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Kunst in Kassel: Die documenta fifteen

Kurator Reza Afisina vom Künstlerkollektiv ruangrupa (r.) mit Mitorganisator*innen der documenta fifteen im ruruHaus.

Foto: Helena Schaetzle/laif

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Zusammen in der Reisscheune

Die documenta fifteen folgt dem Trend zur Globalisierung der Kunstwelt. Das indonesische Kurator*innenteam ruangrupa setzt konsequent auf den Geist der Kollektivität – für Fragen der Ästhetik bleibt dabei ebenso wenig Raum wie für inhaltliche Kritik. Von Ulrich Gutmair

Die Kasseler documenta ist fast so alt wie die Bundes republik Deutschland. 1955 fand sie zum ersten Mal statt, gegründet von einem ungleichen Duo: dem Sozialdemokraten Arnold Bode und dem ehemaligen NSDAPParteigenossen Werner Haftmann, der über seine Rolle bei der »Partisanen bekämpfung« in Italien schwieg. Lange galt die alle fünf Jahre stattfindende Ausstellung als wich tigstes internationales Kunstereignis. Sie reflektierte ästhetsche Trends und politische Gegebenheiten ihrer Zeit. Inzwischen hat die documenta an Relevanz eingebüßt, was Ausdruck einer globalen Veränderung ist: Die Zentren westlicher Kunst und Kultur haben in den vergangenen Jahrzehnten an Strahlkraft verloren. Der Blick von Kurator*innen, Kritiker*innen und Publikum richtet sich zunehmend auf Künstler*innen aus dem globalen Süden. Auch der Kunstmarkt hat sich globalisiert. Insofern folgt die Entscheidung, die künstlerische Leitung der aktuellen Ausgabe einem indonesischen Kollektiv namens ruangrupa zu übertragen, dem Zeitgeist. Der offizielle Name der Ausstellung heißt »documenta fifteen«. Die Abweichung von der Tradition, die Nummer der jeweiligen documenta in arabischen oder lateinischen Ziffern zu nennen, steht für den globalen Anspruch, bejaht damit allerdings auch die Dominanz des Englischen in der internationalen Kommunikation.

Das Kollektiv aus Jakarta hat als zentralen Begriff für seine kuratorische Praxis das indonesische Wort »lumbung« gewählt, das eine gemeinsam genutzte Reisscheune bezeichnet: »Als künstlerisches und ökonomisches Modell fußt es auf Grundsätzen wie Kollektivität, ge-

Ebenfalls in Kassel zu Gast sind die Serigrafistas queer, queere Siebdrucker*innen aus Buenos Aires, die Slogans diskutieren und Plakate für feministische Proteste und LGBTIQ+-Paraden drucken. In der Künstler*innenliste der documenta finden sich auch Einzelkünstler wie Sourabh Phadke. Der indische Architekt, Maurer und Lehrer entwirft und baut Gebäude aus traditionellen Materialien.

Die eingeladenen Gruppen und Künst ler*innen kommen aus allen Kontinenten. Auf Kritik gestoßen ist vor allem die Teilnahme der Gruppe The Question of Funding. Denn dem 2019 gegründeten Kollektiv gehören auch Kulturarbeiter*innen aus Palästina an, die die Boykottbewegung BDS unterstützen. Diese ruft zum Boykott israelischer Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Produkte auf –aus Protest gegen die Siedlungspolitik der israelischen Regierung und die Besatzung des Westjordanlandes, aber teils auch gegen die Gründung des Staates Israel. Die Dokumente der Bewegung sind so offen formuliert, dass sich unter ihrem Schirm ein breites Spektrum versammeln kann.

Eine internationale Kunstausstellung zu veranstalten, die einen Schwerpunkt auf den globalen Süden legt, und keine Künstler*innen einzuladen, die irgendwann BDS unterstützt haben, dürfte kaum machbar sein. Viele beklagten aber konkrete Äußerungen von Teilnehmenden, die haarscharf an der Trennlinie von Israelkritik und Antisemitismus entlangschrammten. Weder die documenta-Leitung noch das Kuratorenteam reagierten vor der Ausstellung adäquat auf diese Vorwürfe. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte in seiner Eröffnungs rede, dass es auffalle, »wenn auf dieser bedeutenden Ausstellung wohl keine jüdischen Künstlerinnen und Künstler aus Israel vertreten sind«.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Steinmeier noch nicht das großformatige Bild des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi gesehen. Darauf sind ein Soldat mit Schweinsnase und der Aufschrift »Mossad« zu sehen sowie ein antisemitisches Stereotyp: ein durch Schläfenlocken als Jude gekennzeichneter Mann mit Reißzähnen. Nach heftiger Kritik wurde das Gemälde abgedeckt, eine Erläuterung sollte folgen. Das Künstlerkollektiv ruangrupa sagte, es setze sich für den »Respekt von Vielfalt« ein und bestritt, dass es ein Problem gebe.◆

Kunst dient hier als Vehikel für soziale und politische Anliegen.

meinschaftlichem Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung und verwirklicht sich in allen Bereichen der Zusammen arbeit und Ausstellungskonzeption.«

Konsequenterweise haben ruangrupa und ihr künstlerisches Team, das sich aus »langjährigen Verbündeten« zusammensetzt, weil dem Kollektiv Freundschaft als höchstes Gut gilt, weitere Kollektive und Initiativen zur documenta eingeladen. Sie alle zeichnet laut ruangrupa aus, dass sie aufgrund ihrer Methoden, ihrer künstlerischen Verwurzelung in lokalen Strukturen und ihren experimentellen Ansätzen den Werten von lumbung entsprechen, nämlich lokale Verankerung, Humor, Unabhängigkeit, Großzügigkeit, Transparenz, Genügsamkeit und Regeneration.

Das alles sind sympathische Werte, die jedoch zeigen, dass für die Kurator*innen der documenta fifteen Fragen der Ästhetik und der Möglichkeiten von Kunst nachrangig sind. Auch dies entspricht einem Trend, der sich seit geraumer Zeit abzeichnet: Kunst wird nicht mehr in ers ter Linie als Form der Auseinandersetzung mit der Welt betrachtet, die ihren eigenen, stets neu formulierten Gesetzen folgt, sondern als Vehikel für die Äußerung sozialer und politischer Anliegen.

Zur documenta eingeladen wurde unter anderem Komîna Fîlm a Rojava, ein 2015 gegründetes Kollektiv von Filmemacher*innen aus der autonomen Region Rojava im kurdisch geprägten Norden Syriens. Es versteht sich als Teil der Revolution in Rojava und widmet sich unter anderem dem Empowerment von Frauen sowie ethnischer und religiöser Minderheiten. Indem das Kollektiv in der Region eine Infrastruktur aufbaut, um Filme zu drehen, vorzuführen und Filmema che r*in nen zu schulen, will es der vom syrischen Regime betriebenen Politik der Zwangsassimilierung entgegenwirken. Denn diese Politik hat laut Komîna Fîlm a Rojava dazu geführt, »dass indigene Gemeinschaften ihrer Geschichte und Artefakte beraubt wurden«.

Ebenfalls eingeladen ist The Black Archives, das die Geschichte Schwarzer Emanzipationsbewegungen und Individuen in den Niederlanden dokumentiert, »um verborgene und vergessene Geschichte wieder sichtbar zu machen«. Eine ähnliches Ziel verfolgt Archives des luttes des femmes en Algérie, ein Archiv der Frauenkämpfe in Algerien. Die 2019 gegründete unabhängige Initiative baut ein digitales und frei zugängliches Archiv mit Dokumenten zu feministischen Kollektiven und Vereinigungen Algeriens auf, die seit der Unabhängigkeit im Jahr 1962 entstanden sind.

Noch bis 25.September 2022 in Kassel