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Tabula Rasa

ES GENÜGT, WENN EIN EINZIGER TON SCHÖN GESPIELT WIRD

Arvo Pärts Tabula rasa galt in der offiziellen UdSSR als «antisowjetische» Musik. Ausserhalb Osteuropas wurde das Werk im Jahr 1984 durch Manfred Eicher und sein neu gegründetes Label ECM Records bekannt. Die Erstveröffentlichung im damaligen Westdeutschland begründete eine der aussergewöhnlichsten musikalischen Karrieren des späten 20. Jahrhunderts. Tabula rasa ist Kult und Herzstück unseres Programms mit Doppelkonzerten.

TEXT CORINNE HOLTZ

Musik aus fast nichts. Dreiklänge und Tonleitern. Im zweiten Satz «Silentium» erklingen achtzehn Minuten lang leise und lange Töne, ohne eine einzige Änderung des Tempos, der Lautstärke oder des Charakters. «Musik hat eine andere Zeit», sagt Arvo Pärt und zwingt die Ausführenden, in den einzelnen Ton hineinzuhorchen. Ein Dirigent verglich die Wirkung von «Silentium» einmal mit dem Lügendetektor: Der Musiker stehe «nackt» auf der Bühne und könne nichts verstecken.

Der Uraufführung in Tallinn gehen anstrengende Proben voraus. Machtlos hätten sich die Musiker gefühlt, sagt Nora Pärt, die Ehefrau des Komponisten. Gidon Kremer und Tatjana Grindenko (Sologeigen) und Alfred Schnittke am präparierten Klavier überschreiten eine Grenze: weg von komplexen Partituren und effektvoller Virtuosität hin zur Demut vor dem einzelnen Ton. «Ich brauchte Zeit, um die Qualität dieser aus dem Schweigen schöpfenden Musik zu erkennen», sagt Kremer im Rückblick.

Pärts Lebens- und Schaffenskrise mündete 1976 in die Entdeckung des «Tintinnabuli (Glöckchen)-Stils», wie der Komponist seine Wende bezeichnet. Der Dreiklang ist für ihn der «glockenhaft tönende Goldgrund», aus dem sich einfachste Melodieführungen ableiten lassen. Sie treten an die Stelle von seriellen Verfahren und machen den Weg frei für Pärts religiös inspirierte Bekenntnismusik. 1980 setzte sich Pärt aus Estland ab und reiste über Israel und Wien in die Frontstadt Berlin-West.

Alfred Schnittke, nur ein Jahr älter als Arvo Pärt und ebenfalls in der UdSSR ausgebildet, vollzog als beinahe Gleichaltriger einen ähnlichen Weg. Das Concerto grosso Nr. 1 begründete seinen internationalen Durchbruch. Gidon Kremer, der Auftraggeber, konnte Schnittke im Herbst 1977 auf die Tournee durch Westeuropa mitnehmen und die polystilistische Musik bekannt machen. Im gleichen Jahr entstand Pärts Tabula rasa – ebenfalls als Auftragswerk. Pärt sollte eine Komposition schreiben, die Schnittkes Concerto grosso in einem Konzertprogramm begleiten könnte.

Alfred Schnittke verliess Moskau nach der Wende und begann ein zweites Leben in Hamburg. Im Concerto grosso Nr. 3 versammelte Schnittke 1985 die Jubilaren Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, Domenico Scarlatti und Alban Berg. Die Hommage, so Schnittke, beginnt «schön neoklassizistisch, aber nach wenigen Minuten explodiert das Museum und wir stehen mit den Brocken der Vergangenheit vor der unsicheren Gegenwart».

Auch die anderen Komponisten in unserem Doppel mit Daniel Hope und Sebastian Bohren widmen sich Gesten der Vergangenheit. Gastkomponist Martin Wettstein schreibt ein Doppelkonzert für die beiden Musiker und verbindet sich darin mit Arvo Pärts zentralem Wert der Stille. The Temple of Silence ist durch die gleichnamige Kollektion symmetrischer Bilder des britischen Künstlers Herbert Crowly inspiriert, die im Jahr 1913 zusammen mit Schlüsselwerken der europäischen Avantgarde an der «Armory Show» in New York zu sehen waren.

TABULA RASA DI, 25. APRIL 2023, 19.30 UHR TONHALLE ZÜRICH

Daniel Hope Music Director Sebastian Bohren Violine Zürcher Kammerorchester

CHF 110 / 100 / 85 / 60 Wolfgang Amadeus Mozart Adagio und Fuge c-Moll, KV 546 Arvo Pärt Tabula rasa Alfred Schnittke Concerto grosso Nr. 3 für zwei Violinen, Streichorchester, Cembalo, Klavier und Celesta Martin Wettstein The Temple of Silence. Konzert für zwei Violinen und Streichorchester (Uraufführung) Edvard Grieg Aus Holbergs Zeit. Suite im alten Stil, op. 40

«Das Thema Stille fasziniert mich seit Längerem. So in den neueren Werken (darunter Siddharta, Tinnitus, 3. und 4. Klaviertrio), in Form von Meditation und auch im physikalischen Sinn. Die Stille ist eine Quelle für ungeahnte Klänge, Figuren und Rhythmen. Zeitgenössische Kunst soll dem Publikum Raum erschliessen und versuchen, in ihm selbst etwas zum Schwingen zu bringen.»

MARTIN WETTSTEIN

The Temple of Silence Herbert Crowly

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