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Der Ansatz der Kinästhetik in Ergotherapie und Pflege
from Neu Nota Bene 16
by Mateo Sudar
Aufzustehen und sich zu waschen, sich anzuziehen und das Frühstück zuzubereiten, alles alltägliche Verrichtungen, scheinbar selbstverständlich. Nicht jedoch, wenn mit zunehmendem Alter die Kräfte schwinden, die Beweglichkeit der Gelenke abnimmt und manches schwerer im Gedächtnis bleibt. Manches im Alltag wird zur Bürde. Gesellt sich eine Krankheit mit mannigfaltigen Folgen für Körper und Geist hinzu, wird Unterstützung notwendig. Pflege und Therapie treten auf den Plan. Mit dem Aufspüren, Erarbeiten und Trainieren sinnvoller Betätigungen wird die betroffene Person darin unterstützt, trotz und mit Einschränkungen wegen fortgeschrittenen Alters als auch in der Folge von Krankheit und deren mannigfaltigen Folgen für Körper und Geist eigenständig und kompetent das eigene Leben zu führen. Lebensqualität und Wohlbefinden werden mit Pflege und Therapie wieder möglich.
Um das zu erreichen, wird dem professionellen Handeln ein Konzept zugrunde gelegt, welches das to do am Bewohner, Kunden und Patienten praktisch aufzeigt. Das Konzept der Kinästhetik ist eines davon. Ein Konzept, welches für die Praxis eine Handhabung aufzeigt, die dem Paradigma der Hilfe zur Selbsthilfe gerecht wird.
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Der Mensch wird in Körper und Geist unterteilt oder Körper und Geist bilden eine Einheit, die mit sich und der Umwelt in Beziehung steht. In diesen beiden Aussagen steckt das Verständnis dessen, was den Menschen ausmacht. Die erste Aussage entspringt einem mechanischen Weltbild und einer entsprechenden mechanischen Erklärung darüber, was der Mensch ist. Das zweite entspringt einer kybernetischen Sichtweise, die das Bild eines Systems wählt, um zu erklären, was der Mensch ist. Erklärt wird der Mensch anhand eines Systems, welches bestehend aus mehreren Untersystemen fortwährend mit sich und der Umwelt in Beziehung steht und damit lebt. Während eine Mechanik reagiert, agiert ein kybernetisches System. All unser menschliches Verhalten ist Ausdruck dafür, dass Menschen aus der Reaktion der Systeme handeln.
Dieses Paradigma leitet den Ansatz der Kinästhetik, was bedeutet er in der Praxis? Um aus dem Bett aufzustehen, bedarf es aufeinander abgestimmter Bewegungsabläufe, die mit einer Drehung zur Seite eingeleitet werden und im Aufstehen von der Bettkante enden. Ohne Einschränkung ist es die Muskelkraft, die Orientierung und das Körpergefühl, die es selbstverständlich machen, sich zu bewegen und von einer Körperstellung in die andere zu gelangen. Mit Einschränkungen leidet die Wahrnehmung über Richtung und Intensität der eigener Bewegung und behindert das flüssige und leichte Aufstehen, es wird beschwerlich. Unterstützung nach dem Konzept der Kinästhetik bedeutet hier, den Bewegungsablauf des Aufstehens zu begleiten. Begleitet wird er, indem die zu unterstützende Person als auch die Person, die Unterstützung gibt, in der Aktivität miteinander kommunizieren. Dies geschieht über Wahrnehmung und Sprache, in der beide Impulse aus der Wahrnehmung des eigenen Körpers in seiner Haltung und Bewegung dem anderen weitergeben. Aus der Unterstützung wird eine Interaktion, in welcher die Aktivität von beiden ausgeführt und an welcher beide Personen aktiv beteiligt sind.
Am Beispiel: Die Bewegung des Drehens wird über die Schulter eingeleitet. Der Kontakt über das Auflegen der Hand steht an deren Beginn, der Blickkontakt und die verbale Information dessen, was unmittelbar geschieht, machen die Aktivität für den betroffenen Menschen im ganzen wahrnehmbar – er dreht sich mit der Unterstützung zur Seite und wird nicht gedreht. Die Bewegung des einen löst die des anderen aus. Die Rotation an der Schulter geht einher mit einer Rückbewegung der unterstützenden Person, die den Impuls überträgt, indem sie ihre
Stellung verändert. Aus der Berührung an der Schulter wird ein Mitnehmen der Schulter, indem eine Hand an der Schulter flächig und weich aufliegt, die Bewegung der unterstützenden Person überträgt und die Drehung im Oberkörper zur Seite der zu unterstützenden Person auslöst. Beide haben in der Aktivität miteinander kommuniziert, beide waren aktiv!
Hierin liegt die Bedeutung des Konzeptes der Kinästhetik für Therapie und Pflege. Ein Umgang mit Personen, die der Unterstützung bedürfen, nach dem Konzept der Kinästhetik ist immer geprägt von der Haltung, dass beide handeln. Jede Form der Unterstützung nach diesem Ansatz basiert auf eigener Aktivität auch derjenigen Person, die auf Unterstützung angewiesen ist. Die Person wird nicht aus dem Bett geholt, sondern darin begleitet aufzustehen. Das macht beide – die unterstützende als auch die unterstützte Person zu Partnern. Partner im Sinne der gemeinsamen Aktivität. Dies erzeugt Wohlbefinden, denn die zu pflegende Person erhält die Pflege in der eigenen körperlichen Selbstversorgung, wozu sie aus verschiedenen Gründen nicht mehr selbst in der Lage ist. Eine Pflege eben dieser Selbstversorgung trägt dazu bei, sich wohl zu fühlen. Eine Pflege nach dem Konzept der Kinästhetik trägt dazu bei, dass die Pflege des eigenen Körpers mit Sinn und Verstand erlebt wird, und münzt die Erfahrung des Mangels in eine Erfahrung des Könnens um.
In der Therapie ist der Ansatz Mittel zum Zweck, auf Basis vorhandener Fähigkeiten Betätigungen der körperlichen Selbstversorgung so zu trainieren, dass die Wahrnehmung des Handelns einhergeht mit der Erfahrung des Gelingens. Ein wichtiger Baustein für die Ergotherapie mit ihrem Anspruch, den von Krankheit und Behinderung betroffenen Menschen dazu zu befähigen, selbstbestimmt zu handeln und einer in seinem Lebenszusammenhang sinnvollen Betätigung nachzugehen.
Anke Matthias-Schwarz Ergotherapeutin