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Belarussisches Exil: Studierende an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius gegen den Krieg

Belarussische Atmosphäre in Litauen: Auf den Fluren der Europäischen Humanistischen Universität, Vilnius, März 2022.

Foto: EHU

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Hochschule der Verlorenen

In der litauischen Hauptstadt Vilnius gibt es seit 2004 die Europäische Humanistische Universität. Die überwiegend belarussischen Studierenden kennen die Repressionen der Regierung Lukaschenko schon länger. Nun kommt noch der Krieg Russlands gegen die Ukraine hinzu. Von Sead Husic

Am Schwarzen Brett hängt eine kleine ukrainische Flagge, so wie man sie in Vilnius derzeit an vielen Stellen findet. In Litauen ist die Solidarität mit der Ukraine stark ausgeprägt, weil viele Menschen fürchten, sie könnten das nächste Angriffsziel der russischen Armee werden. In den Fluren der Europäischen Humanistischen Universität (EHU) sieht man die ukrainische Flagge aber besonders häufig. Die Hochschule befindet sich in den Gemäuern eines ehemaligen Klosters in der Altstadt und hat rund 800 Studierende, vor allem aus Belarus. Zudem sind etwa 1.200 Fernstudierende an der auf Sozial-, Geistesund Rechtswissenschaften spezialisierten Universität eingeschrieben.

Es ist ein sonniger und recht stiller Vormittag im März. Die Verwaltungsbüros der Hochschule gehen alle von einem Gang ab, man hört das Geklapper einer Tastatur. Eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren tritt aus einem der Räume und stellt sich als Pressesprecherin vor. Anastasya Radzionava hat schon viele Politiker*innen, Diplomat*innen und Journalist*innen aus aller Welt durch die EHU geführt. Die private Hochschule gilt als einzige Exil-Universität Europas. Sie ist ein Zufluchtsort für belarussische Studierende, die nicht im repressiven Bildungssystem ihres Landes, sondern in einer freieren Umgebung ausgebildet werden wollen. Ihr Ziel ist es, Teil einer Bürger*innengesellschaft zu sein, für die eine unabhängige Justiz, freie Wahlen und Meinungsfreiheit zu Selbstverständlichkeiten zählen. In Belarus gibt es dies seit Langem nicht.

Zwar haben dort nach der manipulierten Präsidentschaftswahl im August 2020 Hunderttausende gegen Präsident Alexander Lukaschenko demonstriert, aber ohne Erfolg. Zehntausende wurden festgenommen, bedroht, misshandelt oder gefoltert. Und so ist es auch nicht ungefährlich, an der EHU immatrikuliert zu sein. Das haben einige der ehemaligen Studierenden und Lehrenden deutlich zu spüren bekommen.

Das prominenteste Opfer ist die Studentin Sofia Sapega. Die Lebensgefährtin des bekannten regierungskritischen Bloggers Roman Protasewitsch befand sich am 23. Mai 2021 mit ihm auf einem Flug von Athen nach Vilnius, als die belarussischen Behörden das Flugzeug zur Landung in Minsk zwangen. Dort wurden beide festgenommen. Im Mai 2022 verurteilte ein belarussisches Gericht die 24Jährige wegen angeblicher Anstachelung zum Hass zu sechs Jahren Haft. Der Prozess gegen Protasewitsch ist noch nicht abgeschlossen.

Auch andere, weniger bekannte Studierende der Hochschule befinden sich in Belarus in Haft (siehe S. 26).

Pressesprecherin Anastasya Radzionava fährt öfter die knapp 200 Kilometer von ihrer Hauptwohnung in Minsk zu ihrer Arbeit an der Hochschule in Vilnius, trotz Drohungen und Repression. Seit der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 begann, ist ihre Angst noch größer, weil die belarussische Regierung, die an der Seite Putins steht, noch repressiver agiert als zuvor. »Meine Mutter und meine Familie leben in Minsk. Jede Fahrt ist ein Risiko. Ich weiß nie, ob ich an der Grenze abgeführt und dem Geheimdienst übergeben werde«, sagt sie. Für ein Foto stellt sie sich mit dem Rücken zur Kamera. Es sei besser, wenn ihr Gesicht nicht in Zeitungen und im Internet zu sehen sei.

»Ich weiß nie, ob ich an der Grenze abgeführt werde.«

Anastasya Radzionava

Die Freiheit schien nah

Professor Alexander Kalbaska lässt sich von vorne ablichten, obwohl er mit allem rechnen muss. Er reist regelmäßig zu seiner Frau und seinen Kindern, die in Minsk leben. Angst vor der Omon, der gefürchteten Spezialeinheit der belarussischen Miliz, die für ihr brutales Vorgehen gegen Oppositionelle bekannt ist, hat er nicht. Zu lange schon lebt der 66-Jährige

Schützt sich und ihre Familie: Pressesprecherin Anastasya Radzionava.

Foto: Sead Husic

Würde gerne noch ein »freies Minsk« erleben: Professor Alexander Kalbaska.

Foto: Sead Husic

Auch sie fürchten die Repression: Studierende auf dem Gelände der EHU.

Foto: Sead Husic

mit dem Druck. Kalbaska hat das freundliche und gewandte Auftreten eines ge bildeten Mannes, der perfekt Englisch spricht und schon viel erlebt hat. Am Revers trägt er die gekreuzten Flaggen Litauens und der Ukraine. Er unterrichtet Museumswissenschaft und gehört zu den Mitgründern der Universität, die ursprünglich 1992 in Minsk entstand. Zeitweise war er auch Dekan der Fakultät für Künste. »Es schien damals, als breche eine Zeit der Freiheit an, es gab viel frischen Wind. Wir glaubten, dass wir frei denken, offen reden und unsere Meinung sagen könnten. Es war eine Zeit des Aufbruchs«, sagt Kalbaska über die frühen 1990er Jahre. Als Teil einer intellektuellen Bewegung glaubte er, in der formal vom Staat unabhängigen geisteswissenschaftlichen Universität Studierende für die Zukunft eines modernen Landes auszubilden. Aber genau das war Alexander Lukaschenko ein Dorn im Auge. Im Jahr 2004 ließ er die Universität schließen. Gleichzeitig nahm die Repression im Land zu. Die EHU zog nach Vilnius in Litauen. »Ich hatte die Ehre, mit anderen Dekanen und dem Rektor Anatolij Mikhailov die EHU hier neu aufzubauen«, sagt Kalbaska.

Es fällt ihm schwer, über die gegenwärtige Lage zu sprechen. Denn einerseits wolle man als Bildungsinstitution nicht der verlängerte Arm einer bestimmten politischen Richtung oder Partei sein. Andererseits zwinge der Krieg die Lehrkräfte, Stellung zu beziehen. Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja war bereits mehrmals zu Gast an der EHU und sprach dort über ihre Hoffnung auf eine demokratische Zukunft in Belarus. »Meine Kollegen und ich dachten lange, dass wir mit unserer Universität in ein freies Minsk zurückkehren können. Mittlerweile ist mir schmerzhaft bewusst, dass ich das wohl nicht mehr erleben werde«, sagt Kal baska.

Das Unrecht in Belarus spiegelt sich in Tausenden Schicksalen an der EUH wider. So auch im Fall von Jaroslawa. Die 19-Jährige wirkt mit ihren blonden Haaren, blauen Augen und ihren vielen Sommersprossen im Gesicht viel jünger. Doch wenn sie spricht, strahlt sie eine gewisse Lebenshärte aus. Jaroslawa erzählt, dass ihre Familie zerrissen ist. Ihre Eltern sind

EHU-STUDIERENDE, -LEHRENDE UND -EHEMALIGE, DIE IN BELARUS VERFOLGT WERDEN

Tatiana Kouzina, Dozentin für Politikwissenschaften an der EHU. Verhaftet am 28.Juni 2021, ihr drohen zwölf Jahre Gefängnis wegen angeblichen Umsturzversuchs.

Marfa Rabkova war in ihrem dritten Studienjahr an der EHU und Koordinatorin des Freiwilligennetzwerks des belarussischen Menschenrechtszentrums Viasna, als sie am 17.September 2020 in Minsk festgenommen wurde. Ihr drohen 20 Jahre Haft.

Akihiro Hayeuski-Hanada war im zweiten Studienjahr, als er am 12.August 2020 in Haft kam und schwer misshandelt wurde.

Mikalai Dziadok schloss sein Studium an der die EHU 2019 ab und wurde am 12.November 2020 inhaftiert. In der Haft verschlechterte sich seine Gesundheit rapide. Dziadok wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Wlodzimierz Malachowski beendete sein Studium an der EHU 2013. Die Polizei verhaftete ihn am 13.September 2020 in Vitebsk. Er wurde wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt.

Ihar Barysau machte seinen Abschluss 2008. Er war Parteivorsitzender der Belarussischen Sozialdemokratischen Partei. Die Polizei verhaftete ihn am 21.März 2021, er wurde zu 15 Tagen Haft verurteilt.

Foto: HRCV 96 g Foto: sprin

Foto: privat

»Wegen des Krieges wissen wir alle nicht, wie es weitergehen soll.«

Jaroslawa, Studierende

vor wenigen Wochen von Minsk nach Spanien gereist, um dort einen Dokumentarfilm über Menschen zu drehen, die vor Putins Politik geflüchtet sind. Die Aktivist*innen kämpfen auch gegen Lukaschenko und schicken ihr und ihrer 16jährigen Schwester Geld. Die Schwester lebt nun allein in der Minsker Wohnung, die einst das Zuhause der gesamten Familie war. »Sie wollte nicht zu unserer Großmutter aufs Land ziehen, sondern schlägt sich durch, weil sie in Minsk ihr Abitur machen will«, sagt Jaroslawa. Auf die Frage, ob sie sich nicht um ihre Schwester sorge, lächelt sie. »Sie ist früh erwachsen geworden und weiß, wie man sich in Belarus verhalten muss. Aber ein wenig Angst habe ich dennoch um sie, und ich werde der glücklichste Mensch sein, wenn sie endlich zu mir nach Vilnius kommt oder wir unseren Eltern nach Spanien folgen«, sagt sie. »Aber wegen des Krieges wissen wir doch alle nicht, wie es weitergehen soll.«

Keine Zukunft in Belarus

Ihre Kommilitonin Hana landete auf der EHU, nachdem sie die staatliche Universität für öffentliche Verwaltung in Minsk verlassen musste. »Die Professor*innen dort gaben mir freundlich zu verstehen, dass es für mich besser wäre, zu gehen. Sie waren nicht unfreundlich oder haben mich vertrieben. Ich hatte Bestnoten. Aber dennoch schien ich aufgrund gewisser Äußerungen nicht mehr dazuzugehören«, sagt die 19-Jährige. Jetzt studiert sie Medienwissenschaften und ahnt, dass Vilnius nur eine Zwischenstation in ihrem Leben sein wird. Sie sieht ihre Zukunft im Westen und will versuchen, dort eine Arbeit zu finden. »Meine Eltern, die in Minsk leben, haben mir klargemacht, dass es für mich keine Zukunft in meiner Heimat gibt«, sagt sie.

Ähnlich sieht es Alex, die Theaterwissenschaften studiert. »Ich will nach dem Studium an verschiedenen Orten leben. In Paris, London, Amsterdam, und in meinen Vierzigern finde ich heraus, welche Stadt für mich am besten ist«, sagt die 20Jährige. Die anderen Studierenden, die neben Alex stehen, nicken zustimmend, als ob ihnen allen vollkommen bewusst sei, dass sie große Teile ihres Lebens womöglich nicht mehr in Belarus und vielleicht nicht einmal mehr in Osteuropa verbringen werden.

Matvej, der Matthew genannt werden will, spricht so gut Englisch, dass man ihn für einen Jungen aus einer US-amerikanischen Vorstadt halten könnte. Er studiert Medienwissenschaften und hofft, im Westen einen Job als Programmierer zu bekommen. »Uns ist klar, dass wir eine Generation der Verlorenen sind. Aber wenn wir uns in Vilnius im Pub treffen, dann versuchen wir, das auszublenden. Wir unterhalten uns über die Professoren, unsere Prüfungen und unsere Pläne. Wir sprechen über unser normales Leben«, sagt der 19-Jährige.

Viktoria, die ebenfalls 19 ist, fällt ihm ins Wort: »Aber wir demonstrieren auch vor der russischen Botschaft, organisieren Konzerte und Lesungen und sammeln Geld, das wir dann BlueYellow spenden, damit medizinisches Material für die Ukraine gekauft werden kann.« BlueYellow ist eine große litauische Hilfsorganisation, die zur Unterstützung der Ukraine gegründet wurde. Die Studierenden diskutieren, ob auch Litauen von Russland überfallen wird. »Ich glaube nicht, dass Putin das macht«, sagt Matthew, »das wäre ein Krieg mit der Nato.« Viktoria entgegnet ihm: »Wir haben auch nicht geglaubt, dass sie die Ukraine angreifen, und doch ist es geschehen.«

Mit einem Mal ist der Krieg sehr nah, es entbrennt eine Diskussion darüber, ob ein Atomkrieg drohen könnte. Ljera, eine 21-Jährige, die bisher sehr still war, schaltet sich ein: »Es bringt doch nichts, daran zu denken. Wir müssen daran glauben, dass das Leben weitergeht. Sonst sind wir schon jetzt am Ende.« Nach dem Gespräch stellen sich die Studierenden im Flur auf, allerdings mit dem Rücken zum Fotografen. Auch sie wollen nicht erkannt werden. Noch vor einigen Monaten hätte sich an dieser Hochschule niemand davor gefürchtet, in einem Zeitungsartikel mit Namen und Gesicht aufzutauchen. Aber die Lage hat sich geändert. »Die Verunsicherung ist spürbar größer geworden. Ich hoffe, dass das alles bald vorbei ist«, sagt Ljera und steht dabei sehr nahe am Schwarzen Brett, an dem eine kleine ukrainische Flagge hängt. ◆

Unscheinbares Gebäude: Die Exil-Universität EHU im Jahr 2019.

Belarus wird seit 1994 von Präsident Alexander Lukaschenko autoritär regiert. Seit der gefälschten Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 erkennen ihn zahlreiche Staaten nicht mehr als Staatsoberhaupt von Belarus an. Lukaschenko gilt als enger Gefolgsmann Wladimir Putins. Belarus ist wirtschaftlich extrem abhängig von seinem großen Nachbarn, auch deshalb ist die Regierung in Minsk ein militärischer Verbündeter der Russischen Föderation. Bereits vor Kriegsbeginn stellte Lukaschenko das belarussische Territorium als Aufmarschgebiet zur Verfügung. Seit dem Angriff auf die Ukraine am 24.Februar leistet Belarus logistische Hilfe und erlaubt der russischen Armee die Nutzung von Militärflughäfen. Bisher nahmen belarussische Streitkräfte nicht aktiv an dem Aggressionskrieg teil. Die staatliche Propaganda befeuert jedoch das Feindbild einer »nazistischen« Ukraine, und der Polizeiapparat verschärft die gewaltsame Unterdrückung von Oppositionellen, unabhängigen Journalist*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen.