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Albanien: Generation Gegenwehr

Studierte allen Widrigkeiten zum Trotz: Roxhers Lufta.

Generation Gegenwehr

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In Albanien werden Rom*nja seit Jahrzehnten diskriminiert. Nun haben Aktivist*innen genug von Rassismus und Demütigungen. Sie machen sich daran, die Lebensbedingungen zu verbessern. Text und Fotos von Astrid Benölken und Tobias Zuttmann

Roxhers Lufta war immer ein guter Schüler. Er beteiligte sich am Unterricht, machte seine Hausaufgaben, viele Lehrer*innen sahen ihn als begabt an. Und doch gab es Fächer, in denen Lufta keine Chance auf eine gute Note hatte. Obwohl er sich meldete, ignorierten ihn die Lehrer*innen oder setzten ihn in die hinterste Reihe – seine Note stand für sie bereits fest.

Lufta ist Rom. Und in seiner Heimat Albanien heißt das oft, dass andere zu wissen glauben, was er ist, was er kann –und vor allem: was er nicht kann. In den Pausen beschimpften ihn seine Mitschüler*innen, gelegentlich schlugen sie ihn auch. Die Schule war manchmal die Hölle für ihn – und doch kämpfte Lufta, bekam seinen Abschluss, fing an zu studieren, machte einen Bachelor- und Masterabschluss. Allen Widrigkeiten zum Trotz.

Luftas Erfolg ist ein kleiner Sieg. Aber ist er ein Einzelschicksal? Lufta ist Teil einer Bewegung. Einer Bewegung, deren Anfang viele im Jahr 1971 sehen, beim ersten internationalen Rom*nja-Kongress. Damals gab sich die größte ethnische Minderheit in Europa ihren Namen: Rom*nja wollten sie genannt werden –der Begriff Z*******, unter dem sie immer wieder diskriminiert, vertrieben und sogar getötet worden waren, sollte der Vergangenheit angehören. Der Name Rom*nja sollte einen Neuanfang sym bolisieren, zeigen, dass sie die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen wollten. In Albanien sieht es so aus, als ob nun die erste Generation eine echte Chance da rauf hat.

Schlechte Chancen, schlechte Jobs

immer, eine unsichtbare Zielscheibe auf dem Rücken zu haben. Amnesty International dokumentierte in den vergangenen Jahren rechtswidrige Zwangsräumungen von Rom*nja-Häusern, und immer wieder kommt es zu Fällen von Polizeigewalt gegen Rom*nja sowie zu Fällen, in denen Krankenhäuser ihnen die Behandlung verweigern. »Die Menschenrechte der Rom*nja in Albanien werden bis heute missachtet«, sagt Kim Babel von der Amnesty-Koordinationsgruppe West balkan.

Die Abwehrhaltung gegenüber Rom*nja ist im Bewusstsein vieler Menschen tief verankert. In Umfragen gaben knapp 80 Prozent der Albaner*innen an, dass sie es unangenehm fänden, würden sie oder eines ihrer Kinder eine*n Rom*nja heiraten.

In den Schulen ist diese Ablehnung besonders spürbar, auch weil das Schulsystem viele Hürden für Rom*nja aufweist. So spricht gut die Hälfte der Kinder zu Hause Romanes, der Unterricht findet aber auf Albanisch statt, was oft dazu führt, dass sie den Anschluss verlieren. Doch ein mangelnder Schulabschluss bedeutet kein Studium, keine Chance auf einen gut bezahlten Beruf – und damit auch keine Möglichkeit, aus dem Kreislauf der Armut auszubrechen, in die sie die jahrzehntelange strukturelle Diskriminierung getrieben hat.

Auch auf dem Arbeitsmarkt zeigt sich der Rassismus deutlich. Ein Viertel der befragten Albaner*innen gab 2021 offen zu, dass sie keine*n Rom*nja einstellen würden, selbst wenn alle formalen Kriterien erfüllt seien. Da überrascht es kaum, dass mehr als die Hälfte der Rom*nja in Albanien arbeitslos ist. »Vielen ist es aufgrund von Diskriminierung nicht möglich, eine reguläre Arbeit zu finden«, kritisiert Babel. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als im informellen Sektor zu arbeiten, als Händler*in auf dem Schwarzmarkt, Hilfskraft auf dem Bau oder im Recycling.

Da mit diesen Jobs kaum Geld zu verdienen ist, müssen viele Kinder ihre Eltern unterstützen, auch wenn das heißt, dass sie dann nicht zur Schule gehen können. Nach Angaben der Vereinten Nationen gehen nur 55 Prozent der Rom*njaKinder in Albanien zur Schule, die meisten besuchen den Unterricht nur bis zur vierten Klasse, und mit 16 Jahren haben 96 Prozent der Rom*nja die Schule bereits verlassen.

»Die Menschenrechte der Rom*nja werden bis heute missachtet.«

Kim Babel, Amnesty

»Rom*nja werden wie Bürger zweiter Klasse behandelt«, kritisiert Adriatik Hasantari, der Vorsitzende der Organi sation Roma Active Albania, die sich für die Rechte von Rom*nja einsetzt. »Es gibt noch immer die Vorstellung, dass es reicht, wenn man die Rom*nja mit ein bisschen Essen abspeist, damit sie weiterziehen und an Flussläufen leben, ohne Schuhe, die ganze Zeit tanzend«, zählt der sonst ruhige Hasantari mit bebender Stimme zahlreiche Klischees in einem Satz auf.

Nach dem Zusammenbruch der Diktatur im Jahr 1991 war der Balkanstaat eines der ärmsten Länder der Welt. Während es in den folgenden Jahren für viele der 2,8 Millionen Albaner*innen aufwärts ging, wurden Rom*nja oft vergessen oder bewusst übergangen. Viele wurden in Siedlungen am Stadtrand abgeschoben, oft ohne Strom, ohne fließendes Wasser,

ohne Perspektive. Noch immer wohnt ein Großteil der schätzungsweise 100.000 Rom*nja in solchen Verhältnissen.

Und doch sieht Hasantari einen Fortschritt: »Früher interessierte sich niemand für die Probleme der Rom*nja – das hat sich inzwischen geändert.« Ein guter Indikator für die Fortschritte ist der Anteil an Studierenden. Zwar ist er noch immer gering, doch gibt es so viele studierte Rom*nja wie noch nie zuvor.

Gute Bildung, guter Start

Zu verdanken ist das unter anderem Emiliano Aliu. Er wuchs in einer Rom*njaSiedlung auf. Seine Mutter wollte studieren, sein Vater Fußballprofi werden. Doch beide mussten mit 16 Jahren heiraten. »Die Träume meiner Eltern wurden nicht wahr. Also haben sie dafür gesorgt, dass meine wahr werden können«, sagt Aliu. Sie unterstützten ihn, als er plante, zu studieren.

Aliu redet gern und viel, stets mit konzentriertem, wachem Blick. Er hat verinnerlicht, dass eine gute Bildung einen entscheidenden Anteil daran hat, endlich aus dem Kreislauf der Armut auszubrechen. »Als ich mich 1999 an einer albanischen Universität bewarb, war ich der einzige Rom«, erzählt der 41-Jährige. Aliu wurde trotz herausragender Noten abgelehnt – aufgrund seiner Herkunft und weil seine Eltern nicht das übliche Bestechungsgeld bezahlen konnten, vermutet er heute. »Ich hatte keine Chance, in meinem Land zu studieren, ich musste nach Italien gehen«, sagt Aliu. Noch 20 Jahre später merkt man, wie es ihn ärgert, dass Albanien nicht einen einzigen Studienplatz für eine*n Rom*nja freimachen konnte.

Das hat sich inzwischen geändert. Mithilfe seiner NGO RomaVersitas konnte Aliu mehr als 200 Rom*nja zum Studium verhelfen. Seine Organisation vergibt Stipendien, hilft beim Bewerbungsprozess, und ihre Mentorinnen unterstützen Studierende und Schüler*innen. Aliu ist sich sicher, dass dies die Zukunft seiner Com-

Die Rechte von Rom*nja stets im Blick: Adriatik Hasantari.

»Unsere Situation verbessert sich erheblich.«

Brisilda Taco, Aktivistin

munity verbessern wird: »Haben wir die Rom*nja gut genug vorbereitet, um die Bedürfnisse ihrer Gemeinschaft selbst zu schultern? Ja, das haben wir. Die Zeit ist gekommen«, sagt er.

Alius Hoffnung auf eine selbstbestimmte Zukunft ruht auf einem Büro im vierten Stock eines Hochhauses im Nordwesten von Tirana. In einem kleinen Raum tummeln sich mehrere Jugendliche um ein paar Computer. Sie stecken die Köpfe zusammen, zeigen sich Tricks auf den Rechnern, kämpfen gemeinsam mit den Hausaufgaben. Die Kinder besuchen ein Programm von RomaVersitas. Roxhers Lufta sitzt zwischen ihnen, genießt den Trubel und lächelt breit. Er erhielt einst selbst ein Stipendium von RomaVersitas und konnte dank der finanziellen und ideellen Unterstützung der Organisation Sozialarbeit studieren.

Inzwischen ist er 27 Jahre alt und als Mentor bei RomaVersitas aktiv. Er bietet mehr als 40 Rom*nja-Kindern Unterstützung an, die sie zu Hause nicht bekommen, bietet Rat bei den Hausaufgaben und erklärt ihnen, wie die Dinge in der Schule laufen. »Ich arbeite mit Kindern zusammen, die aus einer armen Nachbarschaft kommen. Ich war früher eines von ihnen und hatte damals niemanden. Deswegen möchte ich jetzt ihnen helfen, die Schule abzuschließen.«

Das Ende der Zwangsräumungen

Welchen Unterschied Bildung macht, wissen wohl wenige so gut wie Brisilda Taco. Sie war die erste in ihrem Viertel, die studierte. Wie anders ihr Leben ist, überrascht sie manchmal selbst: »Eine Freundin von mir ist ein Jahr älter als ich und vor Kurzem Großmutter geworden, während ich noch nicht einmal ein Kind habe.«

Taco engagiert sich seit der Grundschule für ihre Gemeinschaft. Damals gab sie Nachhilfe für Erstklässler*innen, inzwischen hat sie mit Rromano Kham eine eigene Organisation für die Rechte von Rom*nja gegründet. Ein Thema ist Taco besonders wichtig: die rechtswidrigen Zwangsräumungen von Rom*nja-Siedlungen. Noch vor wenigen Jahren war es normal, dass Rom*nja-Familien in der albanischen Hauptstadt Tirana willkürlich enteignet wurden.

»Oft wurden ihre Häuser mit der Begründung abgerissen, sie seien nicht ordnungsgemäß gebaut worden«, berichtet auch Kim Babel von Amnesty. Die Stadt wollte Straßen bauen, und wenn die Unterkünfte von Rom*nja im Weg waren, wurden diese abgerissen, oft nur mit einer kurzfristigen Vorwarnung. Nach albanischem Recht ist das verboten, doch lange Zeit kannten die Rom*nja ihre Rechte nicht und konnten sich nicht dagegen wehren, sagt Taco.

Dass sich dies mittlerweile geändert hat, ist ihr und einigen anderen Aktivis t*innen zu verdanken. Zunächst veranstaltete Taco Demonstrationen, wurde laut und unbequem. Sie knüpfte Kontakte zu Aktivist*innen aus anderen Ländern, studierte das Gesetz, setzte die Regierung unter Druck – und bewegte sie so zum Umdenken. Seit 2017, sagt Taco, seien Zwangsräumungen in Albanien kaum noch ein Problem: »Unsere Situation verbessert sich erheblich, denn es gibt immer mehr gut ausgebildete Rom*nja, die ihre Rechte kennen und für sie kämpfen.«

Taco, Hasantari, Aliu, Lufta: Sie sind nur einige Gesichter einer Rom*nja-Generation, die für ihre Gemeinschaft kämpft –und Veränderung bewirkt. Doch das Corona-Virus bremste diesen Schwung deutlich ab. Im März 2020 verhängte Albanien einen der härtesten Lockdowns in Europa. Für viele Rom*nja führte dies zu einem Überlebenskampf. Eine Studie der UN ergab, dass damals in 90 Prozent der Rom*nja-Haushalte nicht genug Essen zur Verfügung stand. Da nur 20 Prozent der Rom*nja eine Festanstellung haben, konnten die wenigsten im Lockdown Geld verdienen. »Wir bekamen Anrufe von Leuten, die sagten, dass sie Hunger litten«, erinnert sich Hasantari an die Anfänge der Pandemie.

Die Probleme in der Bildung potenzierten sich. Weil sie früh von der Schule abgegangen sind, können viele Rom*nja ihre Kinder beim Lernen kaum unterstützen, es fehlen Schulbücher und Zugang zum Internet – nur sieben Prozent der Rom*nja in Albanien haben einen Computer, so eine Studie der UN. Kristina Myrteli ist eine der Studierenden, die von RomaVersitas unterstützt werden. Sie redet leise und denkt vor dem Reden lange nach. Mit ihrem Jurastudium will sie ihrer Community später rechtlich helfen.

Myrteli ist eine gute Studentin, doch Corona hat auch sie getroffen. Sie wohnt in einer kleinen Wohnung mit anderen Studierenden. Internet gibt es, doch hatte sie keinen Laptop, als der Distanzunterricht eingeführt wurde. »Ich konnte mit meinem Handy zwar am Unterricht teil-

Will ihre Community juristisch unterstützen: Kristina Myrteli.

nehmen, hatte aber keinen Zugang zum Bibliothekssystem der Uni.« Myrtelis Noten verschlechterten sich deutlich, das Studieren zu Hause frustrierte sie. »Corona hat die meisten Rom*nja um zwei Jahre zurückgeworfen. Und nicht wenige werden nicht mehr in die Schule zurückkehren«, schätzt Hasantari.

Am härtesten traf ihn die Beobachtung, dass der Respekt, den sich Rom*nja in den vergangenen Jahren mühevoll erkämpft haben, nun wieder zu verschwinden droht. Rom*nja werden wieder deutlich häufiger zum Ziel rassistischer Anfeindungen. Sie werden als dreckig dargestellt – als Verbreiter*innen des Virus. Der Hass kocht vor allem im Netz hoch.

Lufta erinnert das an die Schulhofszenen seiner Kindheit. Doch im Gegensatz zu früher ist er nun nicht mehr allein. Mit anderen Aktivst*innen und unterstützt vom European Roma Rights Centre geht er mit einer Kampagne gegen den Hass im Netz vor. Er meldet Beiträge, versucht, mit jenen zu diskutieren, die Hass verbreiten. Luftas Arbeit ist mühselig, anstrengend, manchmal frustrierend. Und doch denkt er nicht ans Aufhören: »Ich will, dass die Rom*nja ihr Schicksal in die Hand nehmen, und dabei möchte ich helfen. Ich werde mein ganzes Leben für uns Rom*nja arbeiten.« ◆