Amnesty Journal Juli/August 2022

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MAGAZIN FÜR MENSCHENRECHTE 04/22 JULI / AUGUST

AMNESTY

JOURNAL WWW.AMNESTY.DE/JOURNAL

Kriegsverbrechen auf der Spur Russlands Invasion in die Ukraine und die Folgen Wirtschaftskrise in Afghanistan

Antiziganismus in Europa

Wie der Krieg in der Ukraine den Bauern Mohammed Jawad trifft

Sint*izze und Rom*nja wehren sich gegen rassistische Diskriminierung


INHALT

Spur um Spur, Beweis um Beweis. Russische Truppen haben seit Ende Februar mehr als 3.500 Ortschaften in der Ukraine besetzt, über 1.000 wurden wieder befreit. Die Untersuchung und Dokumentation von Kriegsverbrechen ist in vollem Gange.

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TITEL: RUSSLANDS ANGRIFFSKRIEG Kriegsverbrechen der russischen Armee: Die ukrainische NGO Truth Hounds ermittelt mit

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Kriegsverbrechen an Frauen: Kontinuum des Leids

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Binnenflüchtlinge: Ein orthodoxes Kloster bietet Obdach

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Kommentar Flucht und Asyl: Best Practice für alle

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Amnesty Ukraine: So lebe und arbeite ich im Krieg

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Belarussisches Exil: Studierende an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius gegen den Krieg

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Zensur und Propaganda: Russische Medien gehen ins Exil

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Menschenrechte bedroht: Zivilgesellschaft in Russland

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POLITIK & GESELLSCHAFT Afghanistan: Wirtschaftskrise und Mangelernährung

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Xinjiang: Die Uigurin Gulbahar Haitiwaji über ihre Zeit in Gefangenschaft

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Albanien: Generation Gegenwehr

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Rassismus: Antiziganismus in Deutschland

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Kolumbien: Die Toten von Siloé klagen an

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El Salvador: Festnahmen ohne Ende

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Graphic Report: Venezuela

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Solidarität: Das Hope Café in Athen

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Menschenrechtsbildung: Auf der Suche nach der Jugend

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KULTUR Illustrator*innen: Ukrainisches Künstlerpaar in Lwiw

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Antiziganismus: Gianni Jovanovic und seine Biografie

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Kunst in Kassel: Die documenta fifteen

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Musik aus Indien: The Casteless Collective will eine kastenfreie Gesellschaft

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Musik aus Italien: Tommy Kuti rappt über Rassismus

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Buch: Cédric Herrous »Ändere deine Welt«

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Musik: Pow-Wow-Power von Joe Rainey

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RUBRIKEN Panorama 04 Einsatz mit Erfolg 08 Spotlight: Äthiopien 46 Was tun 58 Porträt: Edith Olivares Ferreto 62 Dranbleiben 63 Rezensionen: Bücher 77 Rezensionen: Film & Musik 79 Briefe gegen das Vergessen 80 Aktiv für Amnesty: Jahresversammlung in Köln 82 Impressum 83

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Wenn der Geheimdienst zu »Besuch« kommt. Die außenpolitische Aggression der russischen Führung geht mit verschärfter Repression gegen die Zivilgesellschaft in Russland einher. Deutschland wird seiner Verantwortung bei der Aufnahme russischer Menschenrechtsverteidiger*innen kaum gerecht.

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Vom Krieg gezeichnet. Sie illustrieren Literatur, schreiben auch eigene Bücher: Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw aus dem ukrainischen Lwiw. Am liebsten zeigt das Künstlerpaar Kindern und Jugendlichen die bunte Welt. Aber der Krieg verändert alles.

»Nie im Leben wollte ich wegen China krank werden.« Ihr »Prozess« dauerte nur neun Minuten, das Urteil lautete sieben Jahre Umerziehung. Doch nach knapp drei Jahren kam sie frei. Seither berichtet die Uigurin Gulbahar Haitiwaji über ihre Zeit in Gefangenschaft.

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Der Afrobeat Italiens. Schwarze Menschen erfahren in Italien Rassismus, Feindseligkeit und Misstrauen. Darüber singt der Rapper Tommy Kuti. Ein Gespräch über das Versagen der Politik und eine neue Kultur.


Hochschule der Verlorenen. In der litauischen Hauptstadt Vilnius gibt es seit 2004 die Europäische Humanistische Universität. Die überwiegend belarussischen Studierenden kennen die Repressionen der Regierung Lukaschenko schon länger. Nun kommt noch der Krieg Russlands gegen die Ukraine hinzu.

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Wie der Ukraine-Krieg den Bauern Mohammed Jawad trifft. Die Herrschaft der Taliban sorgt in Afghanistan für eine Wirtschafts- und Versorgungskrise. Und als Folge der Klimakrise bedroht zudem eine lang anhaltende Dürre die Landwirtschaft. Viele Afghan*innen hungern.

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Wie trinken Sie Ihren Kaffee? Mit Milch und voller Hoffnung! Wer in der griechischen Hauptstadt Athen nicht weiter weiß, findet im Hope Café Zuflucht. Auch Flüchtende in Not können sich dort mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln versorgen.

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»Ich wurde von fünf Frauen gestillt, das hat mich gestärkt.« Gianni Jovanovic wuchs als Sohn einer Roma-Familie in Hessen auf. Er musste die Sonderschule besuchen und wurde mit 14 zwangsverheiratet. In seiner Biografie erzählt er, wie er sich aus Benachteiligung und patriarchalen Strukturen befreite –und zum queeren Polit-Aktivisten wurde.

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Titelbild: Roman Koval (rechts) von Truth Hounds und ein Kollege vermessen ein Geschoss in der Nähe von Motyshyn bei Kiew, 25. Mai 2022. Foto: Florian Bachmeier

Fotos oben: Florian Bachmeier | EHU | Evgenia Novozhenina / Reuters | Vincent Haiges Emmanuelle Marchadour | Giorgos Moutafis | Agrafka | Carolin Windel | Gaetano Massa

EDITORIAL HOFFNUNG UND EIN STERNCHEN Die russische Armee wütet in der Ukraine in einem Ausmaß, dass selbst erfahrene Kriegsberichterstatter*innen bei uns vor einer Recherchereise nachfragen, ob Amnesty International Splitterschutzwesten bereitstellt. Ein neuer AmnestyBericht betont, dass russische Truppen in Charkiw durch Beschuss mit Streumunition und Raketen auf Wohngebiete Hunderte Zivilist*innen getötet haben. Ein weiterer Amnesty-Bericht über Mariupol folgt dieser Tage. Düstere Zeiten. Umso wichtiger werden Begegnungen, die an ein beharrliches Engagement für Menschenrechte erinnern. Dan Yirga Haile, geschäftsführender Direktor des Äthiopischen Menschenrechtsrats (EHRCO), nahm im Mai und Juni nicht nur den Menschenrechtspreis von Amnesty entgegen (Seite 82). Er drückte in Berlin und anderen Städten vor allem Zuversicht aus und machte sich für die Solidarität aller Menschenrechtsverteidiger*innen stark. Hoffnung macht auch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall des türkischen Anwalts Taner Kılıç. Der EGMR stellte fest, dass Kılıç, damaliger Vorsitzender und heutiger Ehrenvorsitzender von Amnesty in der Türkei, zwischen Juni 2017 und August 2018 rechtswidrig inhaftiert war und seine Menschenrechte verletzt wurden. Amnesty fordert die Türkei auf, die Verfolgung von Menschenrechtsverteidiger*innen wie Kılıç zu beenden. Düstere Zeiten werden nicht heller, indem man sie verschweigt. Im Gegenteil: In dieser Ausgabe untersuchen wir, zu welchen Mitteln die russische Führung greift, um Ukrainer*innen und die Zivilgesellschaft in Russland zum Schweigen zu bringen. Welch weitreichende Folgen dieser militärische Angriff hat, wird auch auf Seite 34 deutlich. Dort können Sie nachlesen, wie sich der Ukraine-Krieg auf die Ernährungslage in Afghanistan auswirkt. Und: Amnesty in Deutschland verwendet ab sofort statt des Unterstrichs den Asterisk, das Gendersternchen, um die eigenen Publikationen gendergerecht zu gestalten. Das gilt auch fürs Journal. Oder kürzer gesagt: * statt _. Ich wünsche eine gute Lektüre.

Maik Söhler ist verantwortlicher Redakteur des Amnesty Journals. Foto: Gordon Welters

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PANORAMA

EINGESPERRT IN SHANGHAI Die chinesische Staatsführung hält mit aller Macht an ihren strikten Corona-Maßnahmen fest. Wegen steigender Infektionsraten riegelte sie im April und in der ersten Maihälfte die Metropole Shanghai mit ihren 26 Millionen Einwohner*innen wochenlang ab. Menschen durften ihre Wohnungen nicht verlassen. Viele litten Hunger, weil die Nahrungsmittelverteilung nicht funktionierte. Kinder und Säuglinge mit positiven Testergebnissen wurden in staatliche Isolationszentren gebracht; Eltern durften sie nur dann begleiten, wenn sie selbst auch positiv getestet wurden. Aus Verzweiflung und Wut schrien Menschen aus ihren Fenstern, aus Protest trommelten sie auf Töpfe und Pfannen. Auch andere chinesische Städte wie Baicheng und Peking mussten ganz oder teilweise in den Lockdown mit teils drastischen Maßnahmen. Nachdem sich die Lage in Shanghai in der zweiten Maihälfte langsam besserte, folgten im Juni abermals Massentests und ein Lockdown in mehreren Stadtteilen. Im Bild: Ein staatlicher Angestellter in Schutzkleidung im Finanzdistrikt von Shanghai, Juni 2022. Foto: Aly Song / Reuters

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RECHT AUF ABTREIBUNG IN DEN USA IN GEFAHR In den USA sind in den vergangenen Wochen Zehntausende Menschen auf die Straße gegangen, um für ein Recht auf Abtreibung zu demonstrieren (wie hier im Bild am 14. Mai 2022 in Washington). Anfang Mai wurde bekannt, dass der Oberste Gerichtshof das verfassungsmäßige Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch kippen könnte. Umfragen zufolge spricht sich eine Mehrheit der US-Amerikaner*innen indes für ein Recht auf Abtreibung aus. Bislang erlaubt ein Grundsatzurteil aus dem Jahr 1973 Schwangerschaftsabbrüche mindestens bis zur Lebensfähigkeit des Fötus – etwa bis zur 24. Woche. Sollte dieses Urteil vom mehrheitlich konservativ besetzten Supreme Court nun aufgehoben werden, würde die Zuständigkeit an die einzelnen US-Bundesstaaten fallen. Etwa die Hälfte von ihnen, vor allem die republikanisch geführten Staaten im Süden und Mittleren Westen, wird dann Abtreibungen verbieten. Entsprechende Schriftsätze, sogenannte Trigger-Gesetze, sind bereits vorbereitet. Oklahoma hat Abtreibungen Ende Mai bereits gänzlich verboten. Das Urteil des Supreme Court wird für Juni/Juli erwartet. Foto: Leah Millis / Reuters

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RETTUNG VERBOTEN Statt Menschen in Not zu helfen, schottet sich Europa weiter ab. Kinder, Frauen und Männer stranden an den EU-Außengrenzen oder ertrinken auf dem Weg dorthin. Für Geflüchtete wird es immer schwieriger, Schutz zu finden, und wer sich für deren Rechte einsetzt, gerät schnell ins Visier der Behörden. Die Seenotretter*innen der Iuventa können ihre Arbeit im Mittelmeer nicht fortsetzen, seit ihr Rettungsschiff im August 2017 beschlagnahmt wurde. Vier ehrenamtliche Crew-Mitglieder standen wegen ihres Einsatzes im Mai in Italien vor Gericht. In einer Vorverhandlung wurden sie der »Beihilfe zur illegalen Migration« beschuldigt. Ob ein möglicherweise jahrelanger Prozess gegen sie eröffnet wird, blieb vorerst unklar. Im Bild: Ein Boot voller Flüchtender im Mittelmeer, Mai 2022. Foto: Valeria Ferrarox / Zuma Wire / Imago

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EINSATZ MIT ERFOLG

SPANIEN

Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz Folter verhindert, die Freilassung Gefangener bewirkt und Menschen vor unfairen Prozessen schützt, zeigt unsere Weltkarte. Siehe auch: www.amnesty.de/erfolge

Das spanische Parlament verabschiedete im Mai ein Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt, das die Prävention und Verfolgung von sexualisierter Gewalt sowie den Opferschutz stärken soll. Das Gesetz definiert Geschlechtsverkehr ohne Zustimmung als Vergewaltigung. Spanien macht damit als dreizehntes Land in Europa das Prinzip »Nur Ja heißt Ja« zur Grundlage seiner Gesetzgebung. »Dies ist ein historischer Sieg für Personen, die vergewaltigt wurden, und für Aktivist*innen, die sich unermüdlich für einen besseren Schutz der Opfer und für Maßnahmen gegen die Straflosigkeit bei Vergewaltigungen und anderen Formen sexualisierter Gewalt eingesetzt haben«, sagte Monica Costa, Amnesty-Koordinatorin für Frauenrechte in Europa.

USA Am 25. April 2022 gewährte das Berufungsgericht für Strafsachen im Bundesstaat Texas Melissa Lucio einen Hinrichtungsaufschub und verwies den Fall an das ursprünglich zuständige Gericht zurück. Es verhinderte damit ihre Hinrichtung, die für den 27. April geplant war. Melissa Lucio war im Juli 2008 des Mordes an ihrer zweijährigen Tochter für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden. Ihre Rechtsbeistände hatten beantragt, die Hinrichtung auszusetzen sowie den Schuldspruch und das Todesurteil aufzuheben. Das Berufungsgericht erkannte einige der in dem Antrag vorgebrachten Beanstandungen an. Nach Ansicht von Amnesty International entsprach der Prozess, in dem sie zum Tode verurteilt wurde, nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren.

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GUATEMALA Am 15. März machte das guatemaltekische Parlament den Erlass 18-2022 rückgängig, der die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen verschärft, einen inklusiven Sexualkundeunterricht an Schulen verboten und LGBTIQ+ diskriminiert hätte. Das kurz zuvor verabschiedete Gesetz hatte umfassende Proteste in Guatemala und internationale Kritik ausgelöst. Nach Ansicht von Amnesty International gefährdete es die Rechte und das Leben Tausender Mädchen, Frauen und LGBTIQ+ im Land. Auch Präsident Alejandro Giammattei hatte nach der Verabschiedung des Gesetzes erklärt, es verstoße gegen die Verfassung und Guatemalas internationale Menschenrechtsverpflichtungen. Er hatte ein Veto angekündigt und das Parlament aufgefordert, das Gesetz zurückzunehmen.

SÜDSUDAN Magai Matiop Ngong wurde am 22. März freigelassen. Er war 15 Jahre alt, als er im November 2017 im Südsudan wegen Mordes zum Tode verurteilt wurde. Nach Angaben von Magai Matiop Ngong handelte es sich dagegen um einen Unfall. Er verbrachte zwei Jahre und acht Monate im Todestrakt, bis ein Berufungsgericht im Juli 2020 das Todesurteil aufhob, weil der Verurteilte zum Zeitpunkt des Verbrechens minderjährig war. In einem neuen Verfahren, das der Oberste Gerichtshof angeordnet hatte, wurde die Strafe auf fünf Jahre reduziert. Amnesty International begrüßte die Freilassung von Magai Matiop Ngong. Beim Amnesty-Briefmarathon 2019 hatten sich weltweit mehr als 765.000 Menschen für ihn eingesetzt.


BRIEFE GEGEN DAS VERGESSEN – UPDATES

ÄGYPTEN

Mit den Briefen gegen das Vergessen (siehe Seite 80) können sich alle gegen Unrecht stark machen – allein zu Hause oder gemeinsam mit anderen. In jedem Amnesty Journal rufen wir dazu auf, an Regierungen oder andere Verantwortliche zu schreiben und sich für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. Was aus ihnen geworden ist, erfahren Sie hier.

POLEN Foto: Grzegorz Żukowski

Der ägyptische Menschenrechtsverteidiger Ibrahim Ezz El-Din kam am 26. April frei. Er war im Juni 2019 willkürlich inhaftiert und nie angeklagt oder vor Gericht gestellt worden. Man bezichtigte ihn der »Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppe«. Ibrahim Ezz El-Din hatte jahrelang friedliche Menschenrechtsarbeit für die Ägyptische Kommission für Rechte und Freiheiten (ECRF) geleistet. Seinen Angaben zufolge wurde er in der Untersuchungshaft gefoltert. Weil er keinen Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung hatte, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Seine Freilassung ist das Ergebnis anhaltenden Drucks: AmnestyMitglieder und -Unterstützer*innen hatten in Petitionen und Briefen an die ägyptischen Behörden seine Freilassung gefordert.

Der Freispruch dreier polnischer LGBTI-Aktivistinnen wurde am 12. Januar 2022 von einem Gericht bestätigt. Ela, Anna und Joanna hatten ein Poster plakatiert, das die Jungfrau Maria mit einem Heiligenschein in Regenbogenfarben zeigte. Sie waren deshalb 2019 wegen »Verletzung religiöser Gefühle« angeklagt worden, was in Polen mit bis zu zwei Jahren Haft geahndet werden kann. Nachdem die Menschenrechtsaktivistinnen im März 2021 freigesprochen worden waren, hatte die Staatsanwaltschaft Berufung gegen das Urteil eingelegt. Catrinel Motoc vom EuropaRegionalbüro von Amnesty International bezeichnete den neuerlichen Erfolg der Aktivistinnen vor Gericht als »eine große Erleichterung«. Er dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, »dass die drei Frauen gar nicht erst vor Gericht hätten gestellt werden dürfen«. (Januar 2022)

Foto: privat

SAUDI-ARABIEN

JEMEN Die De-facto-Behörden der bewaffneten Gruppe der Huthi im Jemen haben am 24. April den britischen Staatsangehörigen Luke Symons und 13 weitere ausländische Inhaftierte freigelassen. Die Huthi hatten Symons im April 2017 an einem Kontrollpunkt im Südwesten des Landes festgenommen und fünf Jahre lang ohne Anklage oder Gerichtsverfahren in Haft gehalten. Laut seiner Familie warf man ihm Spionage für die britische Regierung vor. In den Verhören wurde er gefoltert und misshandelt; die letzten vier Monate vor seiner Freilassung verbrachte er in Einzelhaft. Amnesty International hatte sich für die Freilassung von Luke Symons eingesetzt. Seine Familie dankte Amnesty für das Engagement.

Er wurde im Februar 2012 als Jugendlicher festgenommen und musste jahrelang befürchten, hingerichtet zu werden. Seit dem 27. Oktober 2021 ist Ali al-Nimr frei. Er gehört der schiitischen Minderheit in Saudi-Arabien an und hatte für gleiche Rechte und Freiheiten demonstriert. Nach seiner Festnahme war er von Sicherheitsbeamten gefoltert und gezwungen worden, ein vermeintliches Geständnis zu unterschreiben. Ein Sonderstrafgericht für terroristische Straftaten hatte ihn im Mai 2014 nach einem unfairen Prozess zum Tode verurteilt. Weltweit forderten Hunderttausende Unterstützer*innen von Amnesty International die saudischen Behörden auf, Al-Nimr freizulassen. Im Februar 2021 wandelte ein Gericht das Todesurteil in eine zehnjährige Haft um, im Oktober folgte die Freilassung. (März 2016)

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TITEL

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Russlands Angriffskrieg Seit Februar rücken russische Truppen in der Ukraine vor. Doch oft werden sie von der ukrainischen Armee zurückgedrängt. Einige der befreiten Orte erweisen sich als Schauplätze schwerer Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen. Staatsanwaltschaft und Ermittler*innen suchen nach Zeug*innen und Beweisen, häufig werden sie auch fündig. Auch jenseits der Front hat der russische Angriff Spuren hinterlassen. Millionen Flüchtende sind in Not, und auch die Zivilgesellschaft in Russland und Belarus gerät zunehmend unter Druck.

Sie starben bei einem russischen Angriff auf ein Ausbildungslager. Beisetzung zweier ukrainischer Soldaten in Sinjak, Mai 2022. Foto: Florian Bachmeier

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RUSSLANDS ANGRIFFSKRIEG KRIEGSVERBRECHEN IN DER UKRAINE

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Spur um Spur, Beweis um Beweis Russische Truppen haben seit Ende Februar über 3.500 Ortschaften in der Ukraine besetzt, mehr als 1.000 wurden wieder befreit. Die Untersuchung und Dokumentation von Kriegsverbrechen ist in vollem Gange. Aus Kopyliv, Kiew und Butscha von Andrzej Rybak, mit Fotos von Florian Bachmeier

A

ngela Kostenko sitzt auf einer Bank vor der Schule in Kopyliv. Vor dem Krieg arbeitete sie dort als Hausmeisterin. Das ist erst vier Monate her, doch kommt es ihr vor, als sei dies in einem früheren Leben gewesen. Denn das Dorf rund 50 Kilometer westlich von Kiew mit seinen 1.000 Einwohner*innen ist nicht wiederzuerkennen. Die russische Armee legte die Lagerhallen für Getreide in Schutt und Asche, eine Tankstelle und ein Dutzend Häuser wurden durch Bombensplitter und Granatenbeschuss schwer beschädigt. In der Schule gingen alle Fenster zu Bruch, nun sind sie provisorisch mit Plastikfolie abgedichtet. Die 34-Jährige hat tiefe Ringe unter ihren Augen, die von vielen Tränen zeugen. Auch jetzt ringt sie um Fassung, als sie vom 27. Februar erzählt: »Ich war mit meiner Patentante im Garten, als plötzlich ein Zug russischer Soldaten in unserer Straße auftauchte. Wir drehten uns sofort um und liefen weg. ›Stehenbleiben, ihr Hündinnen‹, riefen sie uns hinterher.« Dann fielen Schüsse. Die Frauen konnten sich gerade noch in Sicherheit bringen. Roman Koval protokolliert die Aussage in seinem Laptop. Er lässt Kostenko Roman Koval von Truth Hounds und seine Kollegin vermessen einen Bombenkrater in der Nähe von Motyshyn.

erst reden, um ihr die Unsicherheit zu nehmen. Dann stellt er Fragen. »Konnten Sie erkennen, welche Uniform die Soldaten trugen? Wir brauchen möglichst viele Details, um die Angreifer zu identifizieren«, erklärt der 23-Jährige. Koval arbeitet seit vier Jahren als Ermittler für die Nichtregierungsorganisation Truth Hounds (Spürhunde der Wahrheit). Er und seine Kolleg*innen versuchen, Kriegsverbrechen der russischen Armee zu dokumentieren. Die 2014 gegründete Organisation war zunächst vor allem in den Regionen von Donezk und Luhansk tätig, in denen von Moskau unterstützte Separatist*innen ukrainisches Territorium kontrollierten. »Wir waren die Ersten, die dort auf Grundlage der Standards des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag schwere Menschenrechtsverletzungen untersuchten«, sagt Koval. »Niemand hätte gedacht, dass wir acht Jahre später am Rande von Kiew arbeiten.« Seit Ende März besuchen er und seine Kolleg*innen Gebiete, die von der russischen Besatzung befreit wurden.

Zivilgesellschaft hilft Die russische Armee besetzte nach ihrem Einmarsch Ende Februar mehr als 3.500 ukrainische Ortschaften, mehr als 1.000 wurden inzwischen wieder befreit, vor allem im Norden und Westen der Hauptstadt Kiew. Die russischen Truppen gin-

gen dort mit äußerster Brutalität vor – sie mordeten, brandschatzten und vergewaltigten. Nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa wurden bis Ende Mai mehr als 15.000 Fälle russischer Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung dokumentiert. Die Generalstaatsanwaltschaft ist die einzige Behörde, die Opfer russischer Verbrechen exhumieren und gerichtsmedizinisch untersuchen darf. Sie hat aber weder die notwendigen Expert*innen noch die finanzielle Ausstattung, um die zahlreichen Fälle allein zu bewältigen. Der Internationale Strafgerichtshof schickte deshalb Mitte Mai 42 eigene Ermittler*innen nach Kiew. Auch die Zivilgesellschaft versucht zu helfen. Um die Ermittlungen zu unterstützen, schlossen sich 26 ukrainische Menschenrechtsorganisationen zu einer Koalition zusammen. Ihr Name Ukraine5am erinnert daran, dass der russische

»Wir brauchen Details, um die Angreifer zu identifizieren.« Roman Koval, Ermittler AMNESTY JOURNAL | 04/2022 13


Die Schule in Kopyliv, in der Angela Kostenko gearbeitet hat.

RUSSLAND Butscha Kopyliv

Kiew

Motyshyn

UKRAINE

russischer Vormarsch

Separatistische Gebiete

russischer Vormarsch

Krim Stand: Mitte Juni 2022

Schäden, wohin man auch schaut: Zerstörte Fahrzeuge in Butscha …

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Angriff um fünf Uhr morgens begann. Die Organisation Truth Hounds ist Teil dieses Bündnisses. »Wir müssen schnell handeln, denn mit jedem Tag wird es schwerer, Beweise zu finden und zu sichern«, sagt Koval. Mitte April übergab Ukraine5am einen Bericht, der 388 Kriegsverbrechen detailliert auflistet, an die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft und an die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die Generalstaatsanwaltschaft stattete Truth Hounds mit einem offiziellen Schreiben aus, das alle staatlichen Stellen zur Kooperation aufruft. Die Ermittler*innen der NGO sprechen ihre Einsätze wiederum mit der Staatsanwaltschaft ab, um Doppelarbeit zu vermeiden. »Die Staatsanwälte arbeiten meist in Orten, an denen es viele Hinrichtungen gab«, sagt Koval. »Wir suchen uns kleinere Ortschaften aus, die sie ausgelassen oder nur kurz besucht haben.« So wie Kopyliv, in Sichtweite der Autobahn zwischen Kiew und der weiter westlich gelegenen Stadt Schytomyr. Angela Kostenko wurde von den Staatsanwält*innen nicht vernommen. Acht Tage nach dem russischen Einmarsch floh sie mit ihrem 13-jährigen Sohn in ukrainisch kontrolliertes Gebiet. Ihr Mann Alexander blieb zu Hause und schickte zunächst jeden Tag ein Lebenszeichen. Doch am 18. März blieb das Tele-

Die Soldaten setzten Pogorelov und andere als menschliche Schutzschilde ein.


Hohe Verluste: Ukrainische Soldaten bei einer Beisetzung in Sinjak.

fon stumm. An jenem Tag steckte er seinen Ausweis in die Jackentasche und stieg aufs Fahrrad. »Er wollte zu uns«, sagt Kostenko. Doch Alexander kam nie an. Nach der Vertreibung der russischen Armee fand man seine Leiche am Straßenrand. Er lag neben seinem Fahrrad, drei Kilometer von Kopyliv entfernt. Er wurde mit einem großkalibrigen Maschinengewehr erschossen, wahrscheinlich von der Besatzung eines gepanzerten Transporters. »Wir können die Mörder zurzeit nicht überführen«, bedauert Koval. »Doch wir haben die russische Einheit identifiziert, die dort im Einsatz war.« Er und seine Kolleg*innen verfolgen jede Spur und leisten Puzzlearbeit. Sie durchsuchen Online-Netzwerke nach Fotos und Videos, befragen Augenzeug*innen und Verwandte der Opfer, sprechen mit Bürgermeister*innen, ukrainischen Armeeangehörigen und lokalen Ärzt*innen. »In den Dörfern wissen die Leute sehr gut, wen die Russen gefoltert, entführt oder getötet haben«, sagt Koval. Die Ermittler*innen fotografieren, filmen und dokumentieren alles in einer Datenbank. Erst wenn genügend Beweise dafür vorliegen, dass es sich um ein Kriegsverbrechen handelt, übergeben sie den Fall an die Generalstaatsanwaltschaft. »Die Verbrechen, die die Russen in Butscha oder Borodianka begingen, sind keine Einzelfälle«, stellt Koval fest. »Sie zeigen vielmehr das Verhaltensmuster einer verrohten Armee, die auch in den kleinen Dörfern ihre Blutspur hinterließ.«

War zwei Wochen lang Gefangener der russischen Armee: Serhii Pogorelov.

dy, mit dem er ihren Aufmarsch filmte und ihre Positionen auf Google Maps markierte. »Sie fesselten mich und führten mich zu ihrem Kommandeur. Dort wurde ich immer wieder geschlagen und sollte gestehen, dass ich für die ukrainische Armee spioniere«, erzählt der 30Jährige. Dann wurde Pogorelov fünf Tage lang in eine Kiste gesperrt. »Immer wieder führten sie mich auf ein Feld, ließen mich dort mit verbundenen Augen knien und hielten mir ein Gewehr an den Kopf – ich dachte jedes Mal, ich werde hingerichtet.« Doch die russischen Soldaten hatten andere Pläne. Sie setzten Pogorelov und zwei weitere Gefangene als menschliche Schutzschilde ein: »Dort, wo sie Minen vermuteten, ließen sie uns vorauslaufen. Und sie versteckten sich hinter uns, wenn wir uns ukrainischen Stellungen näherten.« Nach zwei Wochen zog sich die rus-

sische Armee aus dem Dorf zurück und ließ Pogorelov und seine Mitgefangenen am Leben. Koval und eine Kollegin zeichneten Pogorelovs Martyrium auf und konnten seine Aussagen verifizieren. »In den Dörfern rund um Kiew gibt es viele solcher Geschichten«, sagt Koval. »Hunderte Opfer und Zeugen solcher Verbrechen müssen noch vernommen werden.« Doch die Arbeit von Truth Hounds wird durch praktische Hindernisse erschwert. Vielerorts mangelt es an Kraftstoff. Viele Tankstellen sind geschlossen oder verkaufen nur 15 Liter pro Fahrzeug. Hinzu kommt die psychische Belastung. »Es ist schwer, immer wieder das Leid der Opfer und die Zerstörung zu erleben«, sagt Koval. Doch die Anstrengungen könnten sich lohnen. Die Untersuchungsteams dokumentieren auch Schäden an Infrastruktur und Wohnhäusern. »Vielleicht

… und zerstörte Wohnungen in Irpin.

Scheinhinrichtungen auf dem Feld Auch Serhii Pogorelov erlebte diese Brutalität. Er wurde am 4. März in Kopyliv auf der Straße von russischen Soldaten angehalten. Sie fanden bei ihm ein Han-

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werden wir eines Tages Reparationen für all die Zerstörung fordern können«, hofft der Ermittler. Koval fährt weiter nach Motyshyn, wo die russische Armee mutmaßlich sechs Menschen ermordete, darunter die Bürgermeisterin Olga Sukhenko, ihren Ehemann und ihren Sohn. Die Staatsanwaltschaft fand ihre Leichen in einem Massengrab und konnte durch Aufnahmen von Überwachungskameras und Aussagen von Zeug*innen sechs Personen identifizieren, die mutmaßlich an den Gräueltaten beteiligt waren. Drei von ihnen gehören zur russischen Söldnergruppe Wagner, die auch für unzählige Morde an Zivilpersonen in Syrien und Libyen verantwortlich gemacht wird. Die Staatsanwaltschaft konnte bislang 5.000 russische Armeeangehörige identifizieren, die rund um Kiew im Einsatz waren. »Wir wissen, wer von ihnen Kriegsverbrechen verübt hat«, sagte der leitende Staatsanwalt der Region Kiew, Oleg Tkalenko, Ende Mai. Gegen 80 von ihnen wurden bereits Strafverfahren eingeleitet.

Die Bevölkerung arbeitet digital mit Dass die Ermittlungen schnell vorankommen, ist auch der Bevölkerung zu verdanken. Mehr als eine Viertelmillion Ukrainer*innen haben über ein Online-Portal

Mal wieder auf Spurensuche: Roman Koval und eine Kollegin.

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Viele Tote, selbst gefertigte Kreuze: Opfergedenken an einer Brücke in Irpin.

der Regierung Hinweise und Beweismaterial eingereicht. Das 2021 gestartete Portal diente ursprünglich dazu, staatliche Dienstleistungen zu digitalisieren. 17 Millionen Nutzer*innen sind angemeldet, rund 40 Prozent der Bevölkerung. Inzwischen können darüber auch kriegsrelevante Informationen mitgeteilt werden. Fotos lassen sich mit Standort- und Zeitangaben verknüpfen, um vor Gericht als Beweise zu dienen. Auf der von der Generalstaatsanwaltschaft eingerichteten Website warcrimes.gov.ua reichten Bürger*innen ebenfalls bereits mehr als 10.000 Meldungen über mutmaßliche Kriegsverbrechen ein, teilweise inklusive Beweismitteln. Digitale Beweise für Kriegsverbrechen zu sammeln, ist nicht neu. Doch in der Ukraine habe »die Verwendung von Open-Source-Informationen als Beweismittel eine neue Dimension erreicht«, sagt Nadia Volkova, Direktorin der Ukrainischen Rechtsberatungsgruppe, die ebenfalls dem NGO-Bündnis Ukraine5am angehört. Nach Ansicht von Roman Koval werden die in der Ukraine eingesetzten Technologien die Kriegsverbrecherpro-

zesse des 21. Jahrhunderts verändern. Der Krieg hat auch eine Diskussion darüber in Gang gesetzt, wie man mit Fotos und Videos umgehen soll, die über Facebook, Instagram und andere Netzwerke verbreitet werden. Bisher waren die Betreiberunternehmen verpflichtet, Gewaltabbildungen zu löschen. Nun fordern Menschenrechtsorganisationen, die Dienste sollten Aufbewahrungsorte für Beweise möglicher Kriegsverbrechen bereitstel-


Arbeitete mit den Truth Hounds nahe Kopyliv zusammen: Alexander Gorkovenko.

len, damit sie für Ermittler*innen zugänglich bleiben. Die Liste der russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine ist lang: Folter, Vergewaltigungen und außergerichtliche Hinrichtungen von Zivilpersonen; Entführungen, Zwangsrekrutierungen und Deportationen; wahllose Zerstörung von Wohnhäusern, Krankenhäusern und Schulen; gezielte Gewalt gegen medizinisches Personal und Geistliche; Plünderungen und Beschlagnahme von Eigentum; Einsatz geächteter Waffen, darunter Streu- und Phosphorbomben. Aus der Vielzahl der Orte, in denen die russische Armee Kriegsverbrechen beging, ragt Butscha heraus, 30 Kilometer nordwestlich von Kiew gelegen. Die Stadt mit ihren 36.000 Einwohner*innen ist zum Symbol russischer Gräueltaten geworden. Während der vierwöchigen Besatzung wurden dort mindestens 416 Zivilpersonen getötet. »Die genaue Zahl ist unklar, wir wissen noch nicht, wer sich retten konnte«, sagt Taras Schapravskyj, der stellvertretende Bürgermeister von Butscha. Nach der Befreiung Ende März lagen Dutzende Leichen in den Straßen und Häusern. Viele waren stark verwest oder verbrannt, manche hatten zerschmetterte Gesichter oder waren von Tieren angefressen. »Die Identifizierung war schwierig, manchmal unmöglich«, sagt der Gerichtsmediziner Vladyslav Perovskyj, der Dutzende Autopsien vorgenommen hat.

»Wir wissen, wer von ihnen Kriegsverbrechen verübt hat.« Staatsanwalt Tkalenko

»Viele hatten hinter dem Rücken gefesselte Hände, sie wurden durch Schüsse in den Hinterkopf exekutiert.« Anfang Juni waren 35 Leichen noch nicht identifiziert. »Wahrscheinlich werden wir sie zunächst in nummerierten Gräbern begraben und sie umbetten, wenn wir ihre Angehörigen gefunden haben«, sagt Schapravskyj.

Eindeutige Beweise in Butscha Auch internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch dokumentieren russische Kriegsverbrechen vor Ort. »Wir haben nach Kriegsbeginn damit begonnen, Fotos und Videos auf sozialen Kanälen zu sichten und Satellitenbilder auszuwerten«, sagt Joanne Mariner, die das Crisis-Response-Team von Amnesty leitet. Da die Kampfgebiete zunächst nicht zugänglich waren, wurde die Arbeit anfangs in London geleistet. »Wir konnten Angriffe auf Wohngebiete und zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser und Schulen identifizieren, die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht darstellen.« Seit März arbeiten die Ermittler*innen von Amnesty in Butscha, Irpin und Borodjanka, aber auch in Charkiw und im Donbass. Sie untersuchen Tatorte und befragen Augenzeug*innen. Anfang Mai legte die Organisation ihren ersten Bericht vor, der 22 Fälle von außergerichtlichen Hinrichtungen in Butscha sowie gezielte Angriffe auf Wohnhäuser in Borodjanka dokumentiert. Im Juni folgte ein zweiter Bericht, der den Einsatz international geächteter Streumunition und die Tötung zahlreicher Zivilist*innen im ostukrainischen Gebiet Charkiw festhält. »Auch wenn der Kreml es immer zu leugnen versucht – die Beweise für russische Kriegsverbrechen sind mehr als eindeu-

tig«, sagt Mariner. Das gilt für viele Orte im Umkreis von Kiew. Bis Ende Mai wurden in der Region etwa 1.300 tote Zivilpersonen geborgen, davon konnten mehr als 200 nicht identifiziert werden, sagt Aljona Matveeva, Sprecherin des ukrainischen Innenministeriums. Die Leichen wurden von der Polizei und der Staatsanwaltschaft exhumiert oder in Häusern und auf der Straße gefunden. Alle Fälle werden dokumentiert und untersucht, aber oft lassen sie sich nicht aufklären, wie im Falle der 14-jährigen Arina. Sie war mit ihren Eltern und ihrer Schwester auf der Flucht, als russische Truppen das Auto der Familie am Waldrand bei Kopyliv beschossen. »Ihr Vater und ihre Mutter waren sofort tot«, berichtet Roman Koval. »Arina wurde am Bein verletzt und konnte nicht mehr laufen. Ihre neunjährige Schwester Lera zog sie aus dem Auto und lief ins Dorf zurück, um Hilfe zu holen.« Russische Soldaten lasen Lera auf der Straße auf und brachten sie zu Alexander Gorkovenko, der in der Nähe wohnt. Koval befragte den Rentner und bat ihn um eine Beschreibung der Soldaten. Nach Angaben von Gorkovenko trug keiner ein Rangabzeichen. Sie hätten behauptetet, Arina werde zur medizinischen Behandlung nach Belarus gebracht, doch sei klar gewesen, dass dies eine Lüge sei. Die Staatsanwaltschaft und Truth Hounds versuchten alles, um Arina zu finden, und fragten selbst in belarussischen Krankenhäusern nach. Von der 14-Jährigen fehlt jedoch bis heute jede Spur. ◆ Diesen Artikel können Sie sich in unserer TabletApp vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

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RUSSLANDS ANGRIFFSKRIEG VERBRECHEN AN FRAUEN

Kontinuum des Leids In der Ukraine häufen sich Berichte über Vergewaltigungen durch russische Armeeangehörige. Sexualisierte Gewalt ist inzwischen als Kriegsverbrechen anerkannt – wenn sie bewiesen werden kann. Von Cornelia Wegerhoff

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arta Havryshko sucht nicht lange nach Worten. »Ich denke, der Begriff, mit dem sich die Situation am ehesten beschreiben lässt, ist ›Horror‹.« Die Ukrainerin ist promovierte Historikerin. Seit Jahren erforscht sie sexualisierte Gewalt in Kriegen und Genoziden weltweit, insbesondere während des Holocaust in der Ukraine. Die grauenvollen Situationen, die damalige Zeitzeug*innen beschrieben haben, wiederholten sich jetzt, sagt die 37-Jährige erschüttert. »Es sind die gleichen Muster.« Wegen des russischen Angriffskrieges gegen ihr Land sei der »Horror« nun Teil der Gegenwart. Havryshko lehrte und forschte an der ukrainischen Nationalakademie der Wissenschaften. Anfang März floh sie mit ihrem neunjährigen Kind aus Lwiw in die Schweiz und arbeitet inzwischen an der Universität Basel. Vor Kurzem hat sie geflüchtete Frauen aus Mariupol getroffen. Diese hätten während der Belagerung der ukrainischen Hafenstadt nachts keine Sekunde geschlafen. Zu groß war die Panik, dass russische Soldaten die Dunkelheit nutzten, um ihre Töchter zu kidnappen oder sie selbst vor den Augen der Familie zu vergewaltigen. Ihre Nöte waren berechtigt, sagt die Historikerin. Berichte von Ukrainerinnen, die genau jene Gräueltaten beschreiben, häufen sich. Und auch die entblößten Leichen ermordeter Frauen in Butscha und andernorts bewiesen, »dass die russische Armee sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe« einsetze, klagt Havryshko an. Am 11. April erhob Kateryna Cherepakha, die Vorsitzende der Hilfsorganisa-

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tion La Strada Ukraine, vor dem UNO-Sicherheitsrat in New York den gleichen Vorwurf. Per Video zugeschaltet berichtete sie über Anrufe, die bei der Hotline von La Strada eingehen: »Allein heute – neun Fälle von Vergewaltigungen durch russische Soldaten in den vorübergehend besetzten Städten und Dörfern.« Cherepakha nannte die Orte, sprach von Traumatisierung und davon, dass diese Fälle nur »die Spitze des Eisbergs« seien. Denn die, die es geschafft hätten, an sichere Orte zu gelangen, könnten über das Erlebte meist nicht sprechen. »Sie brauchen zuerst Unterstützung, Therapie, Heilung«, sagte die ukrainische Aktivistin. Viele Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt kämen so nur schwer oder womöglich nie ans Tageslicht. »Das Thema ist extrem stigmatisiert«, bestätigt Monika Hauser, Gynäkologin und Gründerin von Medica Mondiale. Die deutsche Frauenrechtsorganisation setzt sich für ein Ende sexualisierter Gewalt ein und unterstützt weltweit Partnerorganisationen, die kriegstraumatisierten Frauen psychosoziale Hilfe anbieten. »In patriarchalen Gesellschaften wird den Frauen die Schuld zugeschoben. Man wirft ihnen vor, sie selbst hätten die ›Ehre‹ – in Anführungsstrichen, weil das patriarchales Denken ist – verletzt, und nicht etwa der Täter«, erklärt Hauser. Erst wenn diese Denkweise »aufgebrochen« werde, könne darüber gesprochen werden, dass Frauen schwerste Menschenrechtsverletzungen erlebt hätten, und dass sowohl die Familien als auch die gesamte Gesellschaft darum bemüht sein müssten, die Frauen wieder in ihre Mitte zu nehmen und nicht auszugrenzen. Hauser selbst hörte schon in jungen Jahren von ihrer Südtiroler Großmutter von sexualisierter Gewalt. Auch während

ihrer gynäkologischen Ausbildung sei das Thema in allen Kliniken präsent gewesen. Als sie 1992 von den Massenvergewaltigungen in den Balkan-Kriegen erfuhr, hätten die Medien das Thema zwar in reißerischen Schlagzeilen aufgegriffen, aber von Hilfe für die traumatisierten Frauen sei nirgends die Rede gewesen. Also reiste Hauser kurzerhand selbst ins Kriegsgebiet. Zusammen mit 20 bosnischen Fachfrauen baute die Ärztin das erste Frauentherapiezentrum in Zenica auf. »Der Mut der bosnischen Frauen hat viel zutage gebracht«, sagt sie heute. Der Internationale Strafgerichtshof bestätigte nach dem Bosnien-Krieg in wegweisenden Urteilen, dass hinter den Vergewaltigungen muslimischer Frauen das Ziel steckte, die bosnische Bevölkerung als Ethnie zu eliminieren. Es kam zu mehr als hundert Verurteilungen, allerdings blieb die Mehrheit der Täter straffrei. Sie zur Rechenschaft zu ziehen, sei schwer, bedauert Hauser. Und viele der betroffenen Frauen hätten sich dadurch, dass die Medien ihre Gesichter zeigten und ihre Namen nannten, erneut missbraucht gefühlt und sich traumatisiert zurückgezogen.

Überlebende brauchen Unterstützung Mit Blick auf die Lage in der Ukraine fordert Medica Mondiale, dass dortige Frauenrechtsorganisationen und Frauenrechtsaktivistinnen dringend unterstützt werden. Überlebende sexualisierter Gewalt im Krieg benötigten langfristige, ganzheitliche und sensible Unterstützung. Aus den Erfahrungen der vergangenen 30 Jahre weiß Hauser, dass das staatliche Gesundheitspersonal und Mitarbeiter*innen von Beratungsstellen geschult werden müssen, um diese spezielle Gruppe traumasensibel unterstützen zu können. Sie kritisiert, dass auch über sexuali-


Gefahrenzone: In Kriegen kommt es weltweit zu sexualisierten Gewalttaten – auch der aktuelle Konflikt in der Ukraine macht hier keine Ausnahme. Butscha, Ende Mai 2022. Foto: Florian Bachmeier

sierte Gewalt in der Ukraine zum Teil wieder reißerisch berichtet werde und fordert mehr Respekt für die Opfer. Dass Vergewaltigungen strategisch angeordnet wurden, könne wohl in den wenigsten Fällen bewiesen werden. Aber Befehle seien gar nicht nötig. Auch in Vietnam und anderen Kriegen hätten die Männer ihr »patriarchales Rüstzeug« bereits von zu Hause mitgebracht. »Und wenn Putin die Täter von Butscha ehrt, dann ist das eine klare Legitimation«, stellt Hauser fest. Bei der Sitzung des UNO-Sicherheitsrats am 11. April 2022 beschied der Botschafter Russlands nur knapp, russische Soldaten begingen keinerlei sexualisierte Gewalttaten. Amnesty International hat jedoch andere Informationen. So weiß Katharina Masoud, Amnesty-Fachreferen-

»Den Frauen wird die Schuld zugeschoben.« Monika Hauser, Medica Mondiale

tin für Geschlechtergerechtigkeit, zum Beispiel von einer Frau in der Ukraine, die mehrfach von russischen Soldaten mit vorgehaltener Waffe vergewaltigt wurde. Und das, nachdem ihr Mann zuvor außergerichtlich hingerichtet wurde. Derzeit recherchiert Amnesty weitere mögliche Fälle sexualisierter Gewalt im UkraineKrieg. »Lange Zeit wurden sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungen gar nicht als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet«, erläutert Masoud. Doch das Römische Statut zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshof, seit 2002 in Kraft, habe explizit geregelt, dass es sich um Verbrechen nach dem Völkerstrafrecht handelt. Dies sei ein großer Fortschritt. Die Expertinnen sind sich aber auch darüber einig, dass »sexualisierte Gewalt im Krieg unbedingt als Teil eines größeren Systems von geschlechtsspezifischer Gewalt zu verstehen ist«, wie Masoud sagt. Diese Kriegsverbrechen seien überall auf der Welt Teil eines Kontinuums. Denn mit ihnen setze sich die Gewalt, unter der Frauen bereits in Friedenszeiten zu leiden haben, weiter fort.

In der Tat habe auch die Ukraine in Sachen Geschlechtergerechtigkeit einiges nachzuholen, bestätigt die Historikerin Havryshko. Frauen stellten im Parlament nur 20 Prozent der Abgeordneten. Sie müssten aber auf höchstem Niveau mit verhandeln, wenn es um die Zukunft der Ukraine gehe. Denn der »Horror« müsse so schnell wie möglich ein Ende haben. Havryshko weist dabei auch auf die sexualisierte Gewalt hin, der Flüchtende ausgesetzt sind, und auf die großen Probleme, vor denen vergewaltigte Ukrainerinnen angesichts des restriktiven Abtreibungsrechts in Polen stehen. Die jüngste schlechte Nachricht aus ihrer Heimat zeige, wie gefährdet Ukrainerinnen in den russisch besetzten Gebieten sind: In Cherson sei eine befreundete Psychologin entführt worden. »Am frühen Morgen sind sechs russische Soldaten in ihre Wohnung gestürmt und haben sie mitgenommen«, berichtet Havryshko. Noch wisse niemand, was ihrer Freundin zugestoßen sei. ◆

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RUSSLANDS ANGRIFFSKRIEG BINNENFLÜCHTLINGE

Fern von Bomben und Raketen Die Stadt und die Region Czernowitz im Südwesten der Ukraine spielen eine wichtige Rolle bei der Aufnahme von Binnenflüchtlingen. Auch ein orthodoxes Kloster bietet Obdach. Von Keno Verseck (Text und Fotos)

S

ie kannte den Krieg schon. Vor acht Jahren gingen Granaten und Raketen auf ihre Heimatstadt Kramatorsk nieder. Monatelang wurde immer wieder gekämpft. Doch sie blieb. Auch diesmal wollte Tatjana Marinitsch nicht weg. Einen Monat lang hielt sie den Beschuss aus. Dann fielen Phosphorbomben auf die Stadt. Es war der Augenblick, als sie sich zur Flucht entschloss. Kurz darauf bestieg sie mit ihren Kindern einen Evakuierungszug. So erzählt die 46-Jährige die Geschichte ihrer Flucht aus Kramatorsk im Osten der Ukraine. Tatjana Marinitsch leitete dort ein Textilgeschäft. Nun sitzt sie mehr als tausend Kilometer weiter westlich in einem Gebäude, das zu einem orthodoxen Kloster gehört. »Ich weiß nicht, wie

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es weitergehen soll«, sagt sie leise. Sie hat eine sanfte Stimme, weiche Gesichtszüge und traurige hellblaue Augen. Immer wieder versucht sie zu lächeln, aber es gelingt ihr nicht. Das orthodoxe Mönchskloster Banceni liegt im Südwesten der Ukraine. Es ist ein weiträumiger Komplex mit einer großen Kirche, Wohnanlagen, einem Kinderheim, Wirtschaftsgebäuden und einer Bäckerei inmitten von Hügeln. Das Gebäude, in dem Tatjana Marinitsch wohnt, beherbergt normalerweise Pilger*innen und Urlauber*innen. Doch jetzt leben hier Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten der Ukraine. Rund 600 sind es, vor allem Frauen und Kinder. Die orthodoxen Kirchen haben keine ausgeprägte karitative Tradition, viel hängt von Initiativen einzelner Priester

ab. In Banceni war es der Gründer des Klosters, Bischof Mihail Jar Longhin, der nach Beginn des russischen Angriffs beschloss, Flüchtlinge und Waisenkinder aus anderen Landesteilen aufzunehmen. Der 56-jährige Geistliche, der als Kind in einem Heim aufwuchs, ist in der Ukraine seit Langem für seine Kinderhilfsprojekte bekannt. Bisher fanden mehr als 12.000 Flüchtlinge zumindest zeitweilig Obdach im Kloster. Tatjana Marinitsch und ihre Söhne Ilja, 12, und Tihon, 8, kamen Anfang April nach Banceni. Wenige Tage später wurde der Bahnhof von Kramatorsk, wo sie in den Zug gestiegen waren, von russischen Raketen beschossen. Dabei starben 57 Menschen, unter ihnen fünf Kinder. Marinitsch schüttelt fassungslos den Kopf, wenn sie daran denkt. »Ich habe keine Erklärung für diesen Angriff, ich verstehe diesen ganzen Krieg gegen die Ukraine nicht«, sagt sie. »Die Notwendigkeit einer Entnazifizierung ist erfunden. Niemand ist diskriminiert worden«, sagt sie. »Wir haben alle zusammen ein friedliches Leben gelebt.« Ihr Textilgeschäft ist geschlossen. Die Wohnung, in der sie lebte, steht noch. Sie ruft jeden Tag einige ältere Nachbarn an, die nicht weggehen wollen, und erkundigt sich, ob das Haus noch steht. Ab und zu hat sie Kontakt zu ihrem geschiedenen Mann, der ebenfalls in Kramatorsk geblieben ist. In Banceni wohnt sie in einem schmucklosen Raum von 25 Quadratmetern, zusammen mit einer Frau aus Mykolajiw und deren beiden Kindern. Ein Priester im Altarraum der Klosterkirche in Banceni, April 2022.


Tatjana Marinitsch und ihre Söhne Ilja (l.) und Tihon.

Ihre Tage verbringen die Frauen mit Telefonaten, mit Gesprächen und mit Saubermachen, sie helfen den Kindern beim Online-Schulunterricht und bei den Hausaufgaben. »Zum Glück verstehen wir uns in unserem Zimmer alle sehr gut«, sagt Marinitsch und versucht zu lächeln.

»Es lebe die Ukraine!« Banceni liegt im Einzugsgebiet von Czernowitz. Die ehemalige habsburgische Stadt und ihre Umgebung sind bisher von Bomben- und Raketenangriffen verschont geblieben. Warum, das weiß niemand in Czernowitz so genau. Vielleicht, so wird spekuliert, weil die Stadt nur 40 Kilometer von der rumänischen Grenze entfernt liegt und die russische Armee möglicherweise irrtümliche Raketeneinschläge auf Nato-Gebiet vermeiden will. Dennoch ist der Krieg in der Stadt auf Schritt und Tritt zu spüren. Überall hängen patriotische Plakate. Manche rufen zum freiwilligen Wehrdienst auf, auf manchen steht einfach nur: »Es lebe die Ukraine!« Wie im ganzen Land ertönen auch hier oft die Sirenen, wenn die ukrainische Luftabwehr den Aufstieg russischer Raketen meldet. Abends flüchten die Menschen dann häufig in Luftschutz-

»Wir haben noch nie einen so großen Zusammenhalt gehabt.« Bürgermeister Klitschuk

Tatjana Shiptschin, eine Mitarbeiterin und Marina Gjekowa.

keller, tagsüber geht das Alltagsleben trotz Alarm vielfach einfach weiter. Vor allem aber sind in der Stadt und im Umland viele Fahrzeuge mit Kennzeichen aus anderen ukrainischen Landesteilen zu sehen. In den Hotels und Pensionen gibt es so gut wie keine freien Plätze mehr, in den Studierendenwohnheimen der Universität leben fast ausschließlich Flüchtlinge, und auch viele Privatpersonen in Czernowitz und Umgebung haben Geflüchtete aufgenommen. »Der erste Eindruck der Ruhe in der Stadt täuscht«, sagt Bürgermeister Roman Klitschuk. »Der Krieg ist hier jeden Tag präsent, auch wenn bisher noch keine Bomben auf uns gefallen sind. Wir haben Freunde und Verwandte an der Front, es gibt Luftalarm, und es kommen viele Flüchtlinge.« Klitschuk schätzt, dass sich etwa 60.000 Binnenflüchtlinge in Czernowitz aufhalten. Die Stadt hatte zuvor gut 250.000 Einwohner*innen, nun sind es mehr als 300.000. »Wir spielen eine große Rolle für Binnenflüchtlinge«, sagt Klitschuk, »denn wir funktionieren wirtschaftlich noch.« Er betont, dass die Hilfsbereitschaft und Solidarität sehr groß seien. »Wir haben noch nie einen so großen Zusammenhalt gehabt.« Das ist auch im Kloster Banceni zu spüren, eine halbe Autostunde von Czernowitz entfernt. Bischof Longhin ist wegen einer Erkrankung verhindert und kann keinen Besuch empfangen. Deshalb führt die Ärztin Tatjana Shiptschin durch die Anlage. Sie leitet das klostereigene Kinderheim, in dem seit vielen Jahren schwerstbehinderte HIV-kranke Kinder mit modernen Therapien betreut werden.

Tatjana Shiptschin empfindet es als eine christliche Pflicht, Flüchtlinge aufzunehmen, und preist den Bischof für seine Großherzigkeit. »Wir bereiten uns gerade darauf vor, auch längerfristig behinderte und kranke Kinder aus Heimen in der Ostukraine aufzunehmen«, sagt sie. »Und von den geflüchteten Erwachsenen konnten wir bereits einige als Arbeitskräfte einstellen, unter anderem drei Ärztinnen.« Eine davon ist Marina Gjekowa, eine Kinderneurologin aus Charkiw. Die 43Jährige betreut Kinder mit Behinderungen und entwickelt Therapien für sie. Sie flüchtete Anfang März mit ihrem Mann und ihrer Tochter zu Verwandten nach Czernowitz. »Ich habe das Gefühl, alles verloren zu haben und völlig von vorn anzufangen«, sagt sie. »Und dabei sind wir als Familie noch privilegiert. Mein Mann arbeitet als Bankangestellter im Homeoffice, ich kann als Ärztin im Kloster arbeiten, und wir haben Verwandte, bei denen wir vorläufig wohnen können.« Tatjana Marinitsch hat das Gefühl, nur ihr eigenes nacktes Leben und das ihrer Kinder gerettet zu haben. Ihre beiden Söhne schmiegen sich im Gespräch an sie. Auch sie wirken sehr traurig und verloren. »Ich hatte große Angst in den ersten Kriegstagen«, sagt der zwölfjährige Ilja. Tatjana Marinitsch blickt ihren jüngeren Sohn Tihon zärtlich an: »Und du hast in der ersten Kriegsnacht geschlafen.« Dann schaut sie wieder ernst in die Ferne. »Es ist alles so schrecklich«, sagt sie. »Und wie im Nebel.« ◆

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RUSSLANDS ANGRIFFSKRIEG KOMMENTAR

Best Practice für alle Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union behandeln Kriegsflüchtlinge unterschiedlich. Warum ist das so? Und was ließe sich daran ändern? Ein Kommentar von Franziska Vilmar

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ls am 24. Februar der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine erfolgte, zögerten die Staats- und Regierungschef*innen der EU nicht lange. Nur eine Woche später beschlossen sie einstimmig und unter Verweis auf die Richtlinie über den vorübergehenden Schutz aus dem Jahr 2001, die Aufnahme von Flüchtenden in Europa gemeinsam zu regeln. Auch Länder wie Polen und Ungarn hielten plötzlich ihre Grenzen offen und bekannten sich solidarisch und in überraschender Deutlichkeit zum Flüchtlingsschutz. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits mehr als eine Million Menschen die Ukraine verlassen. Die Geflüchteten erhielten Freifahrten mit der Bahn, durften sich das Land ihrer Wahl aussuchen und konnten wählen, ob sie privat unterkommen oder ein staatliches Unterkunftsangebot annehmen wollten. In polnischen Grenzstädten und an Bahnhöfen vieler europäischer Städte halfen Freiwillige den Ankommenden – überwiegend Frauen und Kinder – bei der Orientierung, dem Transport und der Unterbringung. Wo es ging, wurden Russischkenntnisse reaktiviert. Bereits Ende März erklärte auch die Bundesregierung, Ukrainer*innen möglichst schnell und dauerhaft in den Arbeitsmarkt integrieren und dafür die Anerkennung von Berufsabschlüssen beschleunigen zu wollen. Kurz darauf

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wurde beschlossen, dass zum vorläufigen Schutz, der vorerst auf zwei Jahre begrenzt ist, auch der Zugang zu SGB II-Leistungen gehört. Ukrainer*innen erhalten seit dem 1. Juni wie deutsche Staatsbürger*innen eine Grundsicherung und nicht die geringeren Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Wenngleich sich die im Flüchtlingsbereich aktiven Organisationen über Pragmatismus, Tempo und Aufnahmewillen europäischer Regierungen im Hinblick auf Geflüchtete freuen, so stellen

Warum gibt es in Polen weiter gewaltsame Pushbacks an der Grenze zu Belarus? sich auch Fragen: Warum bekommen nur Ukrainer*innen diese Vergünstigungen und nicht alle Drittstaatsangehörigen aus der Ukraine oder, noch besser, alle Kriegsflüchtlinge? Handelt es sich dabei um Rassismus? Und warum hat man die Richtlinie über den vorübergehenden Schutz nicht 2015/16 angewandt, als Syrer*innen und Afghan*innen in der EU Schutz suchten, wie Amnesty International es seinerzeit forderte? Wenn die polnische Regierung sich nun zum Flüchtlingsschutz bekennt, warum gibt es unverändert gewaltsame Pushbacks gegen Schutzsuchende an der polnischen Grenze zu Belarus?

Aus guten Gründen liegt die Hauptzuständigkeit der Flüchtlingsaufnahme (zunächst) in der unmittelbaren Nachbarregion des Staats, in dem ein Konflikt ausbricht. Wer sich Hals über Kopf in Sicherheit bringt, hofft oft, bald wieder heimkehren zu können. So sind auch die EUMitgliedstaaten im Hinblick auf die Ukraine zuständig für die inzwischen über 6,5 Millionen Geflüchteten. Im Konflikt in Syrien hat Amnesty immer wieder Nachbarstaaten wie den Libanon oder Jordanien aufgefordert, ihre Grenzen offenzuhalten. Wegen familiärer, freundschaftlicher und kultureller Verbindungen zwischen angrenzenden Ländern identifiziert sich die Bevölkerung auch stärker mit den Leidtragenden. Diese Identifikation darf aber keine Leitlinie politischen Handelns sein. Die Rechte aus der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und auch aus dem europäischen Asylsystem gelten unterschiedslos für jede Person, die Schutz sucht. Nichts spricht dagegen und alles dafür, positive Erfahrungen mit europaweiter Solidarität, Unterstützung bei der Orientierung von Geflüchteten, Verständnis für die Situation von Betroffenen völkerrechtswidriger Invasionen und schneller Integration in den Arbeitsmarkt über den Kontext des Ukraine-Krieges hinaus anzuwenden. Das diskriminierende Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen, wäre ein erster richtiger Schritt. ◆ Franziska Vilmar ist Fachreferentin für Asylrecht und -politik bei Amnesty in Deutschland.


RUSSLANDS ANGRIFFSKRIEG AMNESTY INTERNATIONAL

So lebe und arbeite ich im Krieg

I

ch erinnere mich an den ersten Tag des Krieges. Es war 6 Uhr morgens, als mich ein Anruf weckte. Statt ihn zu beantworten, las ich Nachrichten und stellte schockiert fest, dass der Krieg begonnen hatte. Ich war darauf nicht vorbereitet. Als ich auf den Straßen Kiews unterwegs war, sah ich viele Menschen mit Taschen und Haustieren. Da war ein hohes Maß an Angst spürbar, alles war ungewiss. Das war auch der Moment, als ich zum ersten Mal Sirenen hörte, die vor einem Luftangriff warnten. Zu Hause suchte ich Kleidung, Geld und Dokumente zusammen. Als ich meine Freundin anrief, sagte sie, sie habe die Stadt bereits verlassen und dass ein weiterer Luftangriff erwartet werde. Ich verbrachte die halbe Nacht mit Freund*innen im Badezimmer, weil wir es für den sichersten Ort in der Wohnung hielten. Am nächsten Morgen war die Atmosphäre beängstigend, denn es waren kaum Menschen auf den Straßen zu sehen, nur einige in ihren Autos. Ich verließ Kiew und fuhr mit dem Zug in meine Heimatstadt Kropivnitskiy im Zentrum der Ukraine. Seither lebe ich dort. Es ist relativ sicher, aber wir haben schon zwei Luftangriffe erlebt. Einer davon auf den Flughafen, von dem ich nur zehn Kilometer entfernt lebe. Ich hatte Glück, nichts wirklich Schreckliches zu erleben, ich musste keine Kampfhandlungen oder Leichen sehen. Es entbehrt wahrscheinlich jeder

Amnesty kann sich in der Ukraine nicht allen Fällen widmen. Es sind zu viele.

Logik, dass ich geblieben bin. Ich hörte auf mein Gefühl und wollte bei meiner Familie sein. Und ich lebe noch. Ich analysiere jeden Tag die Nachrichten, und es ist erschütternd, zu sehen, was in der Ukraine passiert und dass einige Städte bereits ausgelöscht sind. Für Amnesty arbeite ich im Presse- und Medienbereich und beantworte Anfragen. In den vergangenen Jahren haben wir insbesondere zu geschlechtsspezifischer Gewalt gearbeitet, zu LGBTI+-Rechten und zur Situation auf der Krim. Unser Team ist nun über das ganze Land verteilt, andere halten sich in europäischen Ländern auf. Ich arbeite derzeit überwiegend online, suche nach Augenzeug*innen von Kriegsverbrechen und dokumentiere ihre Aussagen. Vor dem Krieg gab es Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine, aber die Situation war insgesamt nicht schlecht. Damals waren wir schockiert, wenn etwas passierte, aber jetzt erleben wir täglich Gräueltaten und haben keine Zeit mehr für unsere früheren Themen. Am schrecklichsten ist es für mich zu erfahren, wenn das Leben einfach aufhört. In Butscha und Irpin lagen Leichen auf den Straßen, Zivilist*innen ohne Waffen, und wir hörten von vergewaltigten Frauen. Wir wissen nicht, wie viele Opfer es in Mariupol gibt, aber die Zahlen sind für mich unvorstellbar. Amnesty kann sich in der Ukraine momentan nicht allen Fällen widmen, es sind zu viele. Stattdessen konzentriert sich Amnesty auf bestimmte Fälle und analysiert Kriegsverbrechen. Alle, die sich derzeit in den von russischen Truppen besetzten Gebieten aufhalten, sind gefährdet. Dort werden beispielsweise Journalist*innen, Bürgermeister*innen und

Foto: privat

Kateryna Mitieva, Medienbeauftragte von Amnesty International Ukraine, ist auch nach dem russischen Angriff im Land geblieben. Sie dokumentiert nun Kriegsverbrechen. Ihre Situation hat die Amnesty-Koordinationsgruppe Belarus/Ukraine Ende April protokolliert.

Möchte zurück nach Kiew, sobald es geht: Kateryna Mitieva.

Geistliche entführt. Zivilpersonen zu entführen, ist ein Kriegsverbrechen, und ich sehe es als unsere Hauptaufgabe an, der Weltöffentlichkeit und dem Internationalen Strafgerichtshof Belege und Beweise zur Verfügung zu stellen. Ich rufe alle Menschen weltweit dazu auf, Demonstrationen zu besuchen und Druck auf ihre Regierungen auszuüben. Die internationale Gemeinschaft muss die Kriegsverbrechen untersuchen und die Ukraine darin unterstützen, faire Prozesse gegen die Verantwortlichen zu führen. Ich zähle die Tage, bis ich zurück nach Kiew kann. Unser Leben wird nicht mehr so sein wie zuvor, aber ich hoffe, dass wir unser Land ohne Krieg sehen werden, ohne alltägliche Gräueltaten, ohne das Töten von Menschen. Ich hoffe, dass wir endlich frei sein werden. ◆

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RUSSLANDS ANGRIFFSKRIEG BELARUSSISCHES EXIL

Belarussische Atmosphäre in Litauen: Auf den Fluren der Europäischen Humanistischen Universität, Vilnius, März 2022. Foto: EHU

Hochschule der Verlorenen In der litauischen Hauptstadt Vilnius gibt es seit 2004 die Europäische Humanistische Universität. Die überwiegend belarussischen Studierenden kennen die Repressionen der Regierung Lukaschenko schon länger. Nun kommt noch der Krieg Russlands gegen die Ukraine hinzu. Von Sead Husic

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m Schwarzen Brett hängt eine kleine ukrainische Flagge, so wie man sie in Vilnius derzeit an vielen Stellen findet. In Litauen ist die Solidarität mit der Ukraine stark ausgeprägt, weil viele Menschen fürchten, sie könnten das nächste Angriffsziel der russischen Armee werden. In den Fluren der Europäischen Humanistischen Universität (EHU) sieht man die ukrainische Flagge aber besonders häufig. Die Hochschule befindet sich in den Gemäuern eines ehemaligen Klosters in der Altstadt und hat rund 800 Studierende, vor allem aus Belarus. Zudem sind etwa 1.200 Fernstudierende an der auf Sozial-, Geistesund Rechtswissenschaften spezialisierten Universität eingeschrieben. Es ist ein sonniger und recht stiller Vormittag im März. Die Verwaltungsbüros der Hochschule gehen alle von einem Gang ab, man hört das Geklapper einer Tastatur. Eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren tritt aus einem der Räume und stellt sich als Pressesprecherin vor. Anastasya Radzionava hat schon viele Politiker*innen, Diplomat*innen und Journalist*innen aus aller Welt durch die EHU geführt. Die private Hochschule gilt als einzige Exil-Universität Europas. Sie ist ein Zufluchtsort für belarussische Studierende, die nicht im repressiven Bildungssystem ihres Landes, sondern in einer freieren Umgebung ausgebildet werden wollen. Ihr Ziel ist es, Teil einer Bürger*innengesellschaft zu sein, für die eine unabhängige Justiz, freie Wahlen und Meinungsfreiheit zu Selbstverständlichkeiten zählen. In Belarus gibt es dies seit Langem nicht. Zwar haben dort nach der manipulierten Präsidentschaftswahl im August 2020 Hunderttausende gegen Präsident Alexander Lukaschenko demonstriert, aber

»Ich weiß nie, ob ich an der Grenze abgeführt werde.« Anastasya Radzionava

ohne Erfolg. Zehntausende wurden festgenommen, bedroht, misshandelt oder gefoltert. Und so ist es auch nicht ungefährlich, an der EHU immatrikuliert zu sein. Das haben einige der ehemaligen Studierenden und Lehrenden deutlich zu spüren bekommen. Das prominenteste Opfer ist die Studentin Sofia Sapega. Die Lebensgefährtin des bekannten regierungskritischen Bloggers Roman Protasewitsch befand sich am 23. Mai 2021 mit ihm auf einem Flug von Athen nach Vilnius, als die belarussischen Behörden das Flugzeug zur Landung in Minsk zwangen. Dort wurden beide festgenommen. Im Mai 2022 verurteilte ein belarussisches Gericht die 24Jährige wegen angeblicher Anstachelung zum Hass zu sechs Jahren Haft. Der Prozess gegen Protasewitsch ist noch nicht abgeschlossen. Auch andere, weniger bekannte Studierende der Hochschule befinden sich in Belarus in Haft (siehe S. 26). Pressesprecherin Anastasya Radzionava fährt öfter die knapp 200 Kilometer von ihrer Hauptwohnung in Minsk zu ihrer Arbeit an der Hochschule in Vilnius, trotz Drohungen und Repression. Seit der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 begann, ist ihre Angst noch größer, weil die belarussische Regierung, die an der Seite Putins steht, noch repressiver agiert als zuvor. »Meine Mutter und meine Familie leben in Minsk. Jede Fahrt ist ein Risiko. Ich weiß nie, ob ich an der Grenze abgeführt und dem Geheimdienst übergeben werde«, sagt sie. Für ein Foto stellt sie sich mit dem Rücken zur Kamera. Es sei besser, wenn ihr Gesicht nicht in Zeitungen und im Internet zu sehen sei.

Schützt sich und ihre Familie: Pressesprecherin Anastasya Radzionava. Foto: Sead Husic

Die Freiheit schien nah Professor Alexander Kalbaska lässt sich von vorne ablichten, obwohl er mit allem rechnen muss. Er reist regelmäßig zu seiner Frau und seinen Kindern, die in Minsk leben. Angst vor der Omon, der gefürchteten Spezialeinheit der belarussischen Miliz, die für ihr brutales Vorgehen gegen Oppositionelle bekannt ist, hat er nicht. Zu lange schon lebt der 66-Jährige

Würde gerne noch ein »freies Minsk« erleben: Professor Alexander Kalbaska. Foto: Sead Husic

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Auch sie fürchten die Repression: Studierende auf dem Gelände der EHU. Foto: Sead Husic

mit dem Druck. Kalbaska hat das freundliche und gewandte Auftreten eines gebildeten Mannes, der perfekt Englisch spricht und schon viel erlebt hat. Am Revers trägt er die gekreuzten Flaggen Litauens und der Ukraine. Er unterrichtet Museumswissenschaft und gehört zu den Mitgründern der Universität, die ursprünglich 1992 in Minsk entstand. Zeitweise war er auch Dekan der Fakultät für Künste. »Es schien damals, als breche eine Zeit der Freiheit an, es gab viel frischen Wind. Wir glaubten, dass wir frei denken, offen reden und unsere Meinung sagen könnten. Es war eine Zeit des Aufbruchs«, sagt Kalbaska über die frühen 1990er Jahre. Als Teil einer intellektuellen Bewegung glaubte er, in der formal vom Staat unab-

hängigen geisteswissenschaftlichen Universität Studierende für die Zukunft eines modernen Landes auszubilden. Aber genau das war Alexander Lukaschenko ein Dorn im Auge. Im Jahr 2004 ließ er die Universität schließen. Gleichzeitig nahm die Repression im Land zu. Die EHU zog nach Vilnius in Litauen. »Ich hatte die Ehre, mit anderen Dekanen und dem Rektor Anatolij Mikhailov die EHU hier neu aufzubauen«, sagt Kalbaska. Es fällt ihm schwer, über die gegenwärtige Lage zu sprechen. Denn einerseits wolle man als Bildungsinstitution nicht der verlängerte Arm einer bestimmten politischen Richtung oder Partei sein. Andererseits zwinge der Krieg die Lehrkräfte, Stellung zu beziehen. Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana

Tichanowskaja war bereits mehrmals zu Gast an der EHU und sprach dort über ihre Hoffnung auf eine demokratische Zukunft in Belarus. »Meine Kollegen und ich dachten lange, dass wir mit unserer Universität in ein freies Minsk zurückkehren können. Mittlerweile ist mir schmerzhaft bewusst, dass ich das wohl nicht mehr erleben werde«, sagt Kalbaska. Das Unrecht in Belarus spiegelt sich in Tausenden Schicksalen an der EUH wider. So auch im Fall von Jaroslawa. Die 19-Jährige wirkt mit ihren blonden Haaren, blauen Augen und ihren vielen Sommersprossen im Gesicht viel jünger. Doch wenn sie spricht, strahlt sie eine gewisse Lebenshärte aus. Jaroslawa erzählt, dass ihre Familie zerrissen ist. Ihre Eltern sind

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Mikalai Dziadok schloss sein Studium an der die EHU 2019 ab und wurde am 12. November 2020 inhaftiert. In der Haft verschlechterte sich seine Gesundheit rapide. Dziadok wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Foto: spring96

Akihiro Hayeuski-Hanada war im zweiten Studienjahr, als er am 12. August 2020 in Haft kam und schwer misshandelt wurde.

Foto: privat

Marfa Rabkova war in ihrem dritten Studienjahr an der EHU und Koordinatorin des Freiwilligennetzwerks des belarussischen Menschenrechtszentrums Viasna, als

sie am 17. September 2020 in Minsk festgenommen wurde. Ihr drohen 20 Jahre Haft.

Foto: HRCV

Foto: SYMPA

Tatiana Kouzina, Dozentin für Politikwissenschaften an der EHU. Verhaftet am 28. Juni 2021, ihr drohen zwölf Jahre Gefängnis wegen angeblichen Umsturzversuchs.

Foto: spring96

EHU-STUDIERENDE, -LEHRENDE UND -EHEMALIGE, DIE IN BELARUS VERFOLGT WERDEN Wlodzimierz Malachowski beendete sein Studium an der EHU 2013. Die Polizei verhaftete ihn am 13. September 2020 in Vitebsk. Er wurde wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Ihar Barysau machte seinen Abschluss 2008. Er war Parteivorsitzender der Belarussischen Sozialdemokratischen Partei. Die Polizei verhaftete ihn am 21. März 2021, er wurde zu 15 Tagen Haft verurteilt.


»Wegen des Krieges wissen wir alle nicht, wie es weitergehen soll.« Jaroslawa, Studierende vor wenigen Wochen von Minsk nach Spanien gereist, um dort einen Dokumentarfilm über Menschen zu drehen, die vor Putins Politik geflüchtet sind. Die Aktivist*innen kämpfen auch gegen Lukaschenko und schicken ihr und ihrer 16jährigen Schwester Geld. Die Schwester lebt nun allein in der Minsker Wohnung, die einst das Zuhause der gesamten Familie war. »Sie wollte nicht zu unserer Großmutter aufs Land ziehen, sondern schlägt sich durch, weil sie in Minsk ihr Abitur machen will«, sagt Jaroslawa. Auf die Frage, ob sie sich nicht um ihre Schwester sorge, lächelt sie. »Sie ist früh erwachsen geworden und weiß, wie man sich in Belarus verhalten muss. Aber ein wenig Angst habe ich dennoch um sie, und ich werde der glücklichste Mensch sein, wenn sie endlich zu mir nach Vilnius kommt oder wir unseren Eltern nach Spanien folgen«, sagt sie. »Aber wegen des Krieges wissen wir doch alle nicht, wie es weitergehen soll.«

Keine Zukunft in Belarus Ihre Kommilitonin Hana landete auf der EHU, nachdem sie die staatliche Universität für öffentliche Verwaltung in Minsk verlassen musste. »Die Professor*innen dort gaben mir freundlich zu verstehen, dass es für mich besser wäre, zu gehen. Sie waren nicht unfreundlich oder haben mich vertrieben. Ich hatte Bestnoten.

Unscheinbares Gebäude: Die Exil-Universität EHU im Jahr 2019.

Aber dennoch schien ich aufgrund gewisser Äußerungen nicht mehr dazuzugehören«, sagt die 19-Jährige. Jetzt studiert sie Medienwissenschaften und ahnt, dass Vilnius nur eine Zwischenstation in ihrem Leben sein wird. Sie sieht ihre Zukunft im Westen und will versuchen, dort eine Arbeit zu finden. »Meine Eltern, die in Minsk leben, haben mir klargemacht, dass es für mich keine Zukunft in meiner Heimat gibt«, sagt sie. Ähnlich sieht es Alex, die Theaterwissenschaften studiert. »Ich will nach dem Studium an verschiedenen Orten leben. In Paris, London, Amsterdam, und in meinen Vierzigern finde ich heraus, welche Stadt für mich am besten ist«, sagt die 20Jährige. Die anderen Studierenden, die neben Alex stehen, nicken zustimmend, als ob ihnen allen vollkommen bewusst sei, dass sie große Teile ihres Lebens womöglich nicht mehr in Belarus und vielleicht nicht einmal mehr in Osteuropa verbringen werden. Matvej, der Matthew genannt werden will, spricht so gut Englisch, dass man ihn für einen Jungen aus einer US-amerikanischen Vorstadt halten könnte. Er studiert Medienwissenschaften und hofft, im Westen einen Job als Programmierer zu bekommen. »Uns ist klar, dass wir eine Generation der Verlorenen sind. Aber wenn wir uns in Vilnius im Pub treffen, dann versuchen wir, das auszublenden. Wir unterhalten uns über die Professoren, unsere Prüfungen und unsere Pläne. Wir sprechen über unser normales Leben«, sagt der 19-Jährige. Viktoria, die ebenfalls 19 ist, fällt ihm ins Wort: »Aber wir demonstrieren auch vor der russischen Botschaft, organisieren Konzerte und Lesungen und sam-

BELARUS IM KRIEG Belarus wird seit 1994 von Präsident Alexander Lukaschenko autoritär regiert. Seit der gefälschten Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 erkennen ihn zahlreiche Staaten nicht mehr als Staatsoberhaupt von Belarus an. Lukaschenko gilt als enger Gefolgsmann Wladimir Putins. Belarus ist wirtschaftlich extrem abhängig von seinem großen Nachbarn, auch deshalb ist die Regierung in Minsk ein militärischer Verbündeter der Russischen Föderation. Bereits vor Kriegsbeginn stellte Lukaschenko das belarussische Territorium als Aufmarschgebiet zur Verfügung. Seit dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar leistet Belarus logistische Hilfe und erlaubt der russischen Armee die Nutzung von Militärflughäfen. Bisher nahmen belarussische Streitkräfte nicht aktiv an dem Aggressionskrieg teil. Die staatliche Propaganda befeuert jedoch das Feindbild einer »nazistischen« Ukraine, und der Polizeiapparat verschärft die gewaltsame Unterdrückung von Oppositionellen, unabhängigen Journalist*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen.

meln Geld, das wir dann BlueYellow spenden, damit medizinisches Material für die Ukraine gekauft werden kann.« BlueYellow ist eine große litauische Hilfsorganisation, die zur Unterstützung der Ukraine gegründet wurde. Die Studierenden diskutieren, ob auch Litauen von Russland überfallen wird. »Ich glaube nicht, dass Putin das macht«, sagt Matthew, »das wäre ein Krieg mit der Nato.« Viktoria entgegnet ihm: »Wir haben auch nicht geglaubt, dass sie die Ukraine angreifen, und doch ist es geschehen.« Mit einem Mal ist der Krieg sehr nah, es entbrennt eine Diskussion darüber, ob ein Atomkrieg drohen könnte. Ljera, eine 21-Jährige, die bisher sehr still war, schaltet sich ein: »Es bringt doch nichts, daran zu denken. Wir müssen daran glauben, dass das Leben weitergeht. Sonst sind wir schon jetzt am Ende.« Nach dem Gespräch stellen sich die Studierenden im Flur auf, allerdings mit dem Rücken zum Fotografen. Auch sie wollen nicht erkannt werden. Noch vor einigen Monaten hätte sich an dieser Hochschule niemand davor gefürchtet, in einem Zeitungsartikel mit Namen und Gesicht aufzutauchen. Aber die Lage hat sich geändert. »Die Verunsicherung ist spürbar größer geworden. Ich hoffe, dass das alles bald vorbei ist«, sagt Ljera und steht dabei sehr nahe am Schwarzen Brett, an dem eine kleine ukrainische Flagge hängt. ◆

Foto: Elis Bodnar (CC BY-SA 4.0)

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RUSSLANDS ANGRIFFSKRIEG RUSSISCHE MEDIEN IM EXIL

»Die Regierung hat uns sowieso den Krieg erklärt« Immer mehr kremlkritische Journalist*innen fliehen aus Russland. Aus dem Exil versuchen sie, unabhängig über den Krieg gegen die Ukraine aufzuklären. Von Tigran Petrosyan

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ür die Regierung sind sie Volksverräter*innen, ausländische Agent*innen oder Extremist*innen. Bis zu 15 Jahre Haft droht Journalist*innen in Russland, die nicht ausschließlich das Verteidigungsministerium als Informationsquelle nutzen. Neben den russischen Streitkräften, die seit dem 24. Februar 2022 einen erbarmungslosen Krieg gegen die Ukraine führen, kämpft die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor an der Heimatfront. Längst ist die Invasion auch ein Informationskrieg geworden. Opfer sind vor allem die unabhängigen Medien, die ihre Stimme gegen den Krieg erheben und versuchen, der staatlichen Propaganda und Zensur etwas entgegenzusetzen. Nach Angaben der Initiative Roskomsvoboda haben die russischen Zensurbehörden seit dem 24. Februar mehr als 3.000 Websites gesperrt (Stand 9. Juni). Dazu gehören die größten und bekanntesten Medien wie Echo Moskwy, Meduza, Doschd sowie kleine lokale Medien wie das Studentenmagazin DOXA. Auch eine der letzten Bastionen des unabhängigen Journalismus, die Tageszeitung Nowaja Gaseta, ist von diesen Repressionen betroffen. Ihr Chefredakteur,

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der Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, wurde während einer Zugfahrt mit roter Farbe und Aceton angegriffen. Die Website wurde blockiert. Viele Mitarbeiter*innen haben Russland verlassen. Die Journalist*innen versuchen nun im Exil, ihre Arbeit fortzusetzen. Im April hat ein Team der Nowaja Gaseta unter dem neuen Namen Nowaja Gaseta Europe einen Ableger in der lettischen Hauptstadt Riga gegründet. Die Beiträge erscheinen zumeist auf Russisch, einige richten sich außerdem an ein englischsprachiges Publikum. Auch der Chefredakteur der Exil-Ausgabe Kirill Martynov hat im Baltikum jüngst Zuflucht gefunden. »Wir ändern weder unsere Politik, noch wollen wir uns von der Nowaja Gaseta abgrenzen. Wir trennen die beiden Medien nur voneinander, damit die russischen Behörden nicht aufgrund dessen, was wir jetzt aus dem Ausland berichten, Regressansprüche an die Nowaja Gaseta in Russland stellen«, sagt Martynov. Um mehr Menschen in Russland zu erreichen, orientiert sich Martynov an den 1980er Jahren. Der Journalist will die bewährten Traditionen aus Sowjetzeiten wiederbeleben, mit denen man damals die Zensur umging. »Vor allem nachts konnten die Sowjetbürger*innen damals Radiokanäle insgeheim und leise hören«, erzählt er. Für die Zukunft denkt Martynov auch an Fernsehsender mit Satelli-

tenempfang, denn »der Kampf mit der Kreml-Propaganda wird leider sehr lange dauern«. Doch Roskomnadzor hat auch die neue Website von Nowaja Gaseta Europe gesperrt. Martynovs Exilredaktion will dennoch jede Möglichkeit nutzen, um der russischen Bevölkerung Informationen zu liefern. Dazu gehören auch PiratenWebsites, die in Russland nach wie vor populär sind. Auf möglichst vielen dieser Websites ohne staatliche Lizenz, auf denen man Filme sehen, Bücher lesen sowie Inhalte kostenlos herunterladen kann, will er die politischen Inhalte der Nowaja Gaseta Europe platzieren lassen.

Das Baltikum als russisches Exil »Wir wollen die internationale Öffentlichkeit erreichen und vor allem den deutschsprachigen Raum«, sagt Martynov. Berlin könnte mit der Einrichtung eines weiteren Redaktionsbüros die nächste Station sein. Die erste Kooperation steht bereits. Auf Initiative der taz-Panter-Stiftung hat die Tageszeitung taz eine Sonderbeilage mit Texten der Nowaja Gaseta Europe zum 9. Mai herausgebracht: auf Deutsch, Russisch und Ukrainisch.* Das Baltikum war immer schon ein Ort russischen Exils. Auch das Onlinemedium Meduza hat nun seinen Hauptsitz in Riga. Und immer mehr Journalist*innen verlassen Russland wegen der drohenden


Kritisiert den russischen Angriffskrieg nun von Tiflis aus: Doschd-Chefredakteur Tichon Dsjadko. Foto: Evgenia Novozhenina / Reuters

Repressionen. Das Visaproblem im Schengen-Raum bleibt für sie dabei die größte Herausforderung. Viele russische Journalist*innen verfügen nur über ein Touristenvisum, das maximal für 90 Tage gilt. Es gibt auch kremlkritische Medien, die versuchen, Russ*innen aus Georgien, Armenien und der Türkei zu erreichen. Tichon Dsjadko, der Chefredakteur von Doschd, ist gemeinsam mit seiner Kollegin und Ehefrau Jekaterina Kotrikadse in die georgische Hauptstadt Tiflis geflohen. Die beiden Fernsehjournalist*innen senden nun Streams auf YouTube. Im Gegensatz zu anderen Online-Netzwerken wie Instagram, Facebook und Twitter ist YouTube in Russland noch zugänglich. Die Popularität der Streams nimmt im russischsprachigen Raum der postsowjetischen Länder zu. Das Duo von Doschd berichtet über Repressionen, Menschenrechtsverletzungen in Russland, zeigt die Kriegsbilder aus der Ukraine und antirussische Protestaktionen in Georgien.

»Wir spielen mit den Behörden Katz und Maus.« Tatjana Iwanowa, Journalistin

Als der Krieg in der Ukraine begann, standen auch die Journalist*innen der Internetzeitung Bumaga vor einem Problem, weil sie sich der russischen Propaganda entgegenstellten. Bumaga ist ein Regionalmedium im Raum Sankt Petersburg. Sein Ruf reicht jedoch über die Stadt hinaus, die neben großen Antiregierungskundgebungen für ihre alternative Kulturszene bekannt ist. Tatjana Iwanowa gründete 2012 gemeinsam mit dem Medienunternehmer Kirill Artemenko die Internetzeitung. Heute leitet sie die Redaktion mit 45 Mitarbeiter*innen. Ihr Team ist derzeit weit verstreut. »Es ist eine vorübergehende Lösung«, sagt Iwanowa. Sie selbst sitzt mit einigen Kolleg*innen in der Türkei. Andere haben Schutz in Georgien und im Baltikum gefunden. Doch die Korrespondent*innen von Bumaga berichten immer noch aus St. Petersburg – trotz der Gefahr, inhaftiert zu werden. So arbeitete zum Beispiel die Künstlerin und Videomacherin Sasha Skotschilenko auch für Bumaga; nun drohen ihr bis zu zehn Jahre Haft. Neben der Visafrage ist die Finanzierung eine der großen Herausforderungen für die russischen Exilmedien. Fundraising klappt derzeit bei fast allen gut. Auch Bumaga profitiert davon. Die Internetzeitung organisiert zusätzlich Veranstaltungen und Festivals, bietet Stadtführungen in St. Petersburg und selbst Kampfkunst-

training an. Wer in den »Friendsclub« bei Telegram eintreten und die Mailingliste abonnieren will, muss umgerechnet rund fünf Euro im Monat zahlen. »Jeder Zehnte zahlt«, sagt Iwanowa. Wie andere Kolleg*innen hat die Journalistin einen eigenen YouTube- und Telegram-Kanal gegründet, sie macht Podcasts, schreibt Newsletter und E-Mails und informiert so über das Geschehen in Russland und der Ukraine. Ihre Seiten werden von Roskomnadzor immer wieder blockiert. Doch lassen sich die Blockaden umgehen. Als die Behörde paperpaper.ru, die Website von Bumaga blockierte, brachte die Redaktion ihre Website vollständig unter einer anderen Domain heraus: paperpaper.online. Seitdem auch diese Seite blockiert wurde, lässt die Redaktion ihre Website unter paperpaper.site aufrufen. »Wir spielen mit den Behörden Katz und Maus – solange es geht«, sagt Iwanowa. »Solange wir eine Möglichkeit finden, werden wir unsere Stimmen gegen Lüge und Propaganda erheben. Unsere eigene Regierung hat uns sowieso den Krieg erklärt. Wir müssen kämpfen. Es gibt keinen Weg zurück.« ◆ *Transparenzhinweis: Der Autor hat das Projekt geleitet.

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RUSSLANDS ANGRIFFSKRIEG MENSCHENRECHTE BEDROHT

Wer Frieden will, lebt gefährlich: Protest am 27. Februar 2022 in Moskau. Foto: Evgenia Novozhenina / Reuters

Wenn der Geheimdienst zu »Besuch« kommt Die außenpolitische Aggression der russischen Führung geht mit verschärfter Repression gegen die Zivilgesellschaft in Russland einher. In Deutschland werden Bund und Länder ihrer Verantwortung bei der Aufnahme russischer Menschenrechtsverteidiger*innen kaum gerecht. Von Peter Franck

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st der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 eine »Zeitenwende«? Was die menschenrechtliche Lage in Russland angeht, markiert dieses Datum nur eine weitere Etappe in einem Prozess, der sich seit mindestens zehn Jahren beschleunigt. Die Handlungsräume für unabhängiges zivilgesellschaftliches Engagement und die Medienfreiheit wurden in diesem Zeitraum immer enger. Die russische Führung rechtfertigte das mit der Verteidigung »russischer konservativer Werte« gegen den westlichen Liberalismus. Dieser habe sich überlebt und stehe im Widerspruch zu den Interessen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, erklärte Präsident Wladimir Putin bereits in einem Interview Ende Juni 2019. Die anhaltende Unterdrückung von Pluralität und jeglichem unabhängigem Engagement ist eine Voraussetzung dafür, dass das autoritäre Regime den Angriffskrieg in der Ukraine beginnen konnte, ohne im Inneren mit erheblichem Widerstand rechnen zu müssen. Die Repression gegen die Zivilgesellschaft beschleunigte sich spätestens mit dem Beginn der dritten Amtszeit von Putin im Mai 2012. Hatten sich russische Behörden zuvor oft nicht an geltende Gesetze gehalten, so wurden die Gesetze fortan der menschenrechtswidrigen Praxis angepasst: Die Regierung verschärfte Vorschriften bezüglich NGOs, Landesverrat und Demonstrationsrecht. Und sie brachte Gesetze auf den Weg, die sich gegen »nicht-traditionelle« sexuelle Beziehungen und »Blasphemie« richteten. Um die Jahreswende 2020/21 und im Vorfeld der Parlamentswahl im Herbst 2021 legte die Regierung nach und beschloss ein ganzes Paket von Gesetzesverschärfungen. Gleichzeitig intensivierten die Behörden den Kampf gegen Andersdenkende. Die Vollstreckung der Haftstrafe gegen Alexej Nawalny und die Zerschlagung seiner Anti-Korruptionsstiftung sind nur die auffälligsten Beispiele. Auch nach der Wahl ließ der Druck nicht nach. Ende 2021, nur zwei Monate vor dem Überfall auf die Ukraine, lösten die Behörden die beiden wohl wichtigsten Unterorganisationen von Memorial auf, der ältesten unabhängigen Bürger- und Menschenrechtsorganisation Russlands. Ihre Stimmen zum Krieg fehlen nun. Den Angriffskrieg flankierte der Kreml innenpolitisch, indem er die Repression gegen die Zivilgesellschaft noch einmal verschärfte. Drei Tage nach Kriegsbeginn kündigte die russische Generalstaatsanwaltschaft an, dass russische Staatsangehörige, die während der »mili-

tärischen Spezialoperation in der Ukraine« einem ausländischen Staat zum Nachteil der Sicherheit der Russischen Föderation Hilfe leisten, wegen Landesverrats zu Haftstrafen zwischen 12 und 20 Jahren verurteilt werden können. Nur Tage später folgte ein Gesetz, das für die »Diskreditierung« der russischen Streitkräfte bis zu 15 Jahre Haft vorsieht. Vor diesem Hintergrund gab es weniger Antikriegsdemonstrationen als nach der Annexion der Krim im Jahr 2014. Wer es trotzdem wagt, zu demonstrieren, geht ein hohes Risiko ein, festgenommen zu werden. Die Organisation OVD-Info dokumentierte seit Beginn des Angriffskrieges bis Ende Mai rund 15.400 Festnahmen. Eingriffe in die schon vor dem Krieg stark eingeschränkte Pressefreiheit führten dazu, dass unabhängige Journalist*innen kaum noch ihrem Beruf nachgehen können. Medien, die sich kritisch mit den Entwicklungen in Politik und Gesellschaft auseinandersetzten, wie der zuletzt noch im Internet präsente TV-Sender Doschd, das Internetmedium Meduza, der Radiosender Echo Moskwy und die Zeitung Nowaja Gaseta mussten ihre Arbeit in Russland einstellen. Sie alle setzen ihre Tätigkeit nun aus dem Ausland fort.

»Es sind ja unsere Granaten« Die Propaganda der Staatsmedien ist seitdem noch dominanter geworden. Und sie hat Folgen: Derzeit schwappt eine Welle der Denunziation durch das Land; Schüler*innen zeigen Lehrkräfte an, die sich im Unterricht kritisch zum Krieg äußern. Einer Lehrerin aus der Stadt Penza droht eine Haftstrafe wegen »Verbreitung von Fake News« über die russische Armee. Vor Schüler*innen einer achten Klasse hatte sie Russland einen »totalitären Staat« genannt, in dem »jede abweichende Meinung als Gedankenverbrechen« betrachtet wird. Universitätsprofessor*innen, die über Online-Netzwerke Antikriegsbotschaften verbreiteten, wurden entlassen. Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf die internationale Menschenrechtsarbeit, nicht zuletzt auf die Zusammenarbeit zwischen der russischen und der ukrainischen Zivilgesellschaft. Wer sich in Russland im Dialog mit ukrainischen Menschenrechtler*innen befindet, läuft Gefahr, wegen Landesverrats zu einer Haftstrafe verurteilt zu werden. Dennoch wagen es russische Menschenrechtler*innen, denn sie sehen sich in der Verantwortung: »Es sind ja unsere Granaten, die in der Nähe der Häuser unserer ukrainischen Kolleg*innen explodieren. Das ist schmerzhaft«, sagt Swetlana Gannuschkina, die sich in der Flüchtlingshilfe enga-

Die Repression begann spätestens mit der dritten Amtszeit von Putin im Mai 2012. giert. Sie freut sich, dass persönliche Beziehungen zu ukrainischen Kolleg*innen erhalten bleiben: »Wir arbeiten weiter zusammen und helfen den Menschen, die aus der Ukraine hierher kommen, und sie helfen denen, die aus Russland kommen und sich vor diesem Regime verstecken.« Während der Krieg in der Ukraine fortgeführt wird, geht die russische Regierung weiterhin gegen die auf internationalen Austausch ausgerichteten Strukturen der Zivilgesellschaft vor. Anfang April löschte das Justizministerium die Registrierungen von Amnesty International, Human Rights Watch und den deutschen Parteistiftungen, die damit in Russland juristisch nicht mehr handlungsfähig sind. Im Mai wurde die Heinrich-BöllStiftung sogar zu einer »unerwünschten« ausländischen Organisation erklärt. Viele Menschen, die sich in russischen Menschenrechtsorganisationen engagierten, haben nach Vorladungen des Inlandsgeheimdienstes FSB oder nach »Besuchen« des FSB bei ihren Familienangehörigen sowie nach Büro- und Wohnungsdurchsuchungen das Land verlassen. Wollen sie in Deutschland ihre Arbeit fortsetzen, begegnen sie neuen Schwierigkeiten. Die von vielen genutzten Schengen-Visa erlauben pro Halbjahr nur einen Aufenthalt von höchstens 90 Tagen. Danach müssen sie entweder ausreisen oder einen Asylantrag stellen. Entgegen vieler Ankündigungen haben es die Bundesregierung und die Landesregierungen bislang versäumt, ein unbürokratisches Verfahren zu schaffen, das es den Betroffenen erlaubt, ihre Arbeit auf der Grundlage eines gesicherten Aufenthalts fortsetzen zu können. Das Asylverfahren ist keine Alternative, weil Menschenrechtsaktivist*innen für ihre Arbeit auf Reisemöglichkeiten angewiesen sind, die im Asylverfahren ausgeschlossen sind. Auch wir sind gefordert: Es kommt nun darauf an, die in Jahrzehnten aufgebaute Zusammenarbeit mit unseren Partner*innen zu verteidigen und nach Wegen zu suchen, sie fortzusetzen. ◆ Peter Franck ist Russland-Experte von Amnesty International in Deutschland.

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POLITIK UND GESELLSCHAFT AFGHANISTAN

Ihr Ernteeinnahmen haben sich um die Hälfte reduziert. Mohammed Jawad (links) und andere Bauern in der zentralafghanischen Provinz Bamiyan.

Wie der Ukraine-Krieg den afghanischen Bauern Mohammed Jawad trifft Die Herrschaft der Taliban sorgt in Afghanistan für eine Wirtschaftskrise. Und als Folge der Klimakrise bedroht eine lang anhaltende Dürre die Landwirtschaft. Viele Afghan*innen hungern. Text und Bilder von Vincent Haiges

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Afghan*innen am afghanisch-pakistanischen Grenzübergang Spin Boldak. Seit der Machtübernahme der Taliban befindet sich das Land in einer schweren ökonomischen und humanitären Krise.

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ohammed Jawad stammt aus der zentralafghanischen Provinz Bamiyan und ist eigentlich Kartoffelbauer. Seine Arbeit ist saisonal begrenzt, gesät wird im März, geerntet im Oktober, vom Erlös der Ernte ernährt er normalerweise seine vierköpfige Familie auch über die Wintermonate. Doch mittlerweile reichen die Erträge oft nicht mehr für den Winter. Deswegen verkauft er Früchte auf dem lokalen Markt, meist Bananen. Aber auch die kann sich kaum noch jemand leisten. »Niemand kauft mehr Früchte«, stellt Jawad resigniert fest, »die Mittelund die Oberschicht haben das Land verlassen.« Fast ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban erlebt Mohammed Jawad wie Millionen anderer Menschen in Afghanistan die Auswirkungen einer Wirtschafts- sowie der Klimakrise. Zwar konnte dank der Unterstützung humanitärer Organisationen eine Hungerkatastrophe im vergangenen Winter verhindert werden. Die Ernährungslage bleibt aber

Die derzeitige Dürre gilt als eine der schlimmsten der vergangenen 40 Jahre.

weiterhin schlecht. Nach Angaben des Welternährungsprogramms hat fast die Hälfte der Bevölkerung zu wenig zu essen. Die Landwirt*innen bekamen schon vor der Machtübernahme der Taliban zunehmend die Folgen der Klimakrise zu spüren. Afghanistan trägt selbst mangels Industrie kaum zum globalen Klimawandel bei, ist aber stark von den Auswirkungen der Erderwärmung betroffen. Während der Temperaturanstieg seit Mitte des 20. Jahrhunderts global bei 0,82 Grad Celsius lag, betrug er in Afghanistan 1,8 Grad. Sturzfluten, Erdbeben und Erdrutsche, häufig ausgelöst von Gletscherschmelzen in den Bergregionen des Landes, sowie Dürren und extreme Temperaturen sind die Folge. Die derzeitige Dürre gilt als eine der schlimmsten der vergangenen 40 Jahre. Die Auswirkungen sind umso katastrophaler, da ein Großteil der Bevölkerung von der Landwirtschaft abhängig ist. Nach Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen waren es im Jahr 2018 mehr als 80 Prozent. In der Vergangenheit konnten sich viele Bäuerinnen und Bauern bei Dürreperioden oder im Winter als Tagelöhner*innen über Wasser halten. Doch die meisten dieser Jobs fallen nun infolge der Wirtschaftskrise weg. Bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021 stammten 75 Prozent des Staatshaushalts aus dem Ausland. Doch nach dem Sturz

der Regierung stellten die USA und andere Staaten die Zahlungen ein. Viele Arbeitsstellen, die an Entwicklungshilfe gekoppelt oder im Bereich privater Hilfsorganisationen angesiedelt waren, fielen weg. Steigende Arbeitslosigkeit und eine hohe Inflation sind die Folge, hinzu kommen steigende Lebensmittelpreise. Die Situation in der Ukraine verschärft die Lage. Der Krieg treibt die Preise für wichtige Nahrungsmittel weltweit auf neue Höchststände. Die Ukraine ist der viertgrößte Weizenexporteur der Welt. Doch sind Exporte derzeit weitgehend unmöglich, weil Russland ukrainische Häfen am Schwarzen Meer und Transportwege auf See blockiert. Da Afghanistan mehr Getreide konsumiert als es selbst produziert, ist es auf Importe angewiesen. Der Krieg in der Ukraine trifft den Bauern Mohammed Jawad direkt. Der folgende Fotoessay dokumentiert die Auswirkungen von Dürre und Wirtschaftskrise auf die Menschen Afghanistans – von den schneebedeckten Bergen in der nördlichsten Provinz Badakhshan über die Hauptstadt Kabul und das im Zentrum des Landes gelegene BamiyanTal bis zur Stadt Kandahar im Süden. Die Bilder entstanden im Januar 2022 während einer einmonatigen Reise durch Afghanistan. ◆

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Patient*innen in einem Flur im Indira-GandhiKinderkrankenhaus in Kabul. Die Anzahl der Fälle von Unterernährung ist seit dem Sommer 2021 stark gestiegen. Die meisten Patient*innen stammen aus ländlichen Provinzen rund um Kabul. Nach Angaben von Hilfsorganisationen hat fast jeder zweite Mensch in Afghanistan derzeit nicht ausreichend zu essen.

Blumenkohl auf einem Markt in Kandahar. In Afghanistan sind Lebensmittel eigentlich ausreichend verfügbar. Wegen der Wirtschaftskrise fehlen vielen Menschen schlicht die finanziellen Mittel, um Nahrungsmittel zu kaufen. Vor allem Grundnahrungsmittel wie Reis und Öl sind teurer geworden.

Frauen warten bei der Ausgabe von Lebensmitteln in Faizabad im Nordosten Afghanistans auf ihre Registrierung. Dank humanitärer Hilfe, wie hier vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen, konnte eine Hungerkatastrophe bislang verhindert werden.

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Junge Männer spielen Volleyball im Distrikt Saihang in der Provinz Bamiyan. Viele von ihnen arbeiteten früher für die Regierung, haben aber ihre Arbeit verloren, als die Taliban die Macht übernahmen. Seither haben nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation mehr als eine halbe Million Menschen ihre Stelle verloren. Zahlreiche dieser Jobs hingen von der Anwesenheit internationaler Truppen ab. Viele Angestellte wurden von den Taliban entlassen.

Nazzrudin (60) steht in seinem Feld mit 600 Bäumen in Arghandab. Seit 30 Jahren züchtet er Granatäpfel. In dieser Zeit hat er schon drei Dürreperioden erlebt. Jetzt ist es noch trockener, und er kann nur noch weniger als ein Drittel seiner normalen Ernte erwirtschaften.

Auf der Suche nach Nahrung treibt der Schäfer Nematullah (40) seine Herde über die Berggipfel in der zentralafghanischen Provinz Bamiyan. Nun finden seine Schafe kaum noch Nahrung. Er muss die Tiere unter Preis auf dem Markt verkaufen.

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XINJIANG

»Nie im Leben wollte ich wegen China krank werden« Ihr »Prozess« dauerte nur neun Minuten, das Urteil lautete sieben Jahre Umerziehung. Doch nach knapp drei Jahren kam sie frei. Seither berichtet die Uigurin Gulbahar Haitiwaji über ihre Zeit in Gefangenschaft. Von Till Schmidt

Wartet in Frankreich darauf, dass Teile ihrer Familie aus China nachkommen können: Gulbahar Haitiwaji. Foto: Emmanuelle Marchadour

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inblicke in die Unterdrückungsmaschinerie in der Region Xinjiang gab es zunächst vor allem über Satellitenaufnahmen. Ihr flächendeckendes Überwachungs- und Internierungssystem für die dort lebenden Uigur*innen leugnete die chinesische Regierung jahrelang. Doch angesichts zahlreicher Beweise von Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und ehemaligen Inhaftierten spricht sie inzwischen davon, »durch Extremismus beeinflusste Menschen« in »Erziehungsanstalten fortzubilden«. Zuletzt zeigten die sogenannten Xinjiang Police Files eines investigativen Journalismuskollektivs Details zu den staatlichen Umerziehungslagern. Seit 2017 wurden mehr als eine Million überwiegend muslimische Uigur*innen interniert. Eine von ihnen ist Gulbahar Haitiwaji. Die Uigurin lebte mit ihrem Mann und ihren Töchtern bereits zehn Jahre in Frankreich im Exil, als die chinesische Regierung sie im Jahr 2016 mit einem Trick nach Xinjiang lockte: Eine Formalität für ihren Vorruhestand müsse vor Ort geregelt werden, hieß es. Zwei Wochen Aufenthalt plante Haitiwaji dafür ein. Bleiben musste sie letztlich drei Jahre – als Gefangene in einem Umerziehungslager. Ihr »Vergehen«? Separatismus. Eine Tochter Haitiwajis hatte in Frankreich mit einer uigurischen Fahne der uigurischen Unabhängigkeitsbewegung demonstriert, als Beweise wurden Fotoaufnahmen aus den Online-Netzwerken herangezogen. Bevor ein Gericht Haitiwaji im November 2018 nach einem neunminütigen Prozess zu sieben Jahren »Umerziehung« verurteilte, befand sie sich in Untersuchungshaft. In ihrem Buch schildert sie eindrücklich, wie hilflos sie war, weil niemand ihre vielen Fragen beantworten konnte, und wie bizarr es ihr erschien, dass während der Verhöre eine angeblich belastende »Akte« als Druckmittel zur Schau gestellt wurde. »Es war klar, dass der Prozess nicht nur mir, sondern auch meinem Mann und meiner Tochter galt«, sagt Haitiwaji. Wegen seiner Amateurhaftigkeit habe sie das Verfahren immer wieder »zum Lachen gebracht«. Große Sorgen bereitete ihr allerdings ihre Unterschrift unter einem bestimmten Dokument. Man hatte ihr versprochen, damit das Privileg zu bekommen, nach der Untersuchungshaft nicht in einem Gefängnis inhaftiert, sondern in einer »Schule« umerzogen zu werden. »Ich fürchtete von Anfang an, dass China das Dokument willkürlich gegen mich verwendet«, sagt Haitijawi. Doch dazu kam es glücklicherweise nicht.

Über ihre Gefangenschaft hat Haitiwaji einen autobiografischen Bericht veröffentlicht, der 2021 in Frankreich erschien und seit Januar 2022 auch auf Deutsch vorliegt. Ursprünglich sollte das Buch, das sie gemeinsam mit der Journalistin Rozenn Morgat verfasste, nicht unter ihrem Namen veröffentlicht werden. Nun aber ist auf dem Titel sogar ein Porträt der Autorin zu sehen. »Wegen des noch in China lebenden Teils meiner Familie war ich zunächst besorgt. Doch schnell war mir klar, dass mich die Leute sowieso erkennen«, erzählt Haitiwaji. Ihre Inhaftierung hatte international Aufmerksamkeit erregt. Die namentliche Autorenschaft sorge außerdem für Ehrlichkeit und Authentizität, sagt Haitiwaji. Ihre Publikation sieht sie als ihr »großes Projekt«, um für die Rechte der Uigur*innen zu kämpfen. Haitiwaji begreift sich auch nach ihrer Freilassung und der Buchveröffentlichung allerdings nicht als politischer Mensch. »Ich habe den Eindruck, nicht wirklich einen Überblick über und ein Bewusstsein für politische Entwicklungen zu haben«, sagt die 55-Jährige. »Mit meinem Buch möchte ich aber meinen Teil dazu beitragen.«

Solidarität im Schlafraum Eine Stärke von Haitiwajis Bericht liegt in der detaillierten Beobachtung der Menschen, die sie bewachten und verhörten. Das Personal der Unterdrückungsmaschinerie ist teilweise uigurischer Herkunft. »Die machen einfach ihren Job und werden gezwungen, Befehle auszuführen«, erklärt Haitiwaji. »Einige Polizeibeamte, die Uiguren nicht weiter malträtieren wollten, haben ihren Job aufgegeben – und sind sofort inhaftiert worden.« In ihrer Schilderung des quälend langsam verstreichenden Alltags hebt Haitiwaji die Solidarität unter den Inhaftierten hervor. Die Frauen ihres Schlafraums teilten nicht nur Essen, Hygieneartikel und andere Dinge des täglichen Bedarfs, sondern gingen auch empathisch und sorgsam miteinander um. »Wir waren voller Hoffnung, aber auch voller Verzweiflung, weil wir nicht wussten, wann wir endlich rauskommen.« Seit ihrer Freilassung fragt sie sich, ob ihre damaligen Mitgefangenen immer noch inhaftiert sind. »Ich weiß, dass das unmöglich ist, aber ich würde sie gerne einfach fragen: ›Wie geht es Dir?‹« Um die Haftzeit zu überstehen, klammerte sich Haitiwaji immer wieder an ihre Unschuld, »denn ich wusste ja, dass ich nichts verbrochen habe«. Dies ging einher mit Tagträumen über »delikates französisches Essen« und mit Gedanken

an ihre Familie. Auch Sportübungen hätten geholfen. »Selbst als ich an mein Bett fixiert war, bin ich mit meinen Beinen in der Luft Fahrrad gefahren«, erzählt Haitijawi voller Stolz auf ihre Resilienz: »Nie im Leben wollte ich wegen China krank werden«, sagt sie. In Frankreich setzte sich Haitiwajis Familie unermüdlich für ihre Freilassung ein. Allen voran ihrer Tochter Gulhumar gelang es, Diplomat*innen und Medien über das Schicksal ihrer Mutter zu informieren und so für öffentlichen Druck zu sorgen. Die Zeit in Haft hat tiefe seelische Spuren bei Gulbahar Haitiwaji hinterlassen. »Fast jede Nacht habe ich Albträume. Ich bin zurück im Lager, muss Lieder singen und Propaganda rezitieren. Jedes Mal denke ich, ich werde niemals freikommen«, erzählt sie. Über ihre Zeit im »Umerziehungslager« will Haitiwaji weiterhin berichten. »Wir brauchen mehr Beweise für das, was in Xinjiang passiert, und wir müssen es bekannter machen.« Die chinesische Propaganda manipuliere noch immer viele Menschen. Anderen wiederum fehle die Vorstellungskraft, wie brutal die Repression vor Ort sei, sagt Haitiwaji. Sie fordert außerdem mehr politischen Druck auf die sehr selbstbewusste chinesische Regierung. Gulbahar Haitiwaji kann nun nicht mehr in ihr Geburtsland zurück. Sie hofft daher, dass der noch in Xinjiang lebende Teil ihrer Familie irgendwann einen Weg nach Frankreich findet. ◆ Gulbahar Haitiwaji/Rozenn Morgat: Wie ich das chinesische Lager überlebt habe. Aus dem Französischen von Uta Rüenauver und Claudia Steinitz, Aufbau, Berlin 2022, 259 Seiten, 20 Euro

XINJIANG Das staatliche Unterdrückungssystem in Xinjiang zielt darauf, uigurische Autonomiebestrebungen und jegliche uigurische Identität im Kern zu ersticken. Die Regierung in Peking fördert den Zuzug von Han-Chines*innen in die Region, weil von ihnen weniger Kritik an Staat und Kommunistischer Partei erwartet wird. In der im Nordwesten Chinas gelegenen Region befinden sich große Anteile der chinesischen Öl- und Gasreserven. Zudem ist Xinjiang ein wichtiger Korridor für Infrastrukturprojekte im Rahmen der »Seidenstraßeninitiative«, die Chinas Bedeutung im Welthandel sichern soll. Der Konflikt um die Region reicht zurück bis zur Gründung Xinjiangs als »autonomer Region« im Jahr 1955.

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ALBANIEN

Studierte allen Widrigkeiten zum Trotz: Roxhers Lufta.

Generation Gegenwehr In Albanien werden Rom*nja seit Jahrzehnten diskriminiert. Nun haben Aktivist*innen genug von Rassismus und Demütigungen. Sie machen sich daran, die Lebensbedingungen zu verbessern. Text und Fotos von Astrid Benölken und Tobias Zuttmann

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oxhers Lufta war immer ein guter Schüler. Er beteiligte sich am Unterricht, machte seine Hausaufgaben, viele Lehrer*innen sahen ihn als begabt an. Und doch gab es Fächer, in denen Lufta keine Chance auf eine gute Note hatte. Obwohl er sich meldete, ignorierten ihn die Lehrer*innen oder setzten ihn in die hinterste Reihe – seine Note stand für sie bereits fest. Lufta ist Rom. Und in seiner Heimat Albanien heißt das oft, dass andere zu

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wissen glauben, was er ist, was er kann – und vor allem: was er nicht kann. In den Pausen beschimpften ihn seine Mitschüler*innen, gelegentlich schlugen sie ihn auch. Die Schule war manchmal die Hölle für ihn – und doch kämpfte Lufta, bekam seinen Abschluss, fing an zu studieren, machte einen Bachelor- und Masterabschluss. Allen Widrigkeiten zum Trotz. Luftas Erfolg ist ein kleiner Sieg. Aber ist er ein Einzelschicksal? Lufta ist Teil einer Bewegung. Einer Bewegung, deren Anfang viele im Jahr 1971 sehen, beim ersten internationalen Rom*nja-Kongress. Damals gab sich die größte ethnische

Minderheit in Europa ihren Namen: Rom*nja wollten sie genannt werden – der Begriff Z*******, unter dem sie immer wieder diskriminiert, vertrieben und sogar getötet worden waren, sollte der Vergangenheit angehören. Der Name Rom*nja sollte einen Neuanfang symbolisieren, zeigen, dass sie die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen wollten. In Albanien sieht es so aus, als ob nun die erste Generation eine echte Chance darauf hat.

Schlechte Chancen, schlechte Jobs Doch noch ist der Weg dahin weit. In Albanien Rom*nja zu sein, heißt noch


immer, eine unsichtbare Zielscheibe auf dem Rücken zu haben. Amnesty International dokumentierte in den vergangenen Jahren rechtswidrige Zwangsräumungen von Rom*nja-Häusern, und immer wieder kommt es zu Fällen von Polizeigewalt gegen Rom*nja sowie zu Fällen, in denen Krankenhäuser ihnen die Behandlung verweigern. »Die Menschenrechte der Rom*nja in Albanien werden bis heute missachtet«, sagt Kim Babel von der Amnesty-Koordinationsgruppe Westbalkan. Die Abwehrhaltung gegenüber Rom*nja ist im Bewusstsein vieler Menschen tief verankert. In Umfragen gaben knapp 80 Prozent der Albaner*innen an, dass sie es unangenehm fänden, würden sie oder eines ihrer Kinder eine*n Rom*nja heiraten. In den Schulen ist diese Ablehnung besonders spürbar, auch weil das Schulsystem viele Hürden für Rom*nja aufweist. So spricht gut die Hälfte der Kinder zu Hause Romanes, der Unterricht findet aber auf Albanisch statt, was oft dazu führt, dass sie den Anschluss verlieren. Doch ein mangelnder Schulabschluss bedeutet kein Studium, keine Chance auf einen gut bezahlten Beruf – und damit

Weil es in Albanien nicht ging, musste er in Italien studieren: Emiliano Aliu.

auch keine Möglichkeit, aus dem Kreislauf der Armut auszubrechen, in die sie die jahrzehntelange strukturelle Diskriminierung getrieben hat. Auch auf dem Arbeitsmarkt zeigt sich der Rassismus deutlich. Ein Viertel der befragten Albaner*innen gab 2021 offen zu, dass sie keine*n Rom*nja einstellen würden, selbst wenn alle formalen Kriterien erfüllt seien. Da überrascht es kaum, dass mehr als die Hälfte der Rom*nja in Albanien arbeitslos ist. »Vielen ist es aufgrund von Diskriminierung nicht möglich, eine reguläre Arbeit zu finden«, kritisiert Babel. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als im informellen Sektor zu arbeiten, als Händler*in auf dem Schwarzmarkt, Hilfskraft auf dem Bau oder im Recycling. Da mit diesen Jobs kaum Geld zu verdienen ist, müssen viele Kinder ihre Eltern unterstützen, auch wenn das heißt, dass sie dann nicht zur Schule gehen können. Nach Angaben der Vereinten Nationen gehen nur 55 Prozent der Rom*njaKinder in Albanien zur Schule, die meisten besuchen den Unterricht nur bis zur vierten Klasse, und mit 16 Jahren haben 96 Prozent der Rom*nja die Schule bereits verlassen.

»Die Menschenrechte der Rom*nja werden bis heute missachtet.« Kim Babel, Amnesty »Rom*nja werden wie Bürger zweiter Klasse behandelt«, kritisiert Adriatik Hasantari, der Vorsitzende der Organisation Roma Active Albania, die sich für die Rechte von Rom*nja einsetzt. »Es gibt noch immer die Vorstellung, dass es reicht, wenn man die Rom*nja mit ein bisschen Essen abspeist, damit sie weiterziehen und an Flussläufen leben, ohne Schuhe, die ganze Zeit tanzend«, zählt der sonst ruhige Hasantari mit bebender Stimme zahlreiche Klischees in einem Satz auf. Nach dem Zusammenbruch der Diktatur im Jahr 1991 war der Balkanstaat eines der ärmsten Länder der Welt. Während es in den folgenden Jahren für viele der 2,8 Millionen Albaner*innen aufwärts ging, wurden Rom*nja oft vergessen oder bewusst übergangen. Viele wurden in Siedlungen am Stadtrand abgeschoben, oft ohne Strom, ohne fließendes Wasser,

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ohne Perspektive. Noch immer wohnt ein Großteil der schätzungsweise 100.000 Rom*nja in solchen Verhältnissen. Und doch sieht Hasantari einen Fortschritt: »Früher interessierte sich niemand für die Probleme der Rom*nja – das hat sich inzwischen geändert.« Ein guter Indikator für die Fortschritte ist der Anteil an Studierenden. Zwar ist er noch immer gering, doch gibt es so viele studierte Rom*nja wie noch nie zuvor.

Gute Bildung, guter Start Zu verdanken ist das unter anderem Emiliano Aliu. Er wuchs in einer Rom*njaSiedlung auf. Seine Mutter wollte studieren, sein Vater Fußballprofi werden. Doch beide mussten mit 16 Jahren heiraten. »Die Träume meiner Eltern wurden nicht wahr. Also haben sie dafür gesorgt, dass meine wahr werden können«, sagt Aliu. Sie unterstützten ihn, als er plante, zu studieren. Aliu redet gern und viel, stets mit konzentriertem, wachem Blick. Er hat verinnerlicht, dass eine gute Bildung einen entscheidenden Anteil daran hat, endlich aus dem Kreislauf der Armut auszubrechen. »Als ich mich 1999 an einer albanischen Universität bewarb, war ich

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Die Rechte von Rom*nja stets im Blick: Adriatik Hasantari.

der einzige Rom«, erzählt der 41-Jährige. Aliu wurde trotz herausragender Noten abgelehnt – aufgrund seiner Herkunft und weil seine Eltern nicht das übliche Bestechungsgeld bezahlen konnten, vermutet er heute. »Ich hatte keine Chance, in meinem Land zu studieren, ich musste nach Italien gehen«, sagt Aliu. Noch 20 Jahre später merkt man, wie es ihn ärgert, dass Albanien nicht einen einzigen Stu-

dienplatz für eine*n Rom*nja freimachen konnte. Das hat sich inzwischen geändert. Mithilfe seiner NGO RomaVersitas konnte Aliu mehr als 200 Rom*nja zum Studium verhelfen. Seine Organisation vergibt Stipendien, hilft beim Bewerbungsprozess, und ihre Mentorinnen unterstützen Studierende und Schüler*innen. Aliu ist sich sicher, dass dies die Zukunft seiner Com-

Engagiert sich gegen Zwangsräumungen: Brisilda Taco (Mitte vorn).


»Unsere Situation verbessert sich erheblich.« Brisilda Taco, Aktivistin munity verbessern wird: »Haben wir die Rom*nja gut genug vorbereitet, um die Bedürfnisse ihrer Gemeinschaft selbst zu schultern? Ja, das haben wir. Die Zeit ist gekommen«, sagt er. Alius Hoffnung auf eine selbstbestimmte Zukunft ruht auf einem Büro im vierten Stock eines Hochhauses im Nordwesten von Tirana. In einem kleinen Raum tummeln sich mehrere Jugendliche um ein paar Computer. Sie stecken die Köpfe zusammen, zeigen sich Tricks auf den Rechnern, kämpfen gemeinsam mit den Hausaufgaben. Die Kinder besuchen ein Programm von RomaVersitas. Roxhers Lufta sitzt zwischen ihnen, genießt den Trubel und lächelt breit. Er erhielt einst selbst ein Stipendium von RomaVersitas und konnte dank der finanziellen und ideellen Unterstützung der Organisation Sozialarbeit studieren. Inzwischen ist er 27 Jahre alt und als Mentor bei RomaVersitas aktiv. Er bietet mehr als 40 Rom*nja-Kindern Unterstützung an, die sie zu Hause nicht bekommen, bietet Rat bei den Hausaufgaben und erklärt ihnen, wie die Dinge in der Schule laufen. »Ich arbeite mit Kindern zusammen, die aus einer armen Nachbarschaft kommen. Ich war früher eines von ihnen und hatte damals niemanden. Deswegen möchte ich jetzt ihnen helfen, die Schule abzuschließen.«

Das Ende der Zwangsräumungen Welchen Unterschied Bildung macht, wissen wohl wenige so gut wie Brisilda Taco. Sie war die erste in ihrem Viertel, die studierte. Wie anders ihr Leben ist, überrascht sie manchmal selbst: »Eine Freundin von mir ist ein Jahr älter als ich und vor Kurzem Großmutter geworden, während ich noch nicht einmal ein Kind habe.« Taco engagiert sich seit der Grundschule für ihre Gemeinschaft. Damals gab sie Nachhilfe für Erstklässler*innen, inzwischen hat sie mit Rromano Kham eine eigene Organisation für die Rechte von Rom*nja gegründet. Ein Thema ist Taco besonders wichtig: die rechtswidrigen Zwangsräumungen von Rom*nja-Siedlungen. Noch vor wenigen Jahren war es normal, dass Rom*nja-Familien in der albanischen Hauptstadt Tirana willkürlich enteignet wurden.

»Oft wurden ihre Häuser mit der Begründung abgerissen, sie seien nicht ordnungsgemäß gebaut worden«, berichtet auch Kim Babel von Amnesty. Die Stadt wollte Straßen bauen, und wenn die Unterkünfte von Rom*nja im Weg waren, wurden diese abgerissen, oft nur mit einer kurzfristigen Vorwarnung. Nach albanischem Recht ist das verboten, doch lange Zeit kannten die Rom*nja ihre Rechte nicht und konnten sich nicht dagegen wehren, sagt Taco. Dass sich dies mittlerweile geändert hat, ist ihr und einigen anderen Aktivist*innen zu verdanken. Zunächst veranstaltete Taco Demonstrationen, wurde laut und unbequem. Sie knüpfte Kontakte zu Aktivist*innen aus anderen Ländern, studierte das Gesetz, setzte die Regierung unter Druck – und bewegte sie so zum Umdenken. Seit 2017, sagt Taco, seien Zwangsräumungen in Albanien kaum noch ein Problem: »Unsere Situation verbessert sich erheblich, denn es gibt immer mehr gut ausgebildete Rom*nja, die ihre Rechte kennen und für sie kämpfen.« Taco, Hasantari, Aliu, Lufta: Sie sind nur einige Gesichter einer Rom*nja-Generation, die für ihre Gemeinschaft kämpft – und Veränderung bewirkt. Doch das Corona-Virus bremste diesen Schwung deutlich ab. Im März 2020 verhängte Albanien einen der härtesten Lockdowns in Europa. Für viele Rom*nja führte dies zu einem Überlebenskampf. Eine Studie der UN ergab, dass damals in 90 Prozent der Rom*nja-Haushalte nicht genug Essen zur Verfügung stand. Da nur 20 Prozent der Rom*nja eine Festanstellung haben, konnten die wenigsten im Lockdown Geld verdienen. »Wir bekamen Anrufe von Leuten, die sagten, dass sie Hunger litten«, erinnert sich Hasantari an die Anfänge der Pandemie. Die Probleme in der Bildung potenzierten sich. Weil sie früh von der Schule abgegangen sind, können viele Rom*nja ihre Kinder beim Lernen kaum unterstützen, es fehlen Schulbücher und Zugang zum Internet – nur sieben Prozent der Rom*nja in Albanien haben einen Computer, so eine Studie der UN. Kristina Myrteli ist eine der Studierenden, die von RomaVersitas unterstützt werden. Sie redet leise und denkt vor dem Reden lange nach. Mit ihrem Jurastudium will sie ihrer Community später rechtlich helfen. Myrteli ist eine gute Studentin, doch Corona hat auch sie getroffen. Sie wohnt in einer kleinen Wohnung mit anderen Studierenden. Internet gibt es, doch hatte sie keinen Laptop, als der Distanzunterricht eingeführt wurde. »Ich konnte mit meinem Handy zwar am Unterricht teil-

Will ihre Community juristisch unterstützen: Kristina Myrteli.

nehmen, hatte aber keinen Zugang zum Bibliothekssystem der Uni.« Myrtelis Noten verschlechterten sich deutlich, das Studieren zu Hause frustrierte sie. »Corona hat die meisten Rom*nja um zwei Jahre zurückgeworfen. Und nicht wenige werden nicht mehr in die Schule zurückkehren«, schätzt Hasantari. Am härtesten traf ihn die Beobachtung, dass der Respekt, den sich Rom*nja in den vergangenen Jahren mühevoll erkämpft haben, nun wieder zu verschwinden droht. Rom*nja werden wieder deutlich häufiger zum Ziel rassistischer Anfeindungen. Sie werden als dreckig dargestellt – als Verbreiter*innen des Virus. Der Hass kocht vor allem im Netz hoch. Lufta erinnert das an die Schulhofszenen seiner Kindheit. Doch im Gegensatz zu früher ist er nun nicht mehr allein. Mit anderen Aktivst*innen und unterstützt vom European Roma Rights Centre geht er mit einer Kampagne gegen den Hass im Netz vor. Er meldet Beiträge, versucht, mit jenen zu diskutieren, die Hass verbreiten. Luftas Arbeit ist mühselig, anstrengend, manchmal frustrierend. Und doch denkt er nicht ans Aufhören: »Ich will, dass die Rom*nja ihr Schicksal in die Hand nehmen, und dabei möchte ich helfen. Ich werde mein ganzes Leben für uns Rom*nja arbeiten.« ◆

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RASSISMUS

»Viele verleugnen ihre Herkunft« Antiziganismus ist in Deutschland weit verbreitet. Rassistische Stereotype gegen Sinti*zze und Rom*nja bestehen fort, sagt Mehmet Daimagüler. Der Menschenrechtsanwalt ist seit Mai der erste Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung. Hier erzählt er, was er auf diesem Posten vorhat. Interview: Hannah El-Hitami

Was sind die Besonderheiten des Antiziganismus im Vergleich zu anderen Formen des Rassismus? Wir haben beim Antiziganismus das Problem, dass das eine Form des gesellschaftlich akzeptierten Rassismus ist und deswegen bestritten wird, dass es überhaupt Rassismus ist. Aber eine Mehrheit kann die Mitte des Landes abbilden und trotzdem extremistisch sein. Für andere Formen des Rassismus gibt es inzwischen eine bestimmte öffentliche Aufmerksamkeit. Bestimmte krass antisemitische Bilder und Worte zum Beispiel können heute immerhin in der demokratischen Mitte nicht mehr einfach so verwendet werden. Das ist beim Antiziganismus anders. Die Pflege und die Konservierung des Bildes vom Kriminellen, der der Gesellschaft schadet, ist nach wie vor eine große Gefahr. Woher kommt dieses Bild? Das hat mit einer Ursünde unserer Gesellschaftsordnung nach dem Krieg zu tun. Deutschland hat einen Völkermord an den Sinti und Roma begangen, in dem eine halbe Million Menschen ums Leben gekommen sind. Nach dem Krieg haben die Täter es geschafft, das Narrativ zu bestimmen und eine Täter-Opfer-Umkehr vorzunehmen. Sie behaupteten, dass Sinti

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und Roma nicht aus rassistischen, sondern aus kriminalpräventiven Gründen in die Lager gekommen seien und sogar, dass Sinti und Roma in Auschwitz an der eigenen mangelnden Hygiene gestorben seien. Das negative Bild von Sinti und Roma musste gezeichnet und aufrechterhalten werden, damit man sich selbst als unschuldig verkaufen konnte. Die Gaskammern wurden also stillgelegt, aber die Verfolgung ging weiter. Die Ethnifizierung sozialer Probleme ist ein Mittel der politischen Propaganda, das auch heute noch existiert. Dieses Bild vom kriminellen Sinto oder Rom begegnet uns im Diskurs um vermeintliche Einbrecherbanden aus Osteuropa. In welchen Situationen werden Sinti*zze und Rom*nja heute vor allem diskriminiert? Staatsapparat, Polizei und Justiz sind Schwerpunkte. Ich habe als Anwalt in den vergangenen Jahren immer wieder Menschen aus der Community der Sinti und Roma vertreten: häufig Menschen, die Opfer von Hasskriminalität wurden, oft auch von Polizeigewalt. Ein anderes großes Thema sind Sozialbehörden. Man schafft dort künstliche Barrieren, um den Menschen Zugang zu Dienstleistungen zu verwehren, die allen zustehen. Wir haben im Schulbereich eine massive Benachteiligung von Migranten: Kinder werden einfach so als nicht lernfähig klassifiziert und auf Förderschulen abgeschoben. Davon sind Sinti und Roma besonders be-

troffen. Der ganze Bereich der öffentlichen Hand ist extrem rassismusanfällig. Das setzt sich in der Privatwirtschaft fort. Ich hatte als Anwalt einen Mandanten, der Betriebsrat in einer großen Firma war und dort als Sinto »geoutet« wurde. Daraufhin wurde er massiv von Kolleginnen und Kollegen gemobbt, und das wurde von der Geschäftsleitung nicht nur gedeckt, sondern auch gefördert. Sie sagen, er wurde als Sinto »geoutet«. Das heißt, viele Sinti*zze und Rom*nja wollen lieber nicht, dass jemand von ihrer Herkunft weiß? Sehr viele verleugnen oder verheimlichen öffentlich ihre Herkunft, aus der gut begründeten Furcht vor rassistischen Stereotypen. Ich stelle mir das furchtbar vor, wenn man etwa seinen Kindern erklären muss, dass sie in der Schule nicht verraten sollen, dass man zu Hause eine andere Sprache spricht oder andere Feste feiert. Die Verleugnung eines wichtigen Teils des eigenen Seins führt zu psychischem Dauerstress. Viele Kinder wachsen mit einem angegriffenen und schwankenden Selbstwertgefühl auf. Als einzige positive Entwicklung sehe ich, dass viele

»Viele Kinder wachsen mit einem angegriffenen Selbstwertgefühl auf.«


Auf der Flucht nicht selten benachteiligt: Eine Rom*nja-Familie in Lwiw, März 2022. Foto: Fiora Garenzi / Hans Lucas / pa

aus der Community sich das nicht mehr gefallen lassen. Vor allem junge Leute treten mit einer gewissen Radikalität auf, die ich nicht nur verständlich finde, sondern begrüße. Sie haben von einer Expert*innenkommission Handlungsempfehlungen bekommen und sollen die Arbeit nun ressortübergreifend koordinieren. Was ist inhaltlich geplant? Die Kommission fordert beispielsweise die Einrichtung einer Wahrheitskommission, die von der Community selbst gesteuert werden soll. Wir müssen uns genau anschauen, welche historischen Entscheidungen, die wir heute als antiziganistisch ansehen, welche Folgen für das heutige Leben haben. Zum Beispiel haben manche Kommunen sich nach dem Krieg geweigert, den überlebenden Sinti und Roma aus den Lagern Ausweispapiere zu geben, obwohl es Deutsche waren. Die Kinder und Enkel dieser Menschen leben als Ausländer und Staatenlose hier. Diese Menschen sollten die Staatsbürgerschaft wiederbekommen. Wir müssen über Kontingentlösungen nachdenken: Überlebende des Holocaust und deren Nachkommen sollen das Recht bekommen, nach Deutschland einzureisen. Und die Balkanstaaten dürfen nicht länger als sichere Herkunftsstaaten für Roma gelten. Man muss nur einen Blick auf die niedrige Lebenserwartung dieser Menschen werfen. Spätestens dann ist klar, dass Rassismus wirklich tötet. Wir können uns nicht so

verhalten, als hätten wir damit nichts zu tun, und uns sogar noch an der Hetze gegen diese Menschen beteiligen. Aktuell treffe ich möglichst viele Vertreterinnen und Vertreter der Community, und zwar ein breites Spektrum: von traditionellen Institutionen wie dem Zentralrat bis hin zur Organisation Queer Roma, um sicherzustellen, dass die Empfehlungen der Kommission gespiegelt werden in den Bedürfnissen der Community selbst. Auch in der Ukraine leben viele Rom*nja. Es zeichnet sich bereits ab, dass diese bei der Flucht schlechter behandelt werden als andere Flüchtende. Was beobachten Sie? Der Eindruck, den viele haben, dass wir zwischen erwünschten und unerwünschten Flüchtlingen unterscheiden, stimmt. In mehreren deutschen Städten wurden Roma an den Bahnhöfen abgewiesen oder bekamen keinen Zugang zu Hilfsangeboten. In München kamen 10.000 Geflüchtete privat unter, die vorher in Sammelunterkünften waren. Aber unter diesen privat Untergebrachten sind fast gar keine Roma. Überdurchschnittlich viele von ihnen sind unter prekären Bedingungen in Sammelunterkünften untergebracht. Aber auch in der Ukraine werden Roma schon benachteiligt: Sie bekommen teilweise keine Ausweispapiere und können daher das Land nicht verlassen. In Erstaufnahmeländern wie Polen werden sie direkt weiterge-

schickt. Mitmenschlichkeit und Solidarität, die sich nur auf bestimmte Geflüchtete beschränken, mit denen man sich identifizieren kann, sind keine Mitmenschlichkeit und keine Solidarität. Sie sind lediglich Ausdruck eines egozentrischen Weltbilds. Wir müssen uns als Gesellschaft und als Staat stark machen für die Unterstützung von Geflüchteten. Punkt. Sobald wir sagen, die einen sind uns näher, begeben wir uns in ein Feld, wo letztlich genau die Weltbilder reproduziert werden, die diese Menschen zur Flucht gezwungen haben. ◆

Mehmet Daimagüler (54) ist Rechtsanwalt. Bekannt wurde er vor allem als Anwalt der Nebenklage im NSUProzess. Als Lehrbeauftragter der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin unterrichtete er Polizeibeamt*innen in Grund- und Menschenrechten. Außerdem hat er mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2021 »Das rechte Recht: Die deutsche Justiz und ihre Auseinandersetzung mit alten und neuen Nazis«. Foto: privat

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SPOTLIGHT: MEINUNGSFREIHEIT IN ÄTHIOPIEN

Sicherheitskräfte schreiten bei einer Demonstration ein: Addis Abeba am 2. Mai 2022.

Foto: Minasse Wondimu Hailu / Anadolu Agency / pa

KRITISCHE STIMMEN UNERWÜNSCHT Seit Jahrzehnten verschlechtert sich die Menschenrechtslage in Äthiopien. Jegliche Opposition wird systematisch unterdrückt. Fisseha Mengistu Tekle beobachtet für Amnesty die Situation vor Ort. Während eines Besuchs in Berlin berichtete der 43-Jährige, wie stark die Meinungsfreiheit in dem ostafrikanischen Staat eingeschränkt wird. Als Fisseha Mengistu Tekle vor etwas mehr als sechs Jahren zu Amnesty International kam, hatte er sich seine Arbeit anders vorgestellt. Er ging davon aus, dass er vor allem willkürliche Festnahmen von Regierungskritiker*innen dokumentieren würde. »Doch in den vergangenen Jahren hat sich die Lage enorm verschlechtert. Die Menschenrechtsverletzungen nehmen immer blutigere und größere Ausmaße an«, sagt der gebürtige Äthiopier, der von Nairobi aus arbeitet. Zivilgesellschaftliches Engagement ist in Äthiopien zunehmend schwieriger ge-

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worden. Dissident*innen werden an ihrer Arbeit gehindert und in einigen Fällen auch strafrechtlich verfolgt. Als Regierungschef Abiy Ahmed 2018 sein Amt antrat, setzte er zunächst einige Reformen um. Die Situation der Menschenrechtsverteidiger*innen schien sich zu verbessern. »Damals hatte ich sogar begonnen, mir ein Amnesty-Büro in Addis Abeba auszumalen«, sagt Fisseha Mengistu Tekle. Doch dies änderte sich schnell. »Die vergangenen Jahre sind so sehr geprägt von oft brutaler Unterdrückung kritischer Stimmen, dass ich mir das derzeit nicht vorstellen kann.« Zuletzt ermöglichte der Ende 2021 verhängte Ausnahmezustand weitere Repressionen gegen Medienschaffende und Aktivist*innen, so zum Beispiel Inhaftierungen ohne Begründung. »Außerdem wird der zeitliche Abstand zwischen den Gräueltaten, die von der Regierung und regierungsnahen Institutionen verübt werden, immer kürzer. Wir dokumentieren fast ununterbrochen neue Menschenrechtsverletzungen«, stellt der Amnesty-Exper-

te fest. Diese Gewaltspirale führe das Land in eine sehr gefährliche Zukunft. Das größte Problem sei die Straflosigkeit. »Sicherheitskräfte töten Protestierende und werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Die Polizei ist sich häufig so sicher, dass sie keine Konsequenzen für ihre Straftaten befürchten muss, dass es sie nicht einmal abschreckt, wenn ihr rechtswidriges Handeln dokumentiert wird«, berichtet Fisseha Mengistu Tekle. Eine zentrale Forderung sei deshalb, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen: »Nur so können wir auf ein freieres Äthiopien hoffen.« ◆ Parastu Sherafatian

»Wir dokumentieren fast ununterbrochen neue Menschenrechtsverletzungen.« Amnesty-Researcher Fisseha Mengistu Tekle


Befeqadu Hailu Techane (42) wurde für seine Arbeit als Autor und Blogger mehrfach ausgezeichnet – und inhaftiert. Über die Gefahren von regierungskritischem Journalismus in Äthiopien. Interview: Parastu Sherafatian

Sie gründeten vor zehn Jahren gemeinsam mit acht anderen Blogger*innen das Kollektiv Zone 9. Was war der Anlass? Als wir uns zu Zone 9 zusammenfanden, stand der äthiopischen Zivilgesellschaft nur sehr wenig Raum zur Verfügung. Wir hatten uns deshalb zunächst virtuell zusammengeschlossen und lernten uns erst später persönlich kennen. Da wir vor der Gründung alle bereits Erfahrungen mit Online-Aktivismus mitbrachten, hatten wir schnell eine Community – die dann ebenso schnell der Regierung auffiel. Dieser gefiel nicht, dass wir unter anderem auf die kritische Situation von politischen Gefangenen aufmerksam machten. Wir wurden dann inhaftiert und gefoltert. Sie waren 596 Tage im Gefängnis. Hat das Ihren Aktivismus verändert? Nach meiner ersten Festnahme fühlte ich mich erst recht verpflichtet, mich für eine bessere Menschenrechtslage in meinem Land einzusetzen. Zuvor hatte ich über die Grausamkeiten, die den Inhaftierten ungerechterweise angetan wurden, nur geschrieben. Nun erlebte ich die körperliche Gewalt, die Isolation und das unfaire System am eigenen Leib. Mein soziales Umfeld ist seither deutlich geschrumpft. Einige Menschen fürchten, mit mir in Verbindung gebracht zu werden und dann vielleicht auch verfolgt zu werden. Auch Zone 9 existiert seit dieser Zeit nicht mehr, aber wir engagieren uns alle weiterhin. Sobald man das Ausmaß der Ungerechtigkeiten zu spüren bekommt, kann man nicht mehr die Augen davor verschließen. Sie gründeten vor drei Jahren das Center for Advancement of Rights and Democracy. Was ist Ihr Ziel? CARD ist eine Non-Profit-Organisation, mit der wir das Ziel ver-

Foto: privat

»DER INTERNATIONALE FOKUS HAT SICH VERSCHOBEN«

folgen, demokratische Prinzipien als Norm in Äthiopien zu etablieren. Wir haben verschiedene Schwerpunkte: Wir bilden zukünftige Menschenrechtsverteidiger*innen aus und trainieren Journalist*innen in Medienkompetenzen wie zum Beispiel Fakten-Check oder Umgang mit Nachrichten in Online-Netzwerken. Werden Sie dabei international unterstützt? Während meine Kolleg*innen und ich inhaftiert waren, haben uns Organisationen wie Amnesty International sehr unterstützt. Viele solidarisierten sich damals mit dem Hashtag #FreeZone9 Bloggers. Und wir merkten: Je mehr Druck auf die Regierung ausgeübt wurde, desto besser wurde der Umgang mit uns im Gefängnis. Die internationale Solidarität zeigte Wirkung. Doch in letzter Zeit hat sich der internationale Fokus verschoben. Nun wird anderen Konflikten, wie derzeit dem Krieg in der Ukraine, mehr Beachtung geschenkt. Über Konflikte in meinem Land wird vereinzelt berichtet, wenn es keine anderen, »größeren« Nachrichten zu vermelden gibt. Was motiviert Sie, trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen? Meine Überzeugung, dass es eine bessere Zukunft geben sollte und diese auch geben wird. Solange es Menschen gibt, die ihre Augen vor Ungerechtigkeiten nicht verschließen, wird es ein demokratischeres Äthiopien geben. Menschen sagen mir in Addis Abeba auf der Straße, dass sie wegen unserer Arbeit Hoffnung schöpfen. Solche Momente geben mir die Kraft, nicht aufzugeben. ◆

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KOLUMBIEN

Gegen das Vergessen: Studierende stellen die Tötung in Siloé nach, Cali, Mai 2021. Foto: Luis Robayo / AFP / Getty Images

Die Toten von Siloé klagen an Die kolumbianische Stadt Cali war im Frühjahr 2021 das Zentrum anhaltender Proteste gegen die Regierung. In einem Stadtteil ging die Polizei besonders repressiv gegen Protestierende vor. Es gab Tote. Das hat nun ein Nachspiel. Von Knut Henkel

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avid Gómez läuft am Kreisverkehr La Glorieta de Siloé entlang. Einige Autos passieren den Kreisel, der mehrere Stadtteile der kolumbianischen Metropole Cali verbindet und von dem auch eine Straße ins Innere des Stadtteils Siloé führt. »Hier war eine Blockade und weiter unten auch. Dazwischen sammelten sich am späten Nachmittag des 3. Mai 2021 Tausende Menschen zu einer Protestkundgebung«, erzählt Gómez, ein kleiner, quirliger Mann mit Hut, und deutet auf den einige hundert Meter langen Straßenabschnitt. »Hier starben wenige Stunden später drei Jugendliche durch Polizeikugeln.« Der 59-Jährige gehört zu einer Gruppe von Stadtteilaktivist*innen, die aufklären wollen, was damals passiert ist. Siloé, eingezwängt zwischen mehrspurigen Verbindungsstraßen und einer Bergkette, ist ein kleines Viertel im Westen von Cali. Die drittgrößte Stadt Kolumbiens war ab dem 28. April 2021, als ein nationaler Streik begann, das Epizentrum meist friedlicher und von Straßenblockaden begleiteter sozialer Proteste. Sie dauerten bis Mitte Juli und zählen damit zu den längsten in der kolumbianischen Geschichte. Anlass war eine Steuerreform der Regierung von Präsident Ivan Duque und dessen Blockade des Friedensprozesses zwischen dem Staat und der FARCGuerilla. Polizei, Armee und Paramilitärs schlugen die landesweiten Demonstrationen blutig nieder. Dabei wurden mehr als 80 Menschen getötet, mehr als 300 verschwanden nach ihrer Festnahme, es gab Dutzende von Vergewaltigungen, und mindestens 90 Personen erlitten schwere Augenverletzungen. »Mindestens elf Tote haben wir allein in Siloé dokumentiert«, sagt Dicter Zúñiga Pardo, der ebenfalls zu den Stadtteilaktivist*innen gehört. »Rund um die Glorieta de Siloé sah es aus wie auf einem Schlachtfeld«, erinnert sich der Rechtsanwalt.

Stockende Ermittlungen Das bestätigt auch der Amnesty-Bericht »Cali: Epizentrum der Repression«, in dem ein Kapitel der »Operación Siloé« vom 3. Mai gewidmet ist. Er belegt anhand von Zeug*innenaussagen und nach Auswertung Hunderter Videos, Fotos und Audioaufnahmen, dass das Vorgehen der Polizei gegen die friedlich Demonstrierenden einem Einsatz gegen bewaffnete Akteure glich: Aus zwei Hubschraubern, die über La Glorieta de Siloé kreisten, wurde gegen 21 Uhr mit Tränengasgranaten auf die Demonstration geschossen.

Um die Kundgebung auseinanderzutreiben, kamen auch gepanzerte Polizeifahrzeuge zum Einsatz, aus denen mit Tränen- oder Reizgas sowie Blendmunition gefüllte Kartuschen verschossen wurden. Unstrittig ist laut dem Amnesty-Bericht auch, dass die Polizei gezielt aus Gewehren der Marke Tavor TAR-21 schoss, Kaliber 5,56 mal 45 Millimeter. Kevin Agudelo, Hárold Rodríguez und José Ambuila seien so getötet worden, kritisiert Erika Guevara-Rosas, Amerika-Expertin von Amnesty International. Das bestätigte Jorge Iván Ospina, der Bürgermeister von Cali. Er räumte ein, dass die Polizei scharf geschossen habe. Der Fall müsse aufgeklärt werden, zur Not vor dem Internationalen Strafgerichtshof, sagte Ospina nach der blutigen Nacht von Siloé. Doch die Ermittlungen gegen die dort eingesetzten Sicherheitskräfte stocken. Das kritisiert nicht nur Anwalt Pardo, sondern auch Natalia González, die Menschenrechtsbeauftragte der Stadtverwaltung von Cali. »Ballistische Tests der eingesetzten Waffen wurden zum Teil erst Monate später gemacht, internationale Ermittlungsstandards nicht eingehalten«, moniert sie. Die Stadtteilgruppe um Gómez und Pardo begann deshalb selbst, Spuren zu sichern. Dabei laufen viele Stränge im Museo Popular de Siloé zusammen, von Gómez vor mehr als 20 Jahren gegründet. Das Museum stellt Relikte der Proteste von 2021 aus: Helme mit dem Schriftzug »Primera Linea« (Erste Reihe), Taucherbrillen, blutige Kleidungstücke, Patronenhülsen und halb verbrannte Autoreifen. »Wir wollten daran erinnern, was hier geschehen ist. Wir haben mit den Angehörigen gesprochen und mehr über die Menschen erfahren, die am 3. Mai von der Polizei erschossen wurden«, erklärt Gómez. Daraus entwickelten sich schnell neue Ideen. Nicht weit vom Museum entfernt entstand ein Wandbild zur Erinnerung an die Opfer der Proteste. Graffiti-Künstler sprühten Porträts in leuchtenden Farben auf eine lange Mauer, dazwischen in dicken Lettern die Worte »Würde schafft Erinnerung«. Ein weiteres Mahnmal steht direkt vor dem Museum. Auf einem hellblauen Ölfass ist der Schriftzug »Siloé widersteht – und Sie?« zu lesen. Das Fass wurde auf einen Stapel ausrangierter Stühle montiert, daneben steht eine Gruppe bunter Figuren aus Pappmaché. Zu den Stadtteilaktivist*innen, die all das organisieren, gehört auch Francia Trujillo. Die Mutter dreier Kinder, die während der Proteste wochenlang auf der Straße war, mit Anwälten telefonierte, Essen kochte und immer wieder Verletzte

»Wir treten für unsere Rechte, für Aufklärung und Erinnerung ein.« Francia Trujillo, Aktivistin transportierte, stellt fest: »Die Pandemie und der Protest haben die Menschen in Siloé enger zusammenrücken lassen. Hier sind Bildungseinrichtungen von unten und Kollektive entstanden. Wir treten für unsere Rechte, für Aufklärung und Erinnerung ein.«

Das Tribunal Popular en Siloé Da von der Justiz wenig zu erwarten ist, initiierte die Stadtteilgruppe das Tribunal Popular en Siloé – einen öffentlichen Prozess mit Beweisaufnahme, Zeug*innenvernehmung und Urteilsverkündung. »Wir wollen ein Zeichen setzen und den kolumbianischen Staat wegen seines brutalen Vorgehens gegen die eigene Bevölkerung an den Pranger stellen«, sagt Gómez. Der symbolische Prozess unter dem Motto »Wahrheit und Gerechtigkeit« soll dafür sorgen, dass über Kolumbien hinaus bekannt wird, was in Siloé zwischen April und Juli 2021 geschah. Der Auftakt des Tribunals war am 3. Mai 2022, dem Jahrestag des Todes der drei Jugendlichen aus Siloé. Elf international bekannte Sozialaktivist*innen gehören dem Tribunal an, aus Europa kommen der portugiesische Rechtssoziologe Boaventura de Sousa Santos und die ehemalige Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel. Und es gibt fünf Schirmherren und -frauen, darunter der Erzbischof von Cali, Darío de Jesús Monsalve, und der kolumbianische Richter Iván Velásquez. Velásquez, der einst die UN-Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala leitete, kritisiert schon länger, dass die kolumbianische Justiz ihre Unabhängigkeit verliere, und fordert Reformen bei Polizei und Militär. Das Tribunal von Siloé bietet sich seiner Ansicht nach an, um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Genau das will auch die Gruppe um David Gómez erreichen. Sie hofft, dass das für den 10. Dezember anstehende Urteil des Tribunals von der kolumbianischen Politik zumindest zur Kenntnis genommen wird. »Dann wird eine neue Regierung im Amt sein. Auf die setze ich meine Hoffnungen«, meint Gómez. Mit dieser Hoffnung ist er nicht allein. ◆

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EL SALVADOR

Festnahmen ohne Ende Seit März 2022 herrscht in El Salvador der Ausnahmezustand. Die Regierung begründet die Einschränkung der Grundrechte mit Bandenkriminalität. Aber auch Kritiker*innen des Präsidenten geraten unter Druck. Von Melanie Huber und Christa Rahner-Göhring

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m 1. Mai, dem Tag der Arbeit, gibt es weltweit Kundgebungen und Demonstrationen, so auch in El Salvador. In diesem Jahr fanden sie dort allerdings unter besonderer Anspannung statt. Am 27. März hatte die Regierung den Ausnahmezustand verhängt, in der Folge wurden Tausende Menschen wegen mutmaßlicher Bandenmitgliedschaft festgenommen. Am 28. April erklärte Arbeitsminister Rolando Castro, Gruppen, die zu Maikundgebungen aufriefen, sympathisierten mit kriminellen Banden. Polizeiund Militärkontrollen stoppten Busse auf ihrem Weg zu den Demonstrationen und nahmen Personalien auf. Der salvadorianische Präsident Nayib Bukele veröffentlicht seine Anordnungen bevorzugt über das Online-Netzwerk Twitter. Auch seinen Antrag, das Parlament solle auf einer Sondersitzung den Ausnahmezustand beschließen, publizierte er auf der Plattform. Als offizielle Begründung gilt die Ermordung von 62 Menschen an einem einzigen Tag. Die Regierung macht dafür Banden verantwortlich und will der Bandenkriminalität mit dem Ausnahmezustand ein für alle Mal das Handwerk legen. Es gibt jedoch klare Hinweise darauf, dass damit auch Regierungskritiker*innen zum Schweigen gebracht werden sollen. Dafür traf der Präsident bereits von langer Hand Vorbereitungen. Nachdem

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seine Partei Nuevas Ideas bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2021 eine deutliche Mehrheit erlangt hatte, setzte er kurz darauf fünf Verfassungsrichter und den Generalstaatsanwalt ab. An ihre Stelle rückten Personen, die der Regierungspartei nahestehen. Somit war die Gewaltenteilung abgeschafft, und auch das Parlament richtet sich in seinen Entscheidungen seither nach dem Willen des Präsidenten. Journalist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen, nationale und internationale zivilgesellschaftliche Organisationen und unabhängige Medien werden öffentlich angegriffen und stigmatisiert. Aufforderungen zur Einhaltung der Grundrechte von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission werden zurückgewiesen, stattdessen gelten diese plötzlich als Unterstützer*innen krimineller Banden. Am 4. April 2022 schrieb Bukele auf Twitter: »Es ist klar geworden, wer die Partner der Banden sind. Jeder hat sich für sie eingesetzt: Geldgeber, Drogenhändler, korrupte Politiker und Richter, NGOs für ›Menschenrechte‹, die ›internationale Gemeinschaft‹, die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte, Journalisten und Medien der offenen Gesellschaft. Ihre Masken sind gefallen.« Bukeles Tweets führen häufig dazu, dass seine Unterstützer*innen Menschenrechtsorganisationen in Online-Netzwerken beleidigen und schikanieren. Bereits im November 2021 stellte die Regierung einen Entwurf für ein »Gesetz

über ausländische Agent*innen« vor, das die Arbeit vieler Organisationen vor Ort extrem erschweren würde. Es sieht eine Steuer in Höhe von 40 Prozent auf alle Zuwendungen vor, die NGOs aus dem Ausland erhalten. Aktivitäten, die »die Sicherheit des Landes gefährden«, sollen verboten werden. Gleichzeitig gingen schwerbewaffnete Sicherheitskräfte mit Razzien gegen mehrere Menschenrechtsorganisationen vor. Im Mai 2022 war das »Gesetz über ausländische Agent*innen« noch nicht verabschiedet worden. Sollte es verabschiedet werden, wäre dies ein schwerer Schlag für Menschenrechtsverteidiger*innen und NGOs. Die Regierung bedroht zudem Journalist*innen und greift sie sogar direkt an, insbesondere wenn sie die aktuelle Politik kritisieren. Dazu gehört die Online-Zeitung El Faro, die bereits im Herbst 2020 Beweise für eine Absprache zwischen der Regierung und Jugendbanden veröffentlichte. Demnach sollten die Banden die Zahl der Morde drastisch reduzieren, damit die Regierung dies als Erfolg ihrer Verbrechensbekämpfung darstellen und Zustimmung in der Bevölkerung gewinnen könne. Im Gegenzug erhielten offenbar inhaftierte Bandenführer Hafterleich-

Die Regierung bedroht Journalist*innen und greift sie sogar direkt an.


terungen. Selbst Parlamentspräsident Ernesto Castro giftete gegen die Journalist*innen, die diese Absprache aufgedeckt hatten. Am 24. April 2022 brüllte er in einer Sitzung: »Ihr meint wohl, wir brauchen euch? Aber das tun wir nicht! Haut doch einfach ab!« Im Januar 2022 belegte ein Bericht von Amnesty International, dass die Mobiltelefone von Journalist*innen, unter anderem von El Faro, monatelang mit der Spionagesoftware Pegasus abgehört worden waren. Auch Menschenrechtsverteidiger*innen wurden bespitzelt. Ende April wies der IT-Konzern Apple einige Nutzer*innen in El Salvador darauf hin, dass ihre Geräte infiziert sein könnten.

Repressive Gesetze im Eiltempo Der Ende März verhängte Ausnahmezustand ist ein Freibrief für die Regierung, jegliche Kritik an ihrer Politik zu kriminalisieren und mit Haft zu bestrafen. Dazu verabschiedete das Parlament im Eiltempo ein Gesetz nach dem anderen. So wurden zum Beispiel die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit, das Briefgeheimnis (auch der digitalen Kommunikation) und Grundregeln für faire Verfahren und die Behandlung von Gefangenen außer Kraft gesetzt. Der Ausnahmezustand sollte zu-

nächst 30 Tage dauern. Danach wurde er aber zweimal verlängert. Das Land erlebt eine beispiellose Welle von Inhaftierungen. Zwischen Ende März und Ende Mai wurden mehr als 37.000 Personen festgenommen. Dabei kommen schwerbewaffnete Sicherheitskräfte zum Einsatz, die an die Situation während des Bürgerkriegs in den 1980er Jahren erinnern. Die Haftbedingungen in den ohnehin überfüllten Gefängnissen wurden noch verschärft, unter anderem durch reduzierte Essensrationen und ganztägigen Einschluss in qualvoller Enge. Bukele selbst, aber auch die Polizeiund Gefängnisbehörden veröffentlichen regelmäßig Videos, die eine grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung von Gefangenen zeigen. Auch jenseits der Gefängnisse begehen Polizei und Armee schwere Menschenrechtsverletzungen. Bei Razzien in marginalisierten Stadtteilen, in denen sie Mitglieder von Jugendbanden vermuten, nehmen sie Menschen willkürlich fest, ohne ihnen einen Grund dafür zu nennen. Die Betroffenen erhalten erst nach 15 Tagen Zugang zu einem Rechtsbeistand. Häufig wissen ihre Familien nicht, wohin sie gebracht wurden. Selbst 12- bis 15-Jährige werden in Schnellverfahren zu lan-

Auch Bandenmitglieder haben Rechte: Gefängnis in Quezaltepeque, Herbst 2020. Foto: Jose Cabezas / Reuters

gen Haftstrafen verurteilt. Dabei reicht es aus, dass sie nach Ansicht des Gerichts Mitglied einer Jugendbande sind, die Beteiligung an einem Verbrechen ist für die Verurteilung nicht notwendig. Amnesty International untersuchte und dokumentierte im Mai 28 Fälle von Menschenrechtsverletzungen und führte vor Ort zahlreiche Gespräche mit Betroffenen und Organisationen. Ein Gesprächsangebot der Amerika-Expertin von Amnesty International, Erika Guevara Rosas, schlug Präsident Bukele aus. Bei einer Pressekonferenz am 2. Juni forderte Amnesty die Regierung auf, Maßnahmen rückgängig zu machen, die gegen die Menschenrechte verstoßen, und in einen Dialog mit Organisationen zu treten mit dem Ziel, eine Politik zu entwickeln, die Sicherheit garantiert und die Menschenrechte achtet. ◆ Melanie Huber und Christa Rahner-Göhring sind in der Amnesty-Koordinationsgruppe El Salvador aktiv: www.ai-el-salvador.de

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GRAPHIC REPORT: VENEZUELA

Kalkulierte Repression

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SOLIDARITÄT

Wie trinken Sie Ihren Kaffee? Mit Milch und voller Hoffnung! Wer in der griechischen Hauptstadt nicht weiter weiß, findet im Hope Café Zuflucht. Auch Flüchtende in Not können sich dort mit Lebensmitteln versorgen. Aus Athen von Frauke Gans (Text) und Giorgos Moutafis (Fotos)

Auch Windeln fürs Kind helfen weiter. Eine Frau besucht das Hope Café. Athen, Mai 2022.

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Unterstützung im Alltag: Mitarbeiterinnen und ein »Kunde« am Ausgabefenster.

G

egen Abend wird sichtbar, dass die Armut zur Normalität gehört. Tagsüber sprüht Athen vor Lebenslust. Märkte, Cafés, Restaurants, die Universität: Tourist*innen flanieren durch das Stadtzentrum und die Athener*innen gehen ihren Alltagsgeschäften nach. Aber wenn in der Dämmerung die Lichter angehen, entstehen aus dem Nichts die Betten der Obdachlosen. Mitten auf den breiten Gehwegen der Shoppingmeile, vor den Glastüren der Bekleidungsketten, liegen plötzlich dicke Decken in etlichen Lagen übereinander. Das Partyvolk schlägt Haken um die Nachtquartiere. Und inmitten dieses gut sichtbaren Gegensatzes von Konsum und Armut in der Millionenmetropole kommen täglich neue Flüchtende an, Einzelpersonen und Familien. Derzeit stellen nach Angaben des Ministeriums für Migration und Asyl

»Der Bedarf ist riesig.« Kerrie Moor, Gründerin des Hope Cafés

jeden Monat mehr als 1.000 Menschen einen Erstantrag auf Asyl in Griechenland, mit Folgeanträgen sind es durchschnittlich fast 2.000. Und viele von ihnen kommen irgendwann nach Athen. Einige halten dann einen Zettel in der Hand, auf den Beamte in den Insel-Flüchtlingscamps Adressen in Athen geschrieben haben. Dort sollen sich die Neuen registrieren. Wenn sie ihr Ziel erreichen, sind die Wartezeiten lang, und häufig können staatliche Anlaufstellen und internationale Hilfsprogramme nicht alle erfassen. So manche*r steht anschließend auf der Straße und weiß nicht weiter. Wohin? Dann wird oft ein Name genannt, der Hilfe verspricht. Für Griech*innen. Für Flüchtende. Für alle, die in Athen in Not sind. Hope Café. Geh zum Hope Café. Eigentlich ist es mehr ein Lagerhaus für Alltagsgegenstände. Hinter einer Glasfront stapeln sich auf zwei Stockwerken Kisten und Pakete. Als die Britin Kerrie Moor das Hope Café im Jahr 2017 gründete, wollte sie allen, die sich bei ihr eindecken, einen Kaffee anbieten und mit ihnen sprechen. Griechische Kaffeehausatmosphäre gegen Fluchttristesse und Armutsfrust. Zuerst besorgte sie alles, was man für das kalte Nationalgetränk Frappé braucht. Dann übergab ihr eine deutsche

Hilfsorganisation Spenden für eine vollautomatische Capuccino-Maschine, Besucher*innen bekamen fortan an der Theke ein heißes Gratisgetränk, während ein Päckchen mit Lebensmitteln, Decken, Kleidung oder Windeln geschnürt wurde, ebenfalls gratis. Aber irgendwann verkaufte Moor die Maschine, weil Geld für die Ladenmiete fehlte.

Wer bekommt Unterstützung? 130 Familien decken sich derzeit regelmäßig im Café mit Lebensmitteln ein. Und es kommen immer neue hinzu, auch wenn manche nur einmalig Unterstützung suchen. »Der Bedarf ist riesig.« Unter den Griech*innen, die kommen, sind viele ältere Menschen: »Ihre Medikamente sind so teuer, dass die winzige Rente gerade diese Kosten deckt. Und staatliche Hilfen stehen ihnen nicht zur Verfügung. Einige weinen vor Erleichterung, wenn wir ihnen Lebensmittel geben.« Regelmäßig muss sie Menschen abweisen. »Viele flehen uns dann an: Wir sind doch genauso wichtig wie die anderen. Ich kann immer nur sagen: Das weiß ich doch. Ich habe aber nicht genug für

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Das Hope Café gibt es nur, weil dort Freiwillige unentgeltlich arbeiten.

alle.« Um die zahlreichen Anfragen halbwegs fair abzuwickeln, hat sie ein Punktesystem für Dringlichkeit entwickelt. Neuankömmlinge in Athen erhalten Extrapunkte, da es ihnen an der Grundausstattung fehlt. Auch Schwangere und Familien mit Babys bekommen mehr Punkte als andere. Die Corona-Pandemie hat auch rund um das Hope Café ihre Spuren hinterlassen: »Wir mussten in den vergangenen zwei Jahren alle Hilfsgüter durch das Fenster reichen«, sagt Kerrie Moor. Damit entfiel eine Zeit lang auch das Kaffeetrinken. »Inzwischen kommen die meisten Anfragen über‘s Handy rein. Das ist nicht schlecht, weil das Gedränge vor unserem Laden regelmäßig Unmut bei den Nachbarn erregte. Zeitweise musste ich alles aus der Ferne koordinieren, weil ich wegen eines Lockdowns in England festsaß.« Selbst aus ihrer Heimat Worcester in Großbritannien arbeitete Moor weiter für ihr Café in Athen. »Mein Sohn zeigte mir, wie man ein digitales Spreadsheet erstellt, sodass ich die Sachspendeneingänge online verwalten und mit den Anfragen abgleichen kann. Geldspenden erfolgen immer über Paypal. Also rechne ich aus, was wir hinzukaufen können, die Volontärinnen und Volontäre in Athen besorgen die Sachen und schnüren die Päckchen nach den Vorgaben. Dann schicke

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ich den Familien eine Uhrzeit, wann sie ihre Sachen am Fenster abholen können.« Dieses Procedere könnte auch nach Corona noch wichtig bleiben. Denn ab und zu nimmt sich Kerrie Moor Auszeiten, so ist es mit ihrer Familie abgesprochen. Ihr Leben in Großbritannien hat sie aufgegeben. Vor der Gründung des Cafés fragte sie ihre erwachsenen Kinder und ihren Enkel, ob das in Ordnung sei, solange sie zu Geburtstagen und Feiertagen nach Hause käme. Die Familie war einverstanden. Und Moor hält Wort: Regelmäßig fliegt sie nach England und dann wieder zurück nach Griechenland. Wenn Verwandte und Freund*innen ihr etwas

Die Not ist groß, alles geht weg: Palettenweise Babynahrung.

schenken, dann Geld für ihre Flugtickets. Manchmal reist sie auch nach England, um sich zu erholen, denn auf Dauer belastet sie die Not in Athen. »Einiges muss ich schlicht verdrängen, sonst könnte ich nicht weitermachen. Ich kann aber nicht aufhören. Inzwischen kommen so viele ins Hope Café.« Noch vor wenigen Jahren war die Situation in Athen und im Hafen von Piräus noch schwieriger als heute. Wer damals eine der Fähren im Hafen verließ, musste durch ein Meer aus Zelten laufen oder fahren. Es waren zu viele Menschen, um sie geordnet unterbringen zu können. Viele zogen weiter nach Nordeuropa, andere blieben in Athen. Die griechische Anwältin Stavroula Giannoulatou arbeitet in der Hauptstadt, aber auch in Deutschland oder Dänemark. Denn dort wenden sich Hilfsorganisationen oder geflüchtete Familien an sie, die Unterstützung im Kontakt mit griechischen Behörden brauchen. »Die meisten Menschen aus Syrien kommen gut zurecht, nachdem sie ein Bleiberecht bekommen haben. Sie eröffnen Geschäfte und Restaurants. Aber viele aus Bangladesch oder Pakistan schlafen auf der Straße«, sagt sie. Denn sie bekämen weder Bleiberecht noch Asyl. Und wer keine Adresse angeben kann, erhält auch keine staatliche Unterstützung. »Um die Leute von der Straße zu holen, sammelt die Polizei manchmal jeden ein, der nicht nachweisen kann, dass er sich in Griechenland aufhalten darf.« Giannoulatou hat oft mit Menschen im Abschiebegefängnis Petrou Ralli zu tun. »Die Zustände im Gefängnis sind leider schlimm. Es sind so viele Menschen. Der Platz reicht nicht. Meine Klienten sind oft in keinem guten Zustand. Den


Spenden sind ausschließlich für das Café und seine Kund*innen bestimmt. Gefangenen wird der Pass abgenommen. Wer versichert, ins Herkunftsland zurückzukehren, bekommt eine amtliche Bescheinigung und darf das Gefängnis verlassen. Die Bescheinigung ermöglicht eine Ausreise aus Griechenland innerhalb von 30 Tagen ohne Pass. Aber die meisten gehen natürlich nicht.« Ohne Pass kehren sie ins Athener Alltagsleben zurück. Und das Team des Hope Cafés um Kerrie Moor versorgt auch sie manchmal mit Mahlzeiten und mehr.

Aus der Türkei nach Griechenland Wie ist Moor auf die Idee gekommen, in Athen ein Café der Hoffnung zu eröffnen? »Ich bin da reingestolpert. Wir haben im Westen der Türkei Urlaub gemacht. Eines Tages kam ein Flüchtlingsboot an. Die Camps für Flüchtende sind aber alle im Osten der Türkei. Also habe ich mitgeholfen, die Menschen zu versorgen.« Später beschloss sie, nach Lesbos zu gehen, weil sie erfahren hatte, dass fast 60 Prozent aller Flüchtlingsboote, die aus der Türkei ablegen, auf dieser griechischen Insel landen. »Weil die Erstaufnahmestellen völlig überfüllt waren, schliefen etliche Geflüchtete in den Olivenhainen. Und froren so sehr, dass sie Holz zum Heizen suchten. Dabei zerstörten sie die Olivenbäume der Bauern, die wiederum am nächsten Tag verzweifelt waren. Es kamen Menschen an, deren Verwandte kurz zuvor ertrunken waren. Auch Kinder. Manchmal weinte man, ohne es zu merken.« Moor blieb länger als viele andere freiwillige Helferinnen und Helfer. Als im Jahr 2016 die EU und die Türkei in einem Abkommen festhielten, dass die Türkei Flüchtende gegen Geld vom Weiterreisen abhält, änderte sich in den Camps auf Lesbos alles. Die griechische Regierung bat freiwillige Helfer*innen, die Erstaufnahmestellen zu verlassen. »Da ich meine Familie von Athen aus besser erreichen kann, beschloss ich, in der Hauptstadt etwas aufzubauen und das fortzusetzen, was ich auf Lesbos angefangen hatte«, sagt Moor. Zunächst lebte sie mehr als ein halbes Jahr lang für 100 Euro im Monat in einem Zimmer ohne Wasser und Strom und schlief auf einer Yogamatte. Nun unterstützt sie jene, die unter ähnlichen Bedingungen leben. Madalena João besucht öfter das Hope

Café. Sie ist 15 Jahre alt und floh neun Monate lang mit ihren Eltern und sechs Geschwistern aus der angolanischen Hauptstadt Luanda über die Türkei nach Griechenland. Ihre Familie hat eine behördliche Duldung, Bleibeberechtigung und eine Wohnung bekommen, in der Madalena jetzt neben ihrer Mutter auf dem Sofa sitzt und erzählt: »Meine Geschwister und ich gehen zur Schule. Und mein Vater hat Arbeit. Aber die Bezahlung ist schlecht. Deshalb schaffen wir es nicht ohne die Hilfspakete des Hope Cafés.« Zuvor hätten sie auf Samos in einem Zeltlager gewohnt. »Dort war es überfüllt und schmutzig. Jetzt sind wir seit zwei Jahren in Athen, und es geht uns eigentlich gut. Wir sind sicher. Zu siebt in der Wohnung ist es zwar eng. Aber viele andere schlafen auf der Straße.« Menschen wie Madalena seien der Grund, warum das Hope Café weitermache, sagt Kerrie Moor. Die Engländerin bildet das Zentrum des Teams. Außer ihr arbeiten dort häufig wechselnde Volontär*innen aus der ganzen Welt, die ihre Flüge und Unterkunft selbst bezahlen müssen. Spenden sind ausschließlich für das Café und seine Kund*innen bestimmt. Zum Glück gibt es vor Ort Einheimische und Geflüchtete, die regelmäßig und ohne Entlohnung mit anpacken. Vor der Corona-Pandemie kochten sie oft gemeinsam, um außer einem Kaffee auch warme Mahlzeiten anzubieten. Bald soll das wieder möglich

sein. »Und im Obergeschoss würden wir auch gerne Englisch- und Griechischunterricht anbieten.« Aber es gibt auch Probleme. Immer wieder wird in das Café eingebrochen. Mal wurde der Laden verwüstet, mal wurde etwas gestohlen. Moor musste neue Schlösser und schließlich sogar Kameras installieren lassen. Manchmal schaut auch die Polizei vorbei und befragt die Mitarbeiter*innen, um sicherzustellen, dass sie für die Hilfsgüter kein Geld verlangen. Währenddessen kommen weiterhin Flüchtende nach Griechenland. Im Schnitt sind es mehr als 750 pro Monat, die meistens auch im Land bleiben. Und so bleibt viel zu tun für Organisationen, die unterstützen wollen, und für freiwillige Helfer*innen wie Kerrie Moor: »Ich mache weiter, bis man mich zwingt, aufzuhören.« Sie kniet im Hope Café auf dem Boden und schnürt Pakete. Geht die Spendenbereitschaft mal zurück, plagen Moor Geldsorgen. Einige Sponsoren unterstützen sie seit Jahren mit einem monatlichen Obolus, andere helfen nur vorübergehend. »Im Moment zahlen drei Spender die Miete für das Café.« Und vielleicht ist auch eines Tages wieder eine CapuccinoMaschine drin. Damit es auch mal wieder heißen Kaffee gibt im Hope Café. ◆ Diesen Artikel können Sie sich in unserer TabletApp vorlesen lassen: www.amnesty.de/app

Kerrie Moor (l.) möchte im Hope Café bald wieder Kaffee ausschenken. Foto: Ben Owen-Browne ( www.benowenbrowne.com)

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WAS TUN?

DENKER FRAGEN: THOMAS ELBERT nen professionelle Hilfe braucht. In Deutschland ist es sehr schwierig, einen Therapieplatz für eine posttraumatische Belastungsstörung zu bekommen. Gibt es keine Abhilfe? Mit unserer Arbeit in Krisenregionen konnten wir zeigen: Man hilft den Betroffenen, indem man ihre Leiden dokumentiert und veröffentlicht. Es geht nicht nur darum, Fakten zu vermitteln, sondern auch, was die Opfer während der Tat gedacht, gefühlt und gespürt haben. Dies hat mehrere positive Effekte: Die Betroffenen fühlen sich verstanden, in der Community wird Verständnis gefördert wird, und die Stigmatisierung damit reduziert. Das ersetzt oftmals keine Therapie, ist aber ein pragmatischer Ansatz, der Leiden lindert. Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn Traumata nicht behandelt werden? Eine Gemeinschaft kann nur einen gewis-

sen Anteil traumatisierter Mitglieder verkraften, bevor sie als Ganzes funktionsuntüchtig wird. Im Südsudan oder Ostkongo gibt es Dörfer, in denen 20 oder 30 Prozent der Bewohner*innen durch den Horror psychisch funktionsunfähig geworden sind. Diese Gesellschaften brechen zusammen, auch ökonomisch, weil zu viele Menschen dort ihrem Alltag und ihrer Arbeit nicht mehr gewachsen sind. Interview: Uta von Schrenk Thomas Elbert ist emeritierter Professor für Klinische Psychologie an der Universität Konstanz. Er ist Spezialist für Traumaforschung und Psychobiologie der Gewalt- und Tötungsbereitschaft. Er arbeitete in zahlreichen Konfliktgebieten, darunter Afghanistan, DR Kongo, Ruanda, Somalia, Uganda und Sri Lanka.

Foto: Inka Reiter (CC BY-SA 3.0)

Der Zweite Weltkrieg, die Kriege in Ruanda, auf dem Balkan und nun in der Ukraine: Immer wieder kommt es zu Kriegsverbrechen. Was heißt es, ein Massaker oder eine Massenvergewaltigung zu überleben? Im Krieg gibt es keinen sicheren Ort. Diese ständige Gefahrenlage verstärkt das Risiko, dass jemand, der ein Gewaltverbrechen erlitten hat, in der traumatisierenden Vergangenheit stecken bleibt. Das vernichtet die Person mit der Zeit, wenn sie keine professionelle Unterstützung erhält. Bekommen die betroffenen Geflüchteten, die zu uns gekommen sind, diese Hilfe? Für die angemessene Versorgung traumatisierter Menschen, die aus Afghanistan oder Syrien und nun aus der Ukraine zu uns gekommen sind, ist unser Gesundheitssystem nicht ausgelegt. Aus Studien wissen wir, dass einer von drei Betroffe-

DAS STECKT DRIN: KLIMAWANDEL Dürren, Überschwemmungen, Unwetter, Hitzewellen: Der Klimawandel führt weltweit und langfristig zu extremen Wetterphänomenen. Besonders betroffen ist Ostafrika. Gab es dort in früheren Zeiten alle 20 bis 25 Jahre eine Dürreperiode, sind es nun alle drei bis fünf Jahre. Derzeit ist bereits zum dritten Mal in Folge die Regenzeit ausgefallen, Acker- und Weideland ist vertrocknet, das Vieh verendet. Die UNO spricht von der schlimmsten Dürre seit 40 Jahren.

In den nächsten sechs Monaten benötigt das Welternährungsprogramm 473 Millionen US-Dollar (443 Millionen Euro), um Leben in der Region zu retten. Bis Februar waren jedoch weniger als vier Prozent der benötigten Mittel aufgebracht.

Mehr als 14 Millionen Menschen in den betroffenen Gebieten Somalias, Äthiopiens und Kenias sind dem UN-Welternährungsprogramm zufolge von akutem Hunger bedroht. Im Lauf des Jahres könnte die Zahl auf 20 Millionen Menschen ansteigen. Die Hungerkrise wird durch den Krieg in der Ukraine und den damit unterbrochenen Weizenhandel verstärkt.

Die Folgen: Millionen Menschen sind akut vom Hungertod bedroht, leiden unter Untergewicht und mangelbedingten Krankheiten, bei Kindern kommt es zudem zu Wachstumsstörungen. Die Gefahr von Kinderarbeit, Zwangsverheiratungen und häuslicher Gewalt steigt. Klimaflucht wird verstärkt.

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Foto: ElenM / shutterstock


MALEN NACH ZAHLEN: AUFRÜSTUNG Das Friedensforschungsinstitut Sipri hat ein Rekordhoch bei den weltweiten Rüstungsausgaben erfasst. Im vergangenen Jahr investierten Staaten, allen voran die USA, China, Indien, Großbritannien und Russland, mehr als 2,113 Billionen US-Dollar.

2.000 Erstmals mehr als 2 Billionen Dollar 1.500 Die USA gaben 801 Mrd. Dollar für ihre Waffenindustrie aus (China: 293 Mrd.) 1.000 Russland rüstete 2021 für 65,9 Mrd. Dollar auf 500

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Deutschlands Rüstungsausgaben beliefen sich auf 56 Mrd. Dollar Milliarden US-Dollar Quelle: Sipri 2022

BESSER MACHEN: HASS IM INTERNET Es trifft vor allem Politiker*innen, Journalist*innen und Aktivist*innen: Beleidigungen, Falschbehauptungen und Morddrohungen in den Online-Netzwerken. Nach einer erfolgreichen Klage der Grünen-Politikerin Renate Künast mit Unterstützung der NGO Hate-Aid soll Facebook künftig verpflichtet sein, rechtswidrige Inhalte konsequent und deutlich umfassender als bisher zu löschen. So hatte das Landgericht Frankfurt am Main Anfang April geurteilt. Hate-Aid feierte das Urteil des Frankfurter Landgerichts als »Meilenstein«. Denn es stellte erstmals fest, dass Face-

RUSSLAND: ANGRIFFSKRIEG STOPPEN!

book nicht nur verpflichtet sein kann, einen einzigen gemeldeten illegalen Inhalt zu löschen, sondern sich aktiv – also ohne vorherige Aufforderung – an der Suche nach weiteren identischen und kerngleichen Inhalten zu beteiligen und diese zu entfernen. »Bisher lastet dies auf den Betroffenen, die damit leben müssen, dass digitale Gewalt gegen sie zum Teil hundertfach geteilt wird«, teilte die NGO mit. Bei Zuwiderhandlung droht dem Konzern ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro. In seinem Urteil betonte das Landgericht, dass Falschzitate den Meinungs-

Die Ukrainer*innen erleben derzeit eine Menschenrechtskrise. Russisches Militär greift wahllos Wohngebiete, Krankenhäuser und Schulen an und erschießt gezielt Zivilpersonen. Millionen Menschen sind auf der Flucht. Im eigenen Land unterdrückt die russische Regierung alle Bürger*innen, die sich gegen den Krieg positionieren oder unabhängig darüber berichten. Schicke eine Protest-E-Mail an die russischen Behörden!

kampf in der Gesellschaft verzerren und der Allgemeinheit schaden. Das Falschzitat von Renate Künast, um das es bei der Klage ging, wird seit sieben Jahren auf Facebook massenhaft verbreitet – und dies, obwohl es mehrfach gemeldet und teilweise sogar von der Plattform selbst mit Faktenchecks gekennzeichnet wurde. Die Weiterverbreitung des Falschzitates ist in den meisten Fällen eine Straftat. Facebook hat gegen die Entscheidung des Frankfurter Landgerichts bereits Berufung eingelegt. Der Fall geht damit in die nächste Instanz.

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MENSCHENRECHTSBILDUNG

Weiterbildung in der Natur: Der Pfad der Menschenrechte an der Korkenziehertrasse in Solingen.

Auf der Suche nach der Jugend In der Welt und vor Ort: Um engagierte Menschen für die Arbeit von Amnesty zu gewinnen, müssen sie zunächst einmal auf das Thema aufmerksam werden. Ein Beispiel dieser Bildungsarbeit ist der Menschenrechtspfad in Solingen. Von Nina Apin (Text) und Roland Geisheimer (Fotos)

N

ass glänzend und schnurgerade liegt die Solinger Korkenziehertrasse im Regen – unterhalb rauscht der Straßenverkehr, auf die ehemalige Bahntrasse verirren sich an diesem grauen Tag nur wenige Fußgänger*innen und Radfahrer*innen. Bei schönem Wetter sehe das ganz anders aus, erzählt Daniela Tobias unter ihrer Regenkapuze: 2006 wurde die Strecke, die s-förmig durch die Stadt führt und nach 15 Kilometern in Wuppertal endet, im Rahmen des Strukturwandelprogramms »Regionale«

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im Bergischen Land für den nicht-motorisierten Verkehr umgebaut. »Seither hat der Solinger das Fahrradfahren entdeckt«, sagt Tobias, die selbst bevorzugt mit dem Rad unterwegs ist. An den Wochenenden, wenn bei schönem Wetter die Menschen aus der Umgebung auf ihren E-Bikes, Hollandrädern oder Scootern durcheinanderflitzen, macht der eine oder die andere vielleicht am Menschenrechtspfad in der Nähe des Botanischen Gartens eine Pause. Auf knapp 200 Metern laden 13 mit auffälligen bunten Illustrationen versehene Stahltafeln dazu ein, stehen zu bleiben und die Kurztexte zu lesen: zur Arbeit von Amnesty International und zu den 30

Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. 2012, zum 40. Geburtstag der Solinger Amnesty-Gruppe, wurde der Menschenrechtspfad feierlich eingeweiht, mit viel Pathos, wie bei solchen Anlässen üblich. Der damalige konservative Oberbürgermeister Norbert Feith sprach über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, AltBundespräsident Walter Scheel ließ ein Grußwort in seine Heimatstadt übermitteln und prophezeite dem politischen Bildungsangebot in bester Stadtlage einen großen Erfolg. Bis zur Eröffnung hatte die Amnesty-Gruppe Solingen allerdings viel Nervenstärke und Beharrlichkeit gebraucht, wie sich Helmut Eckermann er-


»Unser Thema gehört in die Stadtmitte, unter die Leute.« Helmut Eckermann, Amnesty-Aktivist

Die Gründungsgruppe des Solinger Pfades: Amnesty-Aktivist*innen Ursel Ullmann, Helmut Eckermann und Daniela Tobias (von links).

innert: »Die Stadt wollte unseren Pfad am liebsten irgendwo im Abseits haben«, erzählt der 72-Jährige und wirkt noch heute ehrlich empört. Eine stillgelegte Müllkippe habe man ihnen angeboten und einen Friedhof. »Aber unser Thema gehört doch in die Stadtmitte, unter die Leute!« 575 EMails, unzählige Telefongespräche und anderthalb Jahre dauerte es, bis die Aktivist*innen den Kampf gegen die Bürokratie und das politische Desinteresse gewonnen hatten und auf die Korkenziehertrasse durften – auch dank der guten Kontakte in die Lokalpolitik, die sie durch die Betreuung von Geflüchteten während der Balkankriege aufgebaut hatten. Die direkte Nachbarschaft zum Schulzentrum Vogelsang, einem Komplex aus Realschule und Gymnasium, gehört zum Konzept. Der Pfad soll ein unkompliziertes Weiterbildungsangebot »für zwischendurch« sein. Die fröhlichen, für Amnesty entworfenen Illustrationen der japanischen Künstlerin Yayo Kawamura sowie eine vereinfachte Textfassung der Menschenrechtsartikel sorgen für Zugänglichkeit, ebenso die aufwändige Gestaltung: Der knallige Farbdruck und die in Stahl geätzte Schrift wirken modern, jede Tafel wird von einer metallenen Bodenplatte mit dem Amnesty-Kerzenlogo flankiert, eine robuste Schicht schützt vor Graffiti. Aufgedruckte QR-Codes führen via Smartphone zu kleinen Audioclips, eingesprochen von Solinger Schüler*innen aus verschiedenen Herkunftsländern, die erzählen, was das jeweilige Menschenrecht mit

ihrer eigenen (Flucht-)Geschichte zu tun hat. Daniela Tobias, von Beruf Grafikdesignerin, konzipierte ehrenamtlich die Gestaltung. Deren Umsetzung, erwähnt Helmut Eckermann, war nicht einmal teuer: Die rund 7.000 Euro wurden durch Spenden und Sponsorengelder eingeworben.

Amnesty-Nachwuchs ist erwünscht Die Zusammenarbeit mit dem Schulzentrum, das sich ursprünglich zur Patenschaft für die 13 Tafeln verpflichtet hatte, schlief allerdings irgendwann ein: Griffen Schüler*innen anfangs sogar in Eigeninitiative zum Mikro, um einen Audioclip einzusprechen, fanden sich bald keine Freiwilligen mehr, um den Audioguide fertigzustellen, trotz des Angebots eines kostenlosen Sprechtrainings. Auch regelmäßige Führungen im Rahmen des Unterrichts oder als Teil von Wandertagen finden schon lange nicht mehr statt – es sei »unheimlich zäh«, die Schulgemeinde zur Beschäftigung mit dem Pfad zu animieren, der immerhin direkt vor dem Schultor liege, sagt Daniela Tobias. Beim Treffen in einem Café im schmucklosen Stadtzentrum sprechen die Amnesty-Aktivist*innen über die Mühen, in Kontakt mit der jungen Generation zu kommen. Die Gruppe ist mit ihren Mitgliedern gealtert: Eckermann ist seit 1982 dabei und merkt, dass seine Energie in den vergangenen Jahren »merklich nachgelassen« hat. Ähnliches berichten seine Mitstreiter*innen Ursel Ullmann

(dabei seit 1993) und Bernhard Erkelenz (»fast Gründungsmitglied«). Mit der 45jährigen Daniela Tobias, die 2007 als Studentin mit einem Protestfilm gegen die anstehenden Olympischen Spiele in China dazugestoßen war, verliert die Gruppe ihr jüngstes aktives Mitglied: Als Vorsitzende der Bildungs- und Gedenkstätte Max-Leven-Zentrum widmet sie sich jetzt ganz der politischen Arbeit gegen Antisemitismus, unter anderem mit einer Ausstellung über den Solinger NS-Widerstand. An engagierten Menschen fehlt es in Solingen eigentlich nicht: Das Entsetzen über den rassistischen Brandanschlag auf eine türkische Familie 1993 führte zu Initiativen wie dem Solinger Appell und dem Jugendstadtrat. Auch in der Flüchtlingsarbeit sind viele aktiv, bei der Bewegung »Seebrücke« oder dem Netzwerk »Solingen hilft«, das derzeit Spenden und Unterkünfte für Geflüchtete aus der Ukraine organisiert. Mit ihnen arbeitet die Amnesty-Gruppe immer wieder zusammen, aber zu einer dauerhaften Verstärkung und Verjüngung hat es bislang nicht gereicht – wohl auch, weil es in Solingen keine Universität gibt. »Sobald die jungen Leute das Abi in der Tasche haben, sind sie weg«, beobachtet Helmut Eckermann. Hoffnung setzt die Gruppe nun auf Fridays For Future, deren Anhänger*innen in der Stadt ebenfalls sehr aktiv sind. Den jungen Leuten sei durchaus klar, wie eng Klimaschutz mit Menschenrechten zusammenhänge, es habe da zuletzt vielversprechende Kontakte gegeben, sagt Helmut Eckermann. »Wir müssen endlich ran an die Jugend!«, ruft Ursel Ullmann ungeduldig und lässt sich nur unwillig erklären, warum der gemeinsame Workshop, den man mit der Volkshochschule und Fridays For Future geplant hat, noch immer nicht zustande gekommen ist. Es stehen die Abschlussprüfungen an den Schulen an. Jetzt gilt es, die, die bleiben, an Amnesty zu binden – damit sie den Pfad und die Gruppe weiterentwickeln. ◆ Weitere Informationen: amnesty-solingen.de

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PORTRÄT

UNERMÜDLICH OPTIMISTISCH Foto: Leonardo Ramírez Ramos

Zwischen Feminiziden und feministischem Frühling – Mexiko ist ein Land der Widersprüche. Edith Olivares Ferreto, Direktorin von Amnesty International, engagiert sich auch gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Von Anna Lena Glesinski und Johanna Wild

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achend erscheint sie auf dem Bildschirm und entschuldigt sich für die Verspätung. Heiß sei es in Mexiko-Stadt, sagt sie, und fächelt sich mit den Händen Luft zu. Bei Edith Olivares Ferreto ist es zehn Uhr morgens. Sie kommt gerade aus einem Vorbereitungstermin für ein anstehendes Lobbygespräch zu einem Gesetz, über das bald im Parlament diskutiert werden soll. Im Anschluss an unser Gespräch steht sie der wohl bekanntesten mexikanischen Journalistin, Carmen Aristegui, Rede und Antwort. Edith Olivares Ferreto ist Direktorin von Amnesty International Mexiko. Wir haben sie bereits in unterschiedlichen Situationen erlebt: in Gesprächen mit dem Auswärtigen Amt, als Gast einer Menschenrechtstagung oder als Expertin in einer von uns organisierten Veranstaltung. Angesichts der dramatischen Menschenrechtslage in Mexiko wirken ihr unermüdlicher Optimismus und ihre Gelassenheit verblüffend. Wenn die Soziologin Ferreto über die ausufernde Gewalt in Mexiko spricht, redet sie schnell und ohne Dramatisierung. Komplexe Zusammenhänge knapp und verständlich aufzuzeigen, gehört zu ihrem Tagesgeschäft: 100.000 Verschwundene, elf Frauenmorde pro Tag, schwerwiegende Defizite in der Strafverfolgung, nur zwei Prozent der Täter werden bestraft. In unserem Gespräch ist nichts von dem schnellen Takt zu spüren, den die Termine mit Regierungs-, Behörden- und Medienvertreter*innen vorgeben. Ferreto erzählt ausgelassen, wie sie als Jugendliche in ihrem Geburtsland Costa Rica ein von Amnesty organisiertes Musikfestival besuchte. Schon damals beeindruckte sie die Kraft der Menschenrechtsbewegung, die sie heute selbst verkörpert. Seit Jahren ist der Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt Ferretos Arbeitsschwerpunkt und ihre Herzensangelegenheit: »Als ich vor 21 Jahren nach Mexiko kam, ein Land, in dem die Menschen für alles Mögliche auf die Straßen gehen, wun-

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derte ich mich über die wenig ausgeprägten Frauenproteste. Aneinandergereiht streckten wir unsere Arme aus, um zu sehen, ob wir 100 Meter erreichen könnten«. Heute organisieren sich Millionen von Frauen. Sie protestieren gemeinsam gegen die Gewalt und fordern effektive Schutzmaßnahmen. Und als wollte die Natur mitreden, öffnen die Jacaranda-Bäume in Mexiko-Stadt pünktlich zum Internationalen Frauentag am 8. März ihre lilafarbenen Blüten – es ist die Farbe des feministischen Protests. »Ich wirke wohl alt, wenn ich das sage. Aber niemals hätte ich mir erträumt, dass wir Frauen eine derartige Massenpräsenz in der Öffentlichkeit erreichen würden«, gibt Ferreto zu. Wir wollen von ihr wissen, was die größte Stärke von Amnesty sei. Sie überlegt: »Wir sind eine sehr mächtige Bewegung. Und mit dieser Kraft müssen wir behutsam umgehen, denn sie kann auch überwältigend sein.« In der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen achtet sie darauf, den meist kleineren Partner*innen Gehör zu verschaffen: »Ich habe diesen Organisationen immer gesagt, ihr müsst entscheiden, wie ihr Amnesty nutzen wollt. Unser Ziel ist es nicht, die Dinge hier allein zu tun.« Im Gespräch mit offiziellen Vertreter*innen ist ihre Strategie eine andere: »Auch die Behörden sind irritiert von unserer Größe. Sie glauben, dass wir Teil einer internationalen Institution mit verbindlichen Forderungen sind«. Und lachend fügt sie hinzu: »Bestreiten werde ich das nicht!« ◆ Anna Lena Glesinski und Johanna Wild sind Sprecherinnen der AmnestyKoordinationsgruppe Mexiko und Zentralamerika. Mehr Informationen: amnesty-mexiko-zentralamerika.de


DRANBLEIBEN

EU SCHÜTZT MENSCHENRECHTE ONLINE Im April 2022 haben sich der Europäische Rat und das Europäische Parlament auf ein EU-Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act, DSA) geeinigt. Es sieht erstmals grundsätzliche Verpflichtungen der digitalen Plattformbetreiber für ihre Angebote vor. Insbesondere sehr große Plattformen wie Facebook, Instagram oder YouTube müssen künftig die »systemischen Auswirkungen« ihrer Dienste auf Demokratien und Menschenrechte untersuchen und möglichen Schäden entgegenwirken. Außerdem erzwingt das

Gesetz mehr Transparenz: Politik, Wissenschaft und zivilgesellschaftliche Organisationen bekommen Einsicht in verwendete Daten. Auf Seiten der User*innen werden außerdem Autonomie und Datenschutz gestärkt. Werbung, die sich auf das weitreichende Sammeln von Daten stützt, wird eingeschränkt: Personalisierte Werbung wird verboten, wenn sie zum Beispiel auf Religionszugehörigkeit oder sexueller Orientierung basiert. Manche Chancen wurden nicht genutzt. Ein Verbot von Überwachungswer-

bung oder die Möglichkeit, der Datenverarbeitung per Browsereinstellung grundsätzlich zuzustimmen oder sie abzulehnen, schafften es nicht in das Gesetz. Der DSA ist dennoch ein wichtiger Schritt hin zu einem Internet, in dem die Rechte auf Privatsphäre, Nichtdiskriminierung, Meinungs- und Informationsfreiheit besser geschützt werden. Die europäische Kommission und die Bundesregierung müssen das Gesetz konsequent umsetzen. (»Und jetzt: Werbung! Und zwar für Regulierung«, Amnesty Journal 01/2022)

LEBENSLANGE HAFT FÜR OSMAN KAVALA Ein türkisches Gericht hat am 26. April in Istanbul den Kulturförderer und Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala wegen angeblichen versuchten Staatsumsturzes zu »erschwerter lebenslanger Haft« verurteilt. Die türkische Justiz geht seit Jahren gegen Kavala vor. Im Sommer 2013 wurde er als angeblicher Verantwortlicher für die Gezi-Proteste angeklagt. Nachdem er in diesem Verfahren Anfang 2020 freigesprochen worden war, erhob die Staatsanwaltschaft eine neue Anklage wegen Beteiligung am Putschversuch von 2016 und wegen Spionage. Amnesty International bezeichnete die Verurteilung Kavalas als »willkürlich« und kritisierte, dass rechtsstaatliche Prinzipien nicht zählen. »Kavala muss sofort freigelassen werden«, fordert Amke Dietert, TürkeiExpertin von Amnesty in Deutschland.

Solidaritätsaktion für die Freilassung Kavalas, Istanbul im Mai 2022. Foto: Serra Akcan / NarPhotos / laif

(»Osman Kavala weiter in Haft«, Amnesty Journal 01/2022)

WENIGER LÄNDER MIT MEHR HINRICHTUNGEN Ein neuer Bericht von Amnesty International zur weltweiten Anwendung der Todesstrafe zeigt für das Jahr 2021 eine Zunahme von Hinrichtungen und Todesurteilen. Die Menschenrechtsorganisation dokumentierte mindestens 579 Hinrichtungen und damit einen Anstieg um 20 Prozent gegenüber 2020. Nach der Aufhebung von Corona-Maßnahmen fällten die Gerichte in 18 Staaten wieder

mehr Todesurteile. So verzeichnete Amnesty im Iran die höchste Zahl an dokumentierten Exekutionen seit 2017. In Saudi-Arabien erhöhte sich die Zahl der Hinrichtungen von 27 im Jahr 2020 auf 65 im Jahr 2021. Wie bereits in den Vorjahren konnten keine Angaben zu China, Nordkorea und Vietnam gemacht werden. Die Regierungen dieser drei Staaten halten Angaben zur Todesstrafe unter Verschluss.

Amnesty geht aber von Tausenden Hinrichtungen allein in China aus. Trotz dieser Rückschritte weist 2021 insgesamt die zweitniedrigste Anzahl an dokumentierten Hinrichtungen weltweit seit 2010 auf. (»Datenbanken gegen Erschießungen«, Amnesty Journal 02/22)

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KULTUR UKRAINISCHE ILLUSTRATOR*INNEN

Seit dem 24. Februar 2022 ist nicht nur in Lwiw alles anders.

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Vom Krieg gezeichnet Sie illustrieren Literatur, schreiben auch eigene Bücher. Ausgezeichnete Bücher. Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw aus dem ukrainischen Lwiw. Am liebsten zeigt das Künstlerpaar Kindern und Jugendlichen die bunte Welt. Aber der Krieg verändert die Dinge. Von Cornelia Wegerhoff

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Traurig aktuell wirken die Illustrationen zu Hemingways Novelle »A farewell to arms«.

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m Flur stehen jederzeit griffbereit Rucksäcke parat: Mit den wichtigsten Papieren, einigen Medikamenten, einer Notration an Lebensmitteln und Trinkwasser für drei Tage. Wenn die Sirenen aufheulen, kommen dann noch schnell die mobilen Festplatten dazu. Darauf sei ihr Archiv gespeichert, sagt Andrij Lessiw. Und Papier und Stifte müssten natürlich auch mit, ergänzt Romana Romanyschyn. Sie habe diese Angewohnheit, ständig etwas zeichnen zu müssen. Selbst während des Videogesprächs liegt ein kleiner Block neben der 37-Jährigen. Bei Luftalarm, wenn sich das ukrainische Künstlerpaar vor einem möglichen russischen Raketenangriff in Sicherheit gebracht hat, sei es beruhigend, irgendetwas zu Papier zu bringen. Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw, beide Jahrgang 1984, leben in Lwiw, im Westen der Ukraine. Das Zeichnen ist ihr Beruf. Gemeinsam führen sie das Kunststudio »Agrafka«, illustrieren Bücher und schreiben und gestalten auch eigene Werke. Ihre Kinder- und Jugendbücher wurden bereits in 23 Ländern veröffentlicht. Das ukrainische Künstlerduo

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setze »neue Maßstäbe«, schwärmt die deutsche Literaturkritik. Das in Neonfarben leuchtende Sachbuch »Sehen« ist für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Naturwissenschaftliche Erklärungen zur Funktionsweise des menschlichen Auges sind darin ungezwungen kombiniert mit einem philosophischen Blick auf die Dinge. Die Grafiken seien plakativ und inspirierend, die poppigen Farben sorgsam durchkomponiert, lobt die Jury. Wörtlich hieß es: »Das Aufsehen erregende Sachbuch ist Aufforderung und Ermutigung, die Welt mit anderen Augen zu sehen und sich mit Fragen der (eigenen) Wahrnehmung zu beschäftigen.« Aber Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw haben schon seit Jahren nicht mehr nur die schöne bunte Welt im Blick. »Das Gefühl, im Krieg zu sein, kennen wir schon seit 2014«, sagt Andrij Lessiw, »seit Russland die Krim annektiert und danach den Krieg im Donbass begonnen hat.« Die Kampfhandlungen waren da zwar noch fast tausend Kilometer von Lwiw entfernt, aber schon damals wurden etliche ihrer Freunde zur Armee einberufen. Lessiw blieb vor der Einberufung bewahrt. Einige ihrer Freunde seien jedoch ums Leben gekommen, erzählt das Ehepaar. Weil

immer mehr Flüchtlinge kamen, habe sich auch Lwiw in den vergangenen acht Jahren verändert. »Das alles hat uns und unsere Arbeit sehr geprägt«, stellt Romanyschyn fest.

Metamorphosen von Alltagsgegenständen Das Paar hat sich mit dem Krieg und seinen Folgen auch künstlerisch auseinandergesetzt. 2018 gestalteten die beiden die ukrainischsprachige Ausgabe von Ernest Hemingways Novelle »A farewell to arms« (dt. »In einem andern Land«) aus dem Jahr 1929. Der US-amerikanische Schriftsteller ließ darin seine Erlebnisse als Sanitäter im Ersten Weltkrieg einfließen und erzählt eine Liebesgeschichte zwischen einem amerikanischen Soldaten und einer britischen Krankenschwester an der Front in Italien. Romanyschyn und Lessiw zeigen auf dem Buchcover eine Uniform und eine Schwesterntracht. Das untere Ende der Kleider wirkt zerfetzt. So wie der Krieg in der Ukraine auch heute wieder die Körper von Soldaten und Zivilpersonen zerfetzt, stellen die Künstler*innen bitter fest. In ihren Hemingway-Illustrationen durchlaufen selbst simple Alltagsgegenstände eine Art Metamorphose. Da ist zum Beispiel links


Im Frieden ist Rondo noch voller Licht.

ter südlich von Lwiw. Er wuchs in einer Ärztefamilie mit einer großen Bibliothek auf, die ihn schon in jungen Jahren magisch anzog. Romana lernte er als Teenager kennen. Sie besuchte dieselbe Kunstschule in Lwiw, und zusammen wechselten sie an die Nationale Kunstakademie. Sie studierte Glaskunst, er Restaurierung und Konservierung. Schon an der Hochschule begann das Paar, für das ukrainische Verlagshaus »Liptopys« zu zeichnen. Bücher zu illustrieren wurde ihre Leidenschaft, und gemeinsam erhielten sie Stipendien für die polnischen Kunstakademien in Warschau und Krakau, wo sie sich auf professionelles Buchdesign spezialisierten. Ihre Werke entstehen arbeitsteilig: Romanyschyn zeichnet, auf Papier und digital. Lessiw widmet sich dem Layout, der technischen Aufbereitung und den Texten. Mit Erfolg: Die Liste ihrer nationalen und internationalen Auszeichnungen ist mittlerweile länger als die beiden Lebensläufe zusammen.

Die Energie ist ein Grund, zu bleiben Sie hätten sich lange gescheut, eigene Bücher zu schreiben, bekennen die Ukrainer*innen, angesichts der großen Autor*innen, deren Werke sie zuvor illustrierten. Doch die Geschichte eines autistischen Kindes – des Sohns einer Freundin – habe sie schließlich inspiriert. »Stars and Poppy Seeds« erzählt von der Zahlenbegabung dieses Kindes. »Wir wollten zeigen, dass jeder die Fähigkeit hat, jemand Besonderes zu sein«, so Romanyschyn. Ihr literarisches Debüt erhielt 2014 auf Anhieb den italienischen Kinderbuchpreis Bologna Ragazzi Award. Die Ukraine habe viele Talente, betonen die beiden Künstler*innen bescheiden. Der sogenannte Euromaidan, die Protestbewegung von November 2013 bis Februar 2014 habe die ukrainische Kultur aufblühen lassen. Als die damalige Regierung in Kiew erklärt hatte, sie wolle das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union vorerst doch nicht unterzeichnen, waren in Kiew Hunderttausende auf die Straße gegangen. Auch Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw demonstrierten. »Wir wollen uns auf Europa zubewegen, hin zu den europäischen Werten«, sagen sie. Das sei auch der Grund, jetzt in der Ukraine zu bleiben. Es sei eine beeindruckende Energie zu spüren, berichten die Künstler*innen. Trotz des russischen Krieges wollten alle die Entwicklungen im Land vorantreiben. Und die beiden wollen ein Teil davon sein. In der Ukraine herrscht gerade große Nachfrage nach dem zweiten Buch, das

»Wir zeigen keine Kämpfe, kein Blut. Wir erzählen durch Symbole.« Andrij Lessiw

Foto: Iryna Sereda

der schmale Ast einer Kiefer, an dem ein faustgroßer Zapfen hängt. In der rechten Bildhälfte ist zwar das ovale Gebilde geblieben, seine Oberfläche hat immer noch eine gerippte Struktur, aber der Kieferzapfen ist zur Handgranate mutiert. Der Krieg verändert die Dinge. Auch in Lwiw schlugen in den vergangenen Wochen mehrfach russische Raketen ein, es gab Tote und Verletzte. Der russische Angriffskrieg, der am 24. Februar 2022 begann, habe eine völlig neue Dimension, sagen Romanyschyn und Lessiw. Aber sie fühlten sich emotional besser vorbereitet als 2014. »Wir verstehen, dass unser Feind uns Angst machen will«, sagt Lessiw. Die Ukraine schlage sich sehr gut gegen das mächtige Russland. Deshalb glauben sie an ihren Sieg. Daran, die Heimat zu verlassen, hat das Künstlerpaar, das seit 13 Jahren verheiratet ist, noch keinen Gedanken verschwendet. Nur ihre Eltern seien voller Panik gewesen, berichtet Romanyschyn. »Sie haben uns weggeschickt, aufs Land.« Doch nach drei Wochen kehrte das Paar nach Lwiw zurück und ließ sich von befreundeten Architekten erklären, wo in dem Altbau, in dem sie wohnen, im Ernstfall der sicherste Ort ist. Romana Romanyschyn ist in Lwiw geboren. Ihr Vater ist ein bekannter Maler. Schon als Kind liebte sie Bücher. Ihre Eltern brachten ihr von Reisen Kinderliteratur aus Lettland und Litauen mit, wo man eine andere Buchtradition pflegt als in der Ukraine. Diese Bücher seien oft finsterer gewesen, farblich wie inhaltlich. Anspruchsvoller, meint die Künstlerin – es sei wichtig, Kinder ernst zu nehmen. Andrij Lessiw stammt aus einem kleinen Ort in den Karpaten, gut 200 Kilome-

Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw.

Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw geschrieben haben: »Als der Krieg nach Rondo kam«, so der Titel der Kindergeschichte, die im September auch auf Deutsch erscheinen wird. Das Buch entstand unmittelbar nach der russischen Annexion der Krim. Zunächst wird darin in bunten Farben das Leben in der fiktionalen Stadt Rondo dargestellt, ein Leben voller Licht, Kunst und Musik. Die fabelgleichen Wesen, die in Rondo wohnen, bestehen aus fragilen Materialien wie Glas und Papier. Als Rondo unerwartet vom Krieg heimgesucht wird, bricht Dunkelheit über die Stadt herein. Aus den Zeichnungen weichen alle Farben, Grau und Schwarz beherrschen die Buchseiten, über die kleine Panzer rollen. Doch dann werden ausgerechnet aus den fragilen Protagonisten mutige Helden. »Es ist eine philosophische Geschichte. Wir zeigen keine Kämpfe, kein Blut, keine Verwundeten. Wir erzählen durch Symbole«, so Lessiw. Er und seine Frau erhielten für das Anti-Kriegsbuch 2015 gleich noch einmal den italienischen Kinderbuchpreis. Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw hoffen, dass die Geschichte von Rondo jetzt Eltern hilft, ihren Kindern und sich selbst Mut zu machen. Ihr Motto: »Die einen kämpfen mit der Waffe, wir schreiben Texte und gestalten Bücher.« ◆ www.agrafkastudio.com Romana Romanyschyn, Andrij Lessiw: Sehen, Gerstenberg 2021, 56 Seiten, 20 Euro Als der Krieg nach Rondo kam, Gerstenberg 2022, 40 Seiten, 16 Euro

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ANTIZIGANISMUS

»Ich wurde von fünf Frauen gestillt, das hat mich gestärkt« Gianni Jovanovic wuchs als schwuler Sohn einer Roma-Familie in Hessen auf. Er musste die Sonderschule besuchen und wurde mit 14 zwangsverheiratet. In seiner Biografie erzählt er, wie er sich aus Benachteiligung und patriarchalen Strukturen befreite – und zum queeren Polit-Aktivisten wurde. Von Lena Reich

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ianni Jovanovic streicht über die grobe Struktur der lila Tapete mit den knallroten Klecksen. Seine dunklen Augen strahlen. »Geil!« Er deutet auf die Bar, die in Regenbogenfarben schimmert. Mit der Journalistin Oyindamola Alashe sucht er gerade in Berlin nach einer Spielstätte für ihre neue gemeinsame Veranstaltungsreihe: eine Empowerment-Show. Das Genre sei in Deutschland noch weitgehend unbekannt, stellt Jovanovic fest. »Es ist eine Mischung aus Gala, Lesung, Konzert, politischer Talkshow und echtem Austausch mit einem queer-interessierten Publikum, ohne dramaturgische Grenzen. Es gehe darum, einen Denkraum zu schaffen und gemeinsam zu fühlen: We are beautiful!« Als schwuler Rom, der gegen Rassismus und patriarchale Machtstrukturen kämpft, steht Jovanovic auf besondere Weise für Selbstbehauptung. Im Frühjahr ist seine Biografie »Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit« erschienen. Gemeinsam mit Oyindamola Alashe erzählt er

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darin vom Kraftakt der Selbstermächtigung. Aufgewachsen in den 1980er Jahren in Hessen, erlebte er als einziger Sohn serbischer Geflohener Gewalt und Rassismus. Neonazis verübten einen Brandanschlag auf die Unterkunft in Darmstadt, in der seine Familie lebte, und bewarfen die fliehenden Frauen und Kinder mit Backsteinen. Gianni war da vier Jahre alt, die Narbe auf der Stirn ist ihm geblieben. Bis heute sind die Täter unbekannt. Ein Jahr später wurde das Haus des Onkels von der Stadt abgerissen, während dieser mit seiner Familie einige Wochen verreist war, was der damalige SPD-Oberbürgermeister mit angeblicher Seuchengefahr begründete – sein Amtsvorgänger hatte der Familie die leerstehende städtische Immobilie vermietet. Die dritte Unterkunft und einen Wasserhahn teilten sie sich fortan mit 50 Menschen. Es gab keine Heizung, Jovanovic war häufig krank. Sobald das Schulamt bei der Eingangsuntersuchung erfuhr, dass das Kind mit dem schwarzen Lockenkopf Rom war, stand fest: Er würde – wie so viele Rom*nja – die Sonderschule besuchen. Auf diese Zeit blickt Jovanovic mit großer Wut zurück. »Schon damals hat Romani

Rose als Vorsitzender des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma von Rassismus gesprochen, der dann in den 1990er und 2000er Jahren im Westen und Osten regelrecht aufblühte. Aber einem Rom wird in diesem Land kein Gehör geschenkt! Stattdessen läuft die Stigmatisierung weiter.« Dass Sinti*zze und Rom*nja in Europa seit Jahrhunderten verfolgt werden und während des Nationalsozialismus mehr als 500.000 von ihnen ermordet wurden, hat Jovanovic weder in der Schule gelernt – bis heute fehlt dieses Thema in den Lehrplänen – noch wurde darüber jemals in seiner Familie gesprochen. Porajmos heißt diese mörderische Zeit in seiner Muttersprache Romanes: das Verschlingen. An den Genozid erinnert das »Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma« neben dem Reichstag in Berlin: ein kreisrundes schwarzes Becken, in

»Einem Rom wird in diesem Land kein Gehör geschenkt!« Gianni Jovanovic


Gianni Jovanovic sieht sich nicht als Minderheit, sondern als »Kind der kleinen Mehrheit«. Foto: Carolin Windel

dessen Mitte auf einem kleinen Sockel eine Rose liegt, die täglich ersetzt wird. 20 Jahre hat es gedauert, bis der Entwurf des israelischen Architekten Dani Karavan umgesetzt wurde. Lange wurde der Genozid an den Sinti*zze und Rom*nja nicht von der Bundesregierung anerkannt. Heute ist Jovanovic 44 Jahre alt und lebt in Köln. Von Beruf ist er Dentalhygieniker und Unternehmer. 2015 rief er die Initiative Queer Roma ins Leben. Bei wöchentlichen Treffen in Köln, Workshops und landesweiten Aktionen sensibilisiert er für Homophobie, Rassismus und Diskriminierung und hilft beim Coming-out. Die Frage, woher seine Kraft kommt, quittiert Jovanovic gerne mit dem Spruch: »Ich wurde von fünf Frauen gestillt, das hat mich gestärkt.«

Unter der Woche Familienvater, am Wochenende in den Gay-Club Bevor er sich politisierte, musste er sich zunächst in der Familie behaupten. Jovanovic war 14 Jahre alt, als sein Vater ihm eines Abends das Foto seiner künftigen Frau hinhielt und die anstehende Hochzeit verkündete. Während er seinen Hauptschulabschluss machte, wurde er Vater ei-

nes Jungen. Als er 18 Jahre alt war, wurde seine Tochter geboren. Da wusste Jovanovic schon lange, dass er Männer begehrt. Während er unter der Woche den heterosexuellen Familienvater gab, feierte er am Wochenende in den Gay-Clubs von Köln bis Berlin. Als er sich outete, sah sein Vater die Ehre der Familie beschmutzt, wollte die »Krankheit« mit Medikamenten heilen. Elf Jahre lang versuchte Jovanovic, den familiären Erwartungen und Verantwortlichkeiten gerecht zu werden und ging an dem Druck fast zugrunde. Mit 25 Jahren begann er ein neues Leben als offen schwuler Mann. Als er mit seinem ersten festen Freund zusammenkam, fürchteten die beiden Männer um ihr Leben. Erst als seine eigenen Kinder sich mit ihm und seinem späteren Ehemann solidarisierten, hatte Jovanovic das Gefühl, in Sicherheit zu sein, die Strukturen hinter sich gelassen zu haben, die ihn seit seiner Jugend einengten. Sein Sohn wurde vom Großvater noch zwangsverheiratet, erst die Tochter brach mit der Tradition. »Widerstand ist Selbstermächtigung, und ich habe ihnen gezeigt, dass es sich lohnt, die Fesseln zu sprengen«, sagt Jovanovic mit fester Stimme. Dann verstummt er und ver-

sinkt für einen kurzen Moment in seinen traurigen Erinnerungen. Aufgehoben in einer selbstbewussten, wachsenden Queer-Community, hat er seinem Vater mittlerweile vergeben. »Er ist kein böser Mann. Er hat das nicht getan, um mich zu verletzen. Er wusste nur nicht, dass es auch anders geht.« Dass seine Geschichte zu einem viel beachteten Buch wurde, hat Jovanovic seiner besten Freundin, der Journalistin Oyindamola Alashe zu verdanken. Zusammen haben die beiden Projekte wie »Say no to FACEism« gegründet, um Mehrfach-Marginalisierten eine Stimme zu geben. »Ich liebe mich, und jeder Mensch sollte sich lieben, denn das Wichtigste im Leben ist, dass wir uns wertschätzen und stolz darauf sind, wer wir sind!«, sagt Jovanovic. »Wir sind viele kleine Gruppen, aber zusammen sind wir die Mehrheit!« ◆ Gianni Jovanovic, Oyindamola Alashe: Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit. Aufbau, Berlin 2022, 224 Seiten, 20 Euro

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KUNST IN KASSEL

Kurator Reza Afisina vom Künstlerkollektiv ruangrupa (r.) mit Mitorganisator*innen der documenta fifteen im ruruHaus. Foto: Helena Schaetzle / laif

Zusammen in der Reisscheune Die documenta fifteen folgt dem Trend zur Globalisierung der Kunstwelt. Das indonesische Kurator*innenteam ruangrupa setzt konsequent auf den Geist der Kollektivität – für Fragen der Ästhetik bleibt dabei ebenso wenig Raum wie für inhaltliche Kritik. Von Ulrich Gutmair

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ie Kasseler documenta ist fast so alt wie die Bundesrepublik Deutschland. 1955 fand sie zum ersten Mal statt, gegründet von einem ungleichen Duo: dem Sozialdemokraten Arnold Bode und dem ehemaligen NSDAPParteigenossen Werner Haftmann, der über seine Rolle bei der »Partisanenbekämpfung« in Italien schwieg. Lange galt die alle fünf Jahre stattfindende Ausstellung als wichtigstes internationales Kunstereignis. Sie reflektierte ästhetsche Trends und politische Gegebenheiten ihrer Zeit. Inzwischen hat die documenta an Relevanz eingebüßt, was Ausdruck einer globalen Veränderung ist: Die Zentren westlicher Kunst und Kultur haben in den vergangenen Jahrzehnten an Strahlkraft verloren. Der Blick von Kurator*innen, Kritiker*innen und Publikum richtet sich zunehmend auf Künstler*innen aus dem globalen Süden. Auch der Kunstmarkt hat sich globalisiert. Insofern folgt die Entscheidung, die künstlerische Leitung der aktuellen Ausgabe einem indonesischen Kollektiv namens ruangrupa zu übertragen, dem Zeitgeist. Der offizielle Name der Ausstellung heißt »documenta fifteen«. Die Abweichung von der Tradition, die Nummer der jeweiligen documenta in arabischen oder lateinischen Ziffern zu nennen, steht für den globalen Anspruch, bejaht damit allerdings auch die Dominanz des Englischen in der internationalen Kommunikation. Das Kollektiv aus Jakarta hat als zentralen Begriff für seine kuratorische Praxis das indonesische Wort »lumbung« gewählt, das eine gemeinsam genutzte Reisscheune bezeichnet: »Als künstlerisches und ökonomisches Modell fußt es auf Grundsätzen wie Kollektivität, ge-

Kunst dient hier als Vehikel für soziale und politische Anliegen.

meinschaftlichem Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung und verwirklicht sich in allen Bereichen der Zusammenarbeit und Ausstellungskonzeption.« Konsequenterweise haben ruangrupa und ihr künstlerisches Team, das sich aus »langjährigen Verbündeten« zusammensetzt, weil dem Kollektiv Freundschaft als höchstes Gut gilt, weitere Kollektive und Initiativen zur documenta eingeladen. Sie alle zeichnet laut ruangrupa aus, dass sie aufgrund ihrer Methoden, ihrer künstlerischen Verwurzelung in lokalen Strukturen und ihren experimentellen Ansätzen den Werten von lumbung entsprechen, nämlich lokale Verankerung, Humor, Unabhängigkeit, Großzügigkeit, Transparenz, Genügsamkeit und Regeneration. Das alles sind sympathische Werte, die jedoch zeigen, dass für die Kurator*innen der documenta fifteen Fragen der Ästhetik und der Möglichkeiten von Kunst nachrangig sind. Auch dies entspricht einem Trend, der sich seit geraumer Zeit abzeichnet: Kunst wird nicht mehr in erster Linie als Form der Auseinandersetzung mit der Welt betrachtet, die ihren eigenen, stets neu formulierten Gesetzen folgt, sondern als Vehikel für die Äußerung sozialer und politischer Anliegen. Zur documenta eingeladen wurde unter anderem Komîna Fîlm a Rojava, ein 2015 gegründetes Kollektiv von Filmemacher*innen aus der autonomen Region Rojava im kurdisch geprägten Norden Syriens. Es versteht sich als Teil der Revolution in Rojava und widmet sich unter anderem dem Empowerment von Frauen sowie ethnischer und religiöser Minderheiten. Indem das Kollektiv in der Region eine Infrastruktur aufbaut, um Filme zu drehen, vorzuführen und Filmemacher*innen zu schulen, will es der vom syrischen Regime betriebenen Politik der Zwangsassimilierung entgegenwirken. Denn diese Politik hat laut Komîna Fîlm a Rojava dazu geführt, »dass indigene Gemeinschaften ihrer Geschichte und Artefakte beraubt wurden«. Ebenfalls eingeladen ist The Black Archives, das die Geschichte Schwarzer Emanzipationsbewegungen und Individuen in den Niederlanden dokumentiert, »um verborgene und vergessene Geschichte wieder sichtbar zu machen«. Eine ähnliches Ziel verfolgt Archives des luttes des femmes en Algérie, ein Archiv der Frauenkämpfe in Algerien. Die 2019 gegründete unabhängige Initiative baut ein digitales und frei zugängliches Archiv mit Dokumenten zu feministischen Kollektiven und Vereinigungen Algeriens auf, die seit der Unabhängigkeit im Jahr 1962 entstanden sind.

Ebenfalls in Kassel zu Gast sind die Serigrafistas queer, queere Siebdrucker*innen aus Buenos Aires, die Slogans diskutieren und Plakate für feministische Proteste und LGBTIQ+-Paraden drucken. In der Künstler*innenliste der documenta finden sich auch Einzelkünstler wie Sourabh Phadke. Der indische Architekt, Maurer und Lehrer entwirft und baut Gebäude aus traditionellen Materialien. Die eingeladenen Gruppen und Künstler*innen kommen aus allen Kontinenten. Auf Kritik gestoßen ist vor allem die Teilnahme der Gruppe The Question of Funding. Denn dem 2019 gegründeten Kollektiv gehören auch Kulturarbeiter*innen aus Palästina an, die die Boykottbewegung BDS unterstützen. Diese ruft zum Boykott israelischer Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Produkte auf – aus Protest gegen die Siedlungspolitik der israelischen Regierung und die Besatzung des Westjordanlandes, aber teils auch gegen die Gründung des Staates Israel. Die Dokumente der Bewegung sind so offen formuliert, dass sich unter ihrem Schirm ein breites Spektrum versammeln kann. Eine internationale Kunstausstellung zu veranstalten, die einen Schwerpunkt auf den globalen Süden legt, und keine Künstler*innen einzuladen, die irgendwann BDS unterstützt haben, dürfte kaum machbar sein. Viele beklagten aber konkrete Äußerungen von Teilnehmenden, die haarscharf an der Trennlinie von Israelkritik und Antisemitismus entlangschrammten. Weder die documenta-Leitung noch das Kuratorenteam reagierten vor der Ausstellung adäquat auf diese Vorwürfe. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte in seiner Eröffnungsrede, dass es auffalle, »wenn auf dieser bedeutenden Ausstellung wohl keine jüdischen Künstlerinnen und Künstler aus Israel vertreten sind«. Zu diesem Zeitpunkt hatte Steinmeier noch nicht das großformatige Bild des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi gesehen. Darauf sind ein Soldat mit Schweinsnase und der Aufschrift »Mossad« zu sehen sowie ein antisemitisches Stereotyp: ein durch Schläfenlocken als Jude gekennzeichneter Mann mit Reißzähnen. Nach heftiger Kritik wurde das Gemälde abgedeckt, eine Erläuterung sollte folgen. Das Künstlerkollektiv ruangrupa sagte, es setze sich für den »Respekt von Vielfalt« ein und bestritt, dass es ein Problem gebe.◆ Noch bis 25. September 2022 in Kassel

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MUSIK AUS INDIEN

»Bei uns nehmen die Unterdrückten das Mikrofon in die Hand« Die indische Band The Casteless Collective mischt westlichen Pop mit Gaana, der traditionellen Musik der marginalisierten Dalits. Ihr Ziel: eine kastenfreie Gesellschaft ohne Unterdrückung. Bandleader Tenma über Stolz, Fortschritt und die egalisierende Wirkung von Anzügen. Interview: Thomas Winkler

In Liedern Ihrer Band geht es um den Sozialreformer B. R. Ambedkar, die Quotenregelung für Dalits oder den allgegenwärtigen Sexismus. Versteht sich das Casteless Collective in erster Linie als Musikprojekt oder als Gruppe politischer Aktivist*innen? Wir sind schon in erster Linie eine Band. Wären wir nicht alle Musiker*innen, hätten wir nicht zusammengefunden. Wir sind Instrumentalist*innen, Komponist*innen, Sänger*innen, Rapper*innen und Schreiber*innen, aber wir sind uns auch dessen bewusst, was um uns herum los ist. Tatsächlich werden wir von der Öffentlichkeit nahezu ausschließlich als politisches Projekt wahrgenommen. In jedem Interview müssen wir uns zu politischen und gesellschaftlichen Themen äußern, niemand stellt uns spaßige Fragen wie: Welche Sneaker-Marke trägst Du am liebsten? Dann gleich mal eine Frage zu Klamotten: Wenn das Casteless Collective auf

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die Bühne geht, tragen alle denselben Anzug. Ist auch das eine Botschaft? Wir haben alle sehr unterschiedliche musikalische Hintergründe, kommen aber auch aus verschiedenen gesellschaftlichen Klassen. Mit den einheitlichen Anzügen, die wie eine Uniform wirken, wollen wir zeigen, dass uns eine Idee vereint. Und wir wollen nicht zuletzt daran erinnern, dass es einen Grund gab, warum Mahatma Gandhi seinen Anzug abgelegt hat – Ambedkar aber bewusst einen getragen hat. Dass wir Anzüge tragen, ist auch eine Verbeugung vor Ambedkar. B. R. Ambedkar kämpfte als Anwalt für die Rechte der Dalits, von denen er bis heute verehrt wird wie eine Ikone – mehr noch als Gandhi. Die meisten Musiker*innen des Kollektivs stammen aus genau den marginalisierten und unterdrückten Gruppen, für die Ambedkar gekämpft hat. Indem sie auf der Bühne nicht ihre Alltagskleidung tragen, sondern einen Anzug, legen sie den ihnen zugewiesenen Status ab und sorgen für Irritation im Publikum. Warum haben Sie Musik gewählt, um gegen das Kastensystem zu kämpfen?

Die Kunst ist seit Menschengedenken das Mittel, mit dem man gesellschaftlichen Fortschritt einleiten kann. Denken Sie an die Renaissance, das war nicht nur Malerei und Architektur, sondern auch eine Rebellion gegen die Kirche, die sozialen Wandel bewirkt hat. Punk oder HipHop haben nicht nur die Popmusik verändert, sondern auch die Gesellschaft – genauso Künstler wie Bob Marley oder Curtis Mayfield. Musik kann das Denken und in der Folge die Gesellschaft verändern. Bemerken Sie, dass das Casteless Collective etwas bewirkt? Traditionell sprechen in Indien meist Nichtunterdrückte für die Unterdrückten. Bei uns nehmen die Unterdrückten das Mikrofon in die Hand und sprechen für sich selbst. Damit haben wir schon viel erreicht. Wir waren und sind eine Art Blaupause für andere Bands und Künstler*innen, die heute in Indien widerständige, kritische Musik und Kunst machen. Liegt die politische Kraft allein in den Texten oder auch in der Musik? In beidem. Die Texte formulieren die Fragen, die die Musik stellt. Es gibt Gaana schon sehr lange, aber Dalit-Künstler*in-


THE CASTELESS COLLECTIVE Seit ihrer Gründung 2017 nimmt die Band The Casteless Collective eine einzigartige Stellung in der indischen Popmusik ein. Schon die Forderung nach tatsächlicher Abschaffung des offiziell illegalen Kastensystems im Namen löst Kontroversen aus – ebenso wie die Musik selbst, die Rap, Rock und Pop mit Gaana zusammenführt. Gaana, die rhythmusintensive Musik der Dalits, ist ebenso marginalisiert wie die einst sogenannten Unberührbaren: Die Musik gilt noch heute als niedere Kunstform. Das musizierende Kollektiv mit einem festen Stamm von elf Musiker*innen formierte sich rund um Pa. Ranjith (vorne: 2. v. rechts), einen der bekanntesten Regisseure des tamilischen Kinos, und den Musiker Tenma (3. v. links, hinten), der mit der Indie-Rockband Kurangan bekannt wurde. In ihren Songs thematisiert die Formation soziale Fragen und gesellschaftliche Realitäten.

BU

Foto: The Casteless Collective

nen haben nie ein Publikum jenseits ihrer eigenen Community erreicht. Indem wir die lokale Kunstform Gaana mit Rock und HipHop mischen, sie anglifizieren und globalisieren, erreichen wir ein viel breiteres Publikum. Unser Schlagzeuger kommt aus dem Metal, unser Gitarrist aus dem Jazz und Blues, ich komme aus dem Funk – und wenn wir zusammenkommen mit den Gaana-Percussionist*innen und -Sänger*innen, entsteht etwas Einzigartiges und Kraftvolles. Dieses Amalgam unterscheidet das Casteless Collective von anderen politischen Bands in Indien, die meist westliche Pop- und Rockmusik spielen. Ist das Casteless Collective auch eine Art Mikrokosmos der indischen Ge-

»Die echten Konflikte verlaufen nicht zwischen Hindus und dem Rest, sondern zwischen Kasten und Klassen.«

sellschaft, in dem alle Konflikte ausgetragen werden? Wir sind kein exaktes Abbild der indischen Gesellschaft: Es gibt nur eine Frau, wir haben auch keine Transpersonen in der Band. Aber ja, es gab viele interne Diskussionen, auch Streit. Nicht nur zwischen Dalits und Nicht-Dalits wie mir, sondern auch innerhalb der Dalits, denn auch dort gibt es verschiedene Communities, zwischen denen es einen völlig bescheuerten Wettbewerb gibt, wer besser sei oder weniger unterdrückt. Stolz ist die Wurzel allen Übels, und wir mussten erst einmal diesen Stolz überwinden, um eine Kultur der Solidarität zu etablieren. Dann bildet das Collective einen geschützten Raum, in dem Kaste und Klasse keine Rolle mehr spielen? Als wir die Band gründeten, ging es uns auch darum zu zeigen, wie es sein könnte. Das Casteless Collective soll ein Safe Space sein, in dem Unterdrückte und ihre Verbündeten zusammenkommen und sehen, was wir gemeinsam erreichen können. Haben Sie Angst, dass durch die Herrschaft der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP die vorsichtigen

Erfolge, die Sie kulturell mitbewirkt haben, wieder rückgängig gemacht werden? So wie wir einen Diskurs bewirkt haben, hat auch die politische Rechte einen Diskurs etabliert. Dem zufolge gibt es in der indischen Gesellschaft nur zwei Gruppen: Hindus und Nicht-Hindus. Wir sagen: Es ist komplizierter, und die echten Konflikte verlaufen nicht zwischen Hindus und dem Rest, sondern zwischen den Kasten und Klassen. Wahrscheinlich werde ich keinen BJP-Anhänger von seinen Überzeugungen abbringen können, aber die Musik kann ihn berühren – und aus ihm vielleicht einen emotional intelligenteren Menschen machen. Das Ziel des Casteless Collective ist in letzter Konsequenz eine kastenlose Gesellschaft. Wann wird dieses Ziel erreicht sein? (Lacht) Ich fürchte, ich werde das nicht mehr erleben. Aber jeder einzelne kastenlose Mensch ist ein Schritt auf dem Weg und ein großer Erfolg. ◆

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RAP AUS ITALIEN

TOMMY KUTI ist in Italien als Rapper und Schauspieler bekannt und engagiert sich in der »Black Lives Matter«-Bewegung. Er war zwei Jahre alt, als seine Eltern aus Abeokuta (Nigeria) nach Italien kamen und wuchs in Brescia und Mantua auf. Sein Rap ist für die italienische Musikszene ungewöhnlich politisch. Foto: Gaetano Massa

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Der Afrobeat Italiens Schwarze Menschen erfahren in Italien Rassismus, Feindseligkeit und Misstrauen. Darüber singt der Rapper Tommy Kuti. Ein Gespräch über das Versagen der Politik und eine neue Kultur. Interview: Sergio Chianese

Wer sind Ihre musikalischen Vorbilder? Ich höre Musik aus allen Ländern der Welt. Als Junge hörte ich italienischen Rap, aber auch Fela Kuti und AfrobeatKünstler wie P-Square. Als ich älter wurde, entdeckte ich französische und englische Rapper. Im Moment konzentriere ich mich auf nigerianischen Afrobeat, auf Burna Boy, Falz, WizKid. Das sind sehr unterschiedliche kulturelle Einflüsse. Woher kommt diese Offenheit? Meine Musik ist eine Art Reise, um meine Wurzeln wiederzuentdecken. Ich bin mit einem musikalischen Hintergrund aufgewachsen, der jetzt in meiner Musik zum Vorschein kommt – mit neuen Schattierungen. Ich versuche, die Sunday Gospels meiner Mutter mit den Fuji-Künstlern meines Vaters, die nigerianischen Afrobeats mit italienischem Rap und dem italienischen Songwriting von Fabrizio De André oder Lucio Battisti zu verbinden. Wie hat die Kultur Ihrer Eltern Sie beeinflusst? Haben Sie eine besondere Verbindung zur Religion oder zu nigerianischer Spiritualität? Oh ja, ich gehe vor jedem Konzert zu einem Schamanen, um mich segnen zu lassen (lacht). Ich weiß, dass einige Leute diese Art von Antwort gerne von mir hätten. Aber um ehrlich zu sein, bin ich schlicht in einer evangelischen Familie aufgewachsen. Als ich ein Teenager war, war ich in unserer Kirche für das Mischpult verantwortlich, und manchmal wurde ich gebeten, eine Ansprache an die Gemeinde zu halten. Für diese Erfahrungen bin ich sehr dankbar, dadurch bin ich mit Musik aufgewachsen und früh mit einer Bühne vertraut geworden. Sie haben auch selbst Rassismus erfahren … Der Fokus sollte nicht auf dem Rassismus liegen, den wir als Schwarze hier erleben, sondern auf der Schaffung von Gesetzen, die Menschen wie mir helfen, als Italiener anerkannt zu werden – als die wir uns fühlen, denn wir sind hier aufgewachsen. Es sollte mehr über die mediale Darstel-

lung »ausländischer Menschen« und über die Gleichgültigkeit und mangelnde Sensibilität im Umgang mit bestimmten Themen diskutiert werden. Aber hier für Sie, meine tränenreiche persönliche Erfahrung: Eines Tages malte jemand ein sehr großes keltisches Kreuz an die Wand des Ladens meiner Eltern, es blieb dort jahrelang stehen. Und wenn ich als Kind schikaniert wurde, sagten die anderen immer »Scheiß N***« zu mir. Aber ich wiederhole: Ich glaube, dass diese Episoden nur Folgen einer verfehlten italienischen Politik sind. Was sollten Politiker*innen tun, um Feindseligkeit und Misstrauen gegenüber Migrant*innen zu ändern? Zuallererst sollten sie aufhören zu lügen und die irrationale Angst der Bürger vor den »Anderen« zu schüren. Und dann bräuchte es eine neue regierende Klasse, die in der Lage ist, das Land zu führen. Denn wir sind uns alle einig, dass die vergangenen 30 Jahre politisch gesehen ein Misserfolg waren – wenn man nur daran denkt, dass wir nach dem Krieg einen wirtschaftlichen Aufschwung hatten und heute sich die Politik nicht einmal über das Grundeinkommen einigen kann. Wir brauchen Führungspersönlichkeiten, ehrliche Menschen, die sich um die gesamte Bevölkerung in unserem Land kümmern. Ihre Musik ist ausgesprochen politisch – ganz im Gegensatz zu der Oberflächlichkeit, die in der italienischen Rap-Szene vorherrscht. Spielt Ihr persönlicher Hintergrund dabei eine Rolle? Ich glaube, dass Künstler nur die Bedürfnisse und den Geschmack des Publikums widerspiegeln. Die Leute wollen heute betäubt werden, sie wollen Spaß haben. Sie nutzen Musik, um der Realität zu entfliehen. Das war auch in der Vergangenheit schon so, aber heute hat eine dement machende Musik die Oberhand gewonnen. Wenn man sich unsere Rap-Szene ansieht, hat man den Eindruck, die Episode einer Comedy-Show zu sehen. Sicherlich hat meine Erziehung mich mit ernster Musik vertraut gemacht. Ich erinnere mich, wie ich beim Hören von »Changes« von 2Pac berührt war. Meine Leidenschaft

für Musik entstand aus dem Wunsch, meine Geschichte zu erzählen und den Geschichten von Menschen mit meinem Hintergrund eine Stimme zu geben. Aber natürlich gibt es in unserer Szene Künstler, für die Musik so etwas wie eine Turnschuhmarke ist und die stolz darauf sind, als »Gangster« daherzukommen – trotz bürgerlichen Vaters. Das ist okay, wir haben eben unterschiedliche Wege gewählt. Am Ende entscheiden die Leute, wem sie zuhören wollen. Ihre Musik zeigt, dass unterschiedliche Identitäten perfekt zusammenpassen und dadurch Neues entstehen kann. Ist die italienische Gesellschaft dafür schon bereit? Als ich mal die kulturelle Rückständigkeit Italiens thematisierte, sagte mir jemand: »Du musst nur den Tod unserer Vätergeneration abwarten.« Das klingt dramatisch, ist aber zum Teil wahr. Doch ich bin mir leider nicht sicher, ob das die Lösung bringt. Die Menschen müssen jetzt Stellung beziehen, das ist eine Frage von Verantwortung. Jahrelang haben Großmütter und Mütter gesagt: »Die Einwanderer kommen hierher, sie bekommen 35 Euro für Nichtstun, sie haben WLAN in ihren Hotelzimmern …« Dagegen muss eine neue italienische Generation von Jungen und Mädchen aufstehen und antworten: »Mama/Oma, du solltest anfangen, Bücher zu lesen und lernen, wie die Welt funktioniert.« Haben Sie mal daran gedacht, die Musik aufzugeben? Nein, eigentlich nie. Die Musik ist mein Leben. Selbst wenn ich ein Arbeiter wäre, würde ich meine Songs aufnehmen. Natürlich hatte ich auch mal Zweifel, Momente, in denen ich wollte, dass alles besser wird. Aber ich habe immer meinen Hunger, der mich antreibt. Und ich bin ein verdammt hungriger Nigerianer! Was steht als nächstes an? Ich bereite gerade mein neues Album vor, es wird das erste Afrobeat-Album in italienischer Sprache sein. Ich bin sehr stolz auf diese neuen Songs. ◆

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Mutig und dickköpfig: Cédric Herrou sagt dem französischen Staat den Kampf an. Foto: Francesco Gattoni / opale.photo / laif

Verteidiger der Brüderlichkeit Der französische Olivenbauer Cédric Herrou geriet ins Visier der Behörden, weil er Geflüchteten half. Sein Buch »Ändere deine Welt« ist die unglaubliche Geschichte eines aufrechten Bürgers. Von Wera Reusch

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ls Cédric Herrou im Frühjahr 2016 nachts auf einer Landstraße im Gebirge eine afrikanische Familie aufliest und mit zu sich nach Hause nimmt, kann er nicht ahnen, dass dies sein Leben völlig verändern wird. 1979 in Nizza geboren, litt er als Jugendlicher an der Welt, reiste durch Afrika und arbeitete als Automechaniker, bevor er in einem abgelegenen Alpental ein Stück Land kaufte und zum Olivenbauern wurde. Er wollte weit weg sein von der Welt und geriet plötzlich mitten ins politische Geschehen, denn im Royatal an der Grenze zu Italien strandeten immer mehr Flüchtlinge. »Ursprünglich bin ich alles andere als ein Aktivist«, schreibt Herrou. »Trotz meiner anarchistischen Seite vertraute ich in gewisser Weise auf den Staat.« Doch das

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ändert sich bald: Als er erlebt, wie die französischen Behörden Schwarze Menschen systematisch und rechtswidrig verfolgen, sie daran hindern, einen Asylantrag zu stellen und nach Italien zurückschicken, beschließt er, den Flüchtlingen zu helfen. Er errichtet auf seinem Land einen informellen Campingplatz und sagt dem Staat den Kampf an. Aufgrund seines Engagements wird Herrou elfmal in Polizeigewahrsam genommen und 2017 wegen »Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt und Aufenthalt von Ausländern in Frankreich« zu 3.000 Euro Geldstrafe auf Bewährung verurteilt. Er macht jedoch weiter, obwohl sein kleiner Hof mittlerweile von der Polizei umzingelt ist. 2018 erringt er schließlich einen wichtigen Sieg: Der Verfassungsrat entscheidet, aus dem Grundsatz der Brüderlichkeit folge die Freiheit, jedem Menschen aus humanitären Gründen zu hel-

fen. Herrou kommentiert das bahnbrechende Urteil lakonisch: »Ein Typ, der nicht einmal Abitur hatte, hatte die französische Verfassung verändert. Trotzdem blieb ich ein einfacher Bürger. Mein Einkommen? Die Hälfte des Mindestlohns. Mein Auto? Eine über zwanzig Jahre alte Rostlaube. Mein Palast? Dreißig schlecht isolierte Quadratmeter.« In »Ändere deine Welt« erzählt Herrou seine Erlebnisse in den Jahren 2016 bis 2020 völlig unprätentiös, spart weder Rückschläge noch Konflikte aus. Seine direkte Schilderung macht den Zynismus und Rassismus deutlich, mit dem Europa auf die afrikanischen Flüchtlinge reagierte. Herrous Geschichte beweist aber auch, dass das Handeln eines Einzelnen einen Unterschied macht. »Um all das auf sich zu nehmen, muss man nicht nur mutig sein, sondern auch dickköpfig und unbeugsam«, schreibt Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio im Vorwort. Herrou selbst sagte auf die Frage, warum er all das gemacht habe: »Meine Mutter hätte mich ausgeschimpft, wenn ich es nicht getan hätte.« ◆ Cédric Herrou: Ändere deine Welt. Wie ein Bauer zum Fluchthelfer wurde. Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und Andrea Stephani. Rotpunkt Verlag, Zürich 2022, 264 Seiten, 24 Euro


BÜCHER Schwarze Präsenz in Europa

Kasachisches Wunderkind

Wunsch nach Würde

Der römische Kaiser Septimius Severus, der Florentiner Herzog Alessandro de‘ Medici, der spanische Gelehrte Juan Latino, der niederländische Geistliche Jacobus Capitein, der französische Komponist und Geiger Joseph Boulogne – sie alle hatten afrikanische Wurzeln. In ihrem Buch »Afrikanische Europäer« erzählt Olivette Otele die Geschichte dieser historischen Persönlichkeiten sowie vieler weiterer Männer und Frauen seit der Antike und ordnet sie in den jeweiligen historischen Kontext ein. Nicht nur gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Umstände prägten die Erfahrungen der afrikanischen Europäer*innen, sondern auch die herrschenden Vorstellungen von »race, Erbe und Kultur«, stellt die Professorin für die Geschichte der Sklaverei an der Universität Bristol fest. Ausführlich befasst sie sich mit der Rolle Schwarzer Frauen und der Identität von Kindern doppelter Herkunft im kolonialen Kontext. Viele Beispiele Oteles beziehen sich auf Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien. Was Deutschland betrifft, geht die Historikerin auf den kamerunischen Prinzen Alexander Duala Manga Bell ein und erinnert an die Lebensgeschichte von Theodor Wonja Michael, der 2019 im Alter von 94 Jahren starb (siehe Amnesty Journal 05/2019). Otele widmet sich außerdem der Schwarzen Präsenz in Ländern wie Dänemark, Griechenland, Russland oder Slowenien, die hierzulande eher unbekannt sein dürfte. Irreführend ist der Untertitel des Buchs »Eine unerzählte Geschichte«, denn in den vergangenen Jahrzehnten haben Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen viele Geschichten Schwarzer Persönlichkeiten in Europa ausgegraben und veröffentlicht. Als Gesamtdarstellung ist Oteles Buch jedoch hilfreich, insbesondere für ein akademisches Publikum, das sich für aktuelle Identitätsdiskurse interessiert.

»Wer nie in der Steppe gelebt hat, wird schwer begreifen, wie man es dort, in dieser vollkommenen Einöde, aushalten kann«, heißt es in Hamid Ismailovs faszinierender Erzählung »Wunderkind Erjan«. Die Wege sind lang, und »verkürzen lassen sie sich nur im Gespräch«. Damit ist die Rahmenhandlung umrissen: Der Ich-Erzähler lernt bei einer Zugfahrt durch die kasachische Steppe einen zehnoder zwölfjährigen Jungen kennen, der virtuos Geige spielt. Doch schnell stellt sich heraus, dass das Wunderkind bereits 27 Jahre alt ist. Aufgewachsen in einem abgelegenen Streckenwärterhäuschen erlebte Erjan in seiner Kindheit regelmäßig merkwürdige Phänomene: »Die Erde fing an zu beben, Donner grollten. Vom Wind getragen, rasten brennende Steppenroller wie Feuerräder vorüber, und plötzlich blitzte am Himmel eine zweite Sonne auf.« In Erjans Familie wurde dafür die »Zone« verantwortlich gemacht. Und als der Junge bei einem Schulausflug in das besagte Gebiet in einem See badete, hörte er auf zu wachsen. Hamid Ismailov erwähnt das sowjetische Atomwaffentestgelände Semipalatinsk nicht explizit – wir erfahren nur in einer vorangestellten Erklärung, dass dort von 1949 bis 1989 insgesamt 468 Kernexplosionen stattfanden. Der Autor kontrastiert vielmehr die vielfältige Steppennatur, die traditionelle Lebensweise, Lyrik und Musik mit der Moderne, die in Form von ratternden Zügen und unheilvollen Explosionen eindringt. Die Schilderung von Erjans Kindheit und Jugend ist dicht, poetisch, ohne kitschig zu sein. Nicht nur die Zone ist bedrohlich, unheimlich sind auch Familiengeheimnisse, Märchen, die die Großmutter erzählt, und Wölfe, die einen auf dem Schulweg angreifen können. Ismailov, der in Kirgisistan geboren wurde und in Usbekistan aufwuchs, ist eine eindrückliche Erzählung gelungen, die Andreas Tretner sehr musikalisch übersetzt hat.

Mehrere Monate verbrachte die Fotografin Alea Horst als freiwillige Helferin auf der griechischen Insel Lesbos. In ihrem Buch »Manchmal male ich ein Haus für uns« dokumentiert sie die Bedingungen, unter denen geflüchtete Kinder und Jugendliche in den Lagern Moria und Kara Tepe leben und aufwachsen. Im Zusammenspiel von Fotografien und Interviewauszügen (die vollständigen Transkripte sind online auf der Verlagsseite abrufbar) gelingt es ihr, den Kindern eine Stimme zu geben, ihren positiven und negativen Erlebnissen wie auch individuellen Ängsten, Nöten und Wünschen Raum zu schenken, ohne sie zu Opfern zu stilisieren. »In einem Zelt leben zu müssen, ist wirklich schwer. Wenn es regnet oder stürmt, ist es so laut. Man muss sich die Ohren zuhalten und kann nicht schlafen. (…) Manchmal habe ich auch Albträume. Oft träume ich, dass wir ertrinken. Wir sind dann alle unter Wasser und gehen unter«, erzählt etwa die zehnjährige Tajala. Das Foto auf der gegenüberliegenden Buchseite fokussiert das Mädchen, das direkt und mit einem vorsichtigen Lächeln in die Kamera blickt. Horst zeigt Tajalas Würde, ihre Stärke und ihre Verletzlichkeit. Auch an die anderen porträtierten Kinder rückt die Fotografin nahe heran: Jede der Geschichten ist einzigartig. Und doch ähnelt sich das Erlebte in der Not, die immer wieder zum Ausdruck gebracht wird – mal direkt, mal beiläufig, mal anklagend, mal in der Hoffnung, dass es Kindern anderswo besser geht. Da sind Angst und Trostlosigkeit, die traumatischen Erlebnisse der Flucht, die Enge des Lagers, der Hunger, der Wunsch nach Bildung und die Sehnsucht nach einem Zuhause, einem sicheren Ort, an dem man willkommen ist. Der Illustrator Mehrdad Zaeri spiegelt dies in seinen gezeichneten Vignetten wider und akzentuiert so die Eindrücke aus den Flüchtlingslagern. Ein ergreifendes und wichtiges Buch – für alle!

Olivette Otele. Afrikanische Europäer. Eine unerzählte Geschichte. Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. Wagenbach, Berlin 2022, 304 Seiten, 28 Euro

Bücher: Wera Reusch und Marlene Zöhrer

Hamid Ismailov: Wunderkind Erjan. Aus dem Russischen von Andreas Tretner, Friedenauer Presse, Berlin 2022, 152 Seiten, 20 Euro

Alea Horst, Mehrdad Zaeri: Manchmal male ich ein Haus für uns. Europas vergessene Kinder. Klett Kinderbuch, Leipzig 2022, 80 Seiten, 16 Euro, ab 8 Jahren

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Irritiert mit Chants und Störgeräuschen westliche Hörgewohnheiten: Joe Rainey. Foto: David Guttenfelder

Pow-Wow-Power Der US-amerikanische Sänger Joe Rainey mischt die traditionellen Gesänge der Oneida Nation mit Computersounds. »Niineta« ist ein eigenwilliges Album jenseits aller Federschmuck-Klischees. Von Thomas Winkler

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onotone Trommeln, die klappern wie rostige Eimer. Eine Stimme, deren »He-Ha-Hejaho« aus einem verwunschenen Geisterhaus zu kommen scheint. Noch eine Stimme, viel höher, gefährlich nah am Überschnappen. Dazwischen Störgeräusche, die entschieden jeden Zweifel ausräumen: Nein, das ist nicht der Kriegstanz aus dem letzten Urlaub im Wilden Westen. Joe Rainey ist Mitglied der Oneida Nation in Wisconsin im Norden der USA. Als Pow-Wow-Sänger begleitet er die traditionellen Feste seiner indigenen Gemeinschaft, aber mit seinem ersten Album »Niineta« räumt er radikal auf mit allen Klischees, die in Umlauf sind über die Musik der sogenannten Indianer. Im Interview bezeichnet Rainey es als weit verbreitetes Missverständnis, dass die

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Gesänge einen religiösen Charakter hätten. Die erste Single-Auskopplung von »Niineta« trägt denn auch den Titel »No Chants«. Der 35-Jährige bezeichnet sich selbst als »Pow-Wow-Aktivist und Klangpurist«, der die Stammesgesänge in Minnesota und Wisconsin mit Kassettenaufnahmen dokumentiert. Trotzdem hält er nicht krampfhaft an Traditionen fest. Schon lange blickt er über den Tellerrand und hat dort die lebendige Indie-Rock-Szene rund um den Musiker Justin Vernon alias Bon Iver entdeckt. Mit dem Star der modernen Americana trat Rainey immer wieder auf, wie auch mit anderen Bands der Indie-Szene von Minneapolis. In deren Rocksongs wirkt seine Stimme fast wie ein Fremdkörper. Ganz anders auf seinem Debütalbum. Obwohl sich Rainey für die Aufnahmen als Partner den Produzenten Andrew Broder geholt hat, der viel für Bon Iver oder The National gearbeitet hat, klingt »Niineta«

nicht einmal ansatzweise wie Indie-Rock mit Volksmusik-Verzierungen. Ganz im Gegenteil: Die Gesänge stehen im Mittelpunkt, ihre Authentizität ist hörbar. Für an Pop geschulte Ohren sind die Harmonien ungewohnt, ihre Monotonie ist bisweilen schwer erträglich – das unterscheidet sie von den für Tourist*innen aufbereiteten Gesängen, die in den Shops der Reservate verkauft werden. »Ich wollte einen ganz eigenen Platz im Musikkosmos schaffen«, sagt Rainey, »und Broder war genau der Richtige, die Ideen in meinem Kopf umzusetzen.« Der Produzent fügt mit Sounds aus dem Computer und oft düsteren Klangschlieren den Stücken eine zusätzliche Dimension hinzu, die dafür sorgt, dass garantiert kein Federschmuck-Klischee-Verdacht aufkommt. »Niineta« klingt mitunter unzugänglich, aber jederzeit faszinierend, weil es die Diskrepanzen zwischen Tradition und Moderne in Töne übersetzt, ohne der Vergangenheit ihre Berechtigung abzusprechen. Oder, wie Rainey es formuliert: »Wir wussten sofort, dass unsere Musik nicht bloß ›Indie-Rock trifft auf Pow Wow‹ war. Es war etwas Eigenes. Etwas, das im kosmischen Raum zwischen Futurismus und Tradition schwebt.« ◆ Joe Rainey: »Niineta« (37d03d/Cargo)


FILM & MUSIK Kreyolische Zeitreise

Existieren im Krieg

Das Leben als Zivilcourage

Ein staubiges Archiv ist gewöhnlich nicht der Ort, an dem Popmusik ihren Ausgangspunkt findet. Doch genau dort, im Audionachlass des Senders »Radio Haiti«, hat Leyla McCalla, klassisch ausgebildete New Yorker Musikerin mit haitianischen Wurzeln, eine faszinierende Vergangenheit erforscht, die sie zuerst in ein Theaterstück und nun in das Album »Breaking The Thermometer« verwandelt hat. »Radio Haiti-Inter« war das Kind des Journalisten Jean Dominique, der 2000 ermordet wurde, und seiner Ehefrau Michéle Montas, die den Sender noch drei Jahre weiterführte, bevor sie von der Karibikinsel fliehen musste und später als Sprecherin von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon agierte. Die regierungskritische Berichterstattung des Radiosenders, dessen Geschichte Jonathan Demme in seinem Film »The Agronomist« dokumentierte, war auch deshalb so erfolgreich, weil sie in haitianischem Kreyol die gesamte Bevölkerung erreichte – im Gegensatz zu anderen, französischsprachigen Medien. Die Cellistin und Sängerin McCalla hat nun aus Zeitdokumenten, Interviewausschnitten mit Michéle Montas und eigenen Kompositionen eine Reise in die Vergangenheit des Landes geformt. Das klingt akademischer als es sich anhört: Denn die Themen, die sie streift, von Migration über Identitätsfindung und den Kampf gegen die Diktatur und für die Demokratie bis zur fürchterlichen Gewalt, die sich durch die Historie des Inselstaats zieht, stehen in einem fesselnden Kontrast zur federnd leichten musikalischen Umsetzung aus Jazz, Cajun, Folk, Blues und karibischer Musik. McCalla covert die brasilianische Ikone Caetano Veloso, die ebenfalls ins Exil gehen musste, und die haitianische Legende Manno Charlemagne, dessen wundervoll melancholisches »Pouki« typisch ist für »Breaking The Thermometer«: Warum bricht uns das Leben, fragt die Sängerin, aber in ihrer Stimme schwingt die Hoffnung mit, die den Menschen bekanntlich zuletzt verlässt.

Eine wütende Frau schüttet dem Bürgermeister einen Eimer Jauche über den Kopf. Zwei Soldaten binden einen Mann an einer Säule fest, bevor er von einer aufgebrachten Menge zusammengeschlagen wird. Willkür an Checkpoints, Selfies mit Panzern: Sergei Loznitsa schildert in seinem vielfach ausgezeichneten Spielfilm »Donbass« eine brutalisierte Gesellschaft. Bereits vor vier Jahren gedreht, ist der Film nun wieder zu sehen. Alle Einnahmen aus dem Streaming gehen an die »Queere Nothilfe Ukraine«. Seit 2014 herrscht in der ostukrainischen Region Donbass ein Bürgerkrieg zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Milizen. Wie sich dies auf den Alltag der Menschen auswirkt, ist das Hauptthema dieses in 13 Kapiteln erzählten Spielfilms. Die Gemütslage changiert zwischen Müdigkeit und Fatalismus: »Sie haben uns vertrieben«, sagt eine Frau zu ihrer Sitznachbarin im Zug. »Jetzt leben andere in unserer schönen großen Wohnung. Ist doch gut, dass jetzt jemand darauf aufpasst.« Loznitsa selbst beschreibt seinen überzeugend arrangierten Film als cineastische Versuchsanordnung: Er zeige, wie Menschen in einer Situation voller Aggressivität und Zerfall agierten. Die simple Wahrheit: Es sind Menschen, die den Boden für historische Katastrophen bereiten. Das heißt auch, dass eine Situation jederzeit von Menschen geändert werden kann, auch zum Positiven. Der ukrainische Regisseur stellte sich nach Beginn des Krieges im Februar 2022 eindeutig auf die Seite der Ukraine, forderte jedoch, russische Künstler*innen dürften nicht per se von Kunstveranstaltungen ausgeschlossen werden. Daraufhin wurde er im März wegen »Kosmopolitismus« aus der ukrainischen Filmakademie ausgeschlossen. Das hat durchaus eine absurde Note: Mit diesem Begriff wurden in der Sowjetunion unter Stalin vermeintliche Staatsfeinde gebrandmarkt.

»Aufrecht stehn – wenn andre sitzen / Hoffnung haben beim Ertrinken / Nicht im Wohlstand zu versinken / Einen Feind zum Feinde machen / Solidarität mit Schwachen.« Sie habe immer Liebeslieder schreiben wollen, sagt Bettina Wegner, und dann seien ein paar politische dazugekommen. Zivilcourage ist ein wiederkehrendes Thema in den Texten der 1947 in Berlin geborenen Liedermacherin. Mit »Sind so kleine Hände« über gewaltfreie (staatsbürgerliche) Erziehung wurde sie in den 1970er Jahren berühmt. Die Ballade brachte ihr aber auch den Ruf der sentimentalen Bardin ein – dabei ist ihre Musik voll poetischer Zeilen und stabilem Humor. Mit einem Film hat jetzt der Regisseur Lutz Pehnert dieser Kämpferin für ein gutes Leben ein Denkmal gesetzt. Wegner wuchs als überzeugte Kommunistin in der DDR auf, avancierte per Talentwettbewerb zum Kinderstar und war früh in der Musik- und Schauspielszene aktiv. Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei 1968 geriet die Sängerin mit der DDR-Staatsmacht in Konflikt: Weil sie Protest-Flugblätter verteilt hatte, wurde sie inhaftiert und wegen »staatsfeindlicher Hetze« zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt, die sie in der »Produktion« abarbeitete. Die Prozessaufzeichnungen bilden das Grundgerüst von Pehnerts Film »Bettina«. Als Liedermacherin durfte Wegner ab 1980 nur noch außerhalb der DDR auftreten, schließlich wurde sie sogar ausgebürgert. In Westberlin trat sie zusammen mit Joan Baez auf. Auch im Westen engagierte sie sich gegen Ungerechtigkeit. Sie organisierte jahrelang eine Mahnwache gegen die Todesstrafe und sammelte mit Amnesty International Unterschriften gegen die Verurteilung des US-Journalisten Mumia Abu-Jamal. »Aufrecht stehn – wenn andere sitzen« ist bis heute die Devise der 74-Jährigen. »Bettina« ist ein guter Einstieg in das Werk dieser künstlerischen Aktivistin.

Leyla McCalla: »Breaking The Thermometer« (Anti/Indigo)

Musik: Thomas Winkler, Film: Jürgen Kiontke

»Donbass«. Regie: Sergej Loznitsa. Darsteller: Boris Kamorzin, Georgi Delijew. Derzeit in den Kinos und als Stream auf https://salzgeber.de

»Bettina«. D 2022. Regie: Lutz Pehnert. Derzeit in den Kinos

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Tag für Tag werden Menschen gefoltert, wegen ihrer Ansichten, Herkunft oder aus rassistischen Gründen inhaftiert, ermordet, verschleppt, oder man lässt sie verschwinden. AMNESTY INTERNATIONAL veröffentlicht an dieser Stelle regelmäßig Geschichten von Betroffenen, um an das tägliche Unrecht zu erinnern. Internationale Appelle helfen, solche Menschenrechtsverletzungen anzuprangern und zu beenden. Sie können mit Ihrem persönlichen Engagement dazu beitragen, dass Folter gestoppt, ein Todesurteil umgewandelt oder ein Mensch aus politischer Haft entlassen wird. Schreiben Sie bitte, im Interesse der Betroffenen, höflich formulierte Briefe an die jeweils angegebenen Behörden des Landes.

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SCHREIBEN SIE EINEN BRIEF

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ist. Ein weiterer Angehöriger des Geheimdienstes teilte der Familie später inoffiziell mit, dass sich Ebrahim Babaei in einer geheimen Haftanstalt befindet.

Foto: privat

Bitte schreiben Sie bis 31. Juli 2022 höflich formulierte Briefe an die Oberste Justizautorität des Irans. Fordern Sie ihn auf, umgehend das Schicksal und den Verbleib von Ebrahim Babaei bekannt zu geben und seine unverzügliche und bedingungslose Freilassung anzuordnen, da er sich ausschließlich wegen der friedlichen Ausübung seiner Rechte auf Meinungs-, Versammlungsund Vereinigungsfreiheit in Haft befindet. Bitten Sie Herrn Ejei außerdem, dafür zu sorgen, dass Ebrahim Babaei bis zu seiner Freilassung in eine offizielle Hafteinrichtung verlegt wird, dass er vor Verschwindenlassen, Folter und anderen Misshandlungen geschützt wird und regelmäßigen Zugang zu seiner Familie, einem Rechtsbeistand seiner Wahl und einer angemessenen medizinischen Versorgung erhält.

IRAN EBRAHIM BABAEI Der politische Aktivist Ebrahim Babaei versuchte am 21. Dezember 2021 aus dem Iran zu fliehen, um ungerechtfertigten Haft- und Prügelstrafen zu entgehen. Seitdem fehlt von ihm jede Spur. Ebrahim Babaei hatte vor seinem Verschwinden Angehörigen und Freund*innen

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mitgeteilt, dass er sich in Maku in der Provinz West-Aserbaidschan befinde. Er wollte ihnen Bescheid geben, sobald die Schleuser*innen grünes Licht für den Aufbruch Richtung türkische Grenze geben würden. Seither hat niemand mehr etwas von ihm gehört. Von den Schleuser*innen hat die Familie widersprüchliche Informationen über seinen Verbleib erhalten. Die Behörden verweigern bis heute jegliche Information darüber, ob Ebrahim Babaei inhaftiert wurde oder nicht. Seine Familie erfuhr erst auf inoffiziellem Wege von einem Geheimdienstmitarbeiter, dass er noch am Leben

Schreiben Sie in gutem Persisch, Englisch oder auf Deutsch an: Oberste Justizautorität Gholamhossein Mohseni Ejei c/o Embassy of Iran to the European Union Avenue Franklin Roosevelt No. 15 1050 Brüssel, BELGIEN (Anrede: Your Excellency / Exzellenz) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Islamischen Republik Iran S. E. Herrn Mahmoud Farazandeh Podbielskiallee 67, 14195 Berlin Fax: 030 - 832 22 91 33 E-Mail: info@iranbotschaft.de (Standardbrief: 0,85 €)


Am 11. Juli 2021 fanden in Kuba landesweite friedliche Proteste gegen die Wirtschaftspolitik, den Mangel an Medikamenten, den Umgang mit Covid-19 und die massiven Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit statt. Hunderte von Menschen, die an den Protesten teilnahmen, wurden von den Regierungsbehörden festgenommen und inhaftiert – unter ihnen auch Maykel Castillo Pérez und Luis Manuel Otero Alcántara. Amnesty International erklärte beide zu gewaltlosen politischen Gefangenen, da sie nur ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen hatten. Die beiden gehören zur Initiative Movimiento San Isidro, in der sich zahlreiche Künstler*innen, Journalist*innen, Akademiker*innen und Aktivist*innen für die Meinungsfreiheit auf Kuba engagieren. Die Bewegung wurde ursprünglich gegründet, um gegen das Gesetz Nr. 349 zu protestieren,

SAUDI-ARABIEN SULAIMON OLUFEMI Dem nigerianischen Staatsbürger Sulaimon Olufemi droht in Saudi-Arabien die Hinrichtung. Er gehörte zu Hunderten Staatsangehörigen Somalias, Ghanas und Nigerias, die im September 2002 im Zuge von Massenfestnahmen nach einem Streit, der den Tod eines saudi-arabischen Polizisten zur Folge hatte, inhaftiert wurden. Im Mai 2005 wurde der damals 39-Jährige in einem unfairen und nicht öffentlichen Verfahren zum Tode verurteilt. Er gab an, während der Verhöre gefoltert worden zu sein. Während elf seiner Mitangeklagten im April 2017 aus der Haft entlassen wurden, nachdem sie ihre 15-jährigen Haftstrafen verbüßt hatten, droht Sulaimon Olufemi die Vollstreckung seines Todesurteils. Die saudische Menschenrechtskommission gab 2007 bekannt, dass das gegen Sulaimon Olufemi verhängte Todesur-

Briefentwürfe auf Englisch und Deutsch finden Sie unter www.amnesty.de/briefe. Sollten Sie eine Antwort auf Ihr Appellschreiben erhalten, schicken Sie sie bitte an: info@amnesty.de

das 2018 eingeführt wurde und Künstler*innen stark zensiert. Am 8. März kündigte das Städtische Volksgericht von Zentral-Havanna ohne Angabe eines Termins die Eröffnung der mündlichen Verhandlung gegen Maykel Castillo Pérez und Luis Manuel Otero Alcántara an. Ihnen werden unter anderem fortgesetzte Beleidigung der Symbole des Landes, Diffamierung von Institutionen und Organisationen sowie von Helden und Märtyrern, Angriff, Widerstand und Störung der öffentlichen Ordnung vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft fordert zehn bzw. acht Jahre Haft. Im März 2022 erfuhr Amnesty, dass sich der durch die Haft ohnehin schon schlechte Gesundheitszustand von Maykel Castillo Pérez weiter verschlechtert hat. Auch Luis Manuel Otero Alcántara geht es inzwischen gesundheitlich sehr schlecht. Die notwendige ärztliche Hilfe erhalten sie beide nicht. Bitte schreiben Sie bis 31. Juli 2022 höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von Kuba und fordern Sie ihn auf, Maykel Castillo Pérez und Luis Manuel Otero Alcántara umgehend freizulassen und das Verfahren gegen sie einzustellen. Dringen Sie darauf,

teil sowohl vom Kassationsgericht als auch vom Obersten Justizrat bestätigt worden sei. Somit hat Sulaimon Olufemi keine weiteren Möglichkeiten, Rechtsmittel einzulegen. Er ist nach wie vor im Gefängnis von Dhaban inhaftiert und beteuert seine Unschuld. Angesichts der aktuellen Massenhinrichtungen in Saudi-Arabien ist der Einsatz für Sulaimon Olufemi dringlicher denn je! Bitte schreiben Sie bis 31. Juli 2022 höflich formulierte Briefe an den saudischen König, in denen Sie ihn bitten, das Todesurteil gegen Sulaimon Olufemi aufzuheben und ein neues Verfahren anzuordnen, das internationalen Standards für faire Verfahren entspricht und nicht auf die Todesstrafe zurückgreift. Bitten Sie ihn außerdem, eine unabhängige Untersuchung der Folter- und Misshandlungsvorwürfe einzuleiten und dafür zu sorgen, dass Sulaimon Olufemi ein regelmäßiger Kontakt zu einem Rechtsbeistand seiner Wahl gewährt wird.

AMNESTY INTERNATIONAL Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0, Fax: 030 - 42 02 48 - 488 E-Mail: info@amnesty.de, www.amnesty.de

dass die beiden unverzüglich Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung erhalten, ihr Gerichtsverfahren unabhängig beobachtet werden darf und sie in Zukunft ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ungehindert ausüben können.

Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an: Miguel Díaz Canel Presidente de la República de Cuba Hidalgo, Esquina 6. Plaza de la Revolución La Habana, CP 10400, KUBA E-Mail: despacho@presidencia.gob.cu Twitter: @DíazCanelB, Facebook: @PresidenciaDeCuba (Anrede: Dear President Díaz-Canel / Sehr geehrter Herr Präsident) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft der Republik Kuba I. E. Frau Juana Martínez González Stavanger Straße 20, 10439 Berlin Fax: 030 - 44 73 70 38 E-Mail: recepcion@botschaft-kuba.de (Standardbrief: 0,85 €)

Foto: privat

KUBA MAYKEL CASTILLO PÉREZ UND LUIS MANUEL OTERO ALCÁNTARA

Schreiben Sie bitte in gutem Arabisch, Englisch oder auf Deutsch an: His Majesty King Salman bin Abdul Aziz Al Saud The Custodian of the two Holy Mosques Office of His Majesty the King, Royal Court Riyadh, SAUDI-ARABIEN Fax: 009 66 - 11 40 33 125 Twitter: @KingSalman (Anrede: Your Majesty / Majestät) (Standardbrief Luftpost bis 20 g: 1,10 €) Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an: Botschaft des Königreichs Saudi-Arabien S. E. Herrn Essam Ibrahim H. Baitalmal Tiergartenstraße 33–34, 10785 Berlin Fax: 030 - 88 92 51 76 E-Mail: deemb@mofa.gov.sa (Standardbrief: 0,85 €)

AMNESTY JOURNAL | 04/2022 81


AKTIV FÜR AMNESTY

Bleibt aufmerksam und bleibt laut! Eindrücke von der 57. Amnesty-Jahresversammlung in Köln: Die Internationale Generalsekretärin Agnès Callamard spricht zum Krieg in der Ukraine, Aktivist*innen machen sich für das Recht auf Meinungsfreiheit stark, und der Vorstand erinnert an vergessene Konflikte.

A

uf der Tagesordnung stand für Amnesty International in Deutschland, das eigene Engagement zu justieren. 500 Mitglieder und Delegierte kamen am Pfingstwochenende zur Jahresversammlung nach Köln. Viele weitere, darunter auch die Internationale Generalsekretärin Agnès Callamard, waren online zugeschaltet. Vom Rhein aus, dort war Amnesty in Deutschland 1961 gegründet worden, sandte die Menschenrechtsorganisation wichtige Signale in die Welt. Callamard sprach über den Krieg in der Ukraine und seine globalen Auswirkungen: »Der Angriff auf die Ukraine ist ein Test für den Schutz von Normen, die auf Menschenrechten, internationalem Recht und Menschenwürde basieren. Dieses Schlachtfeld muss alle Staaten auf der Welt involvieren, nicht nur westliche Staaten. Denn die Ukraine ist nicht nur ein Problem des Westens oder der europäischen Staaten, sondern ein globales Problem, das eine globale Reaktion verlangt – nämlich globale Solidarität.« Ohne das Recht auf Meinungsfreiheit und die damit verwandten Rechte hat es globale Solidarität aber schwer. Auf diesen Zusammenhang wiesen am Pfingstsamstag rund 150 Amnesty-Aktive und Unterstützer*innen auf dem RoncalliPlatz neben dem Kölner Dom hin. Sie forderten mit Slogans wie #RaiseYourVoice und #ProtectTheProtest, die Menschenrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit weltweit zu wahren. Zudem präsentierten Amnesty sowie der Künstler und Satiriker Jacques Tilly eine eigens für die Aktion angefertigte Großplastik: »Ohne Meinungsfreiheit kann ich meine Arbeit nicht machen. Diese Plastik ist damit auch eine Solidaritätsaktion für all die unterdrückten Satiriker und Journalisten und Menschen in aller Welt, die ihren Mund nicht aufmachen können oder nur unter schwierigen Umständen«, sagte Tilly in Köln. Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, stellte fest: »Menschen, die sich für die

universelle Gültigkeit von Menschenrechten einsetzen und daran erinnern, werden in immer mehr Ländern dafür verfolgt und bedroht.« Beeko bedankte sich bei den Amnesty-Gruppen und -Aktivist*innen, die Flüchtenden aus der Ukraine Schutz und Unterstützung zukommen ließen, und wünschte allen Anwesenden: »Bleibt gesund und bleibt laut!« Eindringliche Worte fand Dan Yirga Haile, der geschäftsführende Direktor des Äthiopischen Menschenrechtsrats (EHRCO). Die Organisation hatte im Juni den diesjährigen Menschenrechtspreis von Amnesty International in Deutschland bekommen. Dan Yirga Haile betonte, Amnesty habe dem EHRCO mit der Auszeichnung gezeigt, dass Aufhören keine Option sei: »In den vergangenen Jahren gab es viele Momente, in denen wir dachten, wir seien allein. Hier und jetzt wissen wir: Ihr steht an unserer Seite. Lasst uns gemeinsam unsere Stimme erheben für Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenrechte für alle.« Äthiopien leidet

seit Herbst 2020 unter einem Bürgerkrieg, der vor allem den Norden des Landes betrifft und die ohnehin fragile Menschenrechtslage weiter gefährdet. Die Jahresversammlung reagierte außerdem auf aktuelle Entwicklungen. Sie kritisierte die Zwangsauflösung der internationalen Gesellschaft Memorial und des Menschenrechtszentrums Memorial durch die russischen Behörden ebenso wie Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte in El Salvador. Auch der Schutz von Menschen auf der Flucht war Thema mehrerer Beschlüsse. Wassily Nemitz, Vorstandssprecher von Amnesty International in Deutschland, sagte: »Menschenrechte stehen weltweit unter Druck. Der Angriffskrieg auf die Ukraine ist nur die Spitze eines Eisbergs von Menschenrechtsverletzungen in vielen Ländern. Dazu gehören auch viele vergessene Konflikte. Deshalb ist es wichtig, dass Amnesty International immer wieder auf diese Menschenrechtsverletzungen aufmerksam macht.« ◆

Laut werden und den Protest schützen: Amnesty demonstriert in Köln, Pfingsten 2022. Foto: Herby Sachs

82 AMNESTY JOURNAL | 04/2022


Shirin neshat, The Home of My Eyes, 2015–2019. © Art 19 GmbH Yoko Ono, A Piece of Sky, 2019. © Art 19 GmbH

William Kentridge, God's Opinion is Unknown, 2019. © Art 19 GmbH

Mehr Infos unter: www.art-19.com

Ilya & Emilia Kabakov, We Are Free! 2018. © Art 19 GmbH

Kunstliebhaber*innen und Amnesty-Unterstützer*innen können weiterhin die in einer limitierten Auflage entstandene »Art 19 – Box One« erwerben. Sie enthält zehn Originalgrafiken von Yoko Ono, Gerhard Richter, Shirin Neshat, Rosemarie Trockel, Shilpa Gupta, Ilya & Emilia Kabakov, William Kentridge, Chiharu Shiota, Kiki Smith und Ayşe Erkmen. Die weltweit bekannten Künstler*innen haben die Werke geschaffen, um Amnesty zu unterstützen. »Ich bin seit fast zwei Jahrzehnten aktive Unterstützerin und stolzes Mitglied von Amnesty International«, sagt Yoko Ono. »Es gibt keinen größeren Verfechter, keine stärkere Initiative für die Menschenrechte in unserer Welt als Amnesty.« Die Aktion wurde von der Initiative Art 19 ins Leben gerufen. Der Name Art 19 bezieht sich auf Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: »Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung.« Art 19 kooperiert mit Amnesty International, die Menschenrechtsorganisation arbeitet wiederum seit Jahrzehnten mit Künstler*innen aus aller Welt zusammen. Box One kostet 50.000 Euro; Box Two ist bereits in Arbeit.

Rosemarie Trockel, Film Muet, 2019. © Art 19 GmbH

Herausragende Kunstedition immer noch erhältlich

Große Kunst für die gute Sache. Grafiken aus »Art 19 – Box One«.

IMPRESSUM Amnesty International Deutschland e.V. Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin Tel.: 030 - 42 02 48 - 0 E-Mail: info@amnesty.de Internet: www.amnesty.de Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion Amnesty Journal Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin E-Mail: journal@amnesty.de Adressänderungen bitte an: info@amnesty.de Redaktion: Maik Söhler (V.i.S.d.P.), Nina Apin, Anton Landgraf, Tobias Oellig, Pascal Schlößer, Uta von Schrenk, Lena Wiggers Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit Albrecht, Astrid Benölken, Sergio Chianese, Hannah El-Hitami, Peter Franck, Frauke Gans, Anna Lena Glesinski, Oliver Gra-

jewski, Ulrich Gutmair, Vincent Haiges, Kristina Hatas, Knut Henkel, Katja Herzberg, Melanie Huber, Sead Husic, Jürgen Kiontke, Patrick Loewenstein, Tigran Petrosyan, Christa Rahner-Göhring, Lena Reich, Wera Reusch, Andrzej Rybak, Till Schmidt, Parastu Sherafatian, Keno Verseck, Franziska Vilmar, Cornelia Wegerhoff, Johanna Wild, Thomas Winkler, Marlene Zöhrer, Tobias Zuttmann Layout und Bildredaktion: Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de Druck und Verlag: Hofmann Druck, Nürnberg

Der Verkaufspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Für unverlangt eingesandte Artikel oder Fotos übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder. Die Urheberrechte für Artikel und Fotos liegen bei den Autoren, Fotografen oder beim Herausgeber. Der Nachdruck von Artikeln aus dem Amnesty Journal ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion erlaubt. Das gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken, Mailboxen, für die Verbreitung im Internet oder für Vervielfältigungen auf CD-Rom.

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AMNESTY JOURNAL | 04/2022 83


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