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Zeitzeugen der Eisriesen

Die ehrenamtlichen Gletschermesser des Österreichischen Alpenvereins protokollieren den Rückgang von rund 90 Gletschern in Österreich. Seit 1891, für die längste derartige Messreihe weltweit. Bergauf hat sie beim letztjährigen Gletschermessertreffen besucht.

von Michel Mehle

Es fühlt sich mehr nach Sommerurlaub an als nach Gletscher. Oben auf knapp 2.700 Metern Höhe, auf der Dachstein-Bergstation, drängen sich Familien, Pärchen und Freunde an das Geländer einer großen Außenterrasse. Bei strahlendem Sonnenschein blicken sie auf eine ausgedehnte Schneelandschaft, die sanft zwischen den schroffen Gipfeln von Dirndl, Hohem Dachstein und Gjaidstein liegt. Es wird gelacht, gestaunt und natürlich fotografiert. Das Panorama ist umwerfend, selbst wenn man es teilt – und auch wenn die eigentliche Hauptattraktion, nämlich die Gletscher, zu diesem Zeitpunkt unter dem Schnee verborgen liegen.

Gletschermesser Klaus Reingruber dürfte diesem Treiben mit gemischten Gefühlen zusehen. Zum einen, weil der ehrenamtliche Mitarbeiter des Alpenvereins grundsätzlich die Ruhe genießt. Zum anderen, weil er eben diese Gletscher Jahr für Jahr bei ihrem Rückzug begleitet: „Ich bekomme oft die Frage gestellt ‚Was braucht denn der Gletscher, damit er wieder wächst?‘. Da muss ich sagen, damit er überhaupt einmal wieder wächst, braucht er ein komplett anderes Klima. Das ist derzeit unmöglich.“

Ehrenamt

Die 25 ehrenamtlichen, gebiet- und teamverantwortlichen Gletschermesser des Österreichischen Alpenvereins kontrollieren jedes Jahr die Veränderung von rund 90 Gletschern in Österreich. An diesem Tag treffen sie auf der Terrasse der Dachsteinstation zusammen, um mit den Medien über ihre Arbeit zu sprechen. Einer von ihnen ist Gerhard Lieb, Co-Leiter des Gletschermessdienstes. Den Rückgang der Gletscher beobachtet er mittlerweile ohne große Abschiedsschmerzen: „Ich habe mir in den letzten Jahren eine gewisse Abgebrühtheit aufgebaut und bin nicht mehr unmittelbar traurig, sondern bei mir überwiegt tatsächlich die Neugierde, was sich hier verändert.“

Seit 41 Jahren vermisst Gerhard Lieb Gletscher in Österreich. Erst an der Schobergruppe, dann an Österreichs berühmtestem Gletscher, der Pasterze am Großglockner. Seit einigen Jahren leitet er den ehrenamtlichen Gletschermessdienst gemeinsam mit seinem Kollegen Andreas Kellerer-Pirklbauer, beide von der Universität Graz. Jahr für Jahr verfolgen sie den Rückgang der einst mächtigen Gletscher – etwa den der Pasterze, die in den letzten beiden Jahren etwa 270 Meter zurückgegangen ist.

Der Verlust könnte ihnen alle Hoffnung rauben. Er tut es aber nicht. Im Gegenteil, er treibt sie an: „Das ist die wichtigste Botschaft der Gletscher“, sagt Gerhard Lieb: „Nämlich dass sie uns daran erinnern, dass die globale Klimapolitik immer noch viel zu wenig ambitioniert ist und hier noch ganz, ganz viel Handlungsspielraum besteht.“ Der Gletscherschwund ist mittlerweile Alltag. Auf Social Media, in unseren Köpfen und natürlich am Berg.

Da helfen auch die weißen Kunststoffplanen nichts, die Schnee und Eis am Dachstein vor der Sonne schützen sollen. Es ist ein Kampf, den wir verlieren werden. Wenn wir aber nichts an dieser Lage ändern können, wieso sollten wir überhaupt noch die Gletscher messen? Andreas Kellerer-Pirklbauer:

Die Hauptaufgabe ist zu quantifizieren, zu objektivieren und dann diese Ergebnisse zu präsentieren. Denn wenn ich nur qualitativ sage, dass der Gletscher kleiner oder größer wird, bringt mir das wenig. Ich muss es in Zahlen fassen und in einen langjährigen Kontext bringen.

Die Gletscher zu messen bedeutet, das Ausmaß des Klimawandels besser zu verstehen. Und das hat ganz viel mit uns zu tun, sagt auch Nicole Slupetzky, Vizepräsidentin des Österreichischen Alpenvereins: „Eigentlich müsste man beim Menschen endlich den Selbsterhaltungstrieb triggern. Es geht darum, dass wir in einem gesunden ökologischen Umfeld leben können. Zu erkennen, dass wir uns eigentlich selbst retten sollten.“ Slupetzky wurde schon mit drei Monaten von ihrem Vater Heinz auf Österreichs Gletscher mitgenommen. Der Gletschermessdienst gehört heute zu ihren Agenden im Alpenverein: „Wenn man hierherkommt, die Bergwelt und die Gletscher sieht, ist es einfach ein Wow-Moment. Aber man weiß ja nicht, wie es vielleicht vor 40 oder 50 Jahren ausgesehen hat. Und deswegen ist es ganz wichtig, immer wieder Vergleiche zu machen, um zu verdeutlichen, wie sich unsere Umgebung verändert.“

Nicole Slupetzky, AlpenvereinsVizepräsidentin, Gerhard Karl Lieb und Andreas Kellerer-Pirklbauer beim Fachtreffen am Dachstein
Foto: Alpenverein/P. Neuner-Knabl

Exaktes Arbeiten

Der Alpenverein vermisst die heimischen Gletscher schon seit über 130 Jahren. 1891 hat der Deutsche und Oesterreichische Alpenverein noch mit einem großen Vorstoß der Gletscher gerechnet und seine Mitglieder aufgefordert, hinauszugehen und die Gletscher zu messen. Gerhard Lieb: „Der erwartete Gletschervorstoß ist so nie gekommen. Aber es hat sich in diesen über 130 Jahren allmählich ein Netzwerk von Ehrenamtlichen entwickelt.“ In ganz Österreich sind ca. zwei Dutzend Gebietsverantwortliche des Alpenvereins für bestimmte Gebiete zuständig. Sie messen dort alljährlich die Veränderung der Gletscher nach.

Einer dieser Gebietsverantwortlichen ist Klaus Reingruber, Hausherr am Dach. Der hat mittlerweile die Terrasse der Dachsteinstation verlassen. Auf einem Felsen im Schneefeld zeigt er, wie das Gletschermessen in der Praxis aussieht: „Ich habe gerade den Laser positioniert. Und sehe jetzt im Display die Elke, die den Reflektor hält. Der Laserstrahl muss ja reflektiert werden, damit ich die Distanz messen kann.“ Mit einem handlichen Messgerät zielt der Meteorologe in Richtung seiner Kollegin Elke Lemmerer. Sie ist rund 20 Meter entfernt und hält eine reflektierende Metallfläche in unsere Richtung. Sie markiert damit das Ende eines Gletschers. Im Display von Klaus Reingrubers Messgerät sehen wir sie noch einmal stark vergrößert – ein Fadenkreuz schwirrt um die Metallfläche herum, die sie uns entgegenhält. Für eine exakte Distanzmessung muss Reingruber im Display mit dem Fadenkreuz genau auf das Metall zielen und dann den Knopf für die Messung drücken. Das ist oft leichter gesagt als getan: „Jetzt habe ich sie nicht erwischt.“ Reingruber probiert es noch einmal. Das Fadenkreuz zittert um die Metallfläche herum, das Gerät piepst – aber auch dieses Mal klappt es nicht: „Jetzt habe ich sie wieder nicht erwischt! Aber da steht dann eine Zahl, die Distanz. Im Endeffekt machen wir das ein paar Mal bei jedem Punkt. Ich schreibe die Werte sofort auf. Oder wenn es das Gelände oder die Situation nicht zulässt, gehen wir auch mit einem Maßband bis hin zum Gletscherrand. Das ist die ganz herkömmliche Messung. Aber das geht natürlich nur, wenn die Distanz nicht zu groß ist.“

So geht Gletschermessen bei vielen Gletschern, aber nicht bei allen. An manchen muss mit Drohnen oder mit GPS gearbeitet werden. Um ein repräsentatives Bild vom Gletscherrückgang zu erhalten, werden mehrere Stellen über die Breite des Gletschers gemessen. Das sind markierte Stellen, wie etwa der Felsen, auf dem Klaus Reingruber steht. Gemessen wird jedes Jahr am Ende des Sommers, wenn die Schneedecke geschmolzen und der Gletscher gut sichtbar ist: „Wir messen mit einem GPS-Gerät immer exakt vom gleichen Punkt weg“, erklärt Reingruber: „Der Punkt ist mit einem Buchstaben markiert. B25 wäre eine Messmarke, die angelegt wurde. Die heißt dann immer B25, bis der Gletscher so weit zurückgewichen ist, dass es die Geräte nicht mehr schaffen. Dann gehe ich hinauf und lege eine neue Messmarke an.“ So folgt der Gletschermesser seinem Gletscher über die Jahre bergan bis zu seinem Ursprung und zu seinem Ende.

Elke Lemmerer bei der Messarbeit am Dachstein
Foto: Alpenverein/P. Neuner-Knabl

Menschengemacht

Klaus Reingruber und Elke Lemmerer begleiten ihre Dachsteingletscher nun schon 20 Jahre. Zuerst nur den Gosaugletscher und den kleinen Schneelochgletscher. Später auch noch den Hallstätter und den Schladminger Gletscher. Die Folgen des Klimawandels sind unübersehbar, sagt Reingruber: „Du hast in den letzten 20 Jahren jedes Jahr eine Veränderung. Das war früher anders. Da hat sich teilweise ewig nichts gerührt. Jetzt sehen wir jedes Jahr eine signifikante Veränderung. Manchmal finden wir die Messpunkte nicht mehr oder es liegt ein Felsen drauf.“ Überhaupt haben die Gletschermesser einige Hürden zu überwinden. Das Klima erwärmt sich in den Alpen besonders stark. Laut Geosphere Austria sogar doppelt so schnell wie im globalen Mittel. Permafrost und Eis wirken im Gebirge wie ein Kleber, der loses Gestein und instabile Felsen zusammenhalten kann. Tauen sie ab, lösen sich Steine oder ganze Felsen und krachen talwärts. Das kann den Zustieg sehr schwer machen und auch die Gletschermesser selbst gefährden. Das Schwierigste sei aber, den Gletscherrand zu definieren, sagt Reingruber: „Der Gletscher ist ja nicht wie eine Mauer. Der ist zerfranst und mit Steinen bedeckt. Da muss man sehr exakt arbeiten.“

Das ist die wichtigste Botschaft der Gletscher. Nämlich dass sie uns daran erinnern, dass die globale Klimapolitik immer noch viel zu wenig ambitioniert ist und hier noch ganz, ganz viel Handlungsbedarf besteht.

Einige ehrenamtliche Gletschermesser sind im Hauptberuf Meteorologen, Geographen oder sogar Gletscherforscher und schon seit ihrer Jugend auf Österreichs Gletschern unterwegs. Manche von ihnen messen bereits seit mehreren Jahrzehnten oder haben das Amt von ihren Eltern übernommen. Das macht sie zu unersetzlichen Experten und zu wichtigen Zeitzeugen für die Bewegung der Gletscher.

So wie Günther Groß. Den 75-Jährigen könnte man getrost als Urgestein der Gletschermessung bezeichnen. 1973 vermisst er das erste Mal ehrenamtlich für den Alpenverein die Gletscher in der Silvretta-Gruppe. Mittlerweile ist er seit mehr als 50 Jahren für den Gletschermessdienst des Österreichischen Alpenvereins im Einsatz. Als Rudi Carrell in den 1970er-Jahren singt, wann es mal wieder richtig Sommer wird, hat er gesehen, wie die Gletscher ein letztes Mal zaghaft vorstoßen. Und kurz darauf, wie die Debatte um den menschengemachten Klimawandel beginnt: „Ich weiß noch gut, die Sommer 1982 und 1983, die waren schon ein bisschen wärmer. Man hat gesehen, hoppala, der Vorstoß der Gletscher beginnt zu stottern. Die klimatischen Bedingungen verändern sich langsam. Und dann begann so die Zeit, wo man schon über den menschlichen Einfluss und den Klimawandel zu sprechen begann.“ In der Wissenschaft ist der menschengemachte Klimawandel kurz darauf Konsens. Den Gletscherschwund hält das aber nicht auf. Weder damals noch heute.

Klaus Reingruber bei der Arbeit am Dachsteingletscher
Foto: Alpenverein/P. Neuner-Knabl

Loslassen

Günthers Sohn, Johannes Groß, ebenfalls Gletschermesser, kennt das nur aus Erzählungen: „Ich kenne es nur so, dass die Gletscher zurückgehen und nicht, dass sie einmal vorgestoßen sind. Das ist für mich gar nicht vorstellbar.“ Der 36-Jährige ist sehr wahrscheinlich der letzte Gletschermesser der Silvrettagruppe: „Ich werde wahrscheinlich irgendwann in die Silvretta gehen und feststellen, dass ich nicht mehr gehen brauche.“ Irgendwann wird Johannes Groß das Messgerät zu Hause lassen und in eine komplett veränderte Bergwelt gehen.

Eine Bergwelt ohne Gletscher. Und dann? Haben wir unsere Berge dann für immer verloren? Nein, sagt Gletschermessdienst-Leiter Gerhard Lieb. Die Berge werden anders sein, aber das Leben wird weitergehen: „Es ist eine andere Wahrnehmung, aber weil die Wahrnehmung immer auch sozial konstruiert ist, ist es natürlich möglich, auch später die Berge als schön zu begreifen. So wie es jetzt auch Inbegriffe von schönen Berglandschaften gibt, die keinen Gletscher haben. Wie der Wilde Kaiser, große Teile der Dolomiten oder bei uns in der Steiermark das Gesäuse“, so Lieb. „Im Prinzip lässt sich das umbewerten.“ In den Zentralalpen hätten wir außerdem den Effekt, dass durch den Gletscherschwund sehr viele Seen zum Vorschein kommen. Eine neue Ästhetik, die dann durch uns neu verhandelt wird. Es ist mit den Bildern in unserem Kopf ähnlich wie mit den Gletschern. Sie bewegen sich langsam. So langsam, dass wir Veränderungen manchmal gar nicht mitbekommen. Zukünftige Generationen werden Österreichs Gletscher nur noch aus Erzählungen kennen. Und die Alpen trotzdem schön finden. Wandern, Bergsteigen, Klettern und – all das sollte uns laut allen

Prognosen noch erhalten bleiben – auch Skifahren. Für uns ist die Geschichte der Gletscher aber erst einmal eine Geschichte des Abschieds. Eine Geschichte des Loslassens. Das weiß vielleicht keiner so gut wie die Gletschermesser selbst, die jedes Jahr ein Stück dieses Abschieds protokollieren. Festhalten und aufmerksam machen, dass noch etwas übrig ist, für das es sich zu kämpfen lohnt. Günther Groß: „Die Gletscher werden nicht mehr zu retten sein, aber wir: Wenn wir versuchen, neue Wege zu beschreiten.“

Johannes, Luise und Günther Groß
Foto: Alpenverein/P. Neuner-Knabl

Autor: Michel Mehle arbeitet als Journalist und Podcaster, unter anderem für den Alpenverein-basecamp-Podcast.

Info Podcast basecamp

Folge #31 – „Die Gletschermesser“ des Alpenverein-Podcasts beschäftigt sich mit den Menschen aus diesem Beitrag. Mehr Infos: www.alpenverein.at/ basecamp

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