsqualität«, hier würde man fündig. Das Stellwerk selbst liegt am Ende dieses tristen Zuwegs und entpuppt sich als moderner zweigeschossiger Flachbau mit strahlendweißen Wänden und sauber glänzendem Mobiliar. Neutral und funktional. Wer hierher kommt, muss nicht in Vorleistung treten, sich keiner Weltanschauung beugen, keine Bereitschaft zum Entzug mitbringen. »Wir nehmen jeden so, wie er ist«, sagt Vikas Bapat, der Leiter des Stellwerks. Das schafft Akzeptanz in der Szene und erweist sich als äußerst erfolgreich. Inzwischen ist das auch in der Politik weitgehend Konsens. Das war allerdings nicht immer so. Noch 1992 beklagte Hannover 65 Drogentote in einem Jahr. Die Einrichtung eines Konsumraums für Drogenabhängige, die sich dort unter Aufsicht einen Schuss setzen und ihre gebrauchten Spritzen gegen neue austauschen konnten, stieß damals auf erhebliche Vorbehalte. Doch nach Eröffnung des Vorläufers Fixpunkt 1997 halbierte sich die Zahl der Drogentoten in Hannover binnen eines Jahres. Und da die Todesfälle auch in den Folgejahren weiter sanken, verstummten diese Diskussionen langsam. Mittlerweile gibt es weniger als zehn Fälle pro Jahr. Bapat sieht das Konzept durch diese Bilanz bestätigt. »Die Drogensucht ist für viele Abhängige wahrscheinlich nicht einmal das größte Problem«, sagt er, »und ganz bestimmt nicht das einzige.« Wer glaube, es brauche nur den sofortigen Entzug, um von den Drogen herunterzukommen, mache es sich zu einfach. »Über 90 Prozent der Frauen, die uns hier aufsuchen, haben Gewalt und Missbrauch erlebt. Das Heroin hilft ihnen Abstand zu gewinnen, den Schmerz abzuschalten«, sagt Bapat. Im Grunde sei das eine Art von Selbstmedikation. So überrasche es nicht, dass so manche Besucher hier schon mehrere Therapien hinter sich haben. »Die kommen vom Entzug und stecken gleich wieder in den gleichen Problemen, die zum Einstieg in die Sucht geführt haben.« Andere schaffen nicht einmal den Versuch, sich von der Droge zu lösen, wieder andere brauchen einfach mehr Zeit. Einige kämen aber auch gezielt hierher, um Hilfe beim Ausstieg zu erhalten. »Wie auch immer, irgendwann fragen wir: willst du noch einmal was verändern in deinem Leben? Und da gibt es tausend Möglichkeiten, bei denen wir unsere Klientel unterstützen. Der Entzug ist nur eine davon«, sagt Bapat.

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Thomas. Auf Seite 19: Axana.

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Die Ausgabe von Spritzen vermindert das Infektionsrisiko. Außerhalb der Öffnungszeiten steht dafür ein Automat zur Verfügung.

Auch die schwerstabhängigen Menschen hätten schließlich ein »Recht auf Unterstützung, Teilhabe und Würde«, sagt Carola Bau, Prokuristin bei der STEP, der Trägerin der Einrichtung. Die entsprechenden Angebote sind jedenfalls gefragt. Mehr als 55.000 Beratungen und Kontakte leistete das Team des Stellwerks in 2018. Im letzten Jahr wurden rund 23.000 Konsumvorgänge verzeichnet, 3.000 mehr als in 2018. Am häufigsten griffen die Abhängigen zu Heroin, doch 32 Prozent konsumieren inzwischen Kokain. Tendenz: stark steigend. Das hat Folgen für die Arbeit im Stellwerk. »Heroin ist ein Opiat, das sediert. Die Konsumenten entspannen sich; Kokain dagegen putscht auf, macht die Leute nervös und hibbelig. Das führt dann schnell zu Unruhe«, so Vikas Bapat. Auch die Händlerstrukturen hätten sich geändert, berichtet der Stellwerksleiter. »Früher gab es kaum klassische Dealer, die meisten Abhängigen verkauften selbst ein wenig Drogen, man kannte sich und war auch für die Mitarbeiter der Drogenhilfeeinrichtung zugänglich.« Inzwischen drängten jedoch professionelle Händler erfolgreich in den Markt, die ihre Ware selbst nicht konsumieren. Für die Abhängigen steige damit auch die Ungewissheit. »Es ist eben etwas anderes, ob ich den Verkäufer seit Jahren kenne oder nicht. Manche kommen gerade deshalb auch zu uns, weil Heroin mit den unterschiedlichsten Substanzen gestreckt wird und sie wissen, bei uns erhalten sie im Notfall sofort Hilfe.«


Der Konsumraum im Stellwerk: sauber und funktional.

Nicht nur für den Notfall ist das Stellwerk ausgerüstet. Das multidisziplinäre Team aus Sozialarbeitern, Krankenschwestern und Rettungssanitäter verfügt über eine eigene Ambulanz, in der im letzten Jahr rund 1.000 Behandlungen durchgeführt wurden. Einmal die Woche schaut ein Arzt vorbei, ab März voraussichtlich sogar zweimal. Ein wichtiges Angebot bei einer Klientel, für die eine Krankenversicherung nicht selbstverständlich ist. Zentral für das Stellwerk ist neben dem Café, wo jeden Tag warmes Mittagessen zum Selbstkostenpreis von zwei Euro ausgegeben wird, der Konsumraum mit derzeit neun Plätzen für den intravenösen Konsum und drei (Heroin-) Raucherplätzen mit Abluftsystem.

»Im letzten Jahr hatten wir 59 Drogennotfälle«, berichtet Bapat, »acht mehr als 2018«. Der Drogennotfall ist der Ernstfall. Ein Konsument oder eine Konsumentin kollabiert nach der Einnahme einer Droge. Weil der Konsum unter Aufsicht geschieht, kann umgehend reanimiert werden. Direkt neben dem Konsumraum befindet sich der Notfallraum mit Sauerstoffflaschen und Defibrillator. Nicht jeder Notfall muss ohne Hilfe tödlich enden, doch »in der Hälfte der Fälle hätten die Betroffenen das nicht überlebt«, schätzt Bapat. Aber auch in den anderen Fällen habe sich die schnelle Hilfe gelohnt, seien eine Sauerstoffunterversorgung und damit schwere Hirnschäden vermieden worden. Die Erfolge des Stellwerks sind messbar: »Im Stadtgebiet Hannover gab es im Jahr 2018 acht Drogentote, so wenig wie noch nie seit der Führung dieser Statistik«, vermeldet die Landeshauptstadt in ihrem Sucht- und Drogenbericht von 2019 und führt die seit einigen Jahren stagnierende Zahl an Drogentoten nicht zuletzt auf »das bedarfsorientierte und vernetzte Beratungsangebot« zurück. Tatsächlich steht Hannover damit nicht nur gegen den Bundestrend, sondern auch gegen den Landestrend glänzend da. So weist das Bundeskriminalamt in seiner Statistik für 2018 einen deutlichen Anstieg der Drogentoten um 24,6 Prozent für Niedersachsen aus, von 65 auf 81 Tote. Während die Zahlen in Hannover im gleichen Zeitraum auf ein Rekordtief sanken. Wohlgemerkt: eine Einrichtung wie das Stellwerk existiert in Niedersachsen nur in der Landeshauptstadt. Derzeit erprobt das Stellwerk einen neuen Ansatz: Notfallkurse. Die verbliebenen Todesfälle beim Drogenkonsum ereignen sich in Hannover ausschließlich außerhalb der Einrichtung. »Aber meistens sind andere Abhängige in der Nähe, wenn jemand in Not gerät, doch die wissen in den seltensten Fällen, was zu tun ist«, sagt Bapat. Die Kurse sollen dieses Wissen vermitteln. Wissen, das Leben retten kann. Text: Ulrich Matthias/Fotos: Jan Kräutle

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Als ich hörte, dass die Immobilie der Kinderheilanstalt in eine Obdachlosen-Unterkunft umgewandelt werden soll, sah nicht nur ich die Reaktionen der Bürgerinnen und Bürger des Zooviertels voraus. Was für ein Ansinnen für diese! Wertverlust der Immobilien, ein Treffpunkt der Trinker, Obdachlose, die die Bänke in Beschlag nehmen und die Umgebung verschmutzen und, ich zitiere: »Wie will die Stadt unsere Kinder schützen?« Das heißt im Klartext natürlich: die Kinder des Zooviertels, denn an jedem anderen Ort dürfen diese Menschen ja untergebracht werden. Meine Überlegung: Vielleicht sollte das Zooviertel eingezäunt werden. Da die Mütter ihre Kinder ohnehin im Auto bis vor die entsprechenden Schulen fahren, würden ihre Kinder nicht mehr Gefahr laufen, Obdachlosen begegnen zu müssen. Und am Samstag können diese Bürgerinnen und Bürger des Zooviertels zur Tafel fahren, und dort selbstlos und ehren­ amtlich etwas für die Bedürftigen tun, und sonntags natürlich zur Kirche gehen und Gott bitten, den Armen dieser Welt beizustehen. Ich überlege, ob ich nicht glücklich darüber sein sollte, im Waisenhaus und auf der Straße groß geworden zu sein. So habe ich doch wenigstens neben allen Entbehrungen auch Erbarmen, Hilfsbereitschaft und Güte kennen lernen können.

Karin Powser

Karin Powser lebte jahrelang auf der Straße, bevor ihr eine Fotokamera den Weg in ein würdevolleres Leben ermöglichte. Ihre Fotografien sind mittlerweile preisgekrönt. Durch ihre Fotos und mit ihrer Kolumne zeigt sie ihre ganz spezielle Sicht auf diese Welt.

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Das muss mal gesagt werden …

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GUT ZU WISSEN

Berater bei Energiefragen

Renditerechner für Aktiengeschäfte

In Niedersachsen haben in 2019 mehr als 6.200 Hauseigentümer eine Erstberatung zur Heizungsoptimierung und dem Einsatz erneuerbarer Energien in Anspruch genommen. Diese Erstberatungen werden überwiegend in einem Gemeinschaftsprojekt landesweit durchgeführt. Absoluter Renner waren die »Solar-Checks«: 4.300 Mal waren die BeraterIn­ nen zu diesem Thema vor Ort. Fragen zum Austausch und zur Optimierung der Heizungsanlage wollten knapp 1.800 Hauseigentümer beantwortet haben. Zusätzlicher Beratungsbedarf entsteht durch die neuen Förderprogramme des Bundes. Damit lassen sich 35 Prozent Kosten sparen, wenn Wärmepumpe und Solarkollektoren kombiniert werden. Für Gas- statt Ölheizung gibt es sogar 40 Prozent. In 25 niedersächsischen Landkreisen und fünf kreisfreien Städten von Aurich bis Wolfsburg gibt es die Beratungen, unter www.klimaschutz-niedersachsen.de kann man die örtlich zuständige Organisation finden. Einfach Postleitzahl eingeben. RED

Als Stellschraube für Vermögensaufbau, mithin Alterssicherung, gilt die Entscheidung, wie viel vom Ersparten relativ sicher, dafür aber wenig verzinst angelegt werden soll und welcher Teil in ertragsstärkere, riskantere Geldanlagen investiert werden kann. Die Verbraucherzentralen haben nun einen Renditerechner entwickelt, mit dem Sparer die für ihre Anlageentscheidung notwendigen Informationen über historische reale Renditen abrufen und verschiedene Entwicklungen vergleichen können. Verbraucher geben in den Rechner einen einmaligen Anlagebetrag oder eine monatliche Sparrate ein, wählen einen Anlagezeitraum und stellen das Mischungsverhältnis zwischen einer Anlage in Festgeld und einer breit gestreuten Anlage in Aktien ein. Im Ergebnis wird angezeigt, wie sich das Gesamtvermögen und die reale Rendite in der Vergangenheit über den gewählten Zeitraum entwickelt hätten. Außerdem erhalten Verbraucher Informationen über die im Auswertungszeitraum zwischenzeitlich geringsten und höchsten Wertverluste. Endvermögen und Renditen sind real, also inflationsbereinigt. Datengrundlage sind Daten vom 31.12.1969 bis zum 31.08.2018. Mehr unter: www.verbraucherzentrale-niedersachsen.de/renditerechner. RED

Asphalt verlost 3 x 2 Karten für den Jazz Club Hannover

Wohltemperierte Klangästhetik

iel

Gewinnsp

Foto: privat

Vor sechs Jahren hat sie mit »MaxSax« ihr erstes Album veröffentlicht. Seitdem schwimmt die Baritonsaxophonistin Tini Thomsen mit ihrem gleichnamigen Quintett auf der Welle des Erfolgs. Für große Aufmerksamkeit sorgte vor allem die neuartige hochenergetische Verbindung von Rock und Jazz, die musikalisch an die Foo Fighters oder Queens of the Stone Age erinnerte. Am 23. März kommt die Hamburgerin in den Jazz-Club Hannover. Mit im Gepäck: ihr drittes Album »Shift«, das in seiner Klangästhetik etwas nuancierter und wohltemperierter anmutet. Die Konzertbesucher können sich auf eine »subtile, leicht angeraute Funkyness«, die dem Sound des Quintetts aber keineswegs ihre immense Kraft raubt, freuen. Mehr Informationen zum Programm gibt es unter www.jazz-club.de. Gewinnen Sie mit Asphalt dreimal zwei Tickets für das Konzert mit Tini Thomsen am 23. März, um 20.30 Uhr, Am Lindener Berge 38 in Hannover. Rufen Sie uns dafür am 18. März zwischen 12 und 13 Uhr unter der Telefonnummer 0511 – 301269-18 an und beantworten folgende Frage: Das wievielte Album präsentiert Tini Thomsen im Jazz Club Hannover? Die ersten drei Anrufer mit der richtigen Antwort dürfen sich über die begehrten Tickets freuen.


2,20 EUR davon 1,10 EUR Verkäuferanteil

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Asphalt 3.0 Asphalt rettet Straßenzeitungsidee in Göttingen und Kassel – ›Fusion‹ im Sinne der VerkäuferInnen.

ASPHALT 03/20

RUND UM ASPHALT

24 GRENZGÄNGER DROGENHILFE

STERBEBEGLEITUNG

KÄSSMANN

Backstage: Impressionen aus dem »Stellwerk« Hannover.

Hospizarbeit: Im Vertrauen Abschied nehmen.

Auslandseinsätze: Ex-Bischöfin fordert Augenhöhe für Afrika.

2,20 EUR davon 1,10 EUR Verkäuferanteil

ESTEN

IM NORDW

03 20

READY FOR TAKE-OFF FLIEGERHORST

KÄSSMANN

STERBEBEGLEITUNG

Spatenstich: Ein neuer Stadtteil entsteht.

Interview: Ex-Bischöfin fordert Augenhöhe für Afrika.

Hospizarbeit: Im Vertrauen Abschied nehmen.

TagesSatz

Ausgabe 03/20

2,50 EUR

davon 1,25 EUR Verkäuferanteil

MUSEUM 2.0 FRIEDLAND

STERBEBEGLEITUNG

KÄSSMANN

Erinnerung: Landesregierung sagt Millionen zu.

Hospizarbeit: Im Vertrauen Abschied nehmen.

Interview: Ex-Bischöfin fordert Augenhöhe für Afrika.

Rund 50 arme und obdachlose Menschen verkauften bisher die Straßenzeitung TagesSatz in Göttingen und Kassel. Sie organisierten sich so im Rahmen der Hilfe zur Selbsthilfe Tagesstruktur, Kommunikation mit Kunden und Wertschätzung. Und verdienten sich zudem den einen oder anderen Euro hinzu. Ganz so wie unsere ›Asphalter‹. Der TagesSatz musste nun nach 25 Jahren aus finanziellen Gründen aufgeben. Die Februar-Ausgabe war die allerletzte. Das Prinzip und die Hilfe für die Verkäuferinnen und Verkäufer aber bleibt. Denn Asphalt – die »große Schwester« vom TagesSatz – springt von nun an ein. Asphalt gibt es bereits seit 1994 in einer Hannover- und seit 2015 zudem in einer Nordwest-Ausgabe. Einige Seiten der beiden Ausgaben sind dabei identisch, manche Teile aber sind als regionale Seiten ganz unterschiedlich. Damit sich Asphalt auch für jeden und jede LeserIn lohnt. Mit dieser Ausgabe erscheint nun auch Asphalt-TagesSatz nach diesem Prinzip: andere Veranstaltungstipps, andere Szenenachrichten, andere Lokalgeschichten, anderer Titel. Neben Asphalt, Asphalt-Nordwest nun also quasi Asphalt-Süd. »Der TagesSatz ist auf ehrenamtlicher Basis nur noch schwierig zu betreiben. Hinzu kamen finanzielle und personelle Turbulenzen im Verein, so dass wir gefragt wurden, ob wir bereit sind, die insgesamt ca. 50 Verkaufsplätze zu erhalten«, so Asphalt-Geschäftsführer Georg Rinke. »Auch wenn dies, da die finalen Entscheidungen erst kurzfristig getroffen werden konnten, sehr ambitioniert war, haben wir gesagt, das machen wir.« Eine Mitgliederversammlung des Vereins TagesSatz e.V., an dem auch einige der TagesSatz-VerkäuferInnen beteiligt sind, votierte Anfang Februar mit großer Mehrheit für die Rettungsmission durch Asphalt. »Durch mehrere Todesfälle, Umzüge und Veränderungen im Lebensplan fehlen starke Stützen des Vereins und daher haben wir dankbar das Angebot aus Hannover angenommen, zur großen Asphalt-Familie zu wechseln und zukünftig gemeinsam eine Asphalt-TagesSatz-Ausgabe zu produzieren. Wir hoffen, somit die rund 50 Verkaufsplätze in den beiden Städten zu sichern und unseren treuen Kunden weiterhin eine Lektüre zu bieten, mit der sie direkt helfen. Denn auch weiterhin bleiben 50 Prozent des Verkaufspreises direkt bei dem Verkäufer«, so Ute Kahle, stellvertretende Vorsitzende des Vereins. MAC

Impressum Herausgeber: Matthias Brodowy, Dr. Margot Käßmann, Rainer Müller-Brandes Gründungsherausgeber: Walter Lampe Geschäftsführung: Georg Rinke Redaktion: Volker Macke (Leitung), Grit Biele, Ute Kahle, Ulrich Matthias, Svea Müller Gestaltung: Maren Tewes Kolumnistin: Karin Powser Freie Autoren in dieser Ausgabe: J. Kohler, B. Pütter, W. Stelljes, A. Timmann, K. Zempel-Bley Anzeigen: Heike Meyer Verwaltung: Janne Birnstiel (Assistentin der Geschäftsführung), Heike Meyer

Vertrieb & Soziale Arbeit: Thomas Eichler (Leitung), Romana Bienert, Ute Kahle, Kai Niemann Asphalt gemeinnützige Verlags- und Vertriebsgesellschaft mbH Hallerstraße 3 (Hofgebäude) 30161 Hannover Telefon 0511 – 30 12 69-0 Fax 0511 – 30 12 69-15 Vertrieb Göttingen: Telefon 0551 – 531 14 62 Spendenkonto: Evangelische Bank eG IBAN: DE 35 5206 0410 0000 6022 30 BIC: GENODEF1EK1 redaktion@asphalt-magazin.de

vertrieb@asphalt-magazin.de goettingen@asphalt-magazin.de herausgeber@asphalt-magazin.de Online: www.asphalt-magazin.de www.facebook.com/AsphaltMagazin/ www.instagram.com/asphaltmagazin/ Druck: v. Stern’sche Druckerei, Lüneburg Druckauflage: Ø 26.500 Asphalt erscheint monatlich. Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 24. Februar 2020 Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte, Bilder und Bücher übernehmen wir keine Gewähr. Rücksendung nur, wenn Porto beigelegt wurde. Ad-

ressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte weitergegeben. Unsere vollständige Datenschutzerklärung finden Sie auf www.asphalt-magazin.de/impressum. Alternativ liegt diese zur Ansicht oder Mitnahme in unserer Geschäftsstelle aus. Gesellschafter:

H.I.o.B. e.V. Hannoversche Initiative obdachloser Bürger

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»VIELEN DANK« Aus dem Leben: Im Gespräch mit Asphalt-Verkäufer Martin (50). Martin, du verkaufst seit über 25 Jahren Asphalt. Dein letztes Verkäuferinterview liegt schon einige Jahre zurück. Was hat sich seitdem bei dir getan? Ganz aktuell: Ich bin seit sieben Tagen ohne festen Wohnsitz und auf der Straße. Meine Platte verrate ich aber nicht. Die ist warm und schwerzugänglich, die muss ich schützen. Die Männerwohnheime sind voll, da will ich auch nicht hin. Da gibts nur Probleme.

Wo hast du vorher gelebt? Im WG-Bereich einer psychiatrischen Wohnheimeinrichtung, seit sieben Jahren jetzt. Ich bin rausgeflogen wegen Haschkonsum, fristlos. Mir war das ja klar: Wenn sie mich beim Kiffen erwischen, fliege ich raus. Und nun ist es passiert. Jetzt wird es natürlich schwierig für mich, wieder irgendwo unterzukommen. Mit meiner Krankheit kriege ich nirgendwo eine Wohnung. Ich will das jetzt aber gar nicht so zur Krise werden lassen. Es bringt mir gar nichts, in Selbstmitleid zu versinken. Ich muss die Augen nach vorne richten. Das geht ja seit dreißig Jahren so, ich kenne das schon: Psychiatrie, Straße, Psychiatrie, Straße … Ich bin davon gekennzeichnet. Meine Krankheit sieht man mir ja auch an. Das ist quasi aussichtslos, an eine Wohnung zu kommen. Ich brauche jetzt mehr Glück als alles andere. Ansonsten habe ich keine Chancen, wieder irgendwie aufzusteigen.

Wechseln: Medikamente, wieder abgesetzt, gekifft, dann psychotisch geworden. Ich bin bis heute in Behandlung, kriege Medikamente, die dämpfen natürlich und machen müde. Man friert und schwitzt schneller. Nicht so gut für die Straße.

Was aber Bestand hat in deinem Leben ist der Asphalt-Verkauf. Dein halbes Leben lang verkaufst du schon. Ja. Das ist auch schön und gut, aber ich kriege den Absprung nicht mehr hin. Das ist mein Gnadenbrot. Durch den Verkauf komme ich nicht auf dumme Gedanken, habe soziale Kontakte, eine Tagesstruktur und ein paar Taler mehr. Entzug ist für mich, wenn ich nicht verkaufe. Ich kriege auch direkt Ärger von meinen Kunden, wenn ich mal länger nicht an meinem Platz zu finden bin. Dazu habe ich auch ein ganz wichtiges Anliegen! An alle meine Kunden aus den letzten 25 Jahren: vielen Dank für die langjährige Unterstützung! Danke an meine Kundinnen und Kunden, dass sie mir treugeblieben sind und es so lange mit mir aushalten. Viele meiner Kunden sind sehr krank. Letztens erst ist ein Kunde gestorben. Ich habe geheult wie ein Schlosshund. Das geht mir alles sehr nah und tut weh. Also: Danke an alle, dass ich sie kennen darf und diese tollen Kontakte habe!

Hast du noch andere soziale Kontakte? Eine Beziehung? Beziehungen hatte ich, aber keine konstante.

An welcher Krankheit leidest du?

Freunde?

Das ist eine Sucht-Psychose-Krankheit: Ich bin paranoid-halluzinatorisch-schizophren, drogeninduziert, also durch Cannabis-Konsum. Im Vordergrund steht aber die psychische Krankheit. Ich hätte auch ohne die Sucht Psychosen bekommen. Ich selbst merke gar nicht, wenn sie kommen. Ich habe keine Krankheitseinsicht in den Momenten. Es war aber schon gut, dass die Krankheit so früh ausgebrochen ist und nicht später, wenn ich mir vielleicht schon eine Familie und sonst was aufgebaut hätte – dann wäre der Absturz noch viel größer gewesen.

Sieht schlecht aus. Das sind eher Bekannte, die ich habe.

Du kennst deine Erkrankung seit vielen Jahren. Hast du mit der Zeit Wege gefunden, besser damit umzugehen? Ich kann mittlerweile schneller wieder zurückpendeln, bevor es richtig ausbricht und auch gefährlich wird. Da habe ich schon Strategien, da helfen mir aber auch die Medikamente.

Und du hast schon mehrfach auf der Straße gelebt? Das geht so seit ich 13 bin. Seit 1986 habe ich wiederkehrend mit meiner psychischen Erkrankung zu kämpfen. Mein ganzes Leben spielt sich ab zwischen Obdachlosigkeit, Männerwohnheim, Psychiatrie. Zwischendrin habe ich aber mal neun Jahre in Pattensen gewohnt. Insgesamt war es aber ein ständiges

Was ist mit deiner Familie? Kontakt habe ich nur zu meiner Ma.

Du hast Asphalt als dein Gnadenbrot bezeichnet. Hast du keine Hoffnung mehr, dass sich deine Lebensumstände noch mal verbessern? Warten wir mal ab, vielleicht tut mir die Straße ja sogar besser, als wenn ich jetzt dageblieben wäre. Ich hatte ohnehin schon Angst, da nicht mehr rauszukommen und nicht mehr selbstständig klarkommen zu können. Mal sehen, wie ich jetzt so auf der Straße abschneide. Geht es jetzt um die Wohnungssuche, ist es doch aber auch so: Die Leute brauchen nur mein Äußeres zu sehen und dann wissen sie Bescheid – vielleicht nicht, dass ich psychisch krank bin, aber man sieht schon, dass ich irgendwie Drogen nehme und dann kriege ich keine Wohnung.

Wer weiß, Martin, vielleicht liest das ja jetzt genau die oder der Richtige … Das wäre mehr als ein Sechser im Lotto! Interview und Foto: Svea Müller


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Martin verkauft Asphalt auf dem Ernst-August-Platz vor dem Hauptbahnhof Hannover – nahe des »singenden« Gullis – und freitags auf dem Wochenmarkt am Fiedelerplatz im Stadtteil Döhren.


RUND UM ASPHALT

96-Verlos

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Fußballfans aufgepasst! Jede Unterstützung ist wichtig. Deshalb verlosen Asphalt und Hannover 96 wieder gemeinsam 2 x 2 Karten für ein Top-Heimspiel der zweiten Bundesliga. Am 30. Spieltag (19. April) geht es für den Club gegen die Württemberger:

Hannover 96 – 1. FC Heidenheim 1846 Wer uns einfach eine Karte, eine E-Mail oder ein Fax mit dem Stichwort »96« schickt, der hat die Chance auf zwei Karten in Block S 4! Wir drücken ganz fest die Daumen und wünschen viel Glück! Asphalt-Magazin, Hallerstr. 3 (Hofgebäude), 30161 Hannover; gewinne@asphalt-magazin.de oder Fax: 0511 – 301269-15. Einsendeschluss: 31. März 2020.

Kommen Sie mit – zum sozialen Stadtrundgang! An jedem letzten Freitag im Monat findet ein offener Stadtrundgang statt. Nächster Termin: 27. März 2020, 15 Uhr. Treffpunkt: Asphalt, Hallerstr. 3, 30161 Hannover. Bitte anmelden unter: 0511 – 301269-20. Teilnahme auf Spendenbasis: ab 5 Euro pro Person. Gruppen verein­ baren bitte gesonderte Termine!

Foto: V. Macke

Karten für 96!

Asphalt-Strikes Pins, Kugeln, gute Laune: Für sportliche Fitness und Gemeinschaft waren Asphalt-Verkäuferinnen und -Verkäufer in der Bowling World zu Gast. Dabeisein war alles, überschießender Ehrgeiz fehl am Platz. Gleichwohl: So mancher Asphalter hat im Laufe der vergangenen Jahre, in denen Asphalt dankenswerterweise aus Spenden regelmäßig Bowling-Besuche möglich machen konnte, den fachgerechten Umgang mit der Kugel trainiert. Der oder die eine oder andere erreichte pro Durchgang 120 Punkte, einigen gelangen sogar so viele Strikes und Spares, dass am Ende 150 Punkte auf der Anzeigetafel standen. MAC

Machen Sie bei uns mit! Die Runde der Ehrenamt­lichen trifft sich an jedem letzten Dienstag im Monat in den hannoverschen Asphalt-Redaktionsräumen. Da werden Veranstaltungen organisiert, Info-Stände geplant und Ideen gesammelt, um die Arbeit von Asphalt engagiert zu unterstützen. Besonders für unsere Asphalt-Verkäuferinnen und -Verkäufer ist es wichtig zu spüren, dass viele Menschen hinter ihnen stehen. Wir freuen uns, wenn Sie sich dieser lebendigen Runde anschließen möchten! Rufen Sie uns einfach vorher an: 0511 – 30 12 69-0. Das nächste Treffen ist am Dienstag, 31. März, um 17 Uhr.

gesucht – gefunden Verkäufer Jens: Ich suche eine bezahlbare Wohnung bis 50 m2 in Hannover. Möglichst ab sofort. [V-Nr. 2093] Kontakt: 01520 – 7049105. Verkäuferin Simone: Liebe Kundinnen und Kunden, aus gesundheitlichen Gründen kann ich vorübergehend nur noch samstags Asphalt verkaufen. [V-Nr. 2334]

Verkäuferausweise Bitte kaufen Sie Asphalt nur bei VerkäuferInnen mit gültigem Ausweis! Zurzeit gültige Ausweisfarbe (Region Hannover): Hell-Orange


ASPHALT 03/20

Im März ist Asphalt-Tag! Wie an jedem Freitag, den 13. Das hat Tradition. Ein Schmankerl für die ganze Asphalt-Familie und alle, die uns wohlgesonnen sind. Diesmal jedoch in einem besonderen Rahmen: Die ehemalige Landesbischöfin und jetzige Asphalt-Mitherausgeberin Margot Käßmann kehrt an ihre alte Wirkungsstätte zurück und wird in der Marktkirche Hannover ihr neues Buch vorstellen. Für einen guten Zweck. Die Einnahmen kommen Asphalt zugute. Aber auch dem Hospiz Luise. Die katholische Einrichtung feierte 2019 ebenfalls ihr 25-jähriges Bestehen. Den offiziellen Abschluss seiner Feierlichkeiten begeht Asphalt gemeinsam mit einer Weggefährtin, die auch von der Straße kommt. Träger des Hospizes Luise sind die Vinzentinerinnen von Hildesheim, deren Gemeinschaft auf das Wirken

Foto: Clemens Heidrich

er 13., Freitag, d -Tag der

des Hl. Vinzent von Paul zurückgeht. Der französische Priester kümmerte sich um Menschen in größter Not. Um Bettler und Gebrechliche, Findelkinder und Geisteskranke. 1617 gründete er eine karitative Frauengemeinschaft, in der Louise de Marillac – die Namensgeberin des Hospizes – zu seiner engen Mitarbeiterin wurde. Ihren Dienst verrichteten sie auf den Straßen der Stadt. Angesichts dieses Ursprungs war Asphalt gern bereit, seinen Freitag den 13. für eine gemeinsame Benefiz-Veranstaltung zu öffnen. Neben der Lesung von Margot Käßmann, die in zwei Teilen stattfinden wird, sind noch einige Überraschungen geplant. Die musikalische Begleitung liefert Büttners Best Choice (BBC) und der Jazzchor After Six. Zum Ausklang gibt es stilgerecht Wasser und Brot. GB/UM Freitag, der 13. März 2020 18 - 20 Uhr (Einlass ab 17 Uhr) Marktkirche Hannover Hanns-Lilje-Platz 2, 30159 Hannover Eintritt frei, um Spenden wird gebeten!

Foto: Helge Krueckeberg

Benefiz mit Margot Käßmann

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»Asphalt gibt Menschen Würde« Tina Voß, Unternehmerin »Etwas Gutes und Sinnvolles zu tun, ist so leicht: Einfach eine Ausgabe unseres Straßenmagazins Asphalt kaufen! Das Projekt gibt den Menschen Würde, denn wir erwerben eine journalistisch gut gemachte Zeitung und helfen Menschen, die sich Dank der Mitarbeit bei Asphalt Stück für Stück in ein besseres Leben kämpfen. Ich kaufe immer eine Ausgabe, wenn ich einen Verkäufer entdecke.«

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regelmäßige seine Arbeit ohne … dass Asphalt e finanziert? chliche Zuschüss öffentliche und kir enerlösen sind aufs- und Anzeig Neben den Verk Förderer die rer Freunde und die Spenden unse ierung. nz zur Gesamtfina wichtigste Stütze ende: indung für Ihre Sp Unsere Bankverb Asphalt-Magazin 30 0410 0000 6022 IBAN: DE35 5206 EK1 BIC: GENODEF1 nk Evangelische Ba ck: Perspektiven Verwendungszwe

… mehr als eine gute Zeitung!

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NACHGEFRAGT – ASPHALTER ÜBER

»STOLZ«

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Als ich neu bei Asphalt war, kam ich mir vor wie ein Bettler. Ich musste mich erst daran gewöhnen, mit der Zeitung in der Hand dazustehen. Heute weiß ich: Ich bettle nicht, ich bin Verkäufer! Ich bin stolz darauf, dass ich meine Unsicherheit überwunden habe und auch darauf, dass ich mich zurück in die Gesellschaft gekämpft und was erreicht habe, wieder zu etwas nütze bin! Es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich keinen Stolz empfunden habe – als ich schwer alkoholabhängig war. Ich hatte mich vernachlässigt und habe zu nichts mehr getaugt. Meinen Lebensmut und meinen Stolz hatte ich verloren. Dann habe ich mein Leben wieder angepackt und meine Sucht bekämpft. Heute habe ich meinen Lebensmut zurück und bin sehr stolz darauf, schon viele Jahre trocken zu sein, auch wieder selbstständig in einer kleinen Wohnung leben zu können. Ich bin Herr über mein Leben und habe mir meinen Stolz Stück für Stück zurückerobert.«

Klaus (61) verkauft seit sechs Jahren Asphalt.


Michael (42) verkauft seit einem Jahr Asphalt.

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Stolz bin ich vor allem darauf, dass ich meinen Sohn alleine großgezogen habe. Das war nicht meine Absicht, aber so waren die Gegebenheiten und ich musste damit umgehen. Glücklicherweise hatte ich meine Eltern, meinen Bruder und auch einen Freund von der Uni im Hintergrund, die mich unterstützt haben. Ich bin aber auch stolz darauf, dass ich in der Vergangenheit nicht zu stolz war, Hilfe anzunehmen. Das ist für mich nämlich negativer Stolz, wenn man sich durch den eigenen Stolz Wege verbaut. Ich habe mir von meiner Familie helfen lassen, als ich alleinerziehend war und auch, als ich von Obdachlosigkeit bedroht war, weil mein Sohn und ich unsere Wohnung verloren und noch keine neue hatten. Außerdem erfüllt es mich mit Stolz, dass ich schon seit 14 Jahren Asphalt verkaufe. So eine Beständigkeit habe ich vor Asphalt, in meinem früheren Berufsleben, nicht gekannt. Von meinen Erfahrungen ausgehend würde ich sagen, dass man sich seinen Stolz erarbeiten muss. Einen Stolz hat man, wenn man stolz auf etwas sein kann, mit Stolz auf das, was man gemacht hat, die eigenen Erfolge, zurückblicken kann.«

Tina (62) verkauft seit vierzehn Jahren Asphalt.

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Vor einigen Jahren, als ich ganz unten war und mit Mailo im Wartebereich vom Flughafen schlafen musste, weil wir kein Zuhause mehr hatten, war mein Stolz komplett weg. Dafür hatte ich einen falschen Stolz entwickelt und dachte immer, dass ich es irgendwie noch alleine schaffe, das Ruder wieder rumzureißen. Irgendwann war ich aber so am Ende, dass ich auf einer Brücke stand und springen wollte. An dem Punkt hat etwas »klick« in meinem Kopf gemacht und ich habe mich für den anderen Weg entschieden: Ich bin runter von der Brücke, habe meinen falschen Stolz abgelegt und mich endlich meiner Mutter anvertraut und sie um Unterstützung gebeten, denn auch finanzielle Hilfen von offiziellen Stellen oder Gespräche mit Sozialarbeitern ersetzen keine Familie. Heute bin ich froh und auch stolz, dass ich es so gemacht habe. Ich bin außerdem stolz darauf, dass ich mittlerweile zu meiner Erkrankung, den Depressionen, stehen kann. Das musste ich erst lernen. Heute kann ich mich – zumindest meistens – so nehmen, wie ich bin.«

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Es gibt zwei Arten von Stolz: den positiven und den negativen Stolz. Positiver Stolz ist für mich, wenn man das, was man sich vorgenommen hat, erreicht und dafür anerkannt wird, wenn man auf etwas stolz sein kann. Negativer Stolz ist, wenn man hochnäsig erscheint, herablassend zu anderen ist. Einen gesundenden Stolz zu haben, der sich nicht negativ auf das Umfeld auswirkt, steht für mich für Charakterstärke. Man muss sich im Leben immer wieder behaupten und wenn man weiß, worauf man stolz sein kann, gibt das Selbstvertrauen und damit Stärke. Seit ich Asphalt verkaufe, bin ich ein Stück selbstbewusster geworden – und somit auch stolzer auf das, was ich schaffe.«

Simone (53) verkauft seit einem halben Jahr Asphalt.

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Selbst wenn ich gar nichts mehr hätte, Betteln wäre das Letzte, was ich machen würde. Dann noch eher Flaschen sammeln. Ich bin stolz auf das, was ich bis heute erreicht habe: meine gefestigte Lebenssituation, meine vielen sozialen Kontakte und meine langjährige Verkäufertätigkeit. Nicht zu vergessen, dass ich regelmäßig als einer von vier Asphalt-Stadtführern Gruppen durch Hannover führe und ihnen die dunklen Seiten der Stadt, die sozialen Brennpunkte, zeige und erkläre. Ich war selbst mal ganz unten, fast 15 Jahre ohne feste Wohnung, und habe mich Stück für Stück saniert. Darauf bin ich stolz. Asphalt zu verkaufen, macht mich stolz und es bewahrt meinen Stolz, denn ich kann mir so etwas mit Würde dazuverdienen. Meine sozialen Kontakte habe ich dem Asphalt-Verkauf zu verdanken – und freue mich darüber jeden Tag.«

Thomas (51) verkauft seit zwanzig Jahren Asphalt.

Umfrage und Fotos: Svea Müller


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Ich bin ein stolzes Wesen, Löwe vom Sternzeichen, auch im Aszendenten, was viel Gegensätzliches mit sich bringt. Es gab Phasen in meinem Leben, in denen stand mein Stolz nicht an erster Stelle für mich – als ich auf der Straße schlafen musste. Nichtsdestotrotz war es mir immer sehr wichtig, mich gepflegt und adrett in der Gesellschaft zu bewegen. Denn: Nichts ist schlimmer als verachtende Blicke anderer Menschen. Stolz bin ich u. a. darauf, dass ich heute ein gutes Englisch spreche. In der Schule hatte ich gar nichts verstanden, was aber der Lehrerin anzulasten war. Unsere Mutter hatte damals in den 70ern schon verstanden, dass diese Sprache für die Zukunft sehr wichtig sein wird. So schickte sie uns Kinder zur Englischnachhilfe. Schwupps kam der erste Computer – »Mikrosoffte«, sagte man damals noch oder »C64«, was einfacher war. Und schon musste Mann/Frau Englisch können. Heute habe ich durch Eigeninitiative so viel der englischen Sprache gelernt, dass ich Asphalt-Interessierten auch auf Englisch die unschönen Seiten der Stadt, die der Wohnungslosenszene, erklären kann. Kommen Sie mit auf einen Stadtrundgang mit anderem Blickwinkel, den sozialen Stadtrundgang von Asphalt. Gern auch auf Englisch. Und: Danke Mama!«

Thomas (49) verkauft seit vier Jahren Asphalt.


BUCHTIPPS Unter Grünen Um mal außen anzufangen: Ein schwarzweißes Kinderfoto aus der Kategorie »Mach noch mal eins«, ein anekdotischer Titel und ein Werbesticker des Verlags: »Vom Schöpfer des Maulwurfn«. Mit ebenjenem wortkargen »Maulwurfn« mit Dreipunktbinde und schrecklichem Sprachfehler brachte der Puppenspieler Marik über Jahre Säle zum Ausrasten. Autschn. 2008 erhielt er den Prix Pantheon. Doch die Fährte zur Alte-BRD-Geschichte um Schlaghosen, Bonanza-Räder und florale Tapetenmuster trügt. Mariks autobiografischer Roman einer Kindheit im Westerwald als Sohn eines prügelnden Vaters und einer hilflosen Mutter ist beklemmend. Marik erzählt eine Kindheit zwischen saufenden Soldaten – der Vater führt eine Bundeswehrkantine, für die sich die Mutter aufreibt – in der Tristesse, im Elend der Provinz. Die beschwiegenen privaten Katastrophen und die öffentlichen – die Sache mit dem Bagger – sind so genau, geradeaus und unprätentiös erzählt, dass man staunt. Dass das alles auch noch nicht ansatzweise eine Abrechnung ist, sondern getragen von Empathie, ja Liebe, lässt einen sprachlos zurück. Ein tolles Buch. BP René Marik | Wie einmal ein Bagger auf mich fiel. Eine Provinzjugend | Droemer Knaur | 240 S. | 14,99 Euro

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Falsche Freunde

Wohnglück + 13.85O Wohnungen + Durchschnittskaltmiete von 5,66 pro m2 + über 7O% geförderter Wohnraum + nachhaltige Entwicklung der Stadt + ein Herz für unsere Mieterinnen & Mieter

hanova.de

Die arbeitenden Klassen sind unter Verdacht. JournalistInnen besuchen den Rust Belt, die britische Peripherie oder die Lausitz, um zu erfahren, woher die vermeintliche Begeisterung der »einfachen Leute« für rechte Schließungsideologien kommt. Gleichzeitig konkurrieren wissenschaftliche Erklärungsmodelle für den Aufstieg des Rechtspopulismus. Robert Misik durchschreitet in seinem analytisch scharfen und dabei wie von einem Wärmestrom durchzogenen Essay die Geschichte der Formierung und des Aufstiegs der arbeitenden Klassen, die als »die Armen« begannen, eine stolze Geschichte als historisches Subjekt durchlebten und nach dem Zweiten Weltkrieg fast deckungsgleich mit dem »Volk« wurden. Und er beschreibt die Abstiegserfahrungen und die Atomisierung jahrzehntelang stabiler Milieus – inklusive der Abwertung ihrer Lebensstile. In einem entschlossenen »sowohl als auch« integriert er ökonomische und kulturelle Erklärungsmodelle, ohne Alleinschuldige in den Globalisierungseliten oder der Identitätspolitik zu finden. Eine konstruktive, empathische Analyse der Bruch­ linien und der Dilemmata der postindustriellen Gesellschaften. BP Robert Misik | Die falschen Freunde der einfachen Leute | Suhrkamp | 138 S. | 14 Euro


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KULTURTIPPS Konzert

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Foto: Ilya Melnikov

Auf der Grundlage des Jazz als weltoffene Kunstform begibt sich das Klaus Spencker Trio auf musikalische Entdeckungsreisen, in denen Folk, Blues und zeitgenössischer Jazz zu Klangbildern und Geschichten verschmelzen. Als improvisierende Künstler schaffen die drei Musiker mit ihrer aktuellen CD »Crossing Borders« eine eigenständige Klangwelt, die dem Publikum ein nachhaltiges Hörerlebnis verspricht. Dabei steht Crossing Borders für das Überwinden innerer und äußerer Grenzen, für musikalische Wagnisse, bei denen stilistische Trennungslinien bewusst übertreten werden. Sonntag, 15. März, 18 Uhr, Tonhalle Hannover, Fischerstraße 1A, Hannover, Eintritt 15 Euro, VVK 12,50 Euro, erm. 10 Euro.

Instrumental-Post-Rock Lorimer Burst klingt unerwartet, mysteriös, faszinierend. Von Gitarrist Dennis Schruhl und Schlagzeuger Arne Grosser gegründet, und schon bald durch Bassist Matthieu Fabien verstärkt, entführt die Instrumental-Post-Rock-Band aus Hannover ihr Publikum in andere Sphären. Eingängig prägnante Melodien leiten kraftvolle und wütende Passagen ein, die den Hörer auf eine abwechslungsreiche Reise durch den Orbit mitnehmen. Mittwoch, 25. März, Einlass 21 Uhr, Beginn 21.30 Uhr, Kulturfabrik Löseke, Club VEB, Langer Garten 1, Hildesheim, Eintritt frei.

Klezmer-Punk aus Israel Sie vermischen Klezmer und Polka mit Punk. Und spielen satirisch-böse mit Musikgenres und Klischees. Wo The Jewish Monkeys auftreten, wird es wild, frech und überraschend. Ihre neo-jiddische Klangfusion pendelt zwischen zirkushaftem Chanson und punkig-energetischem Pop. Die Sprache pendelt zwischen Englisch und Jiddisch. Das Publikum bringt die Band aus Tel Aviv so gut wie immer zum Tanzen. Während die Musiker schon früher bewiesen haben, dass sich jiddische Gassenhauer gut mit Ska-Rhythmen vertragen, kommen auf dem neuen Album noch Afrobeat, Reggae, Funk-Licks, schreddernde Gitarren und eine Dosis Balkania hinzu. Donnerstag, 19. März, Einlass 20 Uhr, Beginn 21 Uhr, Café Glocksee, Glockseestraße 35 (Hinterhof), Hannover, Eintritt VVK 12 Euro plus Gebühren, Abendkasse 14 Euro.


Bühne

Foto: Zirkus Charles Knie

Ungesagtes und Unsägliches

Sonstiges

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Gewinnsp

Klimakatastrophen, Terrorgefahr, Flüchtlingskrise, Rechtsdruck, Altersarmut, Antisemitismus, Werteverfall und vieles mehr. Wie kann man da weiterleben und trotzdem Humor bewahren? Oder das alles auf eine Bühne bringen, ohne den zeitlichen Rahmen zu sprengen? Die Theaterinitiative Bühnensturm wagt es und stellt sich den brennenden Themen – sozusagen im Losverfahren. In kleinen Szenen, mit Toneinspielungen, Gedichten, u.a. von Asphalt-Verkäufer HaDe, und viel Musik nähert sie sich den täglichen Katastrophen und wappnet sich gegen Höhen­ ängste, Schulängste, Abstiegsängste und mehr. Ein satirischer Theaterabend, unterhaltsam, erhellend und bestenfalls ermutigend. Mittwoch, 11. März, 19.30 Uhr, Altes Magazin, Kestnerstraße 18, Hannover, Tickets gibt’s unter ti-buehnensturm@web.de und telefonisch unter 0175 – 5902837, Eintritt 14 Euro, erm. 10 Euro.

Asphalt verlost 10 x 2 Karten für Zirkus Charles Knie

Manege frei Große Unterhaltung für Jung und Alt, Klein und Groß. Dabei selbst jung und modern mit vielen Gags und Überraschungen – Zirkus Charles Knie macht Halt in Hannover, um das Publikum mit seinem international besetzten Ensemble zu verzaubern. Mit einem Programm der Kontraste – zwischen waghalsiger Stuntakrobatik und poetischen Momenten. Mit riskanten Manövern in der Motorradkugel »Splitting Globe« sowie eindrucksvollen Figuren, dargeboten mit Kraft und Eleganz an den Strapaten. Mit Clown Gino, Tierlehrer Alexander Lacy, einer bunten Mischung hauseigener und exotischer Tiere und vielen mehr. Für einen artistischen Abend voller Spannung, Nervenkitzel und Humor können Sie mit Asphalt 10 x 2 Karten für die Vorstellung am 18. März um 19.30 Uhr gewinnen. Rufen Sie uns dafür am 16. März zwischen 12 und 13 Uhr unter der Telefonnummer 0511 – 301269-18 an und beantworten folgende Frage: Wie heißt der Clown vom Zirkus Charles Knie? Die ersten zehn Anrufer mit der richtigen Antwort dürfen sich über die Tickets und einen tollen Abend in der Manege freuen. Mittwoch, 18. März, bis Sonntag, 29. März, jeweils 16 Uhr und 19.30 Uhr, sonntags 11 Uhr und 15 Uhr, mittwochs Familienvorstellung 16 Uhr, Schützenplatz, Bruchmeisterallee 1A, Hannover, Eintritt für Erwachsene 15 bis 36 Euro, für Kinder 12 bis 31 Euro.

Tragikomisches Musik-Kabarett In ihrem Programm fragen Regine Sengebusch und Mareike Engel nach dem alles entscheidenden Warum: Warum bleibt der Mensch meist hinter seinen Möglichkeiten zurück? Warum sind andere stets einen Schritt voraus? Diesen und anderen Fragen nähern sich die beiden mit lebensnahen Geschichten aus der norddeutschen Tiefebene und lernpsychologischen Analysen der Sesamstraße. Dabei addieren sie ihre Lebenserfahrungen, teilen ihre Laster durch den größtmöglichen Nenner und runden die Träume nach oben auf. Dem Ensemble gelingt der Blick auf die verborgenen Wahrheiten, die hinter den persönlichen Dramen liegen. Sie durchziehen ihn mit feinem Humor und untermalen ihn mit selbstgeschriebenen Songs, einem Mix aus Blues, Country, Chanson und Schlager. Freitag, 20. März, 20 Uhr, die hinterbuehne, Hildesheimer Straße 39a, Hannover, Eintritt 17 Euro, erm. 12 Euro.


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Ausstellung Staying Inside Paloma Riewes großformatige Installationen wirken wie Raumausschnitte – hervorgegangen aus ihren Zeichnungen und in die Realität geworfen. Ihre fragilen Kulissen entstehen aus offengelegten Materialstrukturen. Auch in den bildhauerischen Arbeiten sowie den Zeichnungen ist das Unvollständige, Skizzenhafte ein wiederkehrendes Motiv. Mit schnellen, dynamischen Strichen wird das Dargestellte nur angedeutet oder bewusst vor der Fertigstellung beendet. Eine besondere Bedeutung erhalten das Vergängliche und Abwesende. Freitag, 06. März, 19 Uhr, Ausstellungseröffnung, Ausstellung ab Samstag, 07. März, bis Sonntag, 05. April, donnerstags bis sonntags von 14 bis 18 Uhr und zu den Konzerten, Schloss Landestrost, Schlossstraße 1, Neustadt am Rbge., Eintritt frei.

Am Lindener Berge 38 30449 Hannover · Telefon 45 44 55 www.jazz-club.de

MÄRZ 2020 Mittwoch, 04. März Jazz Club by Gartenheim JOSCHO STEPHAN TRIO FEAT. BIRÉLI LAGRÈNE Eintritt: 25 Euro/erm. 15 Euro

Für Kinder

Donnerstag, 05. März ELMAR BRASS TRIO Eintritt: 25 Euro/erm. 15 Euro

Peterchens Mondfahrt

Sonntag, 08. März VIKTORIA TOLSTOY Eintritt: 25 Euro/erm. 15 Euro

Maikäfer Sumsemann hat nur fünf Beinchen. Das Sechste hat die schöne Nachtfee auf den Mond gezaubert. Gemeinsam mit den Geschwistern Anneliese und Peterchen begibt er sich auf eine abenteuerliche Reise zum Mond, um das Beinchen zurückzuholen. Dabei begegnen sie allerlei seltsamen Gestalten: dem Sandmann, dem großen Bären, den Sternenkindern und auch dem Weihnachtsmann. Sie alle helfen den Freunden, denn der Mondmann will das Beinchen auf keinen Fall herausgeben. Für Kinder ab drei Jahren. Dienstag, 10. März, 10.30 Uhr, Freizeitheim Vahrenwald, Vahrenwalder Straße 92, Hannover, Eintritt 5 Euro, Erwachsene mit AktivPass 2,50 Euro, Kinder mit AktivPass frei.

Wunderbares Murmiland Mit Bausteinen und Brettchen, Pappe und Papier hat Ortwin Grüttner schon als Kind und Jugendlicher Murmelbahnen gebaut. Die längste von über 60 Bahnen ist 25 Meter lang. Anlässlich des 30-jährigen Jubiläums von Murmiland lädt das Stadtteilzentrum Ricklingen zu einer einzigartigen Geburtstagsfeier mit vielen dieser Murmelbahnkunstwerken ein. Dann verwandelt sich der Fritz-Haake-Saal in ein wahres Murmelparadies, in dem gestaunt, gerollt und gespielt werden kann. Ausstellungseröffnung ist am 24. März um 17 Uhr. Mittwoch, 25. März, bis Dienstag, 14. April, täglich von 12 bis 19 Uhr, sonntags 10 bis 18 Uhr, 09. April bis 22 Uhr, Karfreitag geschlossen, Ostern 10 bis 18 Uhr, Stadtteilzentrum Ricklingen, Ricklinger Stadtweg 1, Hannover, Eintritt Erwachsene 5 Euro, Kinder 3 Euro, Familien mit Kindern bis 16 Jahre 10 Euro.

Donnerstag, 12. März RAY ANDERSON'S POCKET BRASS BAND Eintritt: 25 Euro/erm. 15 Euro Freitag, 13. März HARRIET LEWIS & GREGOR HILDEN ORGAN TRIO Eintritt: 25 Euro/erm. 15 Euro Donnerstag, 19. März HAILEY TUCK Eintritt: 25 Euro/erm. 15 Euro Freitag, 20. März FRED WESLEY TRIO Eintritt: 25 Euro/erm. 15 Euro Montag, 23. März TINI THOMSEN Eintritt: 25 Euro/erm. 15 Euro Donnerstag, 26. März CARO JOSÉE Eintritt: 25 Euro/erm. 15 Euro Freitag, 27. März TRIO ELF Eintritt: 25 Euro/erm. 15 Euro Konzertbeginn jeweils um 20.30 Uhr, Einlass ab 19.30 Uhr

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SILBENRÄTSEL Aus den nachfolgenden Silben sind 21 Wörter zu bilden, deren erste und vierte Buchstaben – jeweils von oben nach unten gelesen – ein Zitat von Ambrosius, Kirchenvater der Spätantike, ergeben: ahr – bee – bel – bert – bi – brom – ca – da – dae – di – ei – el – ent – ere – for – gra – ha – hard – he – hei – in – ira – ire – keit – keit – ker – la – ler – lip – mach – mark – mem – na – na – ne – ne – ne – ne - nig – on – ran – re – re – rein – rek – reo – scher – se – sen – ser – si – skop – spray – ste – te – ten – ti – ton – tor – tri – wei

1. Leiter einer Anstalt 2. Ergebnis nach einem Streit 3, Mädchenname 4. Medizin für ein Atmungsorgan 5. die Herrschaft nehmen 6. Teil von Bad Neuenahr 7. Zeugen Jehovas 8. optisches Gerät

Unter den Einsendern der richtigen Lösung verlosen wir dreimal den Roman »Neujahr« von Juli Zeh. Lanzarote, am Neujahrsmorgen: Henning bezwingt mit dem Fahrrad den Steilaufstieg nach Femés und lässt dabei seine Lebenssituation Revue passieren. Er war als Kind schon einmal hier. Damals hatte sich etwas so Schreckliches zugetragen, dass er es bis heute verdrängt hat. Er begreift: Was seinerzeit geschah, verfolgt ihn bis heute. Ebenfalls dreimal können Sie den Roman »Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner« von Omer Meir Wellber gewinnen. Im Alter von 108 Jahren beschließt Chaim Birkner zurück nach Ungarn zu gehen. Dort wuchs er auf mit der Nachbarin Lion, dem gelben Baum, den schmutzigen Geschäften seines Vaters ... 1944 kam er nach Israel und seitdem lügt er sich durchs Leben, geht allem und jedem aus dem Weg. Das Kinderbuch »Pit und Pelle gehen einkaufen« von Stefanie Schütz und Susanne Göhlich gibt es dreimal zu gewinnen. Pit und Pelle übernehmen den Einkauf fürs Abendessen. Mit Papas Einkaufszettel ziehen sie los. Als sie fertig sind, kommt noch in den Einkaufswagen, was Papa vergessen hat aufzuschreiben. Schokoflakes zum Beispiel. Und kleine Würstchen im Glas. Lakritz und Puddingpulver und jede Menge anderer nützlicher Dinge ... Die Lösung des Februar-Rätsels lautet: Zweihundertfünfzigstes Silbenrätsel Das Silbenrätsel schrieb für Sie Ursula Gensch. Die Lösung (ggf. mit Angabe Ihres Wunschgewinnes) bitte an: Asphalt-Magazin, Hallerstraße 3 (Hofgebäude), 30161 Hannover; Fax: 0511 – 30 12 69-15. E-Mail: gewinne@asphalt-magazin.de. Einsendeschluss: 31. März 2020. Bitte vergessen Sie Ihre Absenderadresse nicht! Viel Glück!

9. Bewohner eines Staates in Nahost 10. Weichkäse aus der Normandie 11. angegriffene Stimme 12. Hauptstadt vom Iran 13. geometrische Figur 14. Jungenname 15. Alarmgerät 16. Gewichtseinheit 17. spanische Provinz 18. Einatmen von Heilmitteln 19. Pflanze mit essbaren Früchten 20. Schiff im Altertum 21. Staat im Norden Europas


Foto: Tomas Rodriguez

n f u a t n Mome

Es ist bestimmt schon 20 Jahre her: In der Fußgängerzone saß ein Mann zwischen den Geschäften auf einem Klappstuhl, eine Thermoskanne neben sich und vor sich ausgebreitet kleine Heftchen. DIN A4-Blätter, in der Mitte gefaltet, offensichtlich kopiert und zum Verkauf feilgeboten. Auf dem Deckblatt stand: »Lyrik eines Landstreichers«. Eine Sammlung selbstverfasster Poesie aus einem ganz speziellen Blickwinkel. Das Heft kostete ungefähr zwei Mark. Daneben ein Schild mit dem Hinweis, er wolle nicht betteln, sondern sich mit dieser eigenen Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen. Mich hat das berührt. Und ich habe diese Begegnung aus einem anderen Grund nicht vergessen: Ich wollte unbedingt so ein Heftchen haben, hatte aber überhaupt kein Geld dabei, musste erst zur Bank und noch etwas erledigen. Als ich eine halbe Stunde später zurückkam, war er weg. Und ich habe mich über mich selbst geärgert. Mich hat diese Lyrik eines Landstreichers angesprochen und irritiert. Ein längst vergessenes Wort: Landstreicher! Als wäre man auf frei gewählter dauernder Wanderschaft durch Wald und Wiesen. War dieser Lebensstil wirklich selbst so ausgesucht? Irgendwie steckt in dem Wort »Landstreicher« ein Hauch von romantisierender Freiheit drin. Und der »Clochard« wäre dann das städtische Pendant dazu. Aber hat das etwas mit der Wirklichkeit zu tun? Es tauchten so viele Fragen in mir auf. Ich hätte mich gerne mit ihm unterhalten. Niemand kann sich wirklich in die Lage hineinversetzen, wie es ist, kein Dach über dem Kopf zu haben, keine feste Bleibe, keinen Fixpunkt, der Sicherheit gibt oder Heimat. Und das bisschen, was einem geblieben ist, trägt man mit sich herum. Ich habe in manch einem Gespräch lernen müssen, dass es jeden treffen kann. Ein Schicksalsschlag, eine schwere Krankheit und das Leben gerät aus den Fugen. Das hat mit allem zu tun, aber nicht mit Freiheit. Umso mehr hätte es mich gereizt, diese Landstreicherlyrik zu lesen. Aber er war nicht mehr da. Chance vertan. Eines habe ich aus dieser Begegnung erfahren: Wir wissen viel zu wenig voneinander! Und wir sprechen viel zu wenig miteinander! Wir sehen uns, aber begegnen uns nicht wirklich! Seit einem Jahr bin ich nun Mitherausgeber von Asphalt und bin immer wieder glücklich darüber, dass es dieses Straßenmagazin gibt. So wie dieser Mann seine »Lyrik eines Landstreichers« angeboten hat, weil er nicht betteln, sondern mit Arbeit sein Geld verdienen wollte, so gibt Asphalt vielen Menschen die Möglichkeit, sich etwas zum Leben dazuzuverdienen, sich untereinander auszutauschen und mit den Zeitungsleserinnen und -lesern ins Gespräch zu kommen. Asphalt ist auch immer die Chance zur Begegnung. Nutzen Sie sie! Danke dafür! Matthias Brodowy/Kabarettist und Asphalt-Mitherausgeber

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