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Kreativ im Bastelraum

Compliance Screening meets Design Thinking

Wie Kunden helfen, Ideen für eine mobile Anwendung für das Sanktionslisten-Screening zu entwickeln. Und welche Rolle Malvorlagen dabei spielen.

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Was haben Google und Audi gemeinsam? Oder der Nivea-Hersteller Beiersdorf, die Innovationsberatung Ideo und AEB? Sie alle – und noch viele, viele andere – wenden in ihrer Produkt- und Service-Entwicklung die Methode Design Thinking an. Ohne dieses Werkzeug kommt heute kaum eine größere Firma aus. Google verwendet es beispielsweise, um in fünf Tagen ein neues Produkt oder eine Produktverbesserung zu entwickeln. Beiersdorf nutzt es, um ein neues Marktforschungswerkzeug zu entwickeln.

Auf Entdeckungsreise

Und AEB? Der Stuttgarter Softwareanbieter will mit Hilfe von Design

Thinking eine mobile Anwendung für das Sanktionslis ten-Screening entwickeln.

Daher gab es auf dem letzten

Kundentag des Unternehmens einen Workshop in dem Workshop-Leiterin Carina Kemmner die Teilnehmer mit auf eine

Entdeckungsreise nahm. Auf dieser konnten sie die Welt des

Design Thinkings selbst erleben und testen. „Ich möchte euch ganz kurz vorstellen, welche fünf Schritte für diese Entwicklungsmethode wesentlich sind“, stellte Kemmner die Agenda des Workshops vor. „Dann dürft ihr selbst kreativ werden und Design Thinking mit einer ganz konkreten Aufgabenstellung ausprobieren.“ Diese hatte AEB aus einer Kundenbefragung zum Thema Sanktionslistenscreening erarbeitet. Dort hatten 68 % der befragten 180 Kunden angegeben, Aufgaben mobil erledigen zu wollen. Es muss also eine App her. Aber was soll die genau können? Und wie soll sie aussehen?

Es müssen nicht immer 100 % sein

„Design Thinking ist eine Methode, die gut geeignet ist, um schnell Antworten für solche Fragen zu entwickeln, weil sie einfach ist und zahlreiche Vorteile hat.“ Kemmner zeigt auf einen großen Wecker, der vor ihr auf dem Tisch liegt. „Einer der Vorteile ist, dass Kreativtechniken mit Zeitdruck verbunden werden. Das führt schnell zu Ergebnissen. Wenn ich euch nachher eine Aufgabe stelle, werde ich immer den Wecker stellen und sagen: Ihr habt dafür nur wenige Minuten Zeit.“ Tatsächlich gibt es unter den zahlreichen Varianten des Design Thinkings, die weltweit angewandt werden, auch solche, die auf den Aspekt der Schnelligkeit ganz besonderen Wert legen. Bei Google heißt die Methode deshalb Design Sprint. Die Idee dahinter: Es ist nicht so wichtig, ein 100 % ausgereiftes Produkt zu entwickeln. Wichtiger ist es, neue Produkte oder Services schnell auf einen Goodenough-standard zu heben. Dieser Entwicklungszustand, bei dem ein Produkt vielleicht zu 70 % fertig ist, reicht dann aus, um es potenziellen Kunden vorzustellen, das Potenzial zu validieren und gemeinsam mit ihnen und orientiert an ihren Bedürfnissen weiter zu optimieren.

Alles andere als ein normaler Besprechungsraum

„Powerpoint und Design Thinking passen irgendwie nicht zusammen“, findet Kemmner. Deshalb kommt der gesamte Workshop ohne Folien aus. Dafür gibt es umso mehr Stifte und Klebestreifen sowie Zettel, auf die Ideen geschrieben und die für alle sichtbar an die Wand geklebt werden. „Das kann man natürlich nicht in jedem Raum machen, aber deshalb ist es super, dass AEB diesen Bastelraum hat und wir ihn für den Workshop nutzen können.“ Dem Raum, in dem der Kreativprozess stattfindet, widmen viele Fachbücher zum Thema ein eigenes Kapitel. Anstelle eines klassischen Besprechungsraums, in dem jeder hinter seinem Schreibtisch sitzt, brauchen Design Thinker andere Räume: Um sich und ihre Ideen in Bewegung zu bringen, um Platz zum Aufhängen der Skizzen und Zettel zu haben, zum Clustern und Sortieren von Ideen und Sichtweisen. Bei AEB heißt der Raum, in dem der Workshop stattfindet, wirklich

„Bastelraum“. Er liegt im ersten Oberge schoss der Stuttgarter Unternehmenszentrale. Die beiden Längsseiten des rechteckigen Raums sind aus Glas, die eine zum Flur hin, die andere mit Blick auf den Stuttgarter Ortsteil Möhringen. Eine Stirnwand ist komplett mit dickem, hellem Holz verkleidet.

Ohne Beamer und PC

Beherrscht wird der Raum von einem einzigen langen Tisch, der mit rund 120 cm deutlich höher als ein normaler Schreibtisch ist. Um diesen haben sich alle Workshop-Teilnehmer versammelt. Die meisten sitzen auf einem hohen Hocker ohne Lehne. Einige stehen an der furnierten, durchgängigen Tischplatte. Kemmner hat vorgearbeitet. Sie hat jedem Teilnehmer nicht nur Papiere und Stifte an den Platz gelegt, sondern kleine Figuren ausgeschnitten. Mindestens 30 dieser etwa 15 Zentimeter großen Pappkameraden stehen auf Plastiksockeln auf einer zweiten Ebene des Holztisches. Kemmner hat die fünf wesentlichen Prozess-Schritte des Design Thinkings ganz ohne PC und Beamer an das Pinnbrett hinter ihr geheftet. Die Teilnehmer lesen dort: Empathie gewinnen, Aufgabe definieren, Ideen vorschlagen, Prototyp entwickeln, Lösung testen.

Pappkameraden als Zielgruppe

„Wir werden heute natürlich nicht dazu kommen, einen kompletten Prototyp zu entwickeln und die Lösung zu testen, aber ich hoffe, dass wir zu vielen Ideen kommen, was alles in die App zum Sanktionslisten-Screening hinein sollte.“ Und hier kommen die Pappkameraden ins Spiel, die Kemmner vorbereitet hat. „Es geht im Design Thinking darum, sich ein möglichst konkretes Bild vom Nutzer der Anwendung zu machen, damit man sich in die Person und ihre Bedürfnisse einfühlen kann.“ Kemmner hat sich deshalb zwei verschiedene Figuren ausgedacht, Hannes Exportler und Tina Vertrieblerin. Für beide hat sie quasi als Malvorlage eine Pappfigur ausgeschnitten. „Hannes Exportler und Tina Vertrieblerin stehen symbolisch für zwei unterschiedliche Anwender unseres angestrebten Produkts, der eine im Innendienst, die andere im Außendienst.“ Und an die Workshop-Teilnehmer gewandt fügt sie hinzu: „Wie heißen eure Nutzer? Welche Probleme haben sie, die von einer Sanktionslisten-App gelöst werden könnten? Ihr habt drei Minuten, um eure Ideen zu skiz zieren. Die Zeit läuft!“ Kemmner drückt auf den Timer.

Hans Dampf trifft Tina Vertrieblerin

Die Teilnehmer bringen gute Voraussetzungen für ein Design Thinking Team mit. Denn das soll möglichst bunt gemischt und multidisziplinär sein. Beim Workshop sind etwa die Branchen Handel, Industrie und Dienstleister vertreten, verschiedenste Ausbildungen, Altersgruppen und Hierarchie-Ebenen. Aber so spontan, einfach mal machen, kann das funktionieren? Nach drei Minuten piept der Timer und die Teilnehmer heben erstaunt die Köpfe. „Was, schon vorbei?“ Trotz der Kürze der Vorbereitungszeit stellen die Teams ihre Ergebnisse vor und kleben ihre Stichwortzettel an die Glaswand zum Flur. Da gesellt sich beispielsweise ein „Hans Dampf“ zum Typ Tina Vertrieblerin. „Hans Dampf geht auf viele Veranstaltungen, macht unheimlich viele Kontakte und bekommt viele Visitenkarten. Aber er möchte sich um die Überprüfung der Kontakte nicht selbst kümmern. Er will die Visitenkarten einscannen und an seinen Innendienst schicken, damit der überprüfen kann, ob ein Kontakt auf einer Sanktionsliste steht“, ist auf den Zetteln bei spielsweise zu lesen.

Die Glaswand füllt sich

Jede Gruppe hat sich trotz der kurzen Zeit eine konkrete Person mit ganz konkreten Bedürfnissen vorgestellt. Die erfundenen Personen werden den Typen Tina Vertrieblerin und Hannes Exportler zugeordnet. Kemmner sortiert die Ideen gleich etwas, bildet Gruppen und macht Komplimente: „Mensch, ihr seid ja richtig kreativ!“ In weiteren Runden regt sie dazu an, sich noch genauer in die gefundenen Personen hineinzuversetzen, um die Kernprobleme der Nutzer möglichst exakt definieren zu können. Die Glaswand füllt sich mit immer mehr Ideenzetteln. Die Herausforderungen werden immer klarer, vor denen die vorgestellten Nutzer in ihrem beruflichen Alltag stehen. „Und wie können wir Hans Dampf, Hannes Exportler oder Tina Vertrieblerin jetzt helfen?“, fragt Kemmner. Sie teilt wieder Papiervorlagen aus, diesmal für Papierprototypen. „Um wenigstens ein bisschen ein Gefühl dafür zu bekommen, wie der Schritt Prototypenentwicklung aussehen kann, könnt ihr euch die Vorlage Smartphone oder Tablet aussuchen. Was sind die wichtigsten Funktionen, die eure Nutzer in der App haben wollen und wie sollen sie angeordnet sein? Jeder malt für sich und hat fünf Minuten Zeit!“ Der Vorteil von diesen Vorlagen und dem malen mit Stift liegt auf der Hand – man reduziert sich bei der Gestaltung ganz automatisch auf das Wesentliche.

Ganz konkrete Ideen als Ergebnis

Obwohl keiner der Anwesenden schon jemals eine App entwickelt hat, hängen nur wenige Minuten später noch mehr Zettel an der Glaswand. Man kann kaum mehr sehen, wer auf der anderen Seite vorbeiläuft. Auf den Zetteln sind sehr konkrete Ideen, was die App-Nutzer haben wollen: vom Visitenkartenscanner über Übersetzungshilfen bis hin zum großen Button fürs komplette Ausschalten der App: Feierabend! Auch konkrete Felder für die direkte Verbindung zum Innendienst werden genannt. Ebenso wie eine Freigabeanforderung beim Vorgesetzten wegen des Vier-Augen-Prinzips. Kemmner fragt am Ende auch nach den E-Mail-Adressen der Teilnehmer. „Wenn dann ein echter Prototyp erarbeitet ist, werde ich Sie um Ihr Feedback bitten und beim Testen einbinden.“ So können die Teilnehmer auch nach dem Workshop noch die weiteren Stufen des Prozesses miterleben und prägen.

Der Autor: Ludwig-Michael Cremer ist Theologe, Kommunikationsberater und Journalist und schreibt seit 1992 vorwiegend über Themen aus der Welt der Logistik. Für die Reportage über Design Thinking nutzte er eine Technik, die er schon 1985 im ersten Jahr seiner Ausbildung bei der Münchener Journalistenschule IFP lernen durfte. Eine Reportage ist wie ein Zug: Vorn eine starke Lokomotive, dann folgen Waggons mit Beschreibungen und Informationen, die von einem roten Faden zusammengehalten werden. Haben Sie den Faden entdeckt?

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