Klarer Kurs 4-2018

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KLARERKURS MAGAZIN FÜR BERUFLICHE TEILHABE

04/2018

TITELTHEMA: Ein Jahr BTHG: Wo sind die anderen Leistungsanbieter? Geballte Frauenpower in.Betrieb Gesellschaft für Teilhabe und Integration gGmbH, Mainz Systemgeschäft oder wie man Kunden bindet Iserlohner Werkstätten Mit coolem Produkt in die Region Hohenwestedter Werkstatt

Annika Sachtleben, Kunstwerkstatt „willsosein“, Aachen

11. Jahrgang

Einzelheftpreis 9,50 € ISSN 1867-6693

www.53grad-nord.com


/INHALT/

/FRAGEN/

/EDITORIAL/

Was macht Sie stolz?

16 Stark: Frauenpower in.Betrieb, Mainz

20 Stark im Systemgeschäft: Iserlohner Werkstätten

▲ „Ich bin stolz darauf, das Werbegesicht von gut2 zu sein“ SABRINA PODLOFSKI, GUT2, HOHENWESTEDTER WERKSTATT

▲ „Stolz macht mich, dass es in meiner Abteilung sehr

▲ „Da zu stehen, wo ich jetzt stehe. Das habe ich mir selbst aufgebaut,

familiär zugeht, dass wir sehr gut miteinander umgehen, wir haben untereinander Vertrauen“

ohne fremde Hilfe“ KIM BEHRENS, GUT2, HOHENWESTEDTER WERKSTATT

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▲ „Stolz? Die Arbeit hier, dass ich gesundheitlich

SASKIA SCHRAGE, GUT2, HOHENWESTEDTER WERKSTATT

RALF GEBAUER, ISERLOHNER WERKSTÄTTEN

MEINUNGEN

Aktuelles TITELTHEMA Sie sind da! Sind sie da? Wo sind die anderen Leistungsanbieter?

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BILDUNG Mit dem Blick zurück in die Zukunft Osnabrücker Werkstätten

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Raus aus der Opferrolle in.Betrieb Gesellschaft für Teilhabe und Integration gGmbH, Mainz

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ARBEIT Problemlöserin für Kunden Iserlohner Werkstätten

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„Ich will am Leben teilhaben“ Porträt: Dirk Werner

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ENTWICKLUNG Zurück aus dem Maßregelvollzug frankfurter werkgemeinschaft e.V./alsterarbeit gGmbh, Hamburg

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Cooles Wasser mit Werbeeffekt Hohenwestedter Werkstatt

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Der perfekte Mensch – k/ein Recht auf Leben mit Behinderung? Gastkommentar: Anton Senner, Bergedorfer Impuls Stiftung

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Was erwarte ich von meiner Frauenbeauftragten? Menschen mit Handicap äußern sich

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Beruf: Künstler Lebenshilfe Aachen Werkstätten & Service GmbH

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Comic: Workman

ANGELIKA WASKOWICZ, ISERLOHNER WERKSTÄTTEN

▲ „Einen Partner zu haben, der mich mit meinen Einschränkungen respektiert“

Was macht Sie stolz?

LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER, sie sollen für Alternativen in der beruflichen Teilhabe sorgen, Alternativen zur Werkstatt für Menschen mit Behinderung schaffen: die anderen Leistungsanbieter. Seit einem knappen Jahr sind sie gemäß §60 SGB IX am Start, und wir wollten wissen: Was ist seitdem passiert? Wer sind die „Neuen“, welche Konzepte verfolgen sie, wie sehen Leistungsträger die alternativen Modelle, geht die Umsetzung in der Praxis voran? Wir finden, die Zeit ist reif für eine erste Bilanz: unser Titelthema dieser Ausgabe ab Seite 6. So geht Kundenbindung − in der Lohnfertigung! Die Iserlohner Werkstätten haben einen zukunftsträchtigen Weg eingeschlagen: Wenn das Material der Werkstatt gehört, kann es nur schwer zurückgeholt und der Auftrag abgezogen werden. Also kauft die Werkstatt das Material für die Montage selbst, legt es sich ins Regal, montiert auf Abruf und verschickt die Produkte in alle Welt. Die Komplettlösung erhöht die Kundenbindung und sichert gleichzeitig die Auslastung. Ein Rezept nicht nur für Krisenzeiten: Wie das klappt, lesen Sie ab Seite 20. Sehr verhalten reagieren Werkstätten auf das Thema psychisch erkrankte Menschen aus dem Maßregelvollzug in der WfbM. Wir haben zwei gefunden, die mit uns über das Tabuthema gesprochen haben. Ab Seite 26. Wasser ist cool: Das ist die Ansage der Hohenwestedter Werkstatt hoch im Norden der Republik bei Rendsburg. Findig ist dabei das treffende Wort, füllt die Werkstatt nachgewiesenermaßen reines, aus tiefster Erde stammendes eiszeitliches Wasser ab und vermarktet es als trendiges Eigenprodukt. Ein Volltreffer. Ab Seite 30. Und das ist, wie immer, noch nicht alles. Wir wünschen Ihnen eine entspannte und informative Lektüre!

Impressum

so weit gekommen bin“

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GRID GROTEMEYER KLARER KURS 04/18

I N HALT/EDITORIAL

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AKTUELLES

VIA Blumenfisch-Mitarbeiter im neuen Geschäft in Berlin-SchÜneberg

Blumenfisch Store in Berlin erĂśffnet DIE GANZE VIELFALT auf einen Blick – die VIA Blumenfisch gGmbH hat in Berlin-SchĂśneberg ein Geschäft erĂśffnet, in dem sich die Produktpalette ihrer Werkstattmanufakturen dem Publikum im besten Licht präsentiert. Doch nicht nur die hier angebotenen Keramikwaren, Kunst oder Designartikel entstehen komplett im Hause, auch der Store selbst ist von den ersten AusstattungsentwĂźrfen bis hin zu Tischen, StĂźhlen und Regalen vollständig in den eigenen Betrieben gefertigt worden. So hat die Blumenfisch-Belegschaft aus eigener Kraft neuen Raum fĂźr neue Mitarbeiter geschaffen,

denn der Store mit insgesamt 400 m² Ladenund Lagerfläche sowie dem integrierten Blumenfisch CafĂŠ bietet 22 neue Arbeitsplätze fĂźr Menschen mit Beeinträchtigungen in sämtlichen Bereichen. Das Besondere: Selbst das Warenlager, in dem auch der Versand des neuen Online-Shops abgewickelt wird, ist ein einsehbarer, weil gläserner Bestandteil des Stores: fĂźr Sichtbarkeit, Publikumsnähe und ein offenes Miteinander auf allen Ebenen. Blumenfisch Store, GeneststraĂ&#x;e 5, 10829 Berlin https://blumenfisch-store.de â?š

Fragen: Umsetzung der UN-BRK in Deutschland DER UN-FACHAUSSCHUSS fĂźr die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf hat am 21. September die zweite Runde im StaatenprĂźfverfahren zu Deutschland eingeleitet und eine Frageliste verabschiedet, deren Fragen die Berichterstattung der Bundesregierung leiten werden. FederfĂźhrend verantwortlich, den Bericht zusammenzustellen, ist das Bundesministerium fĂźr Arbeit und Soziales. Das Ministerium hat jetzt ein Jahr Zeit, danach erfolgt die erneute PrĂźfung. Das Ergebnis dieser PrĂźfung werden die „AbschlieĂ&#x;enden Bemerkungen“ des UN-Ausschusses sein, ein Katalog mit Empfehlungen und Forderungen zur weiteren Umsetzung der UNBRK in Deutschland. Die Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts fĂźr Menschenrechte hatte dem Ausschuss vor seiner Sitzung eine „Pre-

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AKTUELLES

List of Issues“ mit Kurzberichten zu ausgewählten Artikeln und mĂśglichen Fragen fĂźr die Frageliste Ăźbermittelt, bei der Sitzung ein Statement vorgetragen und Fragen des Ausschusses beantwortet. Weitere Informationen: www.institut-fuer-menschenrechte.de/ monitoring-stelle-un-brk/â?š

Jetzt bewerben fĂźr den Jakob Muth-Preis 2019

EUCREA: Resonanzen 2019

INKLUSIVE SCHULEN, VerbĂźnde und zum ersten Mal auch inklusive SchĂźler*innenprojekte in ganz Deutschland kĂśnnen sich bis zum 31. Januar 2019 um den Jakob Muth-Preis 2019 bewerben. Projektträger des Preises sind der Beauftragte der Bundesregierung fĂźr die Belange von Menschen mit Behinderungen, JĂźrgen Dusel, die Deutsche UNESCO-Kommission und die Bertelsmann Stiftung. Bewerben kĂśnnen sich Schulen in Deutschland aller Schulstufen und Schulformen sowie VerbĂźnde, die inklusive Bildungsbiografien in der Region ermĂśglichen. Erstmalig kĂśnnen sich dabei auch besondere Initiativen von SchĂźler*innen zur Inklusion fĂźr einen Publikumspreis bewerben: zwei Einzelschulpreise im Wert von je 3 000 Euro (ein Preis an eine Grundschule, ein Preis an eine Schule mit Sekundarstufe I), ein Preis fĂźr einen Schulverbund im Wert von 5 000 Euro und ein Publikumspreis fĂźr inklusive SchĂźler*innenprojekte im Wert von 3 000 Euro. Alle Informationen und Zugang zu den Bewerbungstools unter: www.jakobmuthpreis.de/bewerbungâ?š

AM 22. UND 23. FEBRUAR 2019 findet das EUCREA FORUM „RESONANZEN – KĂźnstlerische Kommunikation in inklusiven Arbeitsprozessen“ mit KĂźnstlern, Theoretikern, Praktikern und Vertretern aus der kulturellen Bildungsarbeit in Frankfurt am Main statt. Besonderen Stellenwert hat dabei der praktische Zugang zum Thema: Angeboten werden acht Workshops in allen Sparten der Kunst, unter anderem von der inklusiven Theatergruppe „Meine Damen und Herren“ aus Hamburg, der Arbeitsgruppe des euward-Kataloges 2018 (Europäischer Preis fĂźr Malerei und Grafik im Kontext geistiger Behinderung) und der Kunstinitiative BehindART aus Frankfurt. Einen theoretischen Schwerpunkt bildet das von EUCREA 2018 verĂśffentlichte Positionspapier: Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb – KĂźnstler*innen mit Behinderung sichtbar machen. Informationen/Anmeldung: www.eucrea.de â?š

Ausschreibung: Annedore-Leber-Preis DER BERUFSBILDUNGSWERK BERLIN e. V., Trägerverein des Annedore-Leber-Berufsbildungswerks (ALBBW), schreibt erneut den Annedore-Leber-Preis fĂźr besonderes Engagement bei der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderung aus. Das Preisgeld, gestiftet vom Berufsbildungswerk Berlin e. V. und dem FĂśrderverein ANNEDORE, beträgt 1 000 Euro. Eingereicht werden kĂśnnen Bewerbungen von und fĂźr Unternehmen, Organisationen und Projektträgern aus Deutschland, die sich bei der Eingliederung von Menschen mit Behinderung in Ausbildung und Arbeit beispielhaft hervorgetan haben: Gesucht werden innovative, nachhaltige und zur Nachahmung anregende Projekte, die Menschen mit Handicap eine optimale Teilhabe am Arbeitsleben ermĂśglichen. Bewerbungsschluss ist der 21. Dezember 2018. Informationen: www.albbw.de/fuer-unternehmen/annedore-leber-preis/â?š KLARER KURS 04/18

Masterclass mit Royston Maldoom

mitMenschPreis 2018 AM 22. OKTOBER 2018 wurde in Berlin zum fĂźnften Mal der mit 10 000 Euro dotierte mitMenschPreis verliehen. Mit dem Preis zeichnet der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB) Projekte und Initiativen aus, die Menschen mit hohem UnterstĂźtzungsbedarf mehr selbstbestimmte Teilhabe ermĂśglichen. Sieger ist das Projekt NachtcafĂŠ Bremerhaven: ein Hilfeangebot von Betroffenen fĂźr Betroffene des Klinikums Bremerhaven-Reinkenheide gGmbH in Bremerhaven. Das NachtcafĂŠ bietet fĂźr Menschen mit einer psychischen Erkrankung Alternative zum Aufsuchen der Notfallambulanz des Krankenhauses. https://beb-ev.de/inhalt/mitmenschpreisgeht-an-nachtcafe-bremerhaven/ â?š

Seit Ăźber 30 Jahren Tanzprojekte fĂźr jedermann: Royston Maldoom

KERZEN- UND SEIFENHERSTELLUNG ‌

AM 19. UND 20. JANUAR 2019 findet im Rahmen des UnLabel Projekts ImPArt eine Masterclass mit dem britischen Choreografen Royston Maldoom in KĂśln statt. Bekannt wurde der Choreograf durch seine tanzpädagogische Arbeit mit Jugendlichen. Er initiiert und leitet seit Ăźber 30 Jahren Tanzprojekte fĂźr jedermann, unabhängig von Erfahrung, Alter, Geschlecht, Hautfarbe, ethnischer ZugehĂśrigkeit oder sozialer Herkunft und gilt als MitbegrĂźnder der CommunityDance-Bewegung. Sein Credo: „Tanz hat enormes Veränderungspotenzial, fĂźr politische und gesellschaftliche Zusammenhänge ebenso wie fĂźr jeden Menschen persĂśnlich.“ FĂźr sein soziales Engagement und seine kĂźnstlerische Arbeit hat er zahlreiche Preise erhalten. KĂźnstler mit und ohne Behinderung aller Sparten kĂśnnen sich bis zum 10. Dezember 2018 fĂźr die Masterclass bei Un-Label bewerben, die Plätze sind auf 15 Teilnehmer begrenzt. Infos bei Un-Label Performing Arts Company https://un-label.eu Anmeldung unter: https://un-label.eu/anmeldung/ â?š

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AKTUELLES

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/TITELTHEMA/UMSETZUNG BTHG Andere Leistungsanbieter − für die einen befürchtete Konkurrenz, für die anderen Garant der Wahlmöglichkeiten in der beruflichen Teilhabe. Seit 1. Januar 2018 können Einrichtungen ihre Zulassung als andere Leistungsanbieter bei den Kostenträgern, den Regionaldirektionen der Bundesagentur für Arbeit und den überörtlichen Sozialhilfeträgern bzw. den Kommunen, beantragen und entsprechende vertragliche Vereinbarungen abschließen. Die Absicht des Gesetzgebers Die WfbM biete nicht genügend Viel-

falt, um den Bedürfnissen unterschiedlicher Leistungsberechtigter gerecht zu werden, sie sollen Wahlmöglichkeiten bekommen, heißt es explizit in §62 SGB IX. Umsetzen sollen das vor allem andere Leistungsanbieter, die mit ihren Angeboten den Zugang zum Arbeitsmarkt auch über virtuelle, also betriebsintegrierte Werkstattplätze verbreitern sollen. Unter anderen Anbietern stellt man sich vor: kleine Träger und Firmen, die flexibler am Markt agieren, weil sie nicht das komplette Spektrum einer Werkstatt vorhalten müssen. Insgesamt also eine deutliche Verbesserung für die Menschen mit Behinderung. Statt des Grundsatzes der Einheitlichkeit soll in der Trägerlandschaft eine Angebotsvielfalt entstehen. Was steht im Gesetz? Mit dem §60 SGB IX Andere Leistungsanbieter hat der Gesetzgeber einen Markt eröffnet, denn neben den Werkstätten dürfen nun auch andere Einrichtungen und Träger einen Berufsbildungsbereich oder einen Arbeitsbereich oder beides anbieten. Das birgt Konfliktpotenzial, ruft es die Werkstätten auf den Plan, die monieren, hier würden Vorgaben aufgeweicht, die für sie seit 38 Jahren gelten würden. In der Tat, das BTHG sieht wenige Ausnahmen für andere Anbieter vor: Sie benötigen keine förmliche Anerkennung, unterliegen keiner Mindestplatzzahl, keinen Standards für die räumliche und sächliche Ausstattung, keiner

Aufnahmeverpflichtung und können ihr Angebot auf den Berufsbildungs- oder den Arbeitsbereich beschränken. Ansonsten aber müssen andere Anbieter nicht nur alle Kriterien der WVO erfüllen, sondern auch das Fachkonzept der Bundesagentur für Arbeit, das die berufliche Bildung regelt, samt der Verpflichtung, sich nach AZAV zertifizieren zu lassen. Wer will was?

1. DIE LEISTUNGSTRÄGER Die BA hat im November 2017 die HEGA auf andere Leistungsanbieter übertragen, und unabhängig davon, ob es sich um stationär oder ambulant arbeitende Einrichtungen handelt, strebt sie eine Gleichbehandlung von Werkstätten und anderen Anbietern nach gesetzlichen Vorgaben an. Inzwischen hat die BA zwei andere Anbieter im Bereich Berufliche Bildung zugelassen, den Regionaldirektionen liegen weitere Anträge vor. Einige davon sind bereits weit gediehen, aber genaue Zahlen seien, so lässt die BA Ende Oktober wissen, statistisch bislang nicht erfasst. Bei den überörtlichen Trägern der Eingliederungshilfe liegen ebenfalls Ideen und Anträge vor, die allerdings, so hört man aus Hessen oder Westfalen-Lippe, zum großen Teil qualitativ nicht ausreichend seien oder noch im Anfangsstadium steckten. Zulassungen gibt es − Stand Oktober 2018 − keine. Hatte man vor einem Jahr noch von alternativen Angeboten und einem wichtigen Schritt in Richtung inklusivem Arbeitsmarkt geträumt, ist das ernüchternd. Im Gespräch mit den Anbietern … In Hessen beispielsweise haben

sich „ungefähr 20 Interessenten gemeldet und inzwischen liegt eine erste Konzeption vor. Weil es auf beiden Seiten noch Fragen gibt, werden wir in ein weiteres Gespräch gehen“, erläutert Jürgen Melchior, Funktionsbereichsleiter im Fachbereich Recht und Koordination beim Landeswohlfahrtsverband. „Wir haben deutlich i

Sie sind da! Sind sie da?

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i gemacht, dass BBB und Arbeitsbereich zusammengehören. Auch wenn Wahlfreiheit verankert ist, muss man doch schauen, wo die Teilnehmer herkommen.“ Überraschend für ihn: Kein Vermittlungsdienst habe angefragt. Vielleicht, weil die Anforderungen mit der WVO sehr hoch seien. „Ich will nicht ausschließen, dass das in den nächsten Jahren besser läuft.“ Seine Abteilung hat einen Leistungskatalog erarbeitet, der aber nur intern für Verhandlungen mit einem potenziellen anderen Anbieter genutzt wird: „und zwar dann, wenn es konkreter wird, um ihm zu sagen, welche Leistungen er erbringen muss.“ Dass Werkstattträger zugleich einen anderen Anbieter unter ihrem Dach aufstellen, findet der Bereichsleiter abwegig: Konkurrenz unterm gleichen Dach? „Dies kann nicht gewollt sein.“ … auch in Hamburg In der Hansestadt gibt es bereits zwei gut auf-

gestellte Werkstätten mit vielen Außenarbeitsplätzen, ein seit 2012 funktionierendes Budget für Arbeit und sieben Sonstige Betriebsstätten nach §56 SGB XII. Die sieht das BTHG nicht mehr vor. Dazu gehören zum Beispiel der Bergedorfer Impuls mit eigenen Qualifizierungsangeboten und die Hamburger Arbeitsassistenz als Vermittlungsdienstleister, der Menschen mit Behinderungen unter anderem über das Integrationspraktikumsjahr in sozialversicherungspflichtige Arbeit begleitet, übrigens der deutsche Vorzeigebetrieb in Sachen Unterstützte Beschäftigung. Beide müssen sich nun umorientieren und zu anderen Anbietern werden. Der Bergedorfer Impuls mit Schulungsräumen und enger Verflechtung mit der Wirtschaft für Außenpraktika ist, wie Andrea Conrad von der Behörde für Arbeit und Soziales in Hamburg sagt, auf einem guten Weg, sowohl mit der BA als auch mit dem Träger der Eingliederungshilfe zu einer Vereinbarung zu kommen. Schließlich gelte in Hamburg: Andere Anbieter sind ausdrücklich erwünscht, wenn ihr Konzept maßgeblich den gesetzlichen Vorgaben entspricht.

Schwierig wird es allerdings für den ausschließlich betrieblich arbeitenden Fachdienst Hamburger Arbeitsassistenz. Er soll nun ein Konzept gemäß WVO schreiben, sich wie eine Werkstatt aufstellen und lernen, so zu denken wie eine Werkstatt. Andrea Conrad: „Das Gesetz schreibt vor, dass andere Anbieter die rechtlichen Voraussetzungen einer Werkstatt erfüllen sollen. Unsere Intention ist es, dieses personenzentrierte Gesetz anzunehmen und auch für die Person umzusetzen. Der Träger muss sich bewegen und anbieten, was der Mensch benötigt.“ Für Jörg Bungart von der BAG UB aber eine erschreckende Entwicklung: Man schaue im Moment „sehr eng auf die WVO, selbst in Hamburg wird längst Akzeptiertes wieder in Frage gestellt, wie der Personalschlüssel beim Jobcoaching, den man natürlich nicht eins zu eins mit der WVO vergleichen kann. Die WVO ist hier eher als Mindeststandard anzusehen. Es ist schon ein wenig skurril, wenn man mit der Argumentation wieder bei Null anfangen muss.“ Skepsis in Westfalen-Lippe Beim Landschaftsverband WestfalenLippe steht man „dem neuen Produkt Andere Leistungsanbieter“ sehr skeptisch gegenüber. Der Chef des LWL-Inklusionsamts Arbeit Michael Wedershoven konkretisiert das: „Wir glauben nicht, dass mit dem §60 ein wesentlicher Entwicklungsschub in Richtung allgemeiner Arbeitsmarkt stattfindet. Andere Leistungsanbieter verbleiben im Bereich der arbeitnehmerähnlichen Beschäftigung. Man muss sich schon sehr konsequent auf den ersten Arbeitsmarkt ausrichten, wenn man da auch ankommen will. Deshalb werden wir in Westfalen-Lippe andere Anbieter nicht aktiv unterstützen, es sei denn, im gleichen Zug werden WfbM-Plätze abgebaut und das Angebot ist deutlich inklusiver als das, was die Werkstätten bisher leisten.“ Ein Beispiel: Ein Werkstattträger stellt unter seinem Dach einen anderen Leistungsanbieter auf und überführt aus der hauseigenen WfbM 50 Beschäftigte von Außenarbeitsplätzen zum i

Wo sind die anderen Leistungsanbieter?

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i Schwesterbetrieb mit der Aufgabe, diese Personen nachhaltig in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Die 50 Plätze fallen in der Werkstatt zwar weg, bleiben dem Träger aber über den Schwesterbetrieb erhalten. Dann hat der Träger ein inklusionsorientiertes Konzept vorgelegt und zugleich Werkstattplätze abgebaut. Die Zahl der Empfänger von Transferleistungen bleibt gleich, und, wichtig: Das Konzept ist kostenneutral. „Wir halten das Instrument an manchen Stellen durchaus für geeignet, es ist aber eben nicht ohne weiteres ein Angebot, das den Schritt in Richtung allgemeiner Arbeitsmarkt fördert.“ Festzuhalten ist, dass das Monopol für Werkstattarbeit in Westfalen-Lippe weitgehend bestehen bleibt und sich der gesetzliche Anspruch des BTHG auf Alternativen zu den anerkannten WfbM hier nicht realisiert.

3. ANDERE ANBIETER UND SOLCHE, DIE ES WERDEN WOLLEN Das Kolping-Berufsbildungswerk in Hettstedt/Sachsen-Anhalt ist seit Juni dieses Jahres bei der BA als anderer Anbieter im BBB zugelassen: ein stationäres Angebot für 18 Teilnehmer mit sechs Gewerken und betriebsintegrierten Praktika. Dr. Markus Feußner, Geschäftsführer des BBW: „Wir wollen die Teilnehmer im BBB qualifizieren, manche können eine theoriereduzierte Ausbildung anschließen.“ Außerdem schreibe man gerade ein Konzept für einen betriebsintegrierten Arbeitsbereich. „Wir haben ein weites Unternehmens-Netzwerk, eigene Dienstleistungsfirmen und einen Vermittlungsdienst, also viele Möglichkeiten für die Teilnehmer.“ Und seine Erfahrung mit dem Zulassungsprozess? „Das war ein konstruktiver Prozess mit der BA, wir sind Profis in der beruflichen

„Es geht mehr um die Befindlichkeiten der WfbMs, nicht um die Bedarfe der Menschen mit Behinderung“ Über das Gesetz hinausgehende Anforderungen? Apropos Zielrichtung erster Arbeitsmarkt: Die Orientierungshilfe der BAGüS vom Dezember 2017 enthält einen Passus, der andere Anbieter dazu verpflichtet, konzeptionell nachzuweisen, dass ihre „Maßnahmen geeignet sind, das Ziel der UN-BRK (den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, Anm. d. Red.) nicht nur anzustreben, sondern mittelbar auch zu erreichen“. Das ist mehr als das, was WfbM leisten müssen – bei identischem Personenkreis. Damit würde das Erbringen von Leistungen bei anderen Anbietern ohne gesetzliche Grundlage eingeschränkt, meinen viele Verbände der Behindertenhilfe. Ein deshalb von mehreren Fachverbänden bei Prof. Dr. Jan Kepert von der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl in Auftrag gegebenes Gutachten fasst der Paritätische auf seiner Website so zusammen: „Die Regeln für ‚Andere Leistungsanbieter‘ sind im §60 SGB IX abschließend formuliert. Alle darüber hinausgehenden Anforderungen sind demnach nicht gesetzeskonform.“ Hatte der Gesetzgeber als Nutznießer des §60 auch Menschen im Blick, die bislang wegen fehlender Alternativen zur Werkstatt von beruflicher Teilhabe ausgeschlossen sind, zeigt sich bei den Leistungsträgern eine eher defensive Haltung, um eine höhere Nachfrage und damit eine Kostensteigerung zu vermeiden.

2. DIE WERKSTÄTTEN Werkstätten wollen vor allem: gleiche Regeln für alle und keine Schlechterstellung gegenüber anderen Anbietern. Sie beklagen durch die Ausnahmeregelungen für die neuen Marktteilnehmer eine Schlechterstellung. Die Öffnung des Markts behagt ganz sicher vielen nicht, müssen sie sich einer potenziellen Konkurrenz stellen. Dabei zeigen die Beispiele Hamburg und Berlin deutlich: Konkurrenz belebt das Geschäft.

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Bildung. Wir haben alles in einem guten fünfstelligen Bereich vorfinanziert, die Räumlichkeiten, einen seit April angestellten Mitarbeiter. Wie aber soll ein kleiner Betrieb einen solchen Kostenblock stemmen? Dazu die Konzepterstellung und die Beratungen. Und dann ist noch kein einziger Teilnehmer da.“ Ähnlich sieht es André Trinks, Geschäftsführer bei Ikarus RheinNeckar – Institut für Kulturtechniken, Arbeit, Rehabilitation und Soziales in Heidelberg. Seit Oktober 2018 ist der Bildungsträger als anderer Leistungsanbieter zugelassen mit einem stationären BBBAngebot für 18 Menschen mit psychischen Erkrankungen. „Die Qualifizierung bieten wir im kaufmännischen Bereich und in der Lagerlogistik an, zu den Praktika geht’s raus, wir wollen Übergänge schaffen. Spannend fand ich die Frage der Agentur, was wir zum Übergang in den Arbeitsbereich machen. Ich war überrascht, weil der Fokus nicht auf der Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt lag.“ Im Zulassungsverfahren, das aufgrund von fehlenden Referenzwerten nur langsam voranging, habe die BA genau geschaut, dass alle Kriterien aus dem Qualitäts- und Leistungshandbuch und der WVO erfüllt sind. „Wir mussten Kooperationsverträge mit Industrieunternehmen, in denen unsere noch gar nicht vorhandenen Teilnehmer Praktika durchführen können, vorlegen. Das war schon eine schwierige Aufgabenstellung.“ Lernen, wie Werkstatt funktioniert Die Sozialen Dienste Oberbayern

betreiben Inklusions- und Beschäftigungsbetriebe. Ergänzt werden soll das Portfolio durch Angebote und Leistungen des anderen Anbieters. Zurzeit steht Johanna Schilling, Mitglied des Vorstands, in Verhandlungen sowohl mit der BA für den BBB als auch mit dem Bezirk Oberbayern für den Arbeitsbereich. Ihr Konzept: virtuell. „Wir bieten unseren Teilnehmerinnen, Teilnehmern und Beschäf- i

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i tigten Bildungs- und Arbeitsplätze vor Ort in regionalen Unternehmen an. In Kombination mit dem Budget für Arbeit möchten wir auch die Möglichkeit eröffnen, in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis wechseln zu können.“ Ihr Eindruck: Die rechtlichen Hürden sind sehr hoch. „Um zu wissen, welche Möglichkeiten ich habe, muss ich mich mit dem ganzen Reglement der Werkstatt auseinandersetzen. Wir mussten erst ein fundiertes Verständnis von einer WfbM entwickeln, bevor wir unsere eigenen Wege gehen konnten. Eine absurde Situation.“ Das Werkstatt-Wissen hat sie sich im Netzwerk mit anderen Trägern erarbeitet. Problematisch sei auch die in der WVO geforderte Arbeitsergebnisrechnung: „Zum Teil unterscheiden sich die Konzepte der anderen Leistungsanbieter doch stark von den WfbMs, weil sie weitestgehend keine eigenen Umsätze generieren über die Herstellung von Produkten oder das Tätigen von Dienstleistungen. Da wird man sich anschauen müssen, ob das in Zukunft haltbar ist.“ Auch an anderer Stelle bedarf es einer Nachsteuerung: „Die Leistungsträger müssen darauf achten, dass die anderen Anbieter ressourcentechnisch nicht schlechter ausgestattet sind als die WfbMs. Der andere Anbieter darf nicht so weit marginalisiert werden, dass er die gesellschaftlich beabsichtigten Ziele und Wirkungen gar nicht realisieren kann, weil er von Anfang an schlechtere wirtschaftliche Voraussetzungen hat.“ Problematisch sind auch die WVO-Personalanforderungen im BBB: Es muss immer, auch wenn es nur drei Teilnehmer sind, eine volle Stelle besetzt sein. Teilzeit geht nicht. Sie zieht die Konsequenz daraus: „Wir beginnen erst, wenn wir sechs Teilnehmer haben.“ Ihr Fazit: „Nachhaltige Veränderungen, wie eine Verschiebung vom institutionellen Denken hin zu einem, das von den Menschen ausgeht, dauern eben länger. Noch geht es mehr um die Befindlichkeiten der WfbMs und nicht um die Bedarfe der Menschen mit Behinderung.“ Anderer Anbieter unter dem Dach des Werkstattträgers Der VIA Un-

ternehmensverbund in Berlin hat ebenfalls ein Konzept als anderer Anbieter im Arbeitsbereich bei der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales vorgelegt. Uwe Gervink, Mitglied der Geschäftsführung der VIA Unternehmensverbund für Integrative Angebote Berlin gGmbH und zugleich Geschäftsführer der Werkstatt VIA Blumenfisch gGmbH, begründet das so: „Mit der Erfahrung aus inklusiven Klausuren haben wir die Perspektive unserer Werkstattmitarbeiter ins Zentrum gerückt. Der Mensch soll selbst entscheiden können, ob er in die WfbM möchte oder etwas anderes will. Als anderer Leistungsanbieter wollen wir sowohl Werkstattbeschäftigte auf Arbeitsplätzen bei vielen kooperierenden Institutionen begleiten als auch niederschwellige Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen aus der Psychiatrie anbieten.“ Das Ziel sind im besten Falle Übergänge, etwa mit dem Budget für Arbeit. „Das institutionelle Denken herrscht noch weit vor“, bemerkt Gervink, „aber welche Angebote die Menschen haben wollen, ent-

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scheiden nicht wir als Institution. Wir müssen aufhören, Werkstätten nur als Gebäude zu denken.“ Virtuelle Werkstatt seit 14 Jahren Die Virtuelle Werkstatt in Saar-

brücken ist ein Sonderfall unter den Werkstätten. 2004 gegründet mit der Absicht, ein virtuelles Angebot speziell für Menschen mit psychischen Erkrankungen aufzubauen, begleitet die Einrichtung ihre Teilnehmer auf betriebsintegrierten Plätzen des ersten Arbeitsmarkts und nach Möglichkeit in sozialversicherungspflichtige Anstellung − mit hoher Nachfrage und langer Warteliste. Sie hält nur wenig eigene Räume vor für Verwaltung und Schulung und sie bietet keinen BBB. „Wir sind ein Zwitter zwischen Werkstatt und Vermittlungsdienst“, sagt Birgit Kessler-Nolte, Fachliche Leitung der Werkstatt. Zugelassen war sie nicht als Werkstatt, sondern als „Sonstige Beschäftigungsstätte nach §56, SGB XII“. Wie in Hamburg muss nun ein neuer Status her. Das Land selbst hat großes Interesse daran, die Virtuelle Werkstatt als anderen Anbieter anzuerkennen: Diese andere Form der Werkstatt war „2004 politisch gewünscht und bis heute ist das so geblieben“. Die Virtuelle Werkstatt hat also vor einem Jahr einen Antrag auf Zulassung als anderer Leistungsanbieter im Arbeitsbereich gestellt und ihr Konzept an die WVO − „Unsere Arbeitsweise bleibt gleich“ − angepasst. Auch wenn die Kostensatzverhandlungen noch nicht abgeschlossen sind, ist Birgit Kessler-Nolte zuversichtlich, dass die Zulassung bis Jahresende doch über die Bühne gehen wird. „Insgesamt profitieren wir von der Nähe zur WVO. Denn bislang fährt die Virtuelle Werkstatt einen Betreuungsschlüssel von 1:16, die WVO sieht 1:12 vor.“ Keine Ertragsschwankungsrücklage Dass die schlichte Übertragung der WVO auf andere Anbieter ungeahnte Probleme macht, hat auch Anton Senner erfahren. Der Vorstandssprecher der Bergedorfer Impuls-Stiftung hat mehrere Träger auf ihrem Weg zum anderen Anbieter beraten und stieß auf ein rechtliches Problem: Werkstätten dürfen die Ertragsschwankungsrücklage bilden, damit die Entgelte der Beschäftigten jedes Jahr gleich bleiben, auch wenn der Gewinn der Werkstatt das nicht tut. Andere Anbieter sind keine anerkannten Werkstätten, deshalb gilt für sie das Handelsrecht. Das aber kennt eine solche Rücklagenbildung nicht. „Da widersprechen sich Handels- und Werkstattrecht. Die Kostenträger wissen auch nicht, wie sie das lösen können. Und so gilt erst mal die WVO.“ Erfüllt das Gesetz seinen Zweck? Festzuhalten bleibt, dass der Gesetzgeber seine gute Absicht, für Wahlfreiheit und Selbstbestimmung zu sorgen, selbst unterlaufen hat, als er den anderen Anbietern die engen Regeln der WVO ins Pflichtenheft schrieb. „Ich habe mit etlichen Trägern gesprochen, die ihre Anträge nach Studium des Fachkonzepts zurückgezogen haben“, bestätigt Anton Senner. Man kann über das Gesetz schimpfen, das ändert nichts daran, dass die Umsetzung von den Leistungsträgern durchaus restriktiv i

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i gehandhabt wird: Wenn sich dabei der §60 als Bumerang herausstellt, der bereits Erreichtes wieder zur Diskussion stellt, wenn er mit Ausführungsbestimmungen so eingeschränkt wird, dass die Umsetzung nur schwer möglich ist, wenn vor lauter Angst, Fakten zu schaffen, der Zulassungsprozess nur schleppend vorangeht, dann wird deutlich: Es ist zwar ein Bundesgesetz, das zu mehr Selbstbestimmung führen soll, das heißt aber nicht, dass der Nutzer, der Leistungsberechtigte, sie auch wirklich bekommt. Denn niemand sieht sich so recht als dessen Anwalt. Die Hoffnung, dass kleine Anbieter nun alternative, personenzentrierte Angebote stricken können, für Vielfalt sorgen und zunehmend Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt begleiten, versickert unter der bürokratischen Handhabung. Die Leistungsträger sollten großzügig mit ihrem Ermessenspielraum umgehen, die neuen Träger beraten und ihnen Möglichkeiten aufzeigen und so den Weg

Der Berliner sieht auch andere Punkte in der Umsetzung des §60 pragmatisch und legt nahe, für andere Anbieter den Handlungsspielraum, den die Werkstattempfehlungen der BAGüS bieten, zu nutzen: „Die sind der Gestaltungsrahmen. Diesen auszuschöpfen, ist eine Frage der Haltung.“ Die Entlohnung im Arbeitsbereich sei ein Punkt, an dem man unbedingt noch auf Bundesebene nachjustieren müsse. „Es ist doch nur gut, wenn sich ein Markt entwickelt. Die Angebotspalette der Berliner Werkstättenlandschaft ist bereits sehr vielfältig. Angebote anderer Leistungsanbieter können sie nur weiter bereichern, damit möglichst jeder Mensch mit Behinderung seinen Platz darin findet.“ Das BTHG zielt in die richtige Richtung, aber, es scheint, es fehlte der Mut zu einer echten Reform. Um die Teilhabe am Arbeitsleben zeitgemäß zu gestalten, sind weitere Schritte notwendig. Auch die Realität der Werkstätten ist eine andere und die WVO

„Den Gestaltungsrahmen auszuschöpfen, ist eine Frage der Haltung“ frei machen für ambulante Alternativen, die der Gesetzgeber im Sinn hatte. „Momentan“, sagt Jörg Bungart, „muss man fast befürchten, es ist eine Rückentwicklung. Man tut sich schwer, betriebliche Teilhabe zu akzeptieren. Jetzt haben wir einen gesetzlichen Fortschritt und bessere Grundlagen trotz relativ enger Anbindung an die WVO. Deswegen muss mehr möglich sein und nicht eher weniger. Der Gesetzgeber hat einen klaren Willen geäußert, daran muss sich auch die Praxis der Leistungsträger in der Bewilligung messen lassen.“ Es geht aber auch anders … In Berlin, erzählt Johannes Richter von

der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, liegen sieben schriftliche Anträge vor, darunter der des VIA Unternehmensverbunds und der eines Bildungsträgers, der mit persönlichem Budget arbeitet und das als anderer Anbieter weiterführen will. „Man muss das BTHG als Chance sehen, anstatt immer nur als Regulativ. Es geht um die Selbstbestimmung der Menschen und die gelingt nur, wenn ich ihnen die Gelegenheit dazu gebe und eine Angebotsvielfalt zulasse.“ Das Problem, dass kleine Träger das komplette Personal vorhalten müssten, sieht Richter gelassen: „Wie will ich denn einen 300stel Psychologen vorhalten? Wir schlagen Kooperationen vor, unter mehreren Leistungsanbietern, mit Werkstätten oder auch den Einkauf derartiger Leistungen bei Dritten.“

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auch ihnen längst zu eng: Die Werkstatt der 70er und 80er Jahre ist eben nicht Werkstatt 2018. Was also nottut, ist ein Relaunch der „alten Tante“ WVO, es muss eine her, die allen, Werkstätten wie anderen Anbietern, stationären wie betrieblichen Angeboten, gerecht wird: Denn Werkstatt ist kein Haus, sondern eine Teilhabeleistung, wie betriebliche Angebote auch. Flexibilisierung und Öffnung des Markts weisen den Weg: Die eigentliche Reform steht noch aus. Zur Erinnerung: Am 1. Oktober 2019 muss Deutschland erneut vor dem UN-Fachausschuss über den Stand der Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderung berichten. Bei der letzten Überprüfung 2015 wurden die berufliche Teilhabe und insbesondere die Werkstätten harsch kritisiert. Sieht es heute besser aus? Am Schluss noch eins: Kleine, ambulant arbeitende Träger haben es schwer, sich „ohne Werkstatt-Denke“ als andere Anbieter aufzustellen. Ein gutes Netzwerk hilft: In Niedersachsen hat jetzt die LAG Unterstützte Beschäftigung der Regionaldirektion (RD) ein Rahmenkonzept für andere Anbieter vorgelegt. „Wir sind mit der RD auf einem konstruktiven Weg und passen jetzt das Rahmenkonzept an. Danach können die Träger ihren individuellen Antrag auf dieser Grundlage bei der RD vorlegen“, sagt Uwe Rump-Kahl von der LAG UB Niedersachsen/Bremen. GG ❚

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„Wenn beide es wollen, findet man auch Lösungen“ Interview mit Kerstin Tack. Die ehemalige behindertenpolitischen Sprecherin der SPD war maßgeblich an der Gestaltung des BTHG beteiligt Frau Tack, seit knapp einem Jahr können andere Anbieter zugelassen werden. Doch das scheint ein zäher Prozess zu sein.

Ich finde es nachvollziehbar, dass die Umsetzung der anderen Anbieter dauert. Aber ich glaube, dass sie sich zunehmend entwickeln werden. In allen Ländern liegen Anträge zur Genehmigung vor. Wir haben damals, weil die Werkstätten große Sorge hatten, dass sie jetzt eine ernst zu nehmende Konkurrenz bekommen, einen Extra-Evaluierungsauftrag für die anderen Anbieter in unserem Entschließungsantrag formuliert. Wenn der Evaluationsbericht vorliegt, werden wir wissen, ob es Nachregulierungs- oder Weiterentwicklungsbedarf gibt. Die Leistungsträger sind zurückhaltend bei der Zulassung, sie fürchten höhere Kosten …

verhindern, man kann aber mit einer individuell formulierten Zusage auch vieles ermöglichen. Nun legt die WVO andere Anbieter, die oft ambulant in betrieblicher Teilhabe unterwegs sind, darauf fest, sich wie eine Werkstatt auszurichten …

Ja, aber die WVO lässt Handlungsspielräume zu. Sonst gäbe es keine Außenarbeitsplätze. Als anderer Anbieter muss man mit dem Leistungsträger verhandeln, genauso machen es die Werkstätten auch. Träger, die nach dem Konzept der Unterstützten Beschäftigung arbeiten, benötigen nicht einen Personalschlüssel von 1:12, wie die WVO festlegt, sondern eher 1:4. Wie passt das zur WVO?

Der Personalschlüssel der Werkstatt ist kein Zwangsschlüssel, sondern ein Rahmen für den Bereich Werkstatt. Niemand ist gehindert daran, einen anderen Personalschlüssel zuzulassen, man darf nur nicht darüber hinausgehen, aber darunter geht alles.

Egal, wo jemand arbeitet, in der Werkstatt oder bei einem anderen Anbieter: Das kostet immer Geld. Unsere Idee war, regional vor Ort zu schauen, welche Klientel es dort gibt, die den Weg in die Werkstatt nicht findet, aber trotzdem Eingliederungshilfe bezieht. Für sie wollen wir Angebote schaffen. Ich glaube, das geht schleppend voran, weil es darüber keine Erfahrungen gibt.

Das wird es auch, wenn die Werkstatt diese Leistung anbietet. Das ist eine Frage der Verhandlung mit dem Leistungsträger. Das Argument muss sein: Wie finden wir passgenaue Lösungen für die betroffenen Menschen?

Die WVO ist 38 Jahre alt, ist sie ein starrer, alter Rahmen?

Welche Nachsteuerungsmöglichkeiten sehen Sie?

Es gibt Gestaltungsspielräume. Uns war wichtig, dass wir die Rechte der Beschäftigten mit der WVO sichern: also Mitbestimmungsrechte und Personalstandards, damit ein qualifiziert vernünftiges Angebot entstehen kann. Ich bin mir sicher, dass Leistungsträger ihren Ermessensspielraum sehr kreativ auslegen. Da, wo man es möchte, findet man auch Lösungen. Deshalb kann man mit einer starren Festlegung auf die WVO vieles

Wir müssen sowohl das BTHG als auch Teile des BTHG weiterentwickeln, deshalb haben wir auch sehr viele Evaluationskriterien und sehr schnelle Evaluierungszeiträume formuliert. Mit dem BTHG nehmen wir einen Paradigmenwechsel vor und den müssen wir engmaschig begleiten. Auch die WVO wird sich weiterentwickeln, wenn die Evaluierungsergebnisse zeigen, dass es größere Hemmschwellen gibt. ❚

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Aber dann wird es teurer …

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/BILDUNG/BILDUNGSANGEBOT

Mit dem Blick KERSTIN DAMER … zurück in die Zukunft ➜ Thema: Biografiearbeit in der Werkstatt als Persönlichkeitsentwicklung ➜ Einrichtung: Osnabrücker Werkstätten der Heilpädagogischen Hilfe Osnabrück

„DAS BIN ICH im Kinderwagen 1952, erster Schultag war 1959 und Erstkommunion 1962.“ Wilfried Grammann steht leicht gebeugt über seiner Zeitleiste, einer Art Wandtapete, die auf einem Tisch ausliegt und auf der Stationen seines Lebens markiert und wichtige Momente festgehalten sind, alle mit Fotos versehen oder Piktogrammen wie dem Lorbeerkranz zu seinem zehnjährigen Werkstatt-Jubiläum 1978. „1969 bin ich vors Auto gelaufen, Unfall, Oberschenkelhalsbruch. Silberhochzeit der Eltern 1978“, folgt er seinem Zeigefinger. Die „Zeitleiste“, sein „Lebensbaum“ und sein „Körperumriss“ entstanden 2014 in einem Kurs zur Biografiearbeit, den die Osnabrücker Werkstätten der Heilpädagogischen Hilfe Osnabrück (HHO) im Rahmen eines von Aktion Mensch und der Förderstiftung HHO unterstützten dreijährigen Projekts (20132016) als Bildungsangebot durchführte. Im Kurs, sagt der heutige Rentner, habe er vieles über sich erfahren, habe sich auf Veränderungen vorbereiten können, wisse, was er wolle. Inzwischen läuft „Biografiearbeit mit dem Lebensbuch“ an allen fünf Werkstatt-Standorten jährlich als Kurs im Bildungsangebot. Warum Biografiearbeit? „In der Werkstatt haben wir gesehen“, erklärt Markus Rettig, Bereichsleiter der Begleitenden Dienste der Osnabrücker Werkstätten, „dass viele ältere Beschäftigte, die bei ihren Eltern leben, auf Tod, Trauer und anstehende Veränderungen meist nicht vorbereitet sind. Sie wissen nicht, was vielleicht auf sie zukommt, und geraten dann in Lebenskrisen.“ Genau da setzt das Projekt Biografiearbeit mit dem Lebensbuch (s. Kasten S.15) an. In dem siebenwöchigen Kurs erstellen die Teilnehmer ihr Lebensbuch, eine Art Kommunikationsbuch mit persönlichen Informationen: Dabei erobern sie sich ihre eigene Geschichte, das, was sie erlebt, aber oft vergessen haben. Sie erkennen, wie sie zu dem geworden sind, der sie heute sind, und werden sich eigener Stärken bewusst. Der Blick zurück führt in die Zukunft, denn er fördert zutage, was man als positiv oder negativ im eigenen Leben bewertet und deshalb künftig erhalten oder lieber vermeiden will. Das Osnabrücker Projekt richtete sich an über 40-jährige Beschäftigte mit kognitiven Einschränkungen, die bei über 65-jährigen Eltern lebten. „Biografiearbeit ist Persönlichkeitsbildung par excellence, und das ist eine unserer Hauptaufgaben in der Werkstatt“, sagt Kristof Guss vom Sozialdienst, der das Projekt mit Lisa Oermann und Claudia Meyer verantwortlich begleitete. i

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Annette Ehrenbrink neben ihrem Körperumriss: „Ich bin selbstbewusster geworden, weil ich mehr von mir weiß“

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i Im August 2013 startet das Lebensbuch-Projekt mit der Schulung von 16 Multiplikatoren, die später die Biografiearbeit an den fünf Werkstatt-Standorten anbieten. Im Frühjahr 2014 beginnen die Kurse, wichtigster Bestandteil: die Kontaktaufnahme zu den Angehörigen. „Wir haben die Familien gefragt, ob wir die Beschäftigten zu Hause in ihrem Wohnumfeld besuchen und die jeweils als wichtig empfundenen Orte fotografieren können. Damit hatten wir einen Türöffner, um den Angehörigen den Kurs zu erläutern und um ihre Mithilfe zu bitten.“ Denn Eltern können Lücken in der Erinnerung der Beschäftigten schließen, wichtige Lebensmomente und erfolgreiches Meistern schwieriger Situationen benennen und die Rückbesinnung mit Fotos fördern. Am Ende des Projekts entsteht ein Kurshandbuch, das detailliert jede Einheit, jede Methode beschreibt und Fragebögen, Bilder und Piktogramme liefert. In der dreijährigen Projektlaufzeit nehmen 137 Beschäftigte − auch mit hohem Hilfebedarf − an 24 Kursen teil. In der Regel arbeiten sechs bis acht Beschäftigte in einem Kurs zusammen, mit „vielen und lebhaften Gruppendiskussion“, schmunzelt Kristof Guss. Ein Kurs umfasst sieben Einheiten, vier Stunden an einem Vormittag pro Woche. „Inzwischen haben wir die Gruppen komplett geöffnet, heute sind sie gemischt, es kommen jüngere und ältere, bei den Eltern Lebende wie Bewohner von Wohnhäusern.“ Großes Thema: Wohnen „Hier, zweiter Unfall 2010, Schenkel-

halsfraktur“, sagt Wilfried Grammann und zeigt auf den nächsten Punkt in seiner Zeitleiste, „da bin ich mit meiner Mutter ins Parterre umgezogen, weil ich nicht mehr ins Dachgeschoss kommen konnte.“ Er hat aufgeschrieben, was er mag: Musik,

Wilfried Grammann mit seiner Zeitleiste: Er hat sich viel mit seiner Zukunft beschäftigt

Takkatina-Band, Ziehharmonika und Keyboard, Gedichte, Veränderung. Und was er nicht mag: „Das steht dann ziemlich weit unten: mit Tod und Trauer umgehen. Der Kurs war gleich nach dem Tod von meinem Bruder, der Kurs hat mich aufgeheitert. Das war eine gute Erfahrung. Es war wichtig, mich mit anderen auszutauschen.“ Im Kurs hat er viel über Zukunft nachgedacht, auch über den Umzug, wenn seine Mutter ins Pflegeheim kommen sollte. Als das zwei Jahre später passiert, ist er vorbereitet, hat sich ein Wohnhaus ausgesucht, in das er dann zieht. „Ich habe mir gewünscht, dass es ihr, wenn ich nicht mehr mit ihr zusammenwohne, gut geht. So ist es auch gekommen.“ Annette Ehrenbrink hat am selben Kurs wie Wilfried Grammann teilgenommen, hat an ihrer Zeitleiste gearbeitet und längst Vergessenes aus ihrer Schulzeit ins Gedächtnis zurückgeholt, auch, dass sie von älteren Schulkameraden massiv geärgert wurde: „was man eben so in der Schule macht“. Und sie hat sich der wiederkehrenden Erinnerung und den manchmal damit verbundenen negativen Gefühlen gestellt, das habe sie stärker gemacht. „Ich glaube, ich bin selbstbewusster geworden, weil ich mehr von mir weiß.“ Nachdenken über die eigene Zukunft Auch Ursula Klumpe ist

auf ihre Lebensgeschichte stolz, sie strahlt, als sie erzählt. Im Kurs hat auch sie sich mit dem Wohnen beschäftigt und vorbereitend entschieden, dass sie, wenn ihre Mutter ins Pflegeheim umzieht, in einem Wohnhaus leben will. Mit ihrer Familie hat sie sich eins in ihrer Nähe angeschaut und steht dort jetzt, inzwischen ist ihre Mutter im Pflegeheim, auf der Warteliste. In der Übergangszeit wohnt sie bei ihrem Bruder. Sie zeigt auf ihre Zeitleiste: „Hier beginnt die Zukunft, 2022 bin ich 45 Jahre i

i in der Werkstatt, 2025 bin ich in Rente. Im Wünschekoffer habe ich: Gesund bleiben, noch einmal nach Dresden und an die Nordsee fahren. Der Kurs hat Spaß gemacht. Ich habe viel über mich erfahren. Meinen Körperumriss habe ich in meinem Zimmer aufgehängt“, sagt sie. Und wie Annette Ehrenbrink und Wilfried Grammann schaut auch sie immer wieder in ihr Lebensbuch und ergänzt, wenn sich etwas in ihrem Leben verändert: „Ich habe ein Foto rausgenommen von einer Person, die ich nicht mehr mag“, bestätigt sie. Vorurteile infrage stellen Vorn im Lebensbuch hat Ursula Klumpe Briefe von Freunden und Kollegen abgeheftet, in denen sie beschreiben, was sie an ihr mögen. Es sind viele. Guss nickt: „Ich finde es beeindruckend, wenn Beschäftigte ihren Lebensbaum oder ihr Lebensbuch anschauen und realisieren, wie viele Menschen sie gern haben und sie umgeben. Es wird für sie klarer und präsenter. Und wir lernen dabei jeden Einzelnen von einer viel intensiveren Seite kennen.“ Das helfe gegen Vorurteile oder, weil man nur einzelne Ausschnitte kenne, falsche Schlüsse: „Wie schnell sagt man empört: ‚X lebt IMMER NOCH bei seinen Eltern!‘ Das wird aber weder dem Menschen noch der gewachsenen Beziehung, einem so fragilen und doch stabilen Konstrukt, gerecht. Man lernt die Beziehungen zu würdigen, wenn man die Geschichten dahinter erkennt und den Schritt in die Wohnungen machen darf. Man begibt sich in die Gastrolle und ist in einer anderen Position, als wenn man die Menschen als Hausherr in die Werkstatt einlädt.“ Biografiearbeit, das zeigt das Osnabrücker Projekt, ist für alle gut: Beschäftigte finden über ihre Spurensuche zu ihren Stärken, ihren Wünschen, nähern sich angstauslösenden Themen

Der Kursplan DIE OSNABRÜCKER BIOGRAFIEARBEIT nutzt drei Instrumente, die aus der Persönlichen Zukunftsplanung stammen: den Körperumriss, den Lebensbaum und die Zeitleiste. Den Körperumriss in Lebensgröße aufzumalen, zeigt dem Teilnehmer deutlich: Es geht um mich. Zuerst das Äußere, das Wohnen, dann das Innere, die eigenen Stärken. Beides wird auf dem Körperumriss in den ersten beiden Einheiten festgehalten. In der dritten Einheit beschäftigt sich der Kurs mit dem Lebensbaum, dem Netzwerk des Teilnehmers. Er benennt dort die Menschen, die ihm wichtig sind, Familie, Freunde, Arbeitskollegen. Der vierte Termin beginnt mit der Arbeit an der Zeitleiste, der Blick zurück richtet sich auf Fixpunkte im Leben wie die Schulzeit. Die fünfte Einheit bleibt bei der Zeitleiste, es geht um außergewöhnliche Ereignisse im Leben: Krankheit, besondere Urlaubsreisen, aber auch Partnerschaften. Der sechste Vormittag dreht sich um Zukunft, sie füllt den dritten Teil der Zeitleiste: Hier haben die eigenen Wünsche und das, was man nicht möchte, Platz. Alle Inhalte dieser biografischen Schürfarbeiten werden fortlaufend ins Lebensbuch eingetragen, in eins der fünf Kapitel: Über mich; Dinge, die ich tue; Dinge, die ich kann; Meine Gesundheit und Mein Notfallplan. So sind Körperumriss, Lebensbaum und Zeitleiste nicht isolierte Einzelteile, sondern werden in den Kapiteln des Lebensbuchs miteinander verschränkt. Den Kurs beendet die Präsentation vor selbst eingeladenem Publikum – Familie, Freunde, Arbeitskollegen – am siebten Vormittag. ❚

„Wir lernen jeden Einzelnen von einer viel intensiveren Seite kennen“ KRISTOF GUSS, SOZIALDIENST

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Ursula Klumpe vor ihrem Lebensbaum: Sie ist stolz darauf, wie viele Menschen um sie herum sind und sie mögen

wie Tod und Trauer, lernen, sich mit Veränderungen auseinanderzusetzen und zu eigenen Entscheidungen zu kommen: Die Arbeit mit der eigenen Biografie schafft Raum für Entwicklungen. „Auch die Gruppenleiter merken, dass sich ihre Beschäftigten mit den Kursen positiv verändern, und bekommen noch einmal einen anderen Zugang zu ihnen“, beschreibt Markus Rettig seine Erfahrung. „Die Arbeit mit dem Lebensbuch ist spannend und sie ist nachhaltig.“ Jonas Heinze ist 24, er hat sich zum nächsten Biografiekurs angemeldet: „In der Eingliederungsplanung haben wir davon gesprochen, also dass ich selbstständiger werde. Bei mir verändert sich bald etwas im Wohnen!“, sagt er. Im nächsten Jahr wird er vom Elternhaus ins ambulant betreute Wohnen umziehen, ein großer Schritt für den jungen Mann. Der Kurs ist für ihn sicherlich eine gute Vorbereitung für die bevorstehenden Veränderungen. Biografiearbeit hat Zukunft. GG ❚ KONTAKT Heilpädagogische Hilfe Osnabrück, Osnabrücker Werkstätten Industriestr. 17, 49082 Osnabrück Markus Rettig (Foto links) Bereichsleitung Begleitende Dienste Tel.: 0541 760284-30 m-rettig@os-hho.de Kristof Guss, Sozialdienst Tel.: 0541 9991-156 k.guss@os-hho.de www.os-hho.de B I L D U N G : H E I L PÄ DAG O G I S C H E H I L F E O S N A B R Ü C K

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/BILDUNG/PERSÖNLICHKEITSENTWICKLUNG

Raus aus der Opferrolle

ANNETT NIMZ und Sandra Schneider kommen mit Elan aus der Sporthalle. Aus all ihren Poren scheint Energie zu strömen. Sie lachen. Eben haben sie ein dickes Holzbrett in zwei Teile zerschlagen. Die eine mit der bloßen Faust, die andere mit einem energischen Fußtritt. Zack. Sandra Schneider lässt ihre Faust noch mal durch die Luft sausen. „Ich hätte niemals geglaubt, dass ich das schaffe.“ Auch Annett Nimz strotzt vor Selbstbewusstsein: „Wenn mich jetzt jemand belästigen würde, der könnte was erleben.“ Die erste Halbzeit ihres WenDo-Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungskurses war schon ein voller Erfolg, sagen beide, nach der Mittagspause geht es weiter. Ruth Sartor, Frauenbeauftragte von in.betrieb Mainz, hat den WenDo-Kurs, der sich speziell an Mädchen und Frauen richtet, für die Mitarbeiterinnen der beiden Werkstätten von in.betrieb organisiert. „Es ist wichtig, dass man weiß, welche Möglichkeiten man auch als Mensch mit Beeinträchtigung hat, um sich zu wehren.“ Sie spricht aus eigener

➜ Thema: WenDo-Kurs für WerkstattMitarbeiterinnen ➜ Einrichtung: in.Betrieb Gesellschaft für Teilhabe und Integration gGmbH ➜ Ort: Mainz

Erfahrung, hat selbst schon bedrohliche Situationen und Belästigungen erlebt und von dem WenDo-Kurs profitiert, den sie vor einigen Jahren extern besucht hat. Schreie, Körperhaltung, Blicke – notfalls weiß sie jetzt auch, wie sie ihren Rollstuhl als wirksame Waffe einsetzen kann. „Ich hab es auch geschafft, damit ein Brett zu zerschlagen.“ Die eigene Kraft zu spüren hilft gegen Angst, sagt sie, schafft Selbstbewusstsein und den Mut, selbstbestimmt Grenzen zu setzen und zu sagen, was man möchte und was nicht. Wie notwendig das ist, hört sie immer wieder von Mitarbeiterinnen, die sich an die Frauenbeauftragte wenden. Sie sprechen über Ängste, wenn sie alleine unterwegs sind, über alltägliche Belästigungen oder Beleidigungen, erzählen von sexuellen Übergriffen. Auch im Frauencafé, zu dem Ruth Sartor jeweils zweimal im Jahr in die Werkstätten in Mainz und Nieder-Olm einlädt, sind Gewalt, Belästigungen und Grenzüberschreitungen am Arbeitsplatz wiederkehrende Themen, erzählt sie, und die Nach-

frage nach Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungskursen ist groß. Vielfache Gewalterfahrungen „Frauen mit Beeinträchtigungen stehen häufig von klein auf in Abhängigkeitsverhältnissen und haben ein vielfach höheres Risiko, Opfer von Gewalt und sexuellen Übergriffen zu werden“, sagt Hildegard Teuber vom Sozialdienst der in.betrieb-Werkstatt in Mainz und verweist auf Studien des Bundesfamilienministeriums. „Für uns hat das Thema deshalb hohe Priorität.“ Die beiden Kursleiterinnen Conni Dinges und Anke Thomasky, die sich auf WenDoKurse für Frauen und Mädchen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen spezialisiert haben, bestätigen das von ihrer täglichen Arbeit. „Es ist nie der Fremde, der einem in einer dunklen Unterführung begegnet. Die Täter sind fast immer Bekannte oder Angehörige“, sagt Anke Thomasky. Auch an diesem Morgen bricht es schon nach der Vorstellungsrunde aus den zwölf Teilnehmerinnen heraus. Alle erzählen von teils heftigen Ge- i

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Der gesamte Kurs mit zerschlagenen Brettern, links Trainerin Conni Dinges

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BI LDUNG: I N.BETRI EB GESELLSCHAFT FÜR TEI LHABE UN D I NTEGRATION GGMBH

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Alexandra Karl: mit Wucht das Schlagpolster ausprobiert

i laufstelle in der Not präsentiert. Die breite Palette an Anlaufstellen für Frauen ist Ruth Sartor wichtig. Ob Werkstattrat, Frauenbeauftragte, Sozialdienst oder externe Beratungsstellen: „Jede Frau soll sich dorthin wenden können, wo sie sich gut aufgehoben fühlt.“ Ruth Sartor ist gut vernetzt und nutzt jede Gelegenheit für Informationen – im Werkstattrat, bei Vollversammlungen, dem Frauencafé. Offener Umgang „Das Thema sexuelle Be-

Stopp! „Das Thema sexuelle Belästung ist kein Einmalthema“ PETRA HAUSCHILD, BEREICHSLEITUNG i walterfahrungen. Im geschützten Kreis darf alles ans Tageslicht, denn alles Gesagte bleibt im Raum. Die Frauen reden über Ängste, Gefühle, Situationen, in denen sie sich unwohl fühlten. Die Ängste werden besprochen und die individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten einer jeden Teilnehmerin herausgestellt, sagen Thomasky und Dinges: „Wir setzen bei den Stärken der Frauen an, was eine jede in einer Notsituation tun kann.“ Schreie, Blicke, Gesten, Rollstuhl oder Gehhilfe – alles kann als Gefahrenabwehr oder Waffe dienen. Auf dem Boden inmitten des Stuhlkreises der Kursteilnehmerinnen liegen laminierte Piktogramme, die die Frauen an die vielfältigen Handlungsmöglichkeiten erinnern, die sie am Morgen besprochen und in Rollenspielen geübt haben: Giftblick; breitbeinig und mutig dastehen; laut schreien; mit der Hand das Stoppzeichen geben, das ein Näherkommen unterbindet; tief ausatmen, sich beruhigen und auf den „Mutpunkt“ auf der Brust klopfen; Hilfe holen oder die eigene Hilfe anbieten und sich solidarisieren. Die Kursteilnehmerin Sandra Emmert spreizt Daumen und Hand zum „L“ und zeigt, wie sie einen imaginären Angreifer mit diesem Griff am Hals zurückdrängen kann. „Wir haben viel gelernt, ich fühle mich befreiter.“ Auch Ale-

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xandra Karl hält den Kurs für wichtig und sinnvoll: „Es gibt viele Frauen, die sich nicht trauen, über Belästigungen oder Probleme zu reden. Wenn so etwas öfter angeboten wird, ändert sich das.“ Sie nimmt „einiges“ für sich mit, sagt sie, fühlt sich gestärkt und weiß, dass sie sich jederzeit vertraulich an die Frauenbeauftragte, den Werkstattrat oder den Sozialdienst wenden könnte. Netzwerk von Anlaufstellen Den WenDo-

Kurs geben Dinges und Thomasky nun schon im zweiten Jahr bei in.betrieb. Nach den guten Erfahrungen will die Frauenbeauftragte Ruth Sartor den Kurs einmal im Jahr als festes Bildungsangebot für Mitarbeiterinnen etablieren, sofern sich Kooperationspartner finden, um die etwa 940 Euro für zwölf Plätze zu finanzieren, sagt sie. Seit 2015 ist die Mitarbeiterin am Empfang der in.betrieb-Werkstatt in Mainz Frauenbeauftragte für die rund 240 weiblichen Beschäftigten. Nachdem sie Ende vorigen Jahres ins Amt gewählt wurde, hat sie ganz offiziell die Aufgabe der Gewaltprävention übernommen. Sie kann auf ein gutes Netzwerk zurückgreifen, denn bei in.betrieb stehen die Themen sexuelle Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz lange schon im Fokus, sagt Hildegard Teuber, die als Vertrauensper-

BI LDUNG: I N.BETRI EB GESELLSCHAFT FÜR TEI LHABE UN D I NTEGRATION GGMBH

son Ruth Sartor in ihren Aufgaben unterstützt. So wurde vor Jahren das PeerCoaching-Projekt aufgelegt, bei dem Werkstattbeschäftigte geschult werden, um ihren Kolleginnen und Kollegen als Ansprechpersonen zur Verfügung zu stehen, wenn es zu sexuellen Belästigungen oder Grenzüberschreitungen am Arbeitsplatz kommt. Ebenso werden Gruppenleiter und Fachpersonal geschult und für die Thematik sensibilisiert. Nur wenige Meter von der Werkstatt in Mainz entfernt, können sich Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen, Angehörige und Fachkräfte in allen Fragen rund um Liebe, Sexualität, Partnerschaft, Missbrauch und Gewalt zusätzlich an die externe Beratungsstelle Liebelle wenden. Als Pilotprojekt wurde sie von in.betrieb, pro familia Mainz und der Professorin Svenja Heck gegründet, die unter anderem Sexualität, Partnerschaft und geistige Behinderung als Forschungsgebiet bearbeitet und das Beratungsangebot wissenschaftlich begleitet. Nicht zuletzt kann Ruth Sartor Hilfe suchende Frauen an den Frauennotruf Mainz verweisen, der mit in.betrieb eng zusammenarbeitet, den WenDo-Kurs in diesem Jahr als Sponsor mitfinanziert und sich am Nachmittag den Teilnehmerinnen als vertrauliche An- i KLARER KURS 04/18

lästigung und Gewalt ist kein Einmalthema, wir wollen es aktuell halten und möglichst niedrigschwellig auf verschiedenen Ebenen anstoßen.“ Für Petra Hauschild, Bereichsleiterin Arbeit und Sozialdienst bei in.betrieb, ist das die beste Gewaltprävention: „Je offener man damit umgeht und darüber spricht, desto größer ist die Chance, dass Betroffene sich trauen, über Vorfälle zu reden und Hilfe zu holen.“ Der WenDo-Kurs hat denn auch für Ruth Sartor und Hildegard Teuber den wichtigen Nebenaspekt, das Thema sexuelle Belästigung und Gewalt einmal mehr betriebsweit in den Fokus zu rücken. „Es können ja immer nur zwölf Frauen teilnehmen, aber allein der Umstand, dass der Kurs angeboten wird, hat dazu geführt, dass wieder über das Thema gesprochen wird“, sagt Teuber. Durchaus

mit der Folge, dass Frauen dadurch eher den Mut aufbringen, über erlebte Übergriffe zu reden. „In der Vergangenheit haben wir diese Erfahrung immer gemacht.“ Auch männliche Mitarbeiter haben sich lautstark in die Diskussion eingeschaltet, fordern nun ebenfalls Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungskurse und auch einen Männerbeauftragten für sich. Petra Hauschild findet diese Auseinandersetzungen wichtig: „Die Beschäftigten sollen für sich ein Gespür dafür entwickeln, was sie persönlich als Grenzverletzungen empfinden, was für sie in Ordnung ist und was nicht.“ Werkstattweit gehe es bei der ständigen Beschäftigung mit der Thematik

Stopp! KONTAKT in.betrieb gGmbH Gesellschaft für Teilhabe und Integration Carl-Zeiss-Straße 2, 55129 Mainz-Hechtsheim www.inbetrieb-mainz.de Ruth Sartor, Frauenbeauftragte Hildegard Teuber, Sozialdienst Tel.: 06131 5802-256 hildegard.teuber@inbetrieb-mainz.de Petra Hauschild, Bereichsleitung Tel.: 06131 5802-168 Petra.hauschild@inbetrieb-mainz.de

aber auch um die grundsätzliche Haltung: „Wie gehen wir miteinander um? Wie nehmen wir die Grenzen anderer wahr und respektieren sie?“ Fragen, die nach der Mittagspause auch im WenDo-Kurs im Mittelpunkt stehen. Beim Rollenspiel fasst eine Frau die andere an, legt ihr die Hand aufs Knie, spricht sie anzüglich an oder tritt nahe an sie heran – und die andere muss reagieren. Wo ist die Grenze? Was lasse ich nicht zu und wie zeige ich dies meinem Gegenüber? Reihum geht die Übung und gemeinsam besprechen die Frauen, was überzeugend rüberkam: der direkte Blick in die Augen des Gegenübers, Befehlston und feste Stimme, sich aufrichten, Dritte persönlich ansprechen und um Unterstützung bitten ... Die Teilnehmerinnen haben sichtlich Spaß, die Regie zu übernehmen, ihre Energie zu spüren und sich stark zu erleben. Sie besprechen, was überzeugt und gut funktioniert, erzählen von erlebten Situationen, die sie gut gemeistert haben. Anke Thomasky und Conni Dinges bestärken sie: „Männer, die angreifen, sind nicht stark. Sie glauben, leichte Opfer vor sich zu haben. Wenn man sich wehrt, sind sie überrascht.“ Die Antwort darauf haben die Teilnehmerinnen schon parat: „Wir geben Männern, die uns angreifen, keine Macht.“ AS ❚

Kursteilnehmerinnen im Interview

Brett mit der Faust zerteilt: Sandra Schneider

Kurs organisiert: Frauenbeauftragte Ruth Sartor

Hildegard Teuber, Vertrauensperson

Trainerinnen: Conni Dinges (l.), Anke Thomasky

Petra Hauschild, Bereichsleiterin

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/ARBEIT/SYSTEMGESCHÄFT Riesiges Lager mit über 3 000 Palettenstellplätzen

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Problemlöserin für Kunden ➜ Thema: Werkstatt als Systemlieferantin ➜ Einrichtung: Iserlohner Werkstätten ➜ Ort: Sauerland „DIESER S-HAKEN steckt in vielen Badewannen- oder Duscharmaturen eines führenden Armaturenherstellers, man braucht ihn millionenfach, überall auf der Welt. Wir montieren für diesen Kunden und verschicken die Teile jede Woche containerweise zum Beispiel in ein asiatisches Werk.“ Thorsten Nölle, Bereichsleiter Fertigungssteuerung und -planung bei den Iserlohner Werkstätten, legt den Haken weg und nimmt zwei Plastikrollen in die Hand. „Die beiden Rollen gehören zu einem Laufwagen eines Weltmarktführers im Bereich Krantechnik, der Teil eines Deckentransportsystems ist. Die bauen wir hier zusammen.“ Was zunächst einmal nicht so unüblich ist im Bereich Verpackung und Montage einer Werkstatt für

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ARBEIT: ISERLOH N ER WERKSTÄTTEN

Menschen mit Behinderung. Dann aber, ein paar Meter weiter, erschließt sich dem Besucher die Besonderheit dieser Werkstatt auf einen Schlag: Er blickt in ein riesiges Lager mit über 3 000 PalettenStellplätzen an nur einem Standort, Warenwert des dort lagernden Materials: mehrere Millionen Euro, gekauft und vorfinanziert von der Werkstatt: Die übernimmt den weltweiten Einkauf relevanter Komponenten inklusive kaufmännischer Abwicklung, die Montage der Produkte einschließlich der Qualitätskontrolle und den Versand mit Lieferung just-in-time, rund um den Globus. Die Komplettrechnung zahlt der Kunde. Die Iserlohner Werkstätten sind Systemlieferant. Der Schritt in dieses Geschäft war eine Grundsatzentscheidung, denn was dann kam, krempelte die Werkstatt völlig um. Wie Kundenbindung geht Die Erfahrung, dass Kunden Montageauf-

träge abziehen, weil sie anderswo preiswerter herstellen können, machen auch Werkstätten, die in der Lohnfertigung unterwegs sind. i KLARER KURS 04/18

i Gerade in Krisenzeiten (wie 2008/2009) können Firmen ihrer Belegschaft gegenüber kaum rechtfertigen, Produkte in einer Werkstatt montieren zu lassen, während ihre Mitarbeiter in Kurzarbeit gehen. Bereits die Orientierung vieler Unternehmen nach der Wende Richtung Osten veranlasste die Iserlohner, nach Antworten auf die entscheidende Frage zu suchen: Wie können wir dauerhaft Kunden binden? Ihr Schluss: Wenn das Material für die Aufträge der Werkstatt gehört, kann es nur schwer zurückgeholt und der Auftrag abgezogen werden. Die Werkstatt kauft das Material für die Montage selbst, legt es sich ins Regal, montiert auf Abruf und verschickt die Produkte in alle Welt. Die Komplettlösung erhöht die Kundenbindung und sichert gleichzeitig die Auslastung. Klingt zunächst einfach, ist aber durchaus kompliziert, erfordert reichlich Know-how (oder die Bereitschaft, es zu organisieren) und Mut, schafft abwechslungsreiche Arbeit, relativ hohe Entgelte für die Beschäftigten, sichert die Zukunft. KLARER KURS 04/18

Wichtige Entscheidung Der erste Systemkunde, den die Iserlohner 2003 gewinnen, ist ein Hersteller im Bereich Krantechnik. Für ihn schrauben sie bereits im Lohngeschäft, und als er im Zuge einer Übernahme alles outsourcen will, was nicht Kerngeschäft ist, schlägt ihm die Werkstatt das Systemgeschäft statt Produktverlagerung in Billiglohnländer vor. Sie werden einig, die Werkstatt übernimmt sogar einen Mitarbeiter der Firma, der das Lagerpersonal schult. Wichtige Voraussetzung: die Vorfinanzierung des Materials. „Weil wir ein rechtlich selbstständiges Unternehmen sind, konnten wir das damals schnell selbst entscheiden. Sonst wären wir sicherlich heute nicht da, wo wir sind! Zudem kann das Kapitalrisiko über eine Kreditversicherung abgesichert werden“, meint Martin Ossenberg, Geschäftsführer der Iserlohner Werkstätten. Der Vorteil für ein Unternehmen, einen Systemlieferanten einzubinden, liegt auf der Hand: Weil der Systemlieferant den Materialeinkauf übernimmt und vorfinanziert, entlastet das die Kapi- i ARBEIT: ISERLOH N ER WERKSTÄTTEN

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Produkte, die im Systemgeschäft montiert werden: Ulrike Söhns mit Türschloss und Zylinder

Räder und Achsen werden vor der Montage maschinell gefertigt: Angelika Waskowicz mit einer Laufschiene ...

Solche Sequenzen stückeln wir, und jeder Beschäftigte macht einen Teilschritt“, erzählt Jörg Seiler, Abteilungsleiter Industrieservice. Das Systemgeschäft bringt nicht nur eine wachsende Vielfalt an Tätigkeiten ins Haus, sondern eröffnet auch die Chance, Produktionsabläufe bei Aufträgen, die die Werkstatt über viele Jahre und mit vielen Serienänderungen begleitet, weiterzuentwickeln und Maschinen zur Unterstützung so einzusetzen, dass auch Mitarbeiter mit spezifischen Behinderungen in der Montagereihe arbeiten können. Die Folge: Die Werkstatt bietet Arbeit auf vielen verschiedenen technischen Niveaus und eine Vielzahl von Qualifizierungsmöglichkeiten. Dazu gehören u.a. der Umgang mit einem Taumelautomaten, hydraulische Pressen oder Schrauben mit Drehmomentvorgaben. Jörg Seiler: „Die Beschäftigen bedienen viele Maschinen selbstständig, kommissionieren auch allein mit dem Auftrag und der Zeichnung in der Hand oder übernehmen Prüfungen nach VDE-Vorgaben. Wir haben viele kleine Teams, in denen sehr selbstständig Arbeitende und solche, die nicht so erfahren oder motorisch sehr eingeschränkt sind, zusammenarbeiten.“ Das Ziel: so viel Normalität wie möglich.

... und Kordula Höll mit einer anderen Laufschiene für ein Kranfahrwerk

Entwicklungsarbeit Je länger die Kundenbeziehung, desto intensiver

arbeiten Werkstatt und Kunde zusammen und umso mehr Gehirnschmalz fließt in die Umsetzung eines neuen Produkts: „In der Regel besprechen wir die Montage mit dem Kunden, aber manchmal gibt es dann doch noch ein Problem. Das zu beheben, ist unsere Aufgabe“, meint Jörg Seiler. Das Selbstverständnis: Problemlöser des Kunden zu sein. Solcherlei Entwicklungsarbeit wird bereits bei der Basiskalkulation berücksichtigt, notfalls wird mit dem Kunden nachverhandelt. Ist die Montage weiterentwickelt, der Lieferant in Fernost auf die Qualität gebrieft und springt dann der Kunde ab, „ist das natürlich ärgerlich. Das ist einmal passiert, daraus haben wir gelernt. Wir sichern uns deshalb ganz partnerschaftlich ab: Wenn wir so intensiv dabei sind, muss das Produkt für eine Mindestlaufzeit bei uns bleii ben“, meint Nölle.

„Unsere Qualifizierungsgruppe im Büroservice ist Sprungbrett in i talbindung des Unternehmens, entlastet auch seine Disponenten und die Materialeinkäufer, die manchmal mit Tausenden von Lieferanten zusammenarbeiten. So lassen sich interne Prozesse verschlanken und Produkte, die nicht zum Kernbereich gehören, ausgliedern. Im Lauf der Jahre übernehmen die Iserlohner von ihrem ersten System-Kunden immer mehr Baugruppen und stimmen sich auch in der Qualitätskontrolle eng mit ihm ab. Und mit jedem Materialeinkauf wandert Know-how vom Kunden zur Werkstatt. 2005 steigt ein weiterer langjähriger Kunde der Sanitärindustrie ins Systemgeschäft ein, weitere folgen. Heute sind sie Systemlieferant für acht große Unternehmen in regionaler Nachbarschaft. Die Regiezentrale Unabdingbar im Systemgeschäft und sicherlich

nicht das, was eine Werkstatt normalerweise vorhalten muss: ein interdisziplinäres Auftragsabwicklungszentrum mit Einkauf, Kalkulation, Controlling, Logistik, Versand und Rechnungsstellung. „In Abstimmung mit dem Kunden werden auch die Prüfumfänge und die Kriterien der Wareneingangsprüfung festgelegt und bei Abweichungen Reklamationen abgewickelt“, meint Thorsten Nölle. Neun Mitarbeiter, Arbeitsvorbereiter für die Lohnfertigung, Einkäufer und

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ARBEIT: ISERLOH N ER WERKSTÄTTEN

Disponenten fürs Systemgeschäft, plus drei Auszubildende gehören zur Abteilung. Eine wichtige Rolle hat das Controlling: „Das überwacht ständig den Materialeinkauf, damit das Material nicht zu billig an den Kunden verkauft wird. Denn wenn der Materialpreis gestiegen ist, aber beim Kunden nicht nachgezogen wurde, kommen schnell Riesensummen zusammen.“ Im Systemgeschäft ist die Werkstatt ein normaler wirtschaftlicher Partner. Preiskalkulation Der Kunde hat Einblick in die Kalkulation der Werk-

statt, kennt die Preise, zu denen das Material eingekauft wird. Für die Dienstleistung berechnet der Einkauf neben der Werkstattarbeit Dispositions- und tarifliches Lagerpersonal, Stellplätze im Lager, dazu Depotdifferenzen und Instandhaltungsrücklagen. Auch eine Transport- und eine Warenkreditversicherung kalkuliert er ein. Die ist unabdingbar, denn sollte ein Kunde Konkurs anmelden, muss das Risiko, auf einem Materialbestand von 1 oder 2 Millionen Euro sitzen zu bleiben, abgefedert sein. Trotzdem, sagt der Bereichsleiter, rechnet es sich für den Kunden, „wir sind günstiger als seine internen Prozesse. Und das liegt nicht daran, dass wir Diakonie- und nicht Metall-Tarif haben.“ Um Abhängigkeiten von einem Auftraggeber zu i KLARER KURS 04/18

Außenarbeit und Ausbildung“

GABRIELE TOLKSDORF, LEITERIN DER UNTERNEHMENSENTWICKLUNG

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i vermeiden, darf ein Kunde maximal 20 Prozent des Lohnumsatzes ausmachen. Die Werkstatt kann mit dem Systemgeschäft einen Großteil ihrer Produktion selbst steuern, ein unbestreitbarer Vorteil: Verschiedene Kunden übermitteln Forecast-Zahlen und geben so Planungssicherheit. Hat der Kunde an bestimmten Produkten gerade keinen Bedarf, weiß die Werkstatt über diese Prognose, wie viel er aber später im Jahr davon benötigt. Sie kann dann selbst die Produktion einsteuern, die montierten Teile in ein Fertiglager legen und den Kunden beliefern, wenn er das Produkt braucht. „So lasten wir die Produktion gut aus und können perfekt terminieren“, erläutert Thorsten Nölle. Die Montage Die Iserlohner Werkstätten montieren und verpacken an fünf Standorten, an drei läuft das Systemgeschäft, an den anderen beiden vor allem die Lohnfertigung. Von den 1 400 Mitarbeitern – 1 150 Beschäftigte und 250 tarifliche Mitarbeiter – sind rund 600 ins Systemgeschäft eingebunden. Manche Montagen sind einfach zu handhaben, andere kompliziert. „Die Laufräder und Achsen für die Kranfahrwerke beispielsweise müssen vorher maschinell gefertigt werden, das ist ein sehr komplexer Auftrag mit bestimmt 30 Teilen. KLARER KURS 04/18

Liebt die Abwechslung: Ralf Gebauer bei der Montage eines Schlosszylinders ARBEIT: ISERLOH N ER WERKSTÄTTEN

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Montiert Türschlösser: Ramona Knoch

i … oder Außenarbeitsgruppen Vor 15 Jahren, als sich das Lager mit Waren der Systemkunden zu füllen begann und immer mehr Regalfläche beanspruchte, stand die Werkstatt vor der Frage: Und was machen wir mit der Beistellware? Die Lösung war denkbar einfach, die Werkstatt fragte bei ihren Kunden an, ob sie nicht auch bei ihnen montieren könne. „Die Sattelschlepper fuhren mehrmals in der Woche auf unseren Hof, entluden Material und holten die fertigen Produkte wieder ab. Das hat den Kunden geblockt, das hat uns geblockt“, sagt Martin Ossenberg. „So entstand unsere erste Außenarbeitsgruppe bei einer Handelsgesellschaft für Baumarktartikel.“

Bei der Laufschienen-Montage: Peter Kuhlmann (l.) und Peter Gierschmann

„Wir sind günstiger als die internen Prozesse beim Kunden“ THORSTEN NÖLLE, BEREICHSLEITER i Abwechslungsreiche Arbeiten Dirk Werner ist Werkstattrat, von Haus aus elektrotechnischer Diplomingenieur und schätzt abwechslungsreiche Tätigkeiten: „Ich habe schon viele verschiedene Arbeiten gemacht, Schlösser bestiftet, an der Kettenmaschine gearbeitet, in der Zentrale. Gerade mache ich Chrom-Oberflächen-Prüfungen. Das ist nicht anstrengend, aber man hat eine hohe Verantwortung. Die Arbeiten sind, wegen meiner Ausbildung, für mich nicht kompliziert, dennoch brauche ich manchmal eine einfache Schraubtätigkeit, um meinen Kopf frei zu bekommen. Wechseln geht hier problemlos.“ Nebenan, einen Raum weiter, sitzt Ralf Gebauer an einem Tisch, auf dem kleine Touchscreens stehen, vor sich Schachteln mit Stiften, um ihn herum: emsiges Schweigen. „Ich codiere Schloss-Zylinder“, erklärt er. „Jeder Schlüssel hat eine Nummer, die gebe ich in den PC ein und der zeigt mir die Stiftnummer, die ich in die Zylinder reinsetzen muss. Wenn ich das gemacht habe, ist der Zylinder codiert, nur dieser Schlüssel passt.“ Auch er mag die abwechslungsreiche Arbeit. „Ich möchte gern ein Praktikum im Lager oder an der Bohrmaschine machen. Ist doch wichtig, dass man eine Aufgabe hat und sich Ziele setzt.“ Lohngeschichten Fürs florierende Systemgeschäft gilt: Je komplexer

die Tätigkeit, desto besser zahlt der Kunde. Das wirkt sich auf das Entgelt der Mitarbeiter aus. Das liegt im Schnitt bei 253 Euro, eingerechnet der Entgelte für die Beschäftigten mit hohem Unterstützungsbedarf, die in Nordrhein-Westfalen nicht in Tagesstätten betreut werden, sondern in der Werkstatt mitarbeiten. Und dass auch das Votum aller Mitarbeiter in Kundenfragen relevant ist, zeigte kürzlich eine gemeinsame Bewertung der Kunden samt

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ARBEIT: ISERLOH N ER WERKSTÄTTEN

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anschließender Diskussion, ob man sich nicht von Kunden trennen müsse, wenn die Arbeit nicht stimme oder nicht lukrativ sei. Folge: Von einem Kunden trennte man sich, bei einem anderen verhandelte man höhere Preise. Thorsten Nölle: „Wir sollen gut wirtschaften, aber deshalb nehmen wir trotzdem keine hochdotierten Aufträge an, die jeden, der sie ausführen soll, langweilen.“ „Inklusion andersrum“ Das Systemgeschäft gibt der Werkstatt ein

neues Gesicht. Nicht nur, dass sie viele tarifliche Mitarbeiter beschäftigt, sie bildet inzwischen auch 24 Azubis aus, darunter drei Industriekaufleute und fünf in der Lagerlogistik. Auch ein ehemaliger Beschäftigter hat den Sprung auf einen Ausbildungsplatz im Lager geschafft. Vor sechs Jahren stand die Werkstatt vor der Frage, entweder einen weiteren Sachbearbeiter für den Einkauf einzustellen oder eine sechsköpfige Qualifizierungsgruppe in Kooperation mit ihrem Büro-Service aufzubauen. Sie entschied sich für die Gruppe, die längst nicht nur die Zentrale managt und für den Einkauf hochwertige Zuarbeit leistet, sondern zum Sprungbrett für den Wechsel in Außenarbeit und Ausbildung geworden ist. Für den Einkauf, ihre wichtigste Arbeit, bereitet sie die Aufträge vor, bearbeitet Rechnungen, prüft und gibt ins System ein. „Die Sachbearbeiter verlassen sich darauf, und das funktioniert“, meint Gabriele Tolksdorf, die Leiterin der Unternehmensentwicklung. „Als wir mit dem Systemgeschäft anfingen, brauchte niemand Englischkenntnisse, heute geht’s nicht mehr ohne. Alle, die vorn in der Zentrale arbeiten, haben Englisch lernen müssen, weil auch ausländische Lieferanten anrufen.“ i KLARER KURS 04/18

Schöne Aussichten Unter dem Slogan „Inklusion andersherum“ hat die Werkstatt jetzt mitten in Iserlohn einen Gebäudekomplex gekauft, den sie zur Hälfte selbst bewirtschaften und zur anderen Hälfte an Iserlohner Unternehmen und Gewerbetreibende vermieten wird. In der neuen Zentrale wird, und das zeigt den Innovationsgeist der Iserlohner Werkstätten, ein weiterer Entwicklungsbereich entstehen: Weil sich Fachkräfte und Abteilungsleiter neben ihren alltäglichen Arbeitsaufgaben kaum noch um die Entwicklung hochkomplexer Arbeitsabläufe kümmern können, soll sich künftig die neue Arbeitsgruppe dieser Aufgaben annehmen: „Dort sollen Menschen mit und ohne Behinderung, Werkzeugbauer, Praktiker und Experten die Vorbereitung neuer komplexer Arbeitsabläufe für die Montagen unterstützen“, meint Tolksdorf. Außerdem sollen hier die modularen Qualifizierungsprogramme entstehen für die Schulung der Beschäftigten. Die neue Zentrale, das Karree 38, soll 2020 bezugsfertig sein. Die Entscheidung der Iserlohner, die Werkstatt als Systemlieferantin aufzustellen, war mutig. Das Risiko zu tragen, war es wert: Das Systemgeschäft sichert Erträge und langfristige Kundenbeziehungen. Es verlangt: hohe Flexibilität, komplexe Lagerlogistik, feingetunte Prozesse und gute Kommunikationsstrukturen. Die Umstellung hat interne Entwicklungen angestoßen, die die Werkstatt nachhaltig verändert haben. Tarifliche Mitarbeiter und junge Auszubildende arbeiten mit Beschäftigten zusammen und prägen ihren Arbeitsalltag „inklusiv andersrum“. Beschäftigten bietet sie vielfältige Qualifizierungsmöglichkeiten, anspruchsvolle Tätigkeiten, hohe Entgelte und nicht zuletzt hat sie mit der Neuausrichtung Wege für den Übergang in Außenarbeit und Ausbildung geebnet. In der Region, mit Wirtschaft und Verwaltung gut vernetzt, gilt sie als Problemlöserin. Das meint: Sie ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort. GG ❚

KONTAKT Iserlohner Werkstätten,Giesestr. 35, 58636 Iserlohn, www.iswe.de Martin Ossenberg, Geschäftsführer, Tel.: 02371 9766-145, martin.ossenberg@iswe.de Thorsten Nölle, Bereichsleiter Fertigungssteuerung und -planung Tel.: 02371 9766-176, thorsten.noelle@iswe.de Gabriele Tolksdorf, Bereichsleiterin Unternehmensentwicklung Tel.: 02371 9766-140, gabriele.tolksdorf@iswe.de

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/PORTRÄT/

Dirk Werner: „Ich will am Leben teilhaben“ URSPRÜNGLICH WOLLTE ICH in meinen alten Beruf zurück, ich bin elektrotechnischer Diplomingenieur. Ich habe mich ganz schön unter Druck gesetzt, das war eine hohe psychische Belastung. Darüber bin ich weiter erkrankt und hab den Sprung nicht geschafft. Es hat mich getroffen, als die Ärztin sagte, erster Arbeitsmarkt sei nichts für mich. Ich hatte ein anderes Bild von der Werkstatt damals, also bin ich hierhergekommen mit der Vorstellung: Zwei Jahre bleibe ich hier und dann versuch ich es wieder draußen. Heute weiß ich: Ich brauche Stabilität, und jetzt ist es gut für mich so. Sicher habe ich Angst, dass die Krankheit zurückkommt, aber ich schaue, wie es sich entwickelt, Schritt für Schritt. Anders geht es nicht. Ich bin 47 und habe vorher beruflich schon viel erreicht. Meine Perspektive ist sicherlich eine andere, als wenn Sie einen 20-Jährigen fragen. Ich kenne einen 30-Jährigen, der hat in der Werkstatt gearbeitet und nun versucht er eine Berufsausbildung mit Unterstützung. Gesellschaft draußen ist auch Druck, den habe ich hier nicht, sondern ein Stück Lebensinhalt, das ist mir wichtig. Privat mache ich Liverollenspiele, dabei gehe ich in andere Welten, am liebsten ins Mittelalter. Da bekommt man andere Sichtweisen auf die Dinge. Ich finde wichtig, dass man in dem, was man macht, eine Zufriedenheit findet und daran weiterarbeitet: Wo kann ich noch etwas ändern und wo kann ich das nicht, weil es mir zu viel ist, und wie kann ich mich damit dann arrangieren. Ich will einfach am Leben teilhaben. ❚ ARBEIT: PORTRÄT

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/ENTWICKLUNG/RESOZIALISIERUNG

Zurück aus dem Maßregelvollzug ➜ Thema: Wie Werkstätten psychisch kranken Straftätern den Weg zur Resozialisation ermöglichen ➜ Einrichtung: frankfurter werkgemeinschaft e.V., alsterarbeit gGmbH ➜ Ort: Frankfurt am Main, Hamburg

„ ... haben gelernt, mit ihrer Erkran-

DIE ÖFFENTLICHKEIT schaut meist nur auf spektakuläre Verbrechen: Schwere Körperverletzung, Totschlag, Sexualverbrechen – begangen im Zustand einer schweren psychischen Erkrankung. Wie 2015, als sich ein Germanwings-Copilot im Cockpit einschloss und die Maschine mit 150 Menschen an Bord bewusst in ein Bergmassiv der französischen Alpen stürzen ließ. Etwa 8 000 Menschen werden nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie aktuell nach Paragraf 63 Strafgesetzbuch im psychiatrischen Maßregelvollzug behandelt, weil sie wegen ihrer psychischen Erkrankung im Zustand der Schuldunfähigkeit eine erhebliche Straftat begangen haben. Lebenslänglich in der forensischen Psychiatrie? Dass bei einer erfolgreichen Resozialisierung nach meist mehrjähriger Behandlung und Therapie die Beschäftigung in Werkstätten, betreute Wohnangebote oder Tagesstätten für viele psychisch kranke Straftäter eine wichtige Rolle spielen, ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Viele Werkstätten scheuen sich auch, mit diesem sensiblen Thema in Erscheinung zu treten. KLARER KURS ist bei der alsterarbeit gGmbH und der frankfurter werkgemeinschaft auf Offenheit gestoßen. Für Angelika Eger, Sozialdienst der frankfurter werkgemeinschaft in der Werkstatt im Cassellapark, gehört es seit vielen Jahren zur Routine, dass sich die Vitos Kliniken für forensische Psychiatrie im hessischen Haina oder Gießen melden und einen Arbeitsplatz für einen forensischen Patienten suchen. „Mal sind es drei oder vier im Jahr, dann wieder kommen zwei, drei Jahre gar keine Anfragen.“ Berührungsängste hat sie nicht – auch wenn Vita, Krankheitsverlauf und Delikt auf den ersten Blick „sehr erschrecken können“, wie sie sagt. „Man muss sich immer vor Augen halten, dass die Straftaten im Zeichen einer nicht behandelten psychischen Erkrankung begangen wurden.“

kung umzugehen, ihre Taten reflektiert, Krisen und Traumata bearbeitet“ ANGELIKA EGER, SOZIALDIENST

Gläserne Beschäftigte Entscheidet sich der Interessent

nach einem ersten Besuch, in der Werkstatt anzufangen, bekommt Angelika Eger vor der Aufnahme alle Unterlagen über den Beschäftigten in spe. Delikt, Behandlungsverlauf, Sozialentwicklung – jedes Detail wird der Werkstatt übermittelt. Danach informiert sie

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KLARER KURS 04/18

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Kollegen und die betreffenden Gruppenleiter. Die Arbeit mit psychisch kranken Straftätern ist bei der Werkgemeinschaft seit Jahrzehnten üblich, auf Vorbehalte stößt sie in der Regel nicht. Die forensischen Patienten kommen „extrem gut“ vorbereitet auf ihr Leben außerhalb des Maßregelvollzugs in der Werkstatt an, sagt Eger: „Sie haben meist viele Jahre Behandlung und Therapie hinter sich, haben gelernt, mit ihrer Erkrankung umzugehen, ihre Taten reflektiert, Krisen und Traumata bearbeitet.“ Erst wenn sie ein Programm mit acht Lockerungsstufen ohne Zwischenfälle durchlaufen haben, als „sozialkompatibel“ und nicht mehr gefährlich gelten, werden sie unter Führungsaufsicht der psychiatrischen Nachsorgeambulanz aus Haina oder Gießen entlassen. Wie engmaschig die Kontrollbesuche sind, entscheiden die Psychologen in der Klinik: „Das fängt bei einmal in der Woche an, kann später einmal pro Monat sein und geht oft über viele Jahre.“ Neben einem Psychologen kommt regelmäßig auch ein Arzt zur Blutentnahme, um den Medikamentenspiegel zu kontrollieren. Die Ambulanz ist für Eger und ihre Kollegen jederzeit erreichbar, umgekehrt muss die Werkstatt jede Auffälligkeit und jeden Verstoß gegen verhängte Auflagen melden. „Im Zweifel kommt gleich jemand aus Haina oder Gießen vorbei.“ Eger kann sich in den vergangenen 15 Jahren allerdings nur an zwei Fälle erinnern, bei denen die Rückführung in die forensische Psychiatrie veranlasst wurde. Nach Daten der Vitos forensisch-psychiatrischen Ambulanz liegt die Rückfallquote psychisch kranker Straftäter in Hessen bei vier Prozent. Große Absicherung Die Führungsaufsicht und der enge

Kontakt zur Klinik nennt Eger eine „kolossale Absicherung“ für Fachkräfte, auch wenn sich der Umgang mit Beschäftigten aus der Forensik im Arbeitsalltag nicht von dem mit anderen psychisch erkrankten Beschäftigten unterscheide. Im Gegenteil: „Wir nehmen gerne Leute aus Haina, weil wir so viel Vorwissen haben wie bei keinem anderen Beschäftigten mit psychischen Erkrankungen – und die Gewissheit, dass Medikamente auch genommen werden.“ Häufig sei der Umgang des- i

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i halb konfliktfreier, weil forensische Patienten gelernt haben, genau auf sich aufzupassen, Symptome ihrer Erkrankung zu erkennen, und in der Regel alles dafür tun, um eine erneute Einweisung in die Forensik zu vermeiden, sagt Eger. Berührungsängste gebe es denn auch allenfalls bei neuen Kollegen, die zum ersten Mal mit der Thematik konfrontiert werden: „Es ist wie bei allen Fremden: Wenn man die Menschen kennenlernt und im Alltag erlebt, verlieren sich Ängste und Vorbehalte schnell.“ Einmal im Monat trifft sich Angelika Eger mit allen Fachkräften eines Arbeitsverbundes zur Fachkonferenz, in dem Einzelfälle ausführlich besprochen werden. Bei Bedarf steht sie allen beratend zur Seite, Fachkräfte können darüber hinaus zehn Supervisions-Termine im Jahr nutzen. Zusätzliche Sicherheit gibt das digitale Tages-Dokumentations-System der frankfurter werkgemeinschaft, in dem alle Auffälligkeiten bei Einzelpersonen oder in der Arbeitsgruppe notiert werden, sagt Eger. „Alle Fachkräfte haben Zugriff darauf, sind sofort informiert und können reagieren.“ Ängste und Vorurteile abbauen Auch alsterarbeit

gGmbH in Hamburg geht offen mit dem Thema um. Wer sich dort um eine Stelle als pädagogische Fachkraft bewirbt, wird schon im Vorstellungsgespräch darauf hingewiesen: Sie werden bei Ihrer Arbeit unter Umständen auch Beschäftigte begleiten, die aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug kommen. Tobias Warncke, Fachdienst und Koordinator für forensisch psychiatrische Themen im Arbeitsbezug bei alsterarbeit, ist diese frühe Auseinandersetzung wichtig: „Die größte Schwierigkeit bei der Arbeit mit Menschen mit forensi-

schen Hintergründen ist es, mit Ängsten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umzugehen und sie gut zu bewältigen.“ Alle gesellschaftlichen Vorurteile und Vorbehalte gegen psychisch kranke Straftäter gebe es naturgemäß auch bei den Mitarbeitern. „Das gilt ganz besonders, wenn es um Sexual- oder Tötungsdelikte geht.“ alsterarbeit hat deshalb vor etwa zehn Jahren in Kooperation mit der Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll, Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, eine detaillierte Konzeption mit Schulungen, Notfallplänen, Verfahrensabläufen und Standards zum Umgang mit Menschen mit forensischen Hintergründen in der Werkstatt entwickelt – und Tobias Warncke nach dessen einjähriger Fortbildung in der komplementären Nachsorge psychisch kranker Straftäter als werkstattinternen Koordinator für die Thematik eingesetzt. Gemeinsam mit einer Sozialpädagogin des Asklepios Klinikums und einem forensischen Psychologen bietet Tobias Warncke seither für Mitarbeiter dreitägige Basisschulungen an, die verpflichtend für alle sind, die mit Beschäftigten aus der forensischen Psychiatrie arbeiten. Dabei geht es unter anderem um rechtliche Aspekte der Unterbringung, sagt Warncke, um psychiatrische Krankheitsbilder, Infos rund um die Entlassung aus dem Maßregelvollzug, um Weisungen, werkstattinterne Notfallpläne oder die Strukturen des Maßregelvollzugs in Hamburg. „Während dieser dreitägigen Schulung setzen wir uns auch intensiv mit Ängsten und Haltungsfragen auseinander“, sagt Warncke. Es gehe darum, eine professionelle und fachliche Haltung zu entwickeln – und den Leitsatz zu verinnerlichen: Ich verabscheue die Tat, aber nicht den Täter. „Es ist unglaublich wichtig, dass es gelingt, den Menschen nicht ausschließlich auf seine spezifische Tat zu reduzieren.“ Dass das emotional nicht so einfach ist, hat der Forensik-Experte am eigenen Leib erfahren, als er 2009 bei alsterarbeit als Fachdienst anfing – lange vor seiner Fortbildung und ehe es das Konzept mit detaillierten Krisenplänen und Schulungen für Mitarbeiter gab: „Obwohl es ein Vorläufer-Konzept gab, habe ich eher nebenbei erfahren, dass es in unserer Betriebsstätte auch Beschäftigte aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug gibt.“ Im Arbeitsalltag und im Umgang hatte er mit ihnen zwar keine Probleme, „dennoch hab ich geschluckt und mich unwohl gefühlt“. Werkstatt als Schritt zur Resozialisation Die Beschäftig-

Bietet mit Sozialpädagogin und forensischem Psychologen Basisschulungen für Mitarbeiter an: Tobias Warncke

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ten aus der psychiatrischen Maßregel fangen meist kurz vor der sogenannten Beurlaubung bei alsterarbeit an. In jener Phase der Lockerungsstufen, in der Patienten tagsüber die Klinik zur Arbeit oder Tagesstruktur verlassen können, am Abend aber dorthin zurückkehren. Mehrere Jahre Behandlung, Therapie und schrittweise Lockerungen vom ersten begleiteten Ausgang auf dem Gelände des Klinikums bis zum ersten unbegleiteten Ausgang außerhalb haben sie bis dahin schon erfolgreich durchlaufen. „Der Einstieg in die strukturierte Be- i

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„Wenn man die Menschen kennenlernt, verlieren sich Ängste und Vorbehalte schnell“: Angelika Eger, Sozialdienst frankfurter werkgemeinschaft

„Der Einstieg in die strukturierte Beschäftigung ist ein entscheidender Schritt zur Resozialisation“ TOBIAS WARNCKE, KOORDINATOR

i schäftigung ist ein entscheidender Schritt zur Resozialisation“, sagt Warncke, da die meisten Wohnanbieter wiederum eine gesicherte Tagesstruktur verlangen, ehe sie forensische Patienten aus der Klinik aufnehmen. Zum Erstgespräch des Interessenten mit dem Fachdienst mit Besichtigung der Betriebsstätten liegt bei alsterarbeit bereits der Arzt- und Sozialbericht sowie ein Notfallplan vor. Fällt die Wahl auf einen Arbeitsplatz, erhalten der zuständige Fachdienst und die entsprechende arbeitspädagogische Fachkraft alle Unterlagen und diskutieren, ob der Patient aufgenommen wird. Beim folgenden Vorstellungsgespräch sind neben dem Fachdienst auch die arbeitspädagogischen Fachkräfte eingebunden. Nicht alle wollen so detailliert informiert werden, den Sozialbericht im Vorfeld lesen und am liebsten auch das Delikt gar nicht erfahren, um keine Vorbehalte zu entwickeln, sagt Warncke. Auch dies ist ein wesentlicher Punkt, der bei der Basisschulung diskutiert wird: „Manchmal ist es heftig, Tathergänge so detailliert geschildert zu bekommen.“ Er hält die Vorbereitung dennoch für wichtig – und sie ist bei alsterarbeit auch gewollt. Im Zweifel kann sich eine arbeitspädagogische Fachkraft jederzeit gegen die Aufnahme aussprechen: „Das schafft zusätzliche Sicherheit und Verlässlichkeit, wobei wir immer auch diskutieren, welche Unterstützung gebraucht und gewollt wird, um die Bewerber vielleicht doch aufzunehmen.“

ALSTERARBEIT GGMBH

Schulungen und Notfallplan Der Abbau von gesell-

schaftlichen Vorurteilen und Ängsten bei Mitarbeitern ist für Warncke ein ständiger Prozess, der immer wieder thematisiert werden muss. Neben der Basisschulung bietet er pro Jahr deshalb zwei Vertiefungsseminare an, in denen Fälle und Probleme besprochen werden. Die Fachkräfte können sich auch jederzeit supervisorisch KLARER KURS 04/18

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unterstützen lassen und nicht zuletzt werden alle einmal im Jahr zur Führung durch das Forensische Therapiezentrum des Asklepios Klinikums eingeladen – Inneneinsichten, die Vorurteile abbauen. Sicherheit im Arbeitsalltag schafft nicht zuletzt der Notfallplan, der genau beschreibt, wie bei bestimmten Auffälligkeiten zu verfahren ist, Verhaltensweisen definiert und jederzeit erreichbare Ansprechpartner des Klinikums mit Telefonnummern benennt. Aktuell kommen von den etwa 1 300 Beschäftigten von alsterarbeit 80 aus dem Maßregelvollzug. In der Praxis schildert Tobias Warncke – ebenso wie Angelika Eger von der frankfurter werkgemeinschaft – den Umgang mit ihnen eher unproblematisch: „Die Leute erscheinen sehr regelmäßig und pünktlich an ihrem Arbeitsplatz, es besteht eine hohe Verlässlichkeit, auch, weil sie ja ihre Lockerungsstufen nicht verlieren wollen.“ Dies gelte nicht nur für die erste Zeit vor der „Beurlaubung“, in der arbeitspädagogische Fachkräfte noch jede Nachlässigkeit wie zum Beispiel ein 15-minütiges Zuspätkommen in der Klinik melden müssen, sondern auch später, wenn der Beschäftigte unter Führungsaufsicht aus dem Maßregelvollzug entlassen wird. „In der Regel haben Menschen mit forensischen Hintergründen über die jahrelange Begleitung eine gute Compliance entwickelt, sind äußerst erfolgreich resozialisiert worden und begehen keine Delikte.“ Sechs und mehr Jahre Klinikum, sagt Warncke, und häufig eine anschließende Führungsaufsicht von weiteren fünf Jahren schaffen Stabilität. „Dieses umfassende Unterstützungsnetzwerk hilft sehr und macht die Begleitung von Beschäftigten mit forensischem Hintergrund oft leichter als bei anderen psychisch erkrankten Beschäftigten, für die es diese Unterstützung eben nicht gibt.“ AS ❚

KONTAKT Angelika Eger Ansprechpartnerin Sozialdienst frankfurter werkgemeinschaft e.V., Werkstatt im Cassella-Park Cassellastr. 30-32, 60386 Frankfurt am Main Tel.: 069 9494767-612 a.eger@fwg-net.de Tobias Warncke Fachdienst alsterpaper/ alsternetwork Koordination für forensisch psychiatrische Themen im Arbeitsbezug alsterarbeit gemeinnützige GmbH Elisabeth-Flügge-Str. 10 22337 Hamburg Tel.: 040 298100113 t.warncke@alsterarbeit.de

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/ENTWICKLUNG/EIGENPRODUKT

Cooles Wasser mit Werbeeffekt ➜ Thema: Werkstatt nutzt Eigenprodukt als Türöffner in die Region ➜ Einrichtung: Hohenwestedter Werkstatt ➜ Ort: Nindorf/Hohenwestedt

Etikett drauf ...

... Wasser in die Flasche ...

... ab in die Kiste

BESSER GEHT NICHT: Wie bestellt strahlt die Sonne an diesem kühlen Herbsttag vom wolkenlosen Himmel und setzt die immer noch saftige Wiese in ein leuchtendes Grün, fliegt pünktlich über dem Wäldchen nebenan der Seeadler ein, um dem KLARER-KURSBesuch im schleswig-holsteinischen Nindorf eins klarzumachen: Das Produkt – der Besuchsgrund – ist Natur pur so wie das Ambiente drumherum. Um was es geht? Um Wasser. Besonderes Wasser, das seit der skandinavischen Eiszeit vor ca. 10 000 Jahren von der Oberfläche abgeschlossen in der Tiefe schlummert, eine artesische Wasserader, die einzige in Norddeutschland. Das urzeitliche Wasser kommt mit Druck aus der Tiefe, und noch bevor es das Licht der Welt erblickt und als Bach über mehrere Stationen den Nord-OstseeKanal speist, zapft die Hohenwestedter Werkstatt einen Teil vom kühlen Nass ab, filtert es, füllt es in stylische Ein-Liter-Flaschen mit hellblauem Etikett und vertreibt sie unter dem Namen gut2 in Schleswig-Holstein und inzwischen auch in Hamburg. Das Geschäft wächst. Ein cooles Produkt, nachhaltig und regional, ein Türöffner für die Werkstatt, um mit positivem Image in der Region präsent zu sein. Der Anfang Entdeckt wird die Nindorfer Quelle per Zufall, als man

hier 1884 nach Erdöl bohrt und statt auf schwarzes Gold auf Wasser stößt: Die artesische Quelle versorgt die Gemeinde sogar bis 1973, dann gerät die Quelle in Vergessenheit. Bis zum Jahr 2000, als sie der Eigentümer des Geländes wiederentdeckt und Bernd Ramm, den damaligen Leiter der Hohenwestedter Werkstatt, anspricht. Der ist von der Idee, das Wasser zu vermarkten, begeistert. Die Werkstatt pachtet das Gelände − mit einer Ausstiegsklausel, sollte der „Urstrom“ irgendwann versiegen. Engagiert gewinnt der Werkstattleiter weitere Mitstreiter für das auf den Namen Kimbernquelle getaufte Projekt: Die Aktivregion Mittelholstein kürt es zum Leuchtturmprojekt, Fördermittel kommen vom Land und der EU: Brunnen-, Filter- und Abfüllhaus samt Anlage im Reinraum können nach eigenen Plänen entstehen. „Die laufenden Kosten trägt die Werkstatt“, erklärt Björn Ott, der heutige Leiter der Hohenwestedter Werkstatt. Von der Quelle zum Abfüllhaus Es gurgelt und schmatzt, blubbert

und sprudelt: Munter fließen stündlich 12 500 Liter artesischen Wassers aus der Quelle in die Natur, 1 000 Liter zapft die Werkstatt ab: „Wir wollen auf keinen Fall die Landschaft austrocknen“, erklärt Hans-Joachim Muxfeldt, Gruppenleiter und gelernter Installateur, der rechte Mann am rechten Ort, wenn es um Wasserleitungen, Isolierungen und Wasserfilter geht. Weil das Wasser in der Tiefe unberührt vom Grundwasser ist und nichts in seine Schicht durchsickern kann, enthält es keinerlei Rückstände aus Landwirtschaft, Chemie oder Industrie, wie das auf der gut2-Website veröffentlichte Prüf- i

Muss genau hinschauen: Saskia Schrage bei der Flaschenkontrolle vorm Leuchtpult

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Sprudelt munter: Wasser aus der Quelle

i protokoll belegt. Vom Brunnenhaus an der Quelle fällt das Gelände sanft ab, günstig für den Weg des Wassers ins vier Meter tieferliegende Filterhaus. Hier läuft es durch einen Anthrazit-Filter, der das Rohwasser von Eisen und Mangan befreit, und weiter zum Abfüllhaus. Dort wird es in einem Vorlage-Tank mit 2 500 Litern Fassungsvermögen aufgefangen. Wenn der voll ist, läuft er über und das Wasser mündet in den Bach. Aus einem Findling vorm Abfüllhaus fließt unaufhörlich und für jedermann zugänglich ungefiltertes Wasser: Geschmacklich erinnert es an Schmelzwasser aus den Bergen, nach wenigen Schlucken hat man sich an den „alten Gletscher“ gewöhnt. Dann der Vergleich: Das gefilterte Wasser schmeckt frischer, weicher. „Geschmack ist Kopfsache!“, schmunzelt Muxfeldt. Fünf Stunden Abfüllzeit In der Hohenwestedter Werkstatt arbeiten

160 Beschäftige, im Portfolio auch eine Pulverbeschichtung, Verpackung und Montage und Garten- und Landschaftsbau. Zur Quellengruppe gehören zwölf Beschäftigte und zwei Gruppenleiter, beide haben weitere Jobs in der Werkstatt: Elsbeth Wendt ist als Motopädagogin fürs Sportangebot zuständig und Hans-Joachim Muxfeldt kümmert sich um den Bereich Facility. Drei Tage in der Woche ist die Gruppe auf dem Quellengelände und zwei Tage in der Werkstatt unter anderem bei der Flaschenwäsche. Donnerstag ist Zapftag, dann wandern 3 000 Liter gefilterten Wassers in die Flaschen. Die reine Abfüllzeit, sagt Muxfeldt, dauert mit Pausen und Materialnachfül-

Checkt die Füllhöhe: Sabrina Podlofski

len fünf Stunden, dazu kommen Vorbereitung und Nachbereitung: Vor dem Abfüllen wird sterilisiert und danach sauber gemacht. An den anderen Tagen kümmern sich die Beschäftigten um den großen Außenbereich mit 2,5 Hektar: Sie pflegen die Wege, entwässern, mähen, schneiden oder jäten Unkraut. Grundsätzlich gilt: Alle machen ihre Arbeiten selbstständig. gut2-Kreislauf Gerade kommt Kim Behrens von der ersten Tour zu-

rück: Der 30-Jährige fährt die Wasserbestellungen mit dem gut2-Lieferwagen aus, er liebt seinen Job: „Ich bin derjenige, der das Wasser an den Mann bringt. Ich kann gut mit den Kunden, oft haben wir einen netten Kumpelton“, erzählt der Werkstattrat, der oft zwischen 50 und 200 Kilometern fährt − von der dänischen Grenze bis nach Hamburg. Auch das Leergut sammelt er auf seinen Touren ein und bringt es zur Flaschenwäsche ins Werkstatt-Haupthaus. Hygiene wird großgeschrieben. Im Reinraum der Werkstatt kontrollieren drei Beschäftigte die Flaschen nach der Wäsche auf Sauberkeit, Kratzer oder Etikettenreste. Dann werden sie ins Lager im Abfüllhaus transportiert und im Abfüllraum erneut von zwei Beschäftigten am Leuchtpult genau geprüft, bevor sie in der Anlage nochmals gespült, mit dem Etikett beklebt, mit Wasser befüllt und verschlossen werden. Zurück im Lager folgt schließlich die letzte Kontrolle: Diesmal prüfen die Beschäftigten Füllhöhe und Position der Etiketten. Und erst, wenn ein unabhängiges Labor Proben jeder Charge auf Mikro- i

Idyllisch gelegen: das Brunnenhaus

i biologie nach Trinkwasser-Verordnung (TVO) geprüft und „grünes Licht“ gegeben hat, darf Kim Behrens die Kisten ausliefern und der Kreislauf von vorn beginnen. Anspruchsvolle Arbeit: Flaschenkontrolle „Ich bin bei der Abfüllung meistens im Reinraum und kontrolliere die Flaschen. Die Arbeiten sind abwechslungsreich, weil jeder mal im Lager, mal im Reinraum oder auch im Gelände arbeitet“, erzählt Saskia Schrage. Sie ist seit einem halben Jahr in der Quellengruppe und stolz darauf: „Wenn ich gut2 im Supermarktregal sehe, dann ist das ein Gefühl von ‚Wow!‘. Das ist das, was du gemacht hast!“ Dabei ist die Flaschenkontrolle nicht ohne, neben einem guten Auge braucht es einen geschulten Blick: In sieben Sekunden müssen die Beschäftigten Beschädigungen und Verschmutzungen erkannt haben und ent-

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scheiden: die Flasche ist okay oder sie ist es nicht. Muxfeldt: „So schnell, wie sie fehlerhafte Flaschen ausfindig machen, können wir Gruppenleiter überhaupt nicht gucken. Wir wechseln immer durch, damit niemand eine Flasche zweimal in der Hand hat.“ Der „richtige Blick“ wird immer wieder geübt. „Die Befüllung ist zwar wegen der Hygiene automatisiert, sonst aber ist alles Handarbeit, deshalb nennen wir uns die nördlichste Wassermanufaktur Deutschlands!“

Vertrieb schwertut, gilt anfangs auch für die Hohenwestedter: Ihr Eigenvertrieb über Verkostungsaktionen und Akquise in einzelnen Märkten hat zunächst wenig Erfolg. Als sie schließlich einen BioGroßhändler akquirieren, „hatten wir große Hoffnungen, wir waren gelistet! Aber: Es passierte gar nichts“, erinnert sich Björn Ott. Also ändert er die Strategie und beschließt: „Um den Vertrieb anzukurbeln, muss man auch bereit sein, Geld in die Hand zu nehmen.“ Und stellt eine Vertrieblerin mit halber Stelle ein. Sein Fazit: „Läuft! Die Kollegin fährt in die Märkte, hält Kontakt zu den Marktleitern und kümmert sich um die Bestellungen.“ Auch wenn der Preis von zehn Euro pro Kiste eine Hemmschwelle ist, liegt das Produkt zugleich im Trend der Zeit und punktet mit zwei unschlagbaren Attributen: nachhaltig und regional. „Das wirkt besonders bei Händlern, die Wert auf einen Öko-Touch legen. Für uns war es nicht die Frage, was wir nehmen müssen, um schwarze Zahlen zu schreiben, sondern was wir nehmen können, um überhaupt in den Markt zu kommen.“ Aus einer Abfüllung alle sechs Wochen ist längst ein wöchentlicher Zapftag geworden. Der Bedarf wächst, aber die Frage nach Erweiterung löst Stirnrunzeln aus, Ott: „Natürlich sind wir stolz auf unser Produkt, aber es muss auch umsetzbar in der Werkstatt bleiben: Für mehr Abfülltage müssten wir unsere Werkstattstrukturen KLARER KURS 04/18

ändern und Personal einstellen. Das will gut durchgerechnet sein.“ Dass die Kostendeckung ohne Wachstum schwerfallen wird, nimmt der Werkstattleiter in Kauf: „Sicher müssen wir auf Dauer in die schwarzen Zahlen kommen. Wichtiger ist uns aber, dass das Projekt gesund und nachhaltig wächst, die Menschen sollen Spaß an der Arbeit haben. Wir leisten uns dieses tolle Produkt aus zwei Gründen: um ein attraktives und spannendes Angebot für Menschen mit Behinderung vorzuhalten. Und zweitens hat gut2 für die Werkstatt einen großen Werbeeffekt.“ Gute Netzwerker gut2 kooperiert mit den Kieler Nachrichten, für die

die Werkstatt zwei- bis dreimal im Jahr Flaschen unter dem Namen Sprottenwasser abfüllt: Mit ihm wirbt das Medienunternehmen für seinen Hilfsverein. gut2 ist Mitglied bei feinheimisch, einem Zu-

„Zugang zu den Netzwerken hätten wir ohne gut2 niemals bekommen“ BJÖRN OTT, EINRICHTUNGSLEITUNG

Das Produkt an den Mann bringen Dass sich Werkstatt oft mit dem

Sind stolz auf ihr Produkt: Ümit Ascioglu, Saskia Schrage, Sabrina Podlofski, FSJlerin Laura Klems und André Meyer (v.l.)

Fährt gut2-Wasser gern aus: Kim Behrens

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sammenschluss von regionalen Produzenten in Schleswig-Holstein. „Jetzt haben wir Zugang zu Netzwerken, zu denen wir ohne gut2 niemals Kontakt bekommen hätten. Wir bewegen uns dort munter mit und sind einfach anerkannt“, meint Björn Ott. Die Werkstatt kooperiert u.a. mit dem Tourismus Mittelholstein, seit sie mit den Schauabfüllungen ein touristisches Event nach Nindorf gebracht hat. Seit Kurzem finden an der Quelle Hochzeiten statt: „Wir betreiben aber kein Marketing. Die Menschen kommen auf uns zu. Nindorfs Bürgermeister nimmt die Trauungen vor und wir reichen auch Sekt oder Wasser, aber Feiern gibt es nicht, das würde den Ort zerstören.“ Und setzt nicht ohne Stolz hinzu: „Nindorf hat im Landesentscheid ‚Unser Dorf hat Zukunft‘ den ersten Platz gemacht, nicht zuletzt wegen uns, denn ein Kriterium war Inklusion.“ Man muss schon mutig sein bei so einem Produkt wie gut2: starke Konkurrenz, werkstattuntypisches Terrain KONTAKT und (zunächst) kein professioneller Vertrieb. Hohenwestedter Und es ist „auch ein bisschen verrückt“, wie Werkstatt Björn Ott sagt, ein Projekt zu betreiben, desBjörn Ott Einrichtungsleitung sen „Daseinsberechtigung“ nicht zuerst auf Itzehoer Straße 55 Kostendeckung oder Gewinn zielt. Trotz 24594 Hohenwestedt aller Verrücktheit verfolgen die HohenwesTel.: 04871 7697-27 info@gutzwei.de tedter aber mit gut2 einen auf Nachhaltigwww.gutzwei.de keit angelegten Kurs: Ihr Eigenprodukt sorgt für ein gutes Image, dient als augenfälliger Beleg, dass Werkstatt viel mehr ist als Besen, Bürsten und Wäscheklammern, bietet das, was die Beschäftigten mit Stolz als gute Arbeit beschreiben, und eröffnet Zugänge in die Region mit Präsenz in vielfältigen Netzwerken. Kurz: Es sprudelt. GG ❚ ENTWICKLU NG: HOH ENWESTEDTER WERKSTATT

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GASTKOMMENTAR

Der perfekte Mensch – k/ein Recht auf Leben mit Behinderung? „STELL DIR VOR, ES IST INKLUSION und niemand ist mehr da.“ Mit diesem Satz beschreibt Udo Sierck, Autor und Aktivist der Behindertenselbsthilfe, eine Zukunftsvision, die keineswegs mehr irreal erscheint. Bislang galt, dass auf 500 Schwangerschaften ein Kind mit Trisomie 21 geboren wird. Die Zahl der Geburten von Kindern mit Downsyndrom ging in Deutschland innerhalb von 20 Jahren um 55 Prozent zurück. Grund hierfür sind immer kostengünstigere und leichter durchzuführende Diagnoseverfahren, die Eltern in die Lage versetzen, genetisch bedingte Behinderungen des Embryos festzustellen und diesen dann abzutreiben. Ist die Geburt eines Kindes mit Behinderung ein größtes anzunehmendes Unglück? Wir erleben zurzeit ein Paradoxon. Auf der einen

Seite sind die rechtliche Stellung und die gesellschaftlichen Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderung so gut wie noch nie. Auf der anderen Seite sinkt die Bereitschaft von jungen Paaren rapide, ein Kind mit Behinderung zu akzeptieren und großziehen zu wollen. Wurde bislang die Geburt eines behinderten Babys als Schicksal verstanden, dem man sich stellt, so wird heute das Schicksal selbst in die Hand genommen. Um es drastisch auszudrücken: Tötung ist als Option inbegriffen.

Das Bedürfnis ist groß, wissen zu wollen, was da im eigenen Leib heranwächst. Ist es gesund und lebensstark? Ist es ein Junge oder ein Mädchen? Hat es eine gute oder eine schlechte Gesundheitsprognose? Die Medizintechnik ist bei der Beantwortung der Fragen behilflich. In großen − gerade in den letzten Jahren sich beschleunigenden − Schritten entwickelt sie Methoden, um immer differenziertere Prognosen für die Entwicklung von Embryonen abzugeben. Lange Zeit waren in der Pränataldiagnostik (PND) Nackenfaltenmessung per Ultraschall und Fruchtwasseruntersuchung die Methoden der Wahl, um genetische Anomalien festzustellen. Die invasive (gewebeverletzende) Fruchtwasserpunktion ist mit dem gewissen Risiko einer dadurch ausgelösten Fehlgeburt verbunden und findet zu einem Zeitpunkt statt, zu dem die werdende Mutter schon eine emotional-körperliche Beziehung zu ihrer Leibesfrucht entwickelt hat. Die Schwellen zur Untersuchung und ggf. Abtreibung sind dadurch relativ hoch. Seit Beginn dieses Jahrzehnts wurde ein Diagnostikinstrument zur Anwendungsreife gebracht, das nicht in den Körper eingreift. Der Test auf Basis einer Blutuntersuchung vermeidet das Risiko von Fehlgeburten und ist hoch effektiv: 99 Prozent der Trisomie-21Schwangerschaften werden entdeckt. Die anfangs hohen Kosten sind i

i stark gefallen. Zurzeit findet eine Auseinandersetzung darüber statt, ob der Test in Deutschland als Krankenkassenleistung regelhaft eingesetzt werden soll. Dänemark hat als erstes europäisches Land 2006 diese Routineuntersuchung eingeführt, die Abbruchrate nach Feststellung von Trisomie 21 liegt bei rund 90 Prozent. Behindertenverbände, Ethikkommissionen und Wissenschaftler machen erhebliche Bedenken gegen die massenhafte Verbreitung und Anwendung der Tests geltend. Das GeN-ethische Netzwerk stellt hierzu fest: „Die Feststellung einer fötalen Trisomie dient weder der Gesundheit des werdenden Kindes noch der Gesundheit der schwangeren Frau. Der Test hat keinen medizinischen Nutzen außer die Verhinderung von Menschen mit Trisomie.“ Eine große Zahl von Organisationen, u.a. Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben, Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen, Bundesverband evangelische Behindertenhilfe, Weibernetz, Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus fordern, dass es „in einer breit angelegten gesellschaftlichen Diskussion nicht nur

teilen die Einschätzung vieler Behindertenverbände, dass eine solche wehrhafte Beurteilung Folgewirkungen für die Beurteilung geborener Menschen haben kann. Sie können sich weder willkommen noch dazugehörig fühlen. Durch Auswahl und Verwerfung von Embryonen in vitro (,im Glas‘) wird die Wahrnehmung der staatlichen Schutzpflicht für den Embryo unmöglich. Dies ist verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar und spricht für ein gesetzliches Verbot der PID.“ Kurz zuvor ebnete der Bundesgerichtshof 2010 den Weg für eine gesetzliche Regelung, die die Anwendung des gendiagnostischen Verfahrens in engen Grenzen erlaubt. Damit nicht genug, bricht mit voller Kraft das im August 2017 veröffentlichte Forschungsergebnis einer erfolgreichen Gen-Modifikation im Rahmen einer künstlichen Befruchtung in den Diskurs ein. Das sogenannte Genome Editing ermöglicht mit der CRISP/CasTechnik, einer Art Genschere, zielgerichtete Eingriffe in das einzelne Gen. Sie ist sowohl bei Menschen einsetzbar als auch bei Pflanzenzüchtungen, wo sie bereits angewendet wird. Im Gegensatz zu ande-

„Genome Editing tauscht einzelne unerwünschte Gene durch andere aus (...) Dies befeuert Fantasien, die die Schaffung des ,perfekten Menschen‘ greifbar werden lassen“ ANTON SENNER

um den genetischen Bluttest gehen kann, sondern dass vielmehr die bisherige Praxis der selektiven Pränataldiagnostik insgesamt auf den Prüfstand gehört.“ Während die Auseinandersetzung um die pränatale Diagnostik noch nicht zu Ende geführt ist, wird die Diskussion bereits von der kontroversen Bewertung der Präimplantationsdiagnostik (PID) überlagert. Hier geht es um die Feststellung von Gendefekten in der befruchteten Eizelle noch vor deren Einpflanzung in die Gebärmutter. Anfangs wurde die PID eingesetzt, um bei Paaren mit bekannter erblicher Vorbelastung gezielt nach bestimmten Gendefekten zu suchen, die eine Fehlgeburt oder die Geburt eines Kindes ohne Überlebenschancen bedingen würden. Aber auch hier wird schon die „unzumutbare Behinderung“ als legitime Indikation benannt. In der Weiterentwicklung der genetischen Diagnostik sind Verfahren entwickelt worden, die alle 23 Chromosomenpaare des Menschen gleichzeitig entschlüsseln. Über diese Screening-Instrumente können Krankheitsdispositionen wie zum Beispiel Diabetes erkannt werden oder aber auch die verfügbaren Embryonen in riskante und weniger riskante eingeteilt und entsprechend eingepflanzt oder „verworfen“ (so der medizinische Begriff) werden. Der Deutsche Ethikrat hat hierzu 2011 eine umfassende Stellungnahme verfasst. Er schreibt in einem von zwei Voten: „Die künftigen Eltern entscheiden künftig darüber, welcher Embryo mit welchen Eigenschaften zur Entwicklung kommen darf. Dabei wird in der Regel genetische Gesundheit mit Lebensqualität und Lebenserwartung gleichgesetzt, Behinderung mit verhinderungswürdigem Leid. Wir

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KLARER KURS 04/18

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ren Sparten der Biotechnologie gilt sie als einfach handhabbar und kostengünstig. Jeder halbwegs ausgebildete Laborant kann die Technik erlernen. Mit ihr verbindet sich die Hoffnung, die genetisch bedingten Ursachen für eine sehr große Zahl von Krankheiten eliminieren zu können. Mit Blick auf die Nahrungsmittelproduktion bejubeln bereits Labore und Unternehmen die neuen Möglichkeiten und stellen vollmundig die Sicherstellung der Welternährung trotz Klimawandel durch entsprechend gentechnisch veränderte Pflanzen in Aussicht. Die Wissenschaft kennt an die zehntausend Erbkrankheiten beim Menschen, die auf dem Defekt einzelner Gene beruhen. Der Austausch eines Gens, das für Herzmuskelschwäche verantwortlich ist, durch ein gesundes ist bereits gelungen. Bislang kaum erforscht sind unbeabsichtigte Veränderungen des Erbgutes (Off-Target-Effekte) und die Folgen der künstlichen Befruchtung. Neueste Untersuchungsergebnisse (FAZ vom 10.10.2018) zeigen, dass Retortenkinder weit überdurchschnittlich eine verfrühte Alterung der Blutgefäße aufweisen. In der gentechnologisch dominierten Landwirtschaft mehren sich Resistenzbildungen von Insekten. Das Genome Editing tauscht einzelne unerwünschte Gene durch andere aus. Dies wirkt sich nicht nur unmittelbar auf das einzelne behandelte Lebewesen aus, sondern weiter auf alle seine Nachkommen. Es wird also eine Eigenschaft in die Erbanlagen der Eltern eingebracht, die im Familienstammbaum bisher nicht vorhanden ist. Der Eingriff ist im Nachhinein nicht mehr erkennbar. Dies befeuert i ENTWICKLU NG: GASTKOMMENTAR

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Doch lassen sich medizintechnische Entwicklungsmöglichkeiten, menschlicher Fortschrittsglaube und wirtschaftliche Verwertungsinteressen wirklich bannen? Michael Wunder, Mitglied der Enquetekommission ‚Recht und Ethik der modernen Medizin‘, bezeichnet die „25-jährige Geschichte der Pränataldiagnostik als die Geschichte einer am Anfang kaum absehbar gewesenen, enormen Eskalation. Keine der ursprünglichen Restriktionen hatte Bestand.“ Vieles spricht dafür, dass Kontrolle der Gentherapie nur durch deren Verbot bewirkt werden kann. Sonst heißt es: gemacht wird, was möglich ist. Durch die UN-Behindertenrechtskonvention wird der Begriff der Behinderung wesentlich als gesellschaftlich bedingt definiert. Die gängige Praxis, in der Diagnostik und Gentherapie eingesetzt werden, befördert hingegen eher ein Modell der individuellen Zuschreibung von Defizit, Leiden, Belastung und fehlender Lebensqualität. Kritiker sehen eine Tendenz zur Schwangerschaft auf Probe, verbunden mit der Anspruchshaltung auf ein „normales“ leistungsstarkes Kind. Da in den Tests ein wesentlich weitergehendes Screening von genetisch mitbedingten Krankheiten (Krebs, Schizophrenie, Autismus) bereits möglich ist, wird eine Ausweitung auch unter Aspekten der Gesundheitsökonomie befürchtet. Wer zum Beispiel will ausschließen, dass Prämien der Krankenversicherung in Zukunft nach einem dechiffrierten Chromosomensatz festgelegt werden? Weitgehend ausgeblendet in der Diskussion wird die Sichtweise, wie sie Martin Danner, Geschäftsführe der BAG Selbsthilfe, formuliert: „Ein Kind mit Behinderung ist keine dramatische Wendung des Lebens, sondern es kann mindestens genauso dramatisch sein, ein Kind zu töten oder gar nicht erst zur Welt zu bringen.“ Angesichts der ungeheuren Auswirkungen gilt es, die Anwendung wissenschaftlicher Ergebnisse einem breiten gesellschaftlichen Diskurs zu unterwerfen und nicht der Wissenschaft selbst zu überlassen. ❚ ANTON SENNER war Geschäftsführer der BAG Integrationsfirmen, wechselte in die Geschäftsführung der Elbe-Werkstätten in Hamburg und ist heute Vorstandssprecher der Bergedorfer Impuls Stiftung und Unternehmensberater.

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UMFRAGE

Was erwarte ich von meiner Frauenbeauftragten? Mit dem BTHG sind seit diesem Jahr in allen Werkstätten Frauenbeauftragte Pflicht und gleichzeitig mit dem Werkstattrat im November 2017 gewählt worden. Laut Gesetz sollen die Gewählten als Peer-Support Ansprechpartnerin für ihre Kolleginnen in der Werkstatt sein und gegenüber der Werkstattleitung deren Interessen vertreten. Dabei geht es vor allem um die Gleichstellung von Mann und Frau, um Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Arbeit und um Schutz vor körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt. KLARER KURS hat sich bei Frauen in Werkstätten umgehört, was ihnen wichtig ist und was sie von ihrer Frauenbeauftragten erwarten.

„Ich erwarte, dass sich die Frauenbeauftragte um die Belange der Frauen kümmert. Aber ich finde, sie sollte auch ein offenes Ohr für Männer haben, um gezielt helfen zu können. Wenn es Probleme zwischen einem Mann und einer Frau gibt, muss man für eine gute Vermittlung alle Seiten hören. Ich fände es auch gut, wenn die Frauenbeauftragte Selbstverteidigungskurse organisiert. Frauen können sich oft nicht so gut durchsetzen, wenn es Probleme gibt, sie sexuell belästigt oder angefasst werden. Gut fände ich, wenn die Frauenbeauftragte auch mit Eltern spricht und bei Auseinandersetzungen vermittelt. Zum Beispiel, wenn die ihrer Tochter verbieten wollen, einen Freund zu haben. “ ANNE KUBITSCHEK (26), TELEFONDIENST IM BILDUNGSZENTRUM DER LEBENSHILFE WETZLAR-WEILBURG E.V., WETZLAR

„Wenn man in der Arbeit von einem Mann auf den Po gehauen oder angefasst wird, ist es unangenehm, zur Gruppenleitung zu gehen. Das sind ja oft auch nur Männer, und die Situation ist doch sehr beschämend. Da ist es viel angenehmer, erst mit der Frauenbeauftragten zu reden, die außerdem eine Kollegin ist. Man hat die gleiche Ebene und die Hemmschwelle ist weg. Die Frauenbeauftragte kann einen dann auch zum Sozialdienst begleiten. Eine Frauenbeauftragte sollte für Frauen, die extrem schüchtern und gefährdet für Mobbing sind, Kurse anbieten, wie sie sich wehren können. Und sie muss sich für Frauen einsetzen, damit sie gleichbehandelt werden. Das ist i eine sehr große Verantwortung. Ich war selbst schon Frauenbeauftragte, man braucht dazu Unterstützung, eine Vertrauensperson, mit der man sich besprechen kann, damit man nicht alleine mit den ganzen Problemen dasteht.“ CHRISTA MÜNZER (35), GRUPPE „ARBEIT ERLANGEN“, REGNITZWERKSTÄTTEN GGMBH, ERLANGEN

„Eine Frauenbeauftragte soll immer ansprechbar sein, wenn Frauen Probleme haben. Sie soll sich dafür einsetzen, dass Frauen und Männer gleichbehandelt werden und gleichen Lohn bekommen. Und sie soll für Frauen Kurse anbieten, damit sie sich wehren können, wenn sie belästigt werden.“ CARINA KLEIN (34), MONTAGE, REGNITZ-WERKSTÄTTEN

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„Mir ist wichtig, dass es im Betrieb eine weibliche Ansprechpartnerin gibt, an die man sich vertraulich wenden kann, wenn es zu körperlichen Belästigungen oder Beleidigungen kommt. Ich persönlich habe das Problem zwar nicht, aber ich finde es gut, dass es eine Ansprechpartnerin für Frauen gibt.“ SIMONE KROSCHWALD (52), PFORTE UND KREATIVABTEILUNG, ZITTAUER WERKSTÄTTEN E.V. „Begrapschen ist das größte Problem bei der Arbeit. Ich erwarte, dass die Frauenbeauftragte einen ernst nimmt und sie erreicht, dass eingegriffen wird. Viele sagen nichts, weil man ja nicht will, dass dem Kollegen gekündigt wird. Die Frauenbeauftragte kann da der kleine Dienstweg sein. Viele psychisch kranke Frauen sind sehr schüchtern und strahlen eine Opferrolle aus. Es gibt auch Frauen, die missbraucht wurden. Für sie sollte die Frauenbeauftragte Schulungen und Selbstverteidigungskurse anbieten, damit sie sich trauen, sich zu wehren. Aber wenn man es genau nimmt, müsste es auch Männerbeauftragte geben und Antirassismusbeauftragte. Unter Mobbing oder Beleidigungen haben auch Männer zu leiden.“ ANDREA GGMBH,

IANNITTO (58), MONTAGE, DONAU-ILLER-WERKSTÄTTEN ULM

„Ich bin Mutter von zwei Kindern und erwarte mir von der Frauenbeauftragten Unterstützung im Betrieb, wenn es familiäre Probleme gibt. Zum Beispiel, dass sie sich dafür einsetzt, dass ich mal früher heimgehen kann, wenn etwas mit den Kindern ist. Ich finde es wichtig, dass es eine Ansprechpartnerin gibt, an die man sich vertraulich wenden kann.“ KATJA GEYER (35), NÄHEREI, ZITTAUER WERKSTÄTTEN E.V. „Die Frauenbeauftragte sollte sich um die Probleme der beschäftigten Frauen kümmern. Immer wieder hört man von sexuellen Übergriffen, von Rangeleien, Mobbing oder Anpöbelungen außerhalb und innerhalb des Betriebs. Die Frauenbeauftragte sollte den jeweiligen Gruppenleiter einschalten und vermitteln. Sie sollte bei Werkstattratssitzungen dabei sein und Probleme ansprechen. Bei uns arbeiten Menschen mit den unterschiedlichsten Erkrankungen. Viele nehmen starke Psychopharmaka. Es wäre wichtig, wenn die Frauenbeauftragte Schulungen organisieren würde, welche Auswirkungen das hat und wie man damit umgeht.“ MERSINI MEINEL (52), HAUSWIRTSCHAFT DER DONAU-ILLER-WERKSTÄTTEN GGMBH, ULM

„Ich erwarte, dass die Frauenbeauftragte da ist und zuhört, wenn es Probleme bei der Arbeit gibt, und schaut, was man tun kann. Oder wenn es zu Belästigungen kommt, dass sie Frauen zum Sozialdienst begleitet und nicht alleine lässt.“ NADINE KARG (24), HOLZMONTAGE, REGNITZ-WERKSTÄTTEN GGMBH, ERLANGEN

Sonderpädagogik Foto: shutterstock/Sashkin

i Fantasien, die die Schaffung des „perfekten Menschen“ greifbar nahe werden lassen. Behinderung, Krankheiten, Leistungsschwäche, unvorteilhaftes Aussehen haben darin keinen Platz. Noch ist es allgemeiner Konsens, dass eine Erbgutverbesserung („Enhancement“) nicht Ziel der Anwendung sein darf. Deshalb entschied auch der Europäische Gerichtshof gegen den massiven Widerstand von Bauernverbänden und Agrokulturunternehmen, die CRISP/Cas-Technik unter das EU-Gentechnikrecht zu stellen. Damit sind Zulassung und Kennzeichnung strenger reguliert. Die UNESCO forderte schon Ende 2015 zu einem Moratorium auf und der Deutsche Ethikrat befürchtet in einer Stellungnahme vom September 2017, dass sozialer Druck auf zukünftige Eltern entstehen könne.

Weiterbildung spz-online Sonderpädagogische Zusatzqualifikation für Fachkräfte/Leitungskräfte in WfbM

gemäß § 9 der Werkstättenverordnung in Kombination von Präsenzseminaren und E-Learning-Modulen

5. spz-online Gerolstein . . . . . . 18.02.2019 24. spz-online Rendsburg . . . . . 11. 03.2019

spz-update Auffrischung der Sonderpädagogischen Zusatzqualifikation für Fachkräfte und Produktionskräfte in WfbM

spz-update 2019 . . . . . . 09.09. –12.09.2019

rpz-online Rehabilitationspädagogische Zusatzqualifikation in Kombination von Präsenzseminaren und E-Learning-Modulen

8. rpz-online Rendsburg . . . . . . . . 27.11.2019

rpz-update Auffrischung der Rehabilitationspädagogischen Zusatzqualifikation

rpz-update 2019 . . . . . . 23.09. – 26.09.2019

Grundlagenseminare Grundlagen Autismus intensiv . .29.07.2019 Seminarort: Rendsburg Ihre persönlichen Ansprechpartnerinnen:

Svenja Voss, Telefon: 04331 1306 - 67 E-Mail: svenja.voss@ibaf.de Heike Schirrmacher, Telefon: 04331 1306 - 63 E-Mail: heike.schirrmacher@ibaf.de Gudrun Biesel, Telefon: 04331 1306 - 71 E-Mail: gudrun.biesel@ibaf.de Anmeldung

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/KUNST/ATELIER ➜ Thema: Kunstwerkstatt „willsosein“ ermöglicht künstlerisches Schaffen in Vollzeit-Arbeit ➜ Einrichtung: Lebenshilfe Aachen Werkstätten & Service GmbH ➜ Ort: Aachen HOCHKONZENTRIERT, mit leisem Lächeln, sitzt Annika Sachtleben an ihrem Arbeitsplatz und zeichnet mit dünnem Tuschestift filigrane Fantasiewesen aufs Papier. Hauchdünne Linien, präzise zu dichtem Mustergeflecht gezogen, lassen eine dichte Szenerie aus verschlungenen Ornamenten und dünnleibigen Figuren mit langgezogenen Armen und Spinnenfingern entstehen. Es braucht mehrere Blicke, um alle Details zu erfassen: Wesen mit spitzen Zähnen, die sich schminken oder gerade ankleiden, eine Aliengleiche Frau, behängt mit allerlei Küchenutensilien neben einem Herd. „Alle haben Hunger und wollen gleich Essen bestellen“, erzählt Annika Sachtleben und deutet auf eine Rezeption mit Telefon nebst Speisekarte am Bildrand. Und schon sprudelt sie los, erzählt mit Begeisterung und Witz die Geschichte ihres „Traumhotels“ hinter ihrem Bild: von der Dame, die sich noch nicht entscheiden kann, was sie essen will, der Köchin, die schon viel genascht hat … Die 25-Jährige entspinnt eine pralle Erzählung, bis sich jedes Detail ihrer fein gezeichneten Fantasiewelt erschließt. Im Saal um sie herum herrscht Stille. Alle sitzen ins eigene Tun versunken über ihren Werken oder tauschen sich leise aus. Künstler bei der Arbeit. 2009 hat die Lebenshilfe Aachen eine ihrer Produktionsgruppen der Werkstatt am Hergelsmühlenweg kurzerhand in eine Kunstwerkstatt als Vollzeit-Arbeitsgruppe umfunktioniert. Mariele Storms, Leiterin Soziales, Bildung und Mitarbeiterentwicklung, gab damals den Anstoß dazu – Geschäftsleitung und Aufsichtsrat trugen die Idee mit: „Wir wollten künstlerisch begabten Menschen die Chance bieten, auch in diesem Berufsfeld zu arbeiten.“ Ein Wagnis. Kunst erfordert hohe Konzentration. Würde die künstlerische Arbeit fünf Tage die Woche zur Überforderung? Fänden sich Beschäftigte, die Kunst als Beruf ausüben können und wollen? Im Rückblick scheinen die anfänglichen Bedenken fast absurd. „Alle haben sich ungeheuer weiterentwickelt. Die Leute gehen auf in dem, was sie tun“, sagt Storms. „Kunst ist für sie Berufung.“ Und mit dem Tandem Tobias Lennartz als Fachkraft für Arbeits- und Berufsförderung, der die Ateliergemeinschaft betreut und die Rahmenbedingungen für ihre Arbeit organisiert, und Barbara Geier als künstlerische An-

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leiterin läuft die künstlerische Vollzeit-Arbeitsgruppe reibungslos. Im Moment arbeiten sie zu zwölft in dem einstigen Gruppenraum für Verpackung mit den großen Fenstern zum Garten. Nichts erinnert mehr an die frühere Bestimmung. Zahllose Bilder hängen oder lehnen an Wänden. Bildermappen, Leinwände, Skulpturen und Objekte stapeln und drängen sich in Schränken und Regalen, Malutensilien und Staffeleien stehen verteilt im Raum. Lars Otten gehört zur Gruppe von Anfang an, wechselte von der Küche zur Kunst, die ihn erfüllt: „Ich fühle mich viel besser als früher. Es ist toll, Künstler zu sein und Ausstellungen zu machen. Das macht stolz.“ Der 36-Jährige hat kleine Ausschnitte von Weltkarten auf Papier geklebt, die er nun mit Bleistift und schwarzem Fineliner weiter zeichnet, einen Heißluftballon auf Weltumfahrung schickt und seine eigene Himmelsszenerie entwirft. Er probiert mit der Collage gerade was Neues, sagt er. Für gewöhnlich zeichnet er mit Filzstift Figurengruppen, Baustellen und Gebäude aus schwungvollen dichten Liniengittern auf Leinwand, die er mit Pinsel und Spachtel vorbereitet.

Beruf: Künstler

Künstlerische Ausbildung Barbara Geier schaut

ihm über die Schulter, spricht mit ihm über die Collage, fragt nach weiterem Vorgehen. Seit sieben Jahren kommt die freie Künstlerin drei Tage pro Woche in die Kunstwerkstatt, vermittelt Arbeitstechniken, bringt die unterschiedlichsten Materialen ins Spiel, organisiert Ausstellungen, Projektaufträge, die Teilnahme an Workshops. Zwei bis drei Künstlerkolleginnen decken mit ihr die gesamte Arbeitswoche ab. „Es geht darum, möglichst viel anzubieten“ – Weiterentwicklung zu ermöglichen, den persönlichen Stil entfalten zu lassen, anzuleiten ohne zu manipulieren oder in eine Richtung zu drängen. „Das ist ein schmaler Grat, man muss sehr aufpassen.“ Die Künstlerinnen und Künstler haben mit dieser Gratwanderung keine Probleme. Der Name, den sie ihrer Kunstwerkstatt gegeben haben, ist Programm: „willsosein“. So selbstbewusst der Titel, so selbstbewusst nehmen sie die Anregungen von Barbara Geier und ihren Kolleginnen auf und entwickeln daraus ihre ganz eigenen künstlerischen Herangehensweisen und Arbeiten. i

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Es braucht mehrere Blicke, um alle Details zu erfassen: Geschichtenbild von Annika Sachtleben KLARER KURS 04/18

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„Kunst ist ein gutes Medium, Inklusion voranzubringen“ MARIELE STORMS, LEITERIN SOZIALES, BILDUNG UND MITARBEITERENTWICKLUNG

Werkstattraum kurzerhand in eine Kunstwerkstatt umfunktioniert: Blick ins Atelier

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Wie Jürgen Kirschbaum, ebenfalls ein Künstler der ersten Stunde. Bis vor einiger Zeit hat er großformatige, abstrakte Farbflächen auf Leinwand gemalt. Inspiriert von einem Baustilkundebuch in der Kunstwerkstatt, hat sich der 55-Jährige aufs Zeichnen verlegt. Detailgenau bannt er mit schwarzem Fineliner bekannte Bauwerke oder Ausschnitte davon auf Papier. Allerdings leicht verzerrt oder ineinander gekippt, sodass eine ganz eigenwillige, lebendige Räumlichkeit entsteht. Oder Gertrud Grotenklas: Nach einem Bildhauer-Workshop, bei dem die 60Jährige Skulpturen aus Metall und Materialresten gefertigt hat, beschäftigt sich die begabte Zeichnerin seither mit Arbeiten aus feinem dunklen Draht. Wie fein gespannte Fäden knotet die kleine, schmale Frau Drahtbahn um Drahtbahn eng um ein Drahtgerippe, fertigt so filigrane, kokonartige Objekte, in die sie Maulbeerrinde einschließt. Heute experimentiert sie mit der Künstlerin Sonja Lambert in der Druckwerkstatt mit verschiedenen Materialien, kombiniert Draht mit Farbe und Metallabfällen zu Objektbildern. Zufrieden zeigt sie ihre Werke – vielleicht die Initialzündung für neues Schaffen. Praktikum als Eignungstest Auch Carolin Rin-

Arbeit von Sürejja Durovska. Sie kam nach der Schule direkt ins Atelier

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ker hat einen ganz eigenen Weg eingeschlagen. „Früher habe ich viel gemalt“, sagt sie. Jetzt sitzt sie gebeugt über einem langen Stoffstreifen und stickt Figuren und Ornamente aus, die sie mit Bleistift vorgezeichnet hat. Die 29-Jährige wollte vor Jahren aus ihrer früheren Arbeitsgruppe ins Atelier wechseln und ist nach dem obligatorischen Praktikum als Eignungstest prompt in die Künstlergruppe aufgenommen worden. „Im Grunde läuft es wie

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in jeder anderen Arbeitsgruppe“, sagt Tobias Lennartz: Während des Berufsbildungsbereichs können Interessierte auch ins Atelier schnuppern. Inzwischen drängten aber immer mehr Schulabgänger direkt in die Kunstwerkstatt, die im Aachener Raum längst bekannt und begehrt ist. Wer aufgenommen werden will, muss allerdings nicht nur seine künstlerische Begabung im Praktikum beweisen, Kritikfähigkeit nennt Barbara Geier ein ebenso wichtiges Kriterium – „wir entwickeln Kunst über Gespräche und gemeinsame Bildbesprechungen“. Nicht zuletzt muss die Chemie stimmen. Bei Sürejja Durovska hat es gleich nach der Schule geklappt. Hochkonzentriert malt sie Tag für Tag an ihren großformatigen bunten Szenerien aus Figuren, die alle in Beziehung stehen, reden, tanzen, spazieren und durch ein feingewobenes Liniengeflecht miteinander verbunden sind. Sie liebt ihre Arbeit, sagt sie, und findet es interessant, wenn sie die Bilder ihrer Gruppe zusammen in einer Ausstellung hängen sieht. Auch Tosh Maurer, der Buchstaben und Worte mit Federn und Tusche zu großformatigen Mustern und Formen kombiniert, ist glücklich, dass er seinen Platz gefunden hat. 2011 ist er aus der Montage in die Kunstwerkstatt gewechselt und „sehr, sehr stolz, Künstler zu sein“, betont er. „Unsere Bilder in Ausstellungen zu sehen, ist ein gutes Gefühl. Ich fühle mich dann sehr geehrt.“

i auch im Berliner Bundestag haben sie schon ihre Werke gezeigt, machten über Kooperationen mit Werkstätten in Belgien und Holland in länderübergreifenden gemeinsamen Outsiderart-Ausstellungen Furore. Als jüngstes Projekt haben die Künstlerinnen und Künstler von „willsosein“ ein Buch mit Gedichten und Gedanken des Philosophen Werner Janssen alias Heinz Hof illustriert und bei der diesjährigen Euriade präsentiert. Wenn alles klappt, werden sie nächstes Jahr sogar nach Havanna aufbrechen, um ihre Kunst zu zeigen, verrät Mariele Storms. Die Ausstellungen locken nicht zuletzt Kunstkäufer, die inzwischen auch in die Kunstwerkstatt im Aachener Hergelsmühlenweg kommen, ebenso Besuchergruppen, die sich für die Arbeit interessieren. Rentabel wird das Geschäft mit der Kunst dadurch nicht, räumt Mariele Storms ein. Die Kunstwerkstatt hat deshalb weitere Wege der Vermarktung eingeschlagen, druckt Künstlermotive auf Tassen, Frühstücksbrettchen, Karten oder Kalender. Geschenkideen

und Accessoires, die sie unter anderem am eigenen Stand beim Aachener Weihnachtsmarkt verkaufen. Die Marketingideen ließen sich sicherlich noch ausbauen, sagt Mariele Storms, den Gewinn sieht sie aber auf ganz anderer Ebene: Zum einen für die künstlerisch begabten Werkstattbeschäftigten, die die Chance erhalten, künstlerisch ausgebildet zu werden und dieser Arbeit nachgehen zu können, zum anderen aber auch für die Werkstatt: „Das Atelier ist Marketing und eine enorme Öffentlichkeitsarbeit für unsere Werkstatt.“ Storms geht es vor allem auch um die Philosophie, die hinter der Arbeit steht: „Die Kunst bringt Menschen zusammen, holt Besucher ins Haus, bringt unsere Künstler in die Öffentlichkeit und ist ein gutes Medium, Inklusion voranzubringen.“ Alles Dinge, die man nicht in Geld aufrechnen könne. Ein Erfolgsprojekt, das wachsen soll, kündigt Mariele Storms an: „Wir überlegen eine weitere Produktionshalle für die Kunstwerkstatt bereitzustellen und werden die Plätze auf 18 erhöhen.“ AS ❚

KONTAKT Kunstwerkstatt „willsosein“ Hergelsmühlenweg 5 52080 Aachen www.willsosein.de Barbara Geier, Künstlerische Anleiterin Tobias Lennartz, Pädagogische Leitung Tel.: 0241- 9677263 kunstwerkstatt@werkstatt-ac.de Mariele Storms, Leiterin Soziales, Bildung, Mitarbeiterentwicklung Tel.: 0241/92811-117 storms@werkstatt-ac.de

Öffentlichkeitsarbeit und Medium zur Inklusion Die Kunstschaffenden von „willsosein“

sind längst weit über Aachen hinaus bekannt. Im Schnitt präsentieren sie sich bei vier, fünf Ausstellungen pro Jahr im Aachener Raum der Öffentlichkeit, sagt Barbara Geier. Aber i KLARER KURS 04/18

Mit 60 Jahren die älteste Künstlerin in der Ateliergemeinschaft: Gertrud Grotenklas

Ist stolz, Künstler zu sein: Gründungsmitglied Lars Otten kam von der Küche zur Kunst KLARER KURS 04/18

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Zeit, etwas zu ändern!

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5 6 Wochen später

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Der Comic stammt von Katja Wilhelmi, VIA Blumenfisch gGmbH, Berlin

IMPRESSUM KLARER KURS – Magazin für berufliche Teilhabe Herausgeber: 53° NORD Agentur und Verlag Ein Geschäftsbereich der gdw mitte eG Redaktion KLARER KURS Magazin für berufliche Teilhabe Frankfurter Str. 227b, 34134 Kassel Tel.: 0561 475966-0; 0160 98343487 info@53grad-nord.com www.53grad-nord.com Redaktion: Grid Grotemeyer (Chefredakteurin, GG, V.i.S.d.P.), Anita Strecker (AS) Fotos: Titel: Fabian/kapix; 4: VIA Blumenfisch gGmbH; 5: Volker Beinhorn; 11: Kerstin Tack; 12-15, 20-25, 30-33: Axel Nordmeier; 16-19, 26-29: Alex Kraus; 34: Anton Senner; 38-41: Fabian/kapix; 6-10, 16, 26-29, 34-37, 38-41: istock

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KLARER KURS 04/18

Grafik-Design: Dietmar Meyer Bildbearbeitung: Ronald Fromme Druck: reha GmbH DruckCenter, Saarbrücken Abonnement: KLARER KURS – Magazin für berufliche Teilhabe erscheint vierteljährlich. Das Jahresabonnement kostet 38 Euro. Abo-Service/Anzeigen: Tel.: 0561 475966-53 Die Redaktion übernimmt keine Haftung für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Illustrationen. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers vervielfältigt oder verbreitet werden.

Die nächste Ausgabe von KLARER KURS erscheint im Februar 2019 KLARER KURS 04/18

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