Ethik
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Schlüssel zur Bekämpfung großer gesundheitlichen Herausforderungen?
Mikrobiom und Ethik Einleitung
Dr. D. Höll
Redaktion: Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing, Prof. Dr. phil. Hans-Jörg Ehni und Dr. phil. Robert Ranisch Universität Tübingen, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Gartenstraße 47 72074 Tübingen www.iegm.uni-tuebingen.de
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Etwa 40 bis 100 Billionen Mikroorganismen leben auf und in unseren Körpern. Das Verhältnis der Mikroorganismen des Mikrobioms zu unseren Körperzellen wäre damit etwa 1:1. Zu der Gesamtheit der Mikroorganismen, die den Menschen besiedeln, gehören neben Bakterien auch Eukaryoten, wie Pilze, Archaeen, sogenannte Urbakterien, und Viren. Sie alle bilden das Mikrobiom. In den letzten Jahren ist die internationale Forschung zum Mikrobiom rasant angewachsen. Im Jahr 2008 startete das Human Microbiome Project (HMP). Es wurde von der amerikanischen Gesundheitsbehörde National Institute of Health (NIH) ins Leben gerufen und hatte zur Aufgabe, das menschliche Mikrobiom umfassend zu charakterisieren und seine Rolle im Zusammenhang mit menschlicher Gesundheit und Krankheit zu untersuchen. Da das Mikrobiom mit allen Organen des Menschen in Verbindung steht, ist mit seiner Erforschung auch die Hoffnung verbunden, den Schlüssel zur Bekämpfung vieler der größten gesundheitlichen Herausforderungen unserer Zeit zu finden. [1] Dabei stehen nicht nur Infektionskrankheiten sowie die Herausforderungen aktueller und zukünftiger Epi- und Pandemien im Fokus. Zahlreiche Forschungen legen Zusammenhänge zwischen der Zusammensetzung des menschlichen Mikrobioms und einer Vielzahl physischer wie psychischer Erkrankungen nahe. So scheinen beispielsweise Depressionen und Angststörungen, Alzheimer oder Demenz genauso vom Mikrobiom (mit-) beeinflusst zu werden, wie die Neigung zu Diabetes, Allergien und Asthma. Doch die Mikrobiom-Forschung erhofft sich noch mehr. Ein genaueres Verständnis über die Zusammensetzung des menschlichen Mikrobioms sowie dessen Funktions- und Interaktionsweisen soll wichtige Antworten auf die Antibiotika-Krise geben. Laut WHO ist sie gegenwärtig „eine der größten Bedrohungen für die globale Gesundheit, Ernährungssicherheit und Entwicklung“. [2] Die Bedeutung des Mikrobioms für unsere Gesundheit wird inzwischen kaum bestritten. In zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen wird nichts weniger als ein bevorstehender „Paradigmenwechsel“, das heißt ein fundamentaler Wandel in der Medizin angekündigt. Das Ausmaß dieser Bedeutung aber ist noch kaum bekannt. Für viele Hypothesen in Bezug auf den tatsächlichen Einfluss des Mikrobioms auf die menschliche Gesundheit fehlt es oft noch an belastbarer Evidenz. [3] Zum jetzigen Zeitpunkt gilt es, eine gute Balance zwischen Hoffnung und „Hype“ zu finden. Deutlich ist aber schon jetzt, dass die stetig voranschreitende Entdeckung des unsichtbaren Mikrokosmos auch Forschung und Gesellschaft vor große ethische Herausforderungen stellt.
Ethische Herausforderungen der MikrobiomForschung und ihrer klinischen Anwendung Die vielfältigen Formen der Forschung am Mikrobiom sowie die Übertragung der Forschungsergebnisse auf die
ÄBW 06 | 2021
medizinische wie gesellschaftliche Praxis rufen vielfältige ethische Fragestellungen hervor. Viele von ihnen sind aus anderen Bereichen medizinischer Forschung am Menschen und dem Einsatz von innovativen Therapieverfahren oder neuartigen Medikamenten bekannt. So stellen sich die Fragen einer Risiko- und Nutzenabwägung, dem Schutz von Patientendaten oder der informierten Einwilligung hier genau wie bei anderen Forschungsvorhaben. [4] Diese gilt es an die Besonderheiten der Mikrobiom-Forschung anzupassen. Da sich diese immer noch in einem frühen Stadium befindet, ergeben sich jedoch bisher unbekannte ethische Problemstellungen. Da Mikrobiome nie unabhängig betrachtet werden können, stellen sich schließlich auch weitreichende ethische Fragen, die die öffentliche Gesundheit und die sozialen Auswirkungen der Mikrobiom-Forschung und deren praktische Umsetzung betreffen. Eine Auswahl zentraler ethischer Aspekte rund um das Mikrobiom sollen im Folgenden vorgestellt werden.
Forschungsethische Aspekte Risiko und Nutzen Zentral für eine ethische Forschungspraxis ist ein akzeptables Risiko-Nutzen-Verhältnis. Da Langzeitstudien sowie genaue Informationen über die komplexen Wirkungsweisen möglicher mikrobiombasierter Therapien fehlen, können die Risiken – genau wie Nutzenpotenziale – einzelner möglicher therapeutischer Verfahren gegenwärtig in der Regel noch nicht abgesehen werden. [3] Bei Stuhltransplantationen ist es zu schwerwiegenden Nebenwirkungen gekommen, die vereinzelt zu Todesfällen geführt haben (siehe auch Abschnitt unten). Bevor man mit Studien am Menschen beginnt, sind daher mögliche Risiken aus der Grundlagenforschung und aus Tierversuchen genau zu prüfen und mit dem potenziellen Nutzen abzuwägen. Hinzu kommen mögliche Risiken und Belastungen studienbedingter Verfahren, etwa zur Gewinnung von Proben, die ebenfalls in der Nutzen-Risiko-Abwägung der jeweiligen Studien berücksichtigt werden müssen. Die Risiken der bisher gängigen Probenentnahmeverfahren, die in fünf Körperregionen (Mund, Haut, Nase, Gastrointestinaltrakt, Vagina) sowie bei peripheren Blutentnahmen durchgeführt wurden, sind bekannt. Die meisten dieser Verfahren, da nicht-invasiv (wie Abstriche von der Haut), gehen mit einem minimalen Risiko einher. [5] Invasive Verfahren, wie die Endoskopie, die beispielsweise bei der Entnahme oder Übertragung von Stuhlspenden angewendet wird, gehen jedoch mit einem deutlich höheren Risiko einher. [6] Privatsphäre und Datensicherheit Dem Schutz der Privatsphäre und der erhobenen Daten von Studienteilnehmenden gilt in der Mikrobiom-Forschung besondere Aufmerksamkeit. Das Mikrobiom eines jeden Menschen ist einzigartig. Damit ist eine eindeutige Zuordnung eines Mikrobioms zu einem Individuum möglich. Es wird auch von einem „mikrobiellen Fingerabdruck“