Amnesty Journal Juli/August 2022

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Mutig und dickköpfig: Cédric Herrou sagt dem französischen Staat den Kampf an. Foto: Francesco Gattoni / opale.photo / laif

Verteidiger der Brüderlichkeit Der französische Olivenbauer Cédric Herrou geriet ins Visier der Behörden, weil er Geflüchteten half. Sein Buch »Ändere deine Welt« ist die unglaubliche Geschichte eines aufrechten Bürgers. Von Wera Reusch

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ls Cédric Herrou im Frühjahr 2016 nachts auf einer Landstraße im Gebirge eine afrikanische Familie aufliest und mit zu sich nach Hause nimmt, kann er nicht ahnen, dass dies sein Leben völlig verändern wird. 1979 in Nizza geboren, litt er als Jugendlicher an der Welt, reiste durch Afrika und arbeitete als Automechaniker, bevor er in einem abgelegenen Alpental ein Stück Land kaufte und zum Olivenbauern wurde. Er wollte weit weg sein von der Welt und geriet plötzlich mitten ins politische Geschehen, denn im Royatal an der Grenze zu Italien strandeten immer mehr Flüchtlinge. »Ursprünglich bin ich alles andere als ein Aktivist«, schreibt Herrou. »Trotz meiner anarchistischen Seite vertraute ich in gewisser Weise auf den Staat.« Doch das

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ändert sich bald: Als er erlebt, wie die französischen Behörden Schwarze Menschen systematisch und rechtswidrig verfolgen, sie daran hindern, einen Asylantrag zu stellen und nach Italien zurückschicken, beschließt er, den Flüchtlingen zu helfen. Er errichtet auf seinem Land einen informellen Campingplatz und sagt dem Staat den Kampf an. Aufgrund seines Engagements wird Herrou elfmal in Polizeigewahrsam genommen und 2017 wegen »Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt und Aufenthalt von Ausländern in Frankreich« zu 3.000 Euro Geldstrafe auf Bewährung verurteilt. Er macht jedoch weiter, obwohl sein kleiner Hof mittlerweile von der Polizei umzingelt ist. 2018 erringt er schließlich einen wichtigen Sieg: Der Verfassungsrat entscheidet, aus dem Grundsatz der Brüderlichkeit folge die Freiheit, jedem Menschen aus humanitären Gründen zu hel-

fen. Herrou kommentiert das bahnbrechende Urteil lakonisch: »Ein Typ, der nicht einmal Abitur hatte, hatte die französische Verfassung verändert. Trotzdem blieb ich ein einfacher Bürger. Mein Einkommen? Die Hälfte des Mindestlohns. Mein Auto? Eine über zwanzig Jahre alte Rostlaube. Mein Palast? Dreißig schlecht isolierte Quadratmeter.« In »Ändere deine Welt« erzählt Herrou seine Erlebnisse in den Jahren 2016 bis 2020 völlig unprätentiös, spart weder Rückschläge noch Konflikte aus. Seine direkte Schilderung macht den Zynismus und Rassismus deutlich, mit dem Europa auf die afrikanischen Flüchtlinge reagierte. Herrous Geschichte beweist aber auch, dass das Handeln eines Einzelnen einen Unterschied macht. »Um all das auf sich zu nehmen, muss man nicht nur mutig sein, sondern auch dickköpfig und unbeugsam«, schreibt Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio im Vorwort. Herrou selbst sagte auf die Frage, warum er all das gemacht habe: »Meine Mutter hätte mich ausgeschimpft, wenn ich es nicht getan hätte.« ◆ Cédric Herrou: Ändere deine Welt. Wie ein Bauer zum Fluchthelfer wurde. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und Andrea Stephani. Rotpunkt Verlag, Zürich 2022, 264 Seiten, 24 Euro


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Buch: Cédric Herrous »Ändere deine Welt«

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Antiziganismus: Gianni Jovanovic und seine Biografie

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