Ärzteblatt Baden-Württemberg 07-2021

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Editorial Gewaltfreies Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen – ein Nachhaltigkeitsziel

Kinderschutz geht uns alle an

D Prof. Dr. J. Fegert

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ie jüngsten Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik 2020 haben aufgerüttelt. 152 Kinder waren im Jahr 2020 gewaltsam zu Tode gekommen. Die meisten von ihnen waren zum Zeitpunkt des Todes jünger als sechs Jahre. Die Misshandlungen Schutzbefohlener stiegen um 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, sexueller Kindesmissbrauch um knapp 7 Prozent. Deutlich angestiegen mit 53 Prozent sind die Zahlen der Tatverdächtigen mit Besitz und Weitergabe von Missbrauchsabbildungen sogenannter Kinderpornografie. Das von der Statistik beschriebene kriminalistische Hellfeld ist aber nur die Spitze des Eisbergs der Gewalt gegen Kinder und reflektiert gerade im Bereich der Kinderpornografie eher die angestiegene Ermittlungstätigkeit der Polizei und sollte nicht vorschnell allein wegen der zeitlichen Koinzidenz als Folge der Corona-Pandemie bezeichnet werden. Seit Jahren beteiligen wir uns vom Kompetenzzentrum Kinderschutz in der Medizin in Baden-Württemberg und vom Traumaforschungszentrum in Ulm an der Aufhellung des Dunkelfelds. Unsere Ergebnisse zeigen, dass ungefähr ein Drittel der heute erwachsenen Deutschen berichten, in der Kindheit vernachlässigt, misshandelt oder missbraucht worden zu sein. Die WHO schreibt deshalb in ihrem Bericht zur Prävention von Kindesmisshandlung in der europäischen Region, dass gerade auch in der Medizin noch sehr viel Luft nach oben ist. Wir organisieren mit Partnern in Berlin und Freiburg von Ulm aus die rund um die Uhr erreichbare Medizinische Kinderschutzhotline, die alle Angehörigen der Heilberufe jederzeit in Kinderschutzfragen anrufen können (0800-19 210 00). In der Hotline beobachteten wir im ersten Lockdown zunächst einen Rückgang des Anrufervolumens auf 70 Prozent und auch die Art der beobachteten Fälle hat sich verschoben zuungunsten von sexualisierter Gewalt und emotionaler Gewalt. Zwar war dieser Rückgang im Vergleich zu dem allgemeinen Rückgang in der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen eher geringer ausgeprägt, dennoch zeigte sich, als

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die Schulen wieder geöffnet wurden und Kinder sich wieder an Klassenkameraden, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern von Freundeskindern und andere sogenannte wesentliche Personen in ihrem nahen Umfeld wenden konnten, dass ein Rebound-Phänomen mit einer überschießenden Nachfrage aufgrund einer erhöhten Vorstellung in den Praxen und Krankenhäusern beobachtet werden konnte. Gerade die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen in der Allgemeinarztpraxis oder in der Kinder- und Jugendmedizin sind oft Erstansprechpartner und es freut uns als Betreiber der Hotline, dass mittlerweile knapp zwei Drittel der Anrufe aus dem Bereich der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen kommen. Wichtigste Fragen sind neben differentialdiagnostischen Überlegungen Fragen nach dem Hilfesystem und zur Schweigepflicht. Vielen Kolleginnen und Kollegen ist immer noch nicht bekannt, dass im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz eine explizite Befugnisnorm zur Weitergabe von Informationen bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindesmisshandlung an das Jugendamt geschaffen wurde. Die jüngste Reform der Jugendhilfegesetzgebung hat die Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und uns Ärztinnen und Ärzten durch Möglichkeiten zum Austausch und Betonung der Notwendigkeit der Rückmeldung noch erweitert. Wir müssen uns angesichts des allmählichen Wegs aus der Krise im Herbst, wenn hoffentlich wieder in größerem Umfang Präsenzbeschulung stattfinden wird, auf zahlreiche Probleme einstellen, die dann auch mit entsprechenden personellen Kapazitäten zeitnah gelöst werden müssen. Kinder und Jugendliche mit Schutzund Behandlungsbedarf werden vor allem nach Schulbeginn im Herbst in noch weiter gestiegener Zahl ins Versorgungsnetz drängen und wir sollten dann darauf vorbereitet sein, schnell eine Einschätzung des Behandlungsund Hilfebedarfs vorzunehmen und entsprechende Hilfen umzusetzen. Kinderschutz ist eine Daueraufgabe. Der tatsächliche Skandal sind nicht

einzelne Skandalfälle, sondern der eigentliche Skandal ist der alltägliche Missbrauch, die alltägliche Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen. Hier hat die Ärzteschaft eine besondere Bedeutung und Verantwortung, da Ärztinnen und Ärzte häufig Gate-Keeper auf dem Weg zu Schutz und Hilfe sind – Vertrauenspersonen, denen sich viele Betroffene auch nach Jahren erst anvertrauen. Wie wir aus zahllosen Berichten von Betroffenen wissen, waren Angehörige der Heilberufe privilegierte Ansprechpartner und sie hatten eine zentrale Rolle auf dem Weg in Therapie, Hilfe und Schutz. Gleichzeitig wurden aber sehr häufig Erwartungen der Betroffenen enttäuscht. Noch schlimmer – manche Patientinnen und Patienten wurden im Bereich der Heilberufe Opfer sexualisierter Gewalt. Das Risiko ist gerade in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie aufgrund der lang dauernden Nähebeziehung im Behandlungsverhältnis besonders groß, aber Übergriffe kommen auch in allen anderen Bereichen vor, wo Patienten mehr oder weniger abhängig oder schutzlos ausgeliefert sind. Krankenhäuser und Praxen müssen deshalb Kompetenzorte in Bezug auf die Erkennung von Kindesmisshandlung und in Bezug auf das Vermitteln von Schutz und Hilfe sein, sie müssen aber auch Schutzorte sein, in denen auf der Basis einer individuellen Gefährdungsanalyse ein Schutzkonzept für den Tätigkeitsbereich erarbeitet wird. Kinderschutz geht uns alle an und ist eine riesige Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Die Coronapandemie hat zu mehr Belastungen geführt, sie hat aber vor allem auch wie mit dem Brennglas unsere Defizite und Dysfunktionalitäten in der alltäglichen Arbeit und Zusammenarbeit mit anderen Professionen aufgezeigt. Es liegt nun an jedem Einzelnen von uns, hier Konsequenzen zu ziehen, damit in Zukunft Kinder gewaltfrei aufwachsen können und Betroffene schneller Schutz, Hilfe und Therapie erhalten können. Prof. Dr. Jörg M. Fegert Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und ­Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm


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