Ihr persönliches Notizbuch

Ihr persönliches Notizbuch
Wie man sie findet, festhält und fördert
We areherefor you. Benefit from oursuperiorexpertise in all services forclassicvehicles from thebrand with the star.Thisincludes factoryrestoration, repairorinspection, as well as manufacturerʼs expert assessment, vehicle trade andgenuine classicparts.
Das Pferd war grau und groß, so groß, dass der Mann, der es besteigen sollte, eine kleine Aufstellleiter benötigte. Das Pferd galt als Inbegriff der Gutmütigkeit und hieß Brian. Der Mann (ich) war noch nie auf einem Pferd geritten, hörte etwas ängstlich den Erklärungen zu, was er mit Zügeln und Schenkeln zu tun hatte. Wir befinden uns in England, in der wunderschönen Gegend nahe Oxford. Ein Abend im Herbst, letzte Sonnenstrahlen beleuchteten die Wiesen und Hügel. Ich hatte mich von einer befreundeten Familie zu diesem Abenteuer überreden lassen. Anfangs lief die Mutter noch neben mir her, dann gab sie Brian einen Klaps auf den Hintern und rief: »Don’t worry, Brian knows the way, he will take you home.« Keine Sorge, Brian findet nach Hause. Wir mögen eine halbe Stunde unterwegs gewesen sein, als Brian Appetit bekam, stehen blieb und seinen großen Kopf zu den fetten Grashalmen hinabsenkte. »Don’t worry«, dachte ich hoch oben auf seinem Rücken. Ich dachte es auch später noch, als die Dämmerung einsetzte und ich immer noch als lebende Statue in den Himmel ragte, trotz des Einsatzes von Schenkeln und Zügeln. Noch später wurde es dann dunkel, ach, was rede ich: Stockfinster wurde es. Und still. Nur aus dem schwarzen Loch unter mir kamen die Geräusche von Brians großem Mund bei der Arbeit. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich Menschen in weiter Ferne meinen Namen rufen hörte ... Liebe Leserin, lieber Leser, ab Seite 90 haben Pferde einen sehens- und lesenswerten Auftritt. Ich selbst bin nie mehr geritten.
Andreas Lebert, Chefredakteur
Olaf Hajek, 1965 in Rendsburg geboren, ist einer der bekanntesten deutschen Illustratoren. Seine Zeichnungen – oft mit Zitaten aus Flora und Fauna –erscheinen in vielen internationalen Magazinen. Für diese Ausgabe hat er die »Guten Gedanken« (S. 28), das Cover und unser Notizbuch (S. 39) illustriert.
Unser Themenhef tüber Ängsteund wie wirsie bewältigen
Till Raether ist Schriftsteller und mit einer Medizinjournalistin verheiratet. Sie bringt stets die neueste Evidenz über ein gesundes Leben mit nach Hause, was den Familienalltag oft radikal verändert. Für ZEIT WISSEN schreibt er ab dieser Ausgabe eine neue Kolumne: »Der Mann, der zu viel wusste« (S. 16).
20 Jahre ZEIT WISSEN:
Jetzt feiern wir. Aber wer ist eingeladen?
Die Musikerin Alli Neumann spielt Fagott, das ist so sexy wie Sean Penn
Zu unserem Jubiläum haben wir ein Geschenk für Sie: ein Notizbuch, in das viele gute Gedanken passen (S. 39)
6 AM ANFANG DREI FRAGEN
1. Was könnte man mit all den fallenden Blättern anstellen? 2. Kann man Spaß haben auf Befehl? 3. Warum fühlen wir uns im Dunkeln manchmal wohler als im Licht?
12 JUNGES WISSEN, ALTES WISSEN
Marie Geißendörfer (8) und Maria Steur (73) über das Klöppeln
16 DER MANN, DER ZU VIEL WUSSTE
Die neue Kolumne von Till Raether
18 FEIERN, TANZEN, TRINKEN
Party in diesen Zeiten? Na klar!
40 »ICH DACHTE, ICH KANN GAR NICHTS«
Die Musikerin und Schauspielerin Alli Neumann im ZEIT WISSEN-Gespräch
48 DIE LIEBE ZUM HOLZ
Ohne Linden, Eichen und Fichten wäre die Geschichte des Menschen anders verlaufen. Und die der Kunst auch
56 WAS PASSIERT MIT UNS IM HOTEL?
Wir träumen und fühlen anders:
Checken Sie ein für einen Aufenthalt in der Übernachtungspsychologie
62 DAS ZAUBERWORT HEISST OHM
Welche Kopfhörer sind die besten?
Eine Reise in die Welt der guten Gedanken. Mit Stationen in der Literatur, Psychologie und Hirnforschung. Kommen Sie mit!
64 FIEBER, FIEPEN, FEHLALARM?
Selbstdiagnose auf der Couch: Diese digitalen Gadgets warnen uns vor Gesundheitsrisiken
70 DER WATERGATE-SKANDAL
Was geschah genau am 17. Juni 1972 in einem Betonbau am Potomac River?
74 FREUNDLICH GEWINNT
Wer eigene Verletzungen überwindet, erspielt sich einen Vorteil im Leben. Teil 2 der Serie
80 GESPRÄCH MIT EINEM BLUMENSTRAUSS
»Jeder Tag ein Fest«, sagt der Enzian
85 KRIEG – DIE GRÖSSTE ZUMUTUNG
Warum hört das Töten nie auf?
Rüsten Sie sich für eine Expedition in vermintes Gelände
90 DAS GLÜCK DER PFERDE
Die Pferdeversteherin Andrea Kutsch weiß, wann diese Tiere alles für uns tun. Und wann nicht
100 ZAUBER DER VERWANDLUNG
Empfehlungen für Bücher, Filme, Digitales
104 IMPRESSUM / BESTE FRAGE
106 TRÖSTEN LERNEN VON ELEFANTEN
1. Was könnte man mit all den fallenden Blättern anstellen?
Jedes Jahr im Herbst schmeißen die Bäume ihre Blätter ab, um besser mit dem Frost klarzukommen. Eine Menge Rohstoff, der da auf dem Boden landet
Text Christoph Drösser Foto Zack Seckler
Im Jahr 2018 brannten in Kalifornien mal wieder die Wälder, und der damalige Präsident Donald Trump besuchte den geplagten US-Bundesstaat.
Er wusste auch sofort, was die Kalifornier dagegen tun sollten: »Ihr müsst eure Wälder aufräumen«, sagte er, »ihr müsst die Blätter loswerden und den Dreck.« So wie die Finnen es täten. »Die verbringen viel Zeit mit Rechen und Putzen und solchen Sachen.« Vielleicht dachte Trump dabei an seine Golfplätze, deren Rasen er immer peinlich sauber halten lässt. Der finnische Präsident Sauli Niinistö jedenfalls sagte damals, er habe Trump zwar erzählt, dass die Finnen sich um ihre Wälder kümmern würden, von Putzwut mit dem Rechen sei aber nicht die Rede gewesen.
In der Natur, das wissen nicht nur die Finnen, geht vom Herbstlaub keine Gefahr aus – im Gegenteil: Die zu Boden fallenden Blätter zersetzen sich und werden zu Humus – der Quelle neuen Lebens. In Städten dagegen wird Laub schon gesammelt und zwar so viel, dass man allein in Deutschland einen Güterzug damit befüllen könnte, der von Duisburg bis Stuttgart reicht: lang genug für die jährlich 740.000 Tonnen toter Blätter. Was tun damit, wenn man sie vielleicht mal nicht – wie bisher – verbrennen oder kompostieren möchte?
Eine Idee dafür hätten Forschende des LeibnizInstituts für Bioökonomie in Potsdam und des ThaerInstituts der Berliner Humboldt-Universität. Sie haben ein Verfahren entwickelt, das Laub mit Biogasanlagen in Strom verwandelt – was noch dazu weniger Treibhausgasemissionen verursacht als die Kompostierung. Sie schreiben: »Etwa 7,5 Tonnen vorbehandeltes Laub würden den durchschnittlichen Stromverbrauch einer Person in einem Jahr decken.« Alle Blätter aus Berlin zusammengerecht könnten demnach rund 8.000 Berliner ein ganzes Jahr lang mit Energie versorgen.
Auch der Ukrainer Valentyn Frechka hat eine alternative Nutzung erfunden: Papier aus Herbstlaub. 2,3 Tonnen Laub braucht er für eine Tonne Zellulose – dafür würden sonst 17 Bäume sterben. Beim diesjährigen Preis für junge Erfinder des Europäischen Patentamts ist er damit unter die drei Finalisten gekommen und vertreibt das Papier jetzt mit einer eigenen Firma.
Amerikanische Forschende haben im Osten der USA, wo das Farbspiel der Blätter besonders spektakulär ist, aus dem Laub der feuerroten Ahornblätter einen neuartigen Werkstoff entwickelt. Eine wichtige Rolle für dessen Eigenschaften spielt das in den Blättern enthaltene organische Mineral Whewellit: Es kann durch seine Struktur das gesamte Spektrum des Sonnenlichts aufnehmen. Der Werkstoff soll sowohl in Solarzellen als auch zur Wasserstoffproduktion einsetzbar sein, dabei helfen können, schädliche Antibiotika in der Umwelt abzubauen, und auch noch als Kunststoff funktionieren. Und im Norden Chinas hat eine Forscherin aus den Blättern der dort wachsenden Paulowinen – auch Blauglockenbäume genannt – ein poröses Karbonmaterial erschaffen, das als Kondensator elektrische Energie speichert und die Ladung erstaunlich lange hält.
Übrigens: Haben Sie sich schon mal gefragt, welchen Einfluss es auf die Erdrotation hat, wenn die Blätter im Herbst auf den Boden fallen? Schließlich bewegt sich da eine größere Biomasse jährlich Richtung Erdmittelpunkt, was die Drehgeschwindigkeit erhöhen müsste (wie bei einer Eiskunstläuferin, die schneller rotiert, wenn sie die Arme anlegt). Da auf der nördlichen Halbkugel mehr Bäume wachsen, die ihre Blätter abwerfen, als auf der südlichen, gibt es tatsächlich einen Effekt: 0,1 Nanosekunden verkürzt sich der Tag im nördlichen Winter dadurch, haben Forschende berechnet. Was man damit noch alles anstellen könnte!
Können kann man schon, aber spätestens wenn man muss, wird es kompliziert.
Eine Profi-Spaßbringerin über ihre Tricks
Text Susan Urbanek Foto Evgeniy Stetsko
Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem Club und niemand tanzt, niemand lacht, niemand hat Spaß. Ein Worst-Case-Szenario, das Anbieter von Partyreisen unbedingt verhindern wollen. Sie bezahlen sogar Menschen dafür, Spaß mitzubringen. Mit 19 Jahren beschloss ich, einer dieser Menschen zu werden. Meine Voraussetzungen für den Job als Reiseleiterin schätzte ich gut ein: Spaß am Feiern hatte ich, der Stundenplan der Schulungsfahrt ins spanische Lloret de Mar mit täglichem »Nightlife« bis drei Uhr morgens schreckte mich nicht ab. In der Partyhochburg an der Costa Brava reihen sich die Clubs mit aufgeregt blinkenden Neonlichtern eng aneinander. Dazwischen Bettenburgen, in denen die Uhren anders ticken als im Rest Spaniens: Nach einer verzechten Nacht trifft man sich erst wieder zum Mittagessen – außer man macht seine Schulung zur Reiseleiterin. Dann klingelt der Wecker, trotz »Nightlife« bis zum Morgen, bereits um sieben Uhr. Ich war ja nicht zum Spaß hier – zumindest nicht für meinen. Wie wir den Spaß der anderen quasi auf Knopfdruck herstellen sollten, lernten wir in Workshops von erfahrenen Stimmungsmachern: durch gemeinschaftlich einstudierte Clubtänze zum Beispiel. Oder einen Ausflug zur Paintballarena. Oder ein Minigolfturnier durchs gesamte Hotel. Auch: Kostümierung jeder Art.
Wir lernten, Anlässe zu schaffen, die uns selbst und dann möglichst vielen Gästen Freude bereiteten. Das Motto: Begeisterung kann (muss!) anstecken. Nach zehn Tagen morgendlicher Workshops und nächtlicher Clubbesuche wurde es ernst. Mir gegenüber saßen zwei der Ausbilder für das Einstellungsgespräch. Nach einem Blick in ihr Notizbuch, in dem meine Spaß-Performance der vergangenen Tage zwischen Animation, Tanzeinlagen und Verkaufstraining genauestens vermerkt
war, kam die Frage: »Hast du Spaß beim Feiern?« Müde bejahte ich die Frage. Dann folgte ein Satz, den ich mit in die folgende Sommersaison als Reiseleiterin nahm: »Dann sag das auch deinem Gesicht.«
Also gut. Immer mit einem Lächeln auf den Lippen verbrachte ich über einen Monat in den Clubs des griechischen Äquivalents zu Lloret de Mar – Chersonissos. Wurde das Lächeln mal schwer, gab es noch den Alkohol. Nach ein paar Drinks war der Spaß spaßiger und fühlte sich weniger nach Arbeit an. Nur für den folgenden Tag war dieser Trick nicht so gut. Mit schwerem Kopf arbeitete es sich schlechter, und die Erkenntnis, dass das mit dem Spaß auf Dauer so nicht funktioniert, war ernüchternd.
Harry Reis ist Professor für Psychologie an der Universität von Rochester in New York und forscht unter anderem zu Spaß. Er sagt: »Wir werden mit der Veranlagung geboren, Spaß haben zu können.« Allerdings würden wir das im Alltag leicht vergessen. Eine Studie, für die Probanden über drei Tage hinweg immer wieder ihren Spaßlevel (auf einer Skala von eins bis sechs) angeben sollten, zeigte, dass manche sogar überhaupt keinen Spaß hatten. »Die meisten dieser Menschen waren sehr auf ihre Arbeit und Verpflichtungen konzentriert«, sagt Reis. Spaß hingegen entstehe »aus dem intrinsischen Vergnügen an der Tätigkeit selbst«. Ohne Verpflichtung also. Einen universellen Schlüssel gebe es ansonsten nicht. Er liebe es zum Beispiel, Achterbahn zu fahren. Seine Frau hasst es.
Zum Ende meiner Zeit als Reiseleiterin rief unsere Chefin das Team zusammen und verkündete: Der Spaß sei vorbei, die Firma, für die wir arbeiteten, würde vom Markt genommen. Bis zum Abschluss der Saison feierten wir ganz ohne Angst davor, für zu wenig Spaß entlassen zu werden. Es waren die besten Partys des Sommers.
wir uns im Dunkeln
Die Dunkelheit gilt als Schreckgespenst, und doch sehnen wir uns nach ihr – manche mehr, manche weniger. Was hat sie zu bieten?
Rahel Lang Foto Damien Blinkk
Wir kennen es vermutlich alle: An manchen Tagen möchten wir uns die Bettdecke über den Kopf ziehen und uns im Dämmer verkriechen. Aber ist das immer ein Zeichen von Traurigkeit? Kinder bauen gerne Höhlen, und in der Sauna entspannen wir am liebsten bei gedämpftem Licht. Manchmal ist es also gerade die Dunkelheit, die wir suchen, warum?
»Schummriges Licht ist evolutionär in uns verankert, etwa durch den Sonnenuntergang«, sagt Alina Trummel. Sie ist Lichtberaterin in Köln und hilft Menschen bei der Suche nach der passenden Beleuchtung für ihr Zuhause. Trummel weiß, dass viele Leute hierzulande gerne warmes und gemütliches Licht mögen.
Dass der Mensch auch mit schwachem Licht liebäugelt, mag daran liegen, dass dieses schon immer ein wichtiger Bestandteil seiner Umgebung war. Unsere Vorfahren hatten in ihren Höhlen nur das Feuer als Lichtquelle, das heißt, sie mussten auch im Dunklen klarkommen. Das menschliche Auge ist dementsprechend angepasst: Seine Pupillen sind in der Lage, sich zu weiten – und können so im Dunkeln mehr Licht einfangen. Auch die Stäbchenzellen reagieren auf sehr schwaches Licht. Dennoch: Die Mehrheit unserer Augenzellen sind Zapfen, die viel Licht brauchen, dafür aber Farben und feine Details erfassen können. Der Mensch ist tagaktiv. Das zeigt sich auch an unserer Stimmung: Sobald Sonnenstrahlen auf die Netzhaut der Augen treffen, schüttet unser Körper das Glückshormon Serotonin aus. Im hohen Norden kann das sommerliche Dauerlicht sogar euphorische Zustände auslösen. In unseren Breitengraden ist der Tag inzwischen auch unendlich geworden, aber aus anderen Gründen. Dank künstlichen Lichtes können wir bereits die grauen Morgenstunden ausstrahlen und bis tief in die Nacht
im Hellen arbeiten. Ständig umgeben uns Lichtquellen. Rund 80 Prozent der Weltbevölkerung ist von Lichtverschmutzung betroffen, also einem künstlich erhellten Nachthimmel ausgesetzt. Das kann zum Problem werden: Grelles und kaltes Kunstlicht erschwert, dass wir uns entspannen; der Schlaf-Wach-Rhythmus kommt durcheinander. Die Folgen reichen von Schlafstörungen und Stress bis zu psychischen Krankheiten.
Die Dämmerung hat also durchaus eine wichtige Funktion. »Wenn wir abends nach Hause kommen, wollen wir zur Ruhe kommen. Wir haben das Bedürfnis, Licht zu reduzieren«, sagt Trummel. Und: »Der Sonnenuntergang löst ein Gefühl der Entspannung in uns aus.« Nachzuahmen ist er mit reduziertem und farbigem Licht. Wollen wir schwaches Licht haben, empfiehlt Trummel, mehrere kleinere Lichtquellen im Raum zu verteilen und bewusst zu entscheiden, welche Bereiche beleuchtet werden sollen und welche dunkel bleiben dürfen. Und sie rät, die Lichter auf Augenhöhe zu stellen, um den Effekt der sinkenden Sonne zu erschaffen.
Dass Dunkelheit auch heilend sein kann, macht sich die Dunkeltherapie zunutze, bei der Patientinnen und Patienten sich in einer finsteren Umgebung befinden. Da das Auge im Dunklen weniger Informationen an das Gehirn senden kann, bleiben mehr Kapazitäten, in tiefe Gedanken einzutauchen, Selbsterkenntnisse zu erlangen und damit psychische Leiden zu behandeln.
Eine kleine Studie der Universität Victoria in Kanada hat dies untersucht: Die Teilnehmenden verbrachten mehrere Tage auf dem Land und erlebten die dunklen Nächte bewusst. »Im Dunkeln fühle ich mich viel mehr als Freund für mich selbst. Ich habe mich selbst mehr gespürt«, berichtete einer. Wir können uns also ruhig mal in einer Höhle aus Decken verkriechen, um nachzudenken und Kraft zu tanken.
Unsere Expertin: Marie Geißendörfer, 8, klöppelt am liebsten Pferde aus Spitze. Sie wohnt im baden-württembergischen Schwabsberg. In ihrer Familie hat das Klöppeln eine lange Tradition.
Als meine Oma mir sagte, dass ich gewonnen habe, konnte ich es ihr erst gar nicht glauben. Ich habe letztes Jahr bei einem Klöppelwettbewerb mitgemacht und überhaupt nicht damit gerechnet, dass ich gewinne. Das Motto des Kinderwettbewerbs des Deutschen Klöppelverbandes hieß »Alles, was fährt«. Ich habe ein geklöppeltes Bild von einem Pferd auf Rollschuhen eingereicht – das fährt ja auch.
Klöppeln ist ein besonderes Handwerk, bei dem wunderschöne Spitze entsteht. Es ist gar nicht so schwer: Ich brauche Holzteile, um die Fäden gewickelt werden, Klöppel eben. Für mein Pferdebild habe ich zwölf benutzt. Das Wichtigste ist der Klöppelbrief – ohne den geht gar nichts! Er ist ein normales Blatt Papier, auf das ich mein Bild als Vorlage male. Dann fange ich an,
ein Spitzenband zu klöppeln. Dafür muss ich die Klöppel in eine bestimmte Reihenfolge legen, sodass sie Knoten und Schlingen bilden und ein Spitzenmuster entsteht. Als ich anfing zu klöppeln, kam ich dabei oft durcheinander, aber jetzt habe ich es raus, und es ist ganz einfach. Die einzelnen Fäden befestige ich mit Stecknadeln auf dem Klöppelbrief und lege so das Muster meines Bildes nach. Zum Glück sind die Nadeln beweglich, und ich kann am Ende noch mal nachbessern. Wenn alles richtig sitzt, fixiere ich das Klöppelbild mit einem Spray. Eigentlich kann nicht viel schiefgehen. Es kann nur passieren, dass sich die Fäden verheddern und es einen ungewollten Knoten gibt. Den kann man aber ganz einfach entwirren. Meine Oma Marianne hilft mir beim Klöppeln. Sie hat es mir beigebracht, als ich sechs Jahre alt war. Inzwischen habe ich
Aufgezeichnet von Rahel Lang
Foto
Verena Müller
schon viele komplizierte Bänder gemacht, zum Beispiel mit Perlen oder in mehreren Farben. Ich will auch mal ein großes Bild klöppeln. So wie meine Oma: Sie hat ein riesiges Bild gemacht von einer Frau mit schönem Hut. Das hat ewig gedauert.
Auf Stricken oder Häkeln habe ich nicht so Lust. Klöppeln ist nämlich auch deswegen toll, weil es so wenige machen. Wenn ich Freundinnen vom Klöppeln erzähle, wissen sie oft nicht, was das ist. Das ist in meiner Familie anders: Meine Tante, mein Cousin und mein Bruder klöppeln. Was würdest du jemandem raten, der mit dem Klöppeln anfangen will? Sie sollte ein Armband machen, das ist einfach: Man klöppelt ein Band und näht die Enden so zusammen, dass es ums Handgelenk passt. Auf welches Werk bist du besonders stolz? Auf mein Rollschuh-Pferd.
„Bei mir hatdas G Symptome waren n gegangen sind.“ J (CRSwNP). Damit
Dauerschnupfen und verstopfte Nase
Mehr als ei i
Während eine Erk k Erkrankung,die ü eine körpereigene e bedeutet,dass da a dung der Nasensc c sichstarkauf den viele Betroffene d beeinträchtigtde
Mir ha te si mmer geholfen ,o ffe nü be rd ie Er kran ku ng zu spre che nu nd meinen Freund*innen un dm eine rFam ilie ehrlich zu sagen, we nn es mir mal schle ch tg eht .“
Jannes,26, hatCRSwNP
Die Therapieeiner CRSwNP richtetsichnachdem Schweregradder Erkrankung.Reichtdie Basistherapienicht aus, können gezielteTherapien er folgen, wie derkurzzeitige Einsatz vonKor tison-Tabletten odereineoperativeEntfernungder Nasenpolypen. Allerdingskommendie Polypenbei vielen BetroffeneneinigeZeitnachder OP wieder. Wenn die Erkrankung sich trotz Kor tison oder Operationen nicht ausreichend bessert,stellenBiologik aeine moderne Therapieoption dar. Dassind innovativeWirkstoffe, diegegen diezugrundeliegendeTyp -2-Entzündung gerichtetsind und damit aufdie Ursacheselbst abzielen. Wichtig ist: Betroffene solltennicht aufgeben, wenn dieSymptome unkontrollier tsind, sonderngemeinsam mit ihren behandelnden Ärzt*innen einepassende Behandlungsstrategie finden.
12 3
Stärke Dein Immunsystem miteiner ausgewogenen Ernährungund ausreichend Bewegung
Mitden Händenfassen wir jeden Tag Ober flächen an, aufdenen sich Viren und Bakterienbefinden: FasseDir deswegenmöglichst wenigins Gesichtund wasche Dir regelmäßig dieHände.
Sorgefür eine möglichst hohe Luftfeuchtigkeit in geschlossenen Räumen:Besonders Heizungsluft trock net dieSchleimhäuteinden Atemwegenaus undErk ältungsviren haben einleichtes Spiel.
MehrInformationen zum Thema CRSwNP,einen SelbsttestoderauchTippsfür Betroffene und Interessierte gibt es auf www.aktiv-gegen-nasenpolypen.de oder auf Instagram@neustar t_nase
MitfreundlicherUnterstützung vonSanofi
Unsere Expertin: Maria Steur, 73, war die Erste in ihrer Familie, die Klöppeln gelernt hat. Ihr Wissen über das Handwerk gibt sie ehrenamtlich im Deutschen Klöppelverband weiter.
Seit 35 Jahren hält mich das Klöppeln fit, weil es viel Konzentration und Fingerspitzengefühl braucht. Und mir wird dabei nie langweilig, weil es unendlich viele Möglichkeiten gibt, etwas Neues auszuprobieren. Der Nachwuchs beim Kinderklöppeln ist nicht mehr interessiert an kleinen Zierdeckchen, die jungen Leute probieren gleich Armbänder und Kleidung aus. Ich habe die Liebe zum Klöppeln in einem Volkshochschulkurs in Ludwigsburg gefunden, und sie hat mich nicht mehr losgelassen. Heute schreibe ich sogar Bücher übers Klöppeln. Es gibt zwar viele Möglichkeiten, Spitze herzustellen – Knüpfen, Häkeln oder Stricken. Aber es gibt nur zwei Arten »echter« Spitze: Nadelspitze und Klöppelspitze. Für Klöppelspitze braucht man nur zwei Grundbewegungen, um die
Fäden zu Spitze zu verflechten: Kreuzen und Drehen. Aus der Variation von Reihenfolge und Wiederholungen ergibt sich dann eine bestimmte Schlagtechnik. Mal werden die Fäden dichter und mal loser »geschlagen«. Die Präzision, mit der ein solches Muster entsteht, spiegelt sich am Ende in der Qualität der Spitze wider. Es kann schon mal mehrere Hundert Stunden dauern, bis eine handgeklöppelte Spitze fertig ist.
Die Anleitung, um eine Spitze herzustellen, kommt ganz ohne Worte aus. Der Klöppelbrief gibt mir die Anzahl der Klöppel, die Dicke des Garns und auch das Muster der Spitze vor. Den Brief befestige ich mit ein paar Nadeln und einer dünnen Pappe auf einem Kissen. Beim Klöppeln folgen die Fäden dann der Musterzeichnung.
Manchmal liegt dem Klöppelbrief noch eine technische Zeichnung bei. Der
Aufgezeichnet von Susan Urbanek
Foto
Patricia Kühfuss
Brügger Farbcode zeigt mir dann, welchen Schlag ich als Nächstes machen muss. Grüne Linien zum Beispiel stehen für einen Halbschlag. Den Farbcode versteht jeder, er ist also international. Meine Zeichnungen und Spitzenentwürfe haben es auf diese Weise bis nach Japan und Südafrika geschafft. Durch den weltweiten Austausch bleibt unsere eingeschworene Gemeinschaft immer aktiv. Ich habe eben ein Hobby, das Menschen verbindet.
Was würdest du jemandem raten, der mit dem Klöppeln anfangen will? Am besten fängt man in einer Gruppe an. Gemeinschaftlich klöppeln macht mehr Spaß und stärkt das Durchhaltevermögen.
Auf welches Werk bist du besonders stolz? Auf mein Porträt von Albert Einstein. Seine wilden Haare habe ich aus besonders bauschiger Mohairwolle geklöppelt.
•Bekämpf tdie Infekt-Erreger
•Lindert dieSymptome
•Beschleunigt dieHeilung
Wirktgegen dieUrsache des Atemwe gsinfekts* mitder Wurzel der südafrikanischen Kapland- Pelargonie.
*b ei akut er Bronchitis
Umckalo abo ® isteineeingetrageneM arke Re g.-Nr.:644318
Umckaloabo ® Wirkstof f: Pelargonium- sidoides -Wurzeln -Auszug. Anwendungsgebiete: Akut eBronchitis(Entzündung derBronchien). Enthält10,7% w/vAlkohol. Zu Risikenund Nebenwirkungen lesenSie diePackungsbeilage undfragenSie Ihre Ärztin,Ihren Arzt oder in IhrerApotheke. Dr.Willmar Schwab e GmbH &Co. KG -Karlsruhe U/01/09/23/01
Unser Kolumnist ist seit Jahren mit einer Wissenschaftsjournalistin verheiratet. Was sie an neuen Studien auf den Tisch bekommt, wirkt sich unmittelbar auf seinen Alltag aus – bis zur nächsten Studie. Nun hat sie Erkenntnisse über
Krafttraining mit nach Hause gebracht
Meine Großmutter hätte gesagt, ich sei ein kräftiger Mann. Leider ist sie vor längerer Zeit gestorben, ich würde mich gern hin und wieder an dieser Formulierung wärmen. Es klingt stark. Allerdings meinte sie, wenn sie diese Formulierung auf jemanden anwendete: stattlich, breit, wohlgenährt. Eigentlich eine Statur, in der man sich als Mann in der Lebensmitte gut einrichten könnte. Ich würde es mir gern darin gemütlich machen, nur in Omas Sinne ein kräftiger Mann zu sein und nicht sportlich gesehen. Aber meine Frau, die Wissenschaftsjournalistin, berichtet mir mit steigender Frequenz von Studien, die zeigen, dass Krafttraining für die Gesundheit viel wichtiger ist als bisher angenommen. Vor allem ab den mittleren Jahren, sagt sie, sei Muskelaufbau das A und O. Ich verweise darauf, dass ich gerade dabei bin, mich an YouTube-Yoga zu gewöhnen, und dass ich bis vor vier, fünf Jahren jährlich einen Halbmarathon gelaufen bin. Dehnbarkeit ist wichtig, sagt sie, aber du zehrst von der Substanz. Ich gebe zu bedenken, dass in der Familie immer noch ich es bin, der dafür zuständig ist, Gurkengläser aufzumachen. Während ich es ausspreche, wird mir klar, dass diese Rolle längst mein Sohn übernommen hat. Meine Frau sagt: Du musst Krafttraining machen, um mit wachsendem Alter den Status quo zu erhalten. Use it or lose it. Nutz es, oder verlier es. Also sie. Die Muskeln. Es fällt mir schwer, mich englischen Spruchweisheiten zu entziehen, die sich reimen. Fake it til you make it habe ich immer beherzigt, warum also nicht use it or lose it. Ist es gut, das zu wissen, oder wäre ich lieber im Unklaren geblieben und hätte mich an meinen Spaziergängen und meinen alten Halbmarathon-Teilnahme-Medaillen erfreut? Meine Freude, wenn ich 8.000 Schritte am Tag erreiche, ist getrübt dadurch, dass ich denke: Na gut, schön rumgelatscht, aber nicht Richtung Krafttraining.
Eigentlich dachte ich, Krafttraining sei etwas für junge Menschen, die das aktuelle Körperideal noch erfüllen können. Mein Sohn, 20, ist sehr trainiert, er hat große Muskeln und verwendet viel Zeit darauf, damit sie so bleiben. Ich möchte mich da eigentlich nicht einmischen, irgendwie ist das sein Bereich. Aber meine Frau, die es hasst, wenn Dinge rumstehen, und den Familienrat einberuft, wenn ein kleinflächiges neues Küchengerät angeschafft werden soll, denkt plötzlich über die Anschaffung einer Kraftstation für den Keller nach. Sie zeigt auf ihre Studien, auf all die positiven Gesundheitswirkungen, vor allem im Alter, und sagt, diese Kraftstation sei eine Investition in unsere Zukunft. Bis ich die entsprechende Fläche im Keller frei geräumt habe, geht sie einmal die Woche in einen Muskelaufbau-Kurs, den ihre Krankenkasse finanziert. Kurz denke ich über Eigengewichtsübungen nach, wegen des niedrigen logistischen Aufwands, finde dann aber, dass ich vielleicht doch etwas leichter einsteigen sollte, wegen recht hohen Eigengewichts. Ich melde mich im Fitnessstudio an, finde den Kraftraum dort eigentlich ganz angenehm, lasse mir ein paar Übungen zeigen und gehe dann nie wieder hin. Es tut mir leid, ich kann es nicht erklären, ich habe dieses Verhalten in den Neunzigerjahren verinnerlicht, ihr könnt einem alten Hund keine neuen Tricks beibringen.
Meine Frau budgetiert die Anschaffung der Kraftstation, ich werfe die Frage auf, ob sich das wirklich lohnen würde, denn wie lange würden wir die benutzen – bis wir Mitte sechzig sind oder so?
Sie sieht mich an und sagt, nein, also nach ihrer Kenntnis, nach den Studien, sei das für immer, bis ans Ende. Für den Stoffwechsel, den Knochenbau, die Beweglichkeit im Alltag, gegen alles, was krank macht. Muskel ist Leben, sagt sie. Pumpen, bis der Arzt nicht mehr kommt. Ich nicke, das Verstehen sickert ein. Meine Vision fürs Alter war bisher, dass ich wie ein alter Mann in einem portugiesischen Dorf in Anzughose und kurzärmeligem Hemd am Brunnen sitze und ab und zu meinen Gehstock schwenke und dass der Rest mir egal ist. Jetzt muss ich das so visualisieren, dass sich unter dem Hemd dickere Bi- und Trizepse spannen, als ich sie jetzt gerade habe. Dass Altern nichts für Feiglinge ist, wurde mir schon häufiger mitgeteilt, aber ich dachte, es sei wenigstens was für Faulpelze.
Till Raether ist Journalist und Schriftsteller. Er war stellvertretender Chefredakteur der »Brigitte« und arbeitet heute freiberuflich als Autor. Seine Kriminalromane mit Hauptkommissar Adam Danowski sind bei Rowohlt erschienen. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.
Achtung, ihr Gesundheitsapostel, Ernährungsheiligen und Sicherheitsprediger: Auf den folgenden Seiten bleibt ihr draußen. Denn jetzt wird gefeiert
Text
Niels Boeing Illustrationen Thomas Burden Fotos Karel Chladek
Ich gehe jetzt Schaschlik für uns alle holen«, sagt L., als ich aus der Bar zurück in den Garten komme. »Wir gehen dann nach oben in die Wohnung, und du legst Platten auf.« Sie lacht. »Was?!«, sage ich. Die anderen lachen jetzt auch. Es ist Hochsommer. »Leute, ich muss morgen arbeiten«, sage ich. »20.000 Zeichen schreiben. Elf Seiten! Ihr habt ja keine Ahnung, was das bedeutet.« Mir kommt es vor, als würden mich jetzt alle auslachen. Liebevoll auslachen. »Komm schon«, sagt M. Ich winde mich und trotte dann hinter L. her zur Currywurstbude. Als wir mit mehreren Tüten voller Essen zurück zur Bar kommen, fan-
gen die anderen an zu singen. »Zwanzigtausend Zeichen, sha-la-la-la-la!« Immer wieder. Ich muss lachen. »Okay, let’s go.« Zehn Minuten später haben sich alle im Wohnzimmer niedergelassen, essen Schaschlik, trinken Bier. Ich wühle in meinen alten Vinylsingles, lege ein Discostück auf. Ihr wolltet es haben, denke ich. Nächste Single, und noch eine. In den kurzen Pausen beim Plattenwechseln singt immer wieder jemand »Zwanzigtausend Zeichen, sha-la-lala-la!«. Das Schaschlik ist längst weg, alle tanzen. L. verschwindet kurz und reicht eine Perücke herum. M. schnappt sie sich sofort und tigert über den WohnzimmerDancefloor. Gejohle. Immer mehr Hüte
und Perücken tauchen auf. Alle lachen und schreien durcheinander. Ich drehe die Anlage immer weiter auf. Um fünf Uhr morgens, als die Letzten weg sind, die Sonne aufgegangen ist, steht der Lautstärkeknopf auf Anschlag. Das Fenster ist sperrangelweit auf gewesen. W. schreibt auf dem Weg nach Hause, dass man die Musik noch zwei Straßen weiter gehört hat.
Abzweig. Diese Partynacht ist bei allen, die dabei waren, heute eine Legende. Ohne Anlass, auch ohne Sinn und Verstand haben alle miteinander gefeiert. Das war kurz vor dem Finanzcrash 2008. Selige Zeiten im Rückblick für diejenigen, die das Glück
hatten, in Europa zu leben. Von der Kette an Krisen, die folgten, hat damals niemand etwas geahnt. In der Pandemie bekam das »Party Animal«, das der Mensch seit Jahrtausenden ist, dann seinen schwersten Schlag ab. Feiern unter Strafe verboten. Denn all das, was das Feiern ausmacht – die Nähe, der Schweiß, die Bewegung, das Schreien und Lachen –, konnte plötzlich tödlich sein. Davon hat sich die Gesellschaft bis heute nicht erholt. Etwas Drückendes liegt über ihr, selbst wenn die Sonne scheint. Alle halten irgendwie durch in der Hoffnung, dass die Heiterkeit irgendwann wieder die Oberhand gewinnt. Wie in einem Tunnel aus gleichmäßig dahintickender Zeit, aus dem kein Abzweig führt. Doch: Es gibt diesen Abzweig. Es ist das Feiern selbst.
Zeit. Der italienische Kulturanthropologe Alessandro Falassi hat das Wesen von Festen
und Feiern darin gesehen, dass sie eine »time out of time« sind, eine Zeit außerhalb der Zeit. Die Alltagszeit ist aufgehoben. Die Verpflichtungen, die in dieser gelten, die sozialen Erwartungen, der Ernst, um das zum Leben Nötige zu organisieren, scheinen außer Kraft gesetzt. Ein Fest hat seine Eigenzeit, die mit Stunden- und Minutenzeigern nicht zu erfassen ist. »Alle Mitglieder einer Gemeinschaft nehmen direkt oder indirekt daran teil«, schrieb Falassi, »und teilen dabei eine Weltsicht.« Man könnte sogar sagen: Sie teilen in dieser Eigenzeit eine Welt, die sie durch das Feiern überhaupt erst erschaffen.
Das wird nirgendwo so deutlich wie im Karneval: Keine Person ist mehr sie selbst, alle dürfen vorgeben, etwas anderes zu sein. Der Feiernde im Priesterornat könnte im Alltag ein Handwerker sein, die Person mit der Vogelmaske und dem gefiederten Umhang an anderen Tagen eine Ärztin. Wer sich
je auf den Karneval eingelassen hat, hat erlebt, wie sich plötzlich eine ganze Stadt als Parallelwelt präsentiert. Die Straßen und Häuser mögen dieselben sein, die Menschen, die sie in dieser »time out of time« bevölkern, sind Menschen, die es vorher nicht gab. Sie verhalten sich anders, begegnen sich anders, mit einer Heiterkeit und Leichtigkeit, die kurz vorher noch unmöglich schien. Auf der Kapverden-Insel São Vicente etwa zieht solch eine Parallelgesellschaft einen Tag lang als Prozession im Kreis um die Häuserblöcke von Mindelo, der größten Stadt der Insel. Alle sind verkleidet. Sie strömen in den Zug hinein, treten vielleicht an einer Stelle aus und in die nächste Kneipe ein, um sich dann wieder den Vorbeiziehenden anzuschließen.
Zuwendung zu den Göttern. Gefeiert haben Menschen immer, um aus dem Lauf der Zeit auszusteigen. Vor der Industriali-
sierung waren öffentliche Feste eingebettet in die sich ewig wiederholende Abfolge der Jahreszeiten: Sonnenwenden von Winter und Sommer, die Baumblüte im Frühjahr, Regen- und Erntezeiten. Ihr Kommen und Gehen war Ausdruck göttlicher Schöpfung. Bis auf Siegesparaden nach einem gewonnenen Krieg waren Feste nicht von der Religion zu trennen, und selbst da konnte man einem Kriegsgott huldigen.
Der dies festus, wie der festliche Tag auf Latein hieß, war immer auch der Zuwendung zu den Göttern oder dem Gott gewidmet. Er war Ritual und – oft ausgelassene – Feier zugleich. Der Mensch verließ seine alltägliche Zeit und tauchte vorübergehend in eine göttliche Zeit ein, zu der Mühsal und Sorgen keinen Zutritt hatten.
Die europäische Moderne schlug die Tür zu dieser göttlichen Zeit gewissermaßen zu. Die Religionen, die Alltagsleben und Kultur gleichermaßen durchdrangen und ordneten, verloren an Bedeutung. Die Einheit von Ritual und Fest ist längst zerbrochen, stellt der Theologe Walter Sparn, emeritierter Professor der Universität Erlangen-Nürnberg, fest. Seither gebe es drei Formen des Feierns: die politische Feier, das sogenannte Volksfest und die Feiern von Institutionen, Vereinen und Gemeinschaften bis hin zu Familien.
Inszenierung der Macht. Die politische Feier hat mit dem religiösen Fest allerdings etwas gemein: Hier inszeniert sich die Macht – nun ist es die weltliche, nicht die spirituelle Macht, die dem Volk eine kurze Auszeit gönnt. Im Großbritannien des 19. Jahrhunderts etwa wurden die Gemeinden angewiesen, öffentliche Feste anlässlich einer königlichen Hochzeit oder des nächsten Thronjubiläums von Queen Victoria zu organisieren. Es gab Prozessionen und Buden in den Straßen, das Volk putzte sich heraus und flanierte. Auch die Industrialisierung selbst lieferte Gründe, um Feste anzusetzen: Eisenbahnlinien wurden »feierlich« in Betrieb genommen, neu und selbstbewusst entworfene Rathäuser eröffnet. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in den Verwaltungen eine regelrechte Eventplanung, um die politische Feier zum Volksfest auszubauen, wie der britische Historiker Ben Roberts an den Städten Middlesbrough und Darlington nachgezeichnet hat.
Der Erste Weltkrieg setzte dem politischen Volksfest ein Ende: Als das Gemetzel 1918 vorbei war, hatten viele keine Lust mehr auf diese Art von oben inszenierter patriotischer Feste. Die Menschen organisierten nun eigene Straßenfeste, »plebejische Feiern in ihrer ursprünglichsten Form«, wie die Presse naserümpfend feststellte.
Wie schal das politische Fest im Vergleich zur spontanen Feier ist, konnte man sieben Jahrzehnte später in Berlin sehen. Als am 9. November 1989 die Mauer geöffnet wurde, strömten Zehntausende zum Brandenburger Tor, um auf den Betonplatten zu tanzen. Das war eine »time out of time«, ein unerhörtes Ereignis, das sich nicht inszenieren lässt. Das Fest zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 auf der Prachtstraße Unter
den Linden, nur elf Monate später, wirkte hingegen unbeholfen. Fast schon wie eine Farce, wenn über den Köpfen eine überdimensionierte, aufblasbare Pepsi-Cola-Flasche hin und her wehte. Der spannendste Moment war, als jemand Exemplare des Kommunistischen Manifests von Marx und Engels verteilte, versehen mit dem Stempel: »3. Oktober 1990. Gut aufbewahren!«
Just be. Der Kapitalismus kennt, anders als die Zeitalter vor ihm, keine zyklische Zeit. Sein linearer Zeitstrahl zeigt gnadenlos in die Zukunft, dorthin, wo die nächsten Profite erwartet werden. Markierten die religiösen Feste Haltepunkte – oder besser noch: Punkte des Innehaltens – im Kreislauf der Jahreszeiten, sind öffentliche Feste nun
Dann setzt ein wuchtiger Beat ein, die Spannung entlädt sich, auf den Gesichtern ein Strahlen
Diese Nacht wurde Legende. Ohne Anlass, Sinn und Verstand haben alle miteinander gefeiert
Kalenderfeste im Verlauf eines Geschäftsjahres, Gelegenheiten für ein nächstes gutes Geschäft. Die Planung wie auch das Fest selbst: ein Produkt. Ist das Kulturpessimismus? Nein, denn die menschliche Neigung, nach eigenen Vorstellungen zu feiern, bricht sich doch immer wieder Bahn. Aber ebenso sicher wird eine gelungene Feier zur Blaupause für ein neues Festival-Produkt.
Am 14. Januar 1967 strömten 20.000 Menschen in den Golden Gate Park in San Francisco. Einige Leute aus der dortigen, noch jungen Hippieszene hatten überlegt, es wäre an der Zeit, den Geist von love and peace öffentlich zu feiern. Sie riefen zum ersten Human Be-In der Geschichte auf. Lokale Bands spielten den ganzen Tag auf einer Bühne im Park. Eine Straßentheatergruppe – The Diggers – hatte tagelang Tausende Truthahn-Sandwiches geschmiert, die sie im Park verteilten. Und der berühmteste Drogenkoch von San Francisco, Owsley Stanley, spendete Tausende LSD-Trips aus seiner eigenen Produktion. Alles war kostenlos, alles wurde verschenkt. Am Ende des Tages gingen alle ruhig und beseelt nach Hause. »Die meisten Leute sahen zwar müde aus, aber unsere Blicke trafen sich in geheimer Freude. Gemeinsam war uns, dass wir etwas ganz eigenes anderes erlebt hatten«, schilderte die US-Soziologin Helen Perry später ihren Eindruck von dem Ereignis. 20.000 hatten eine »time out of time« gehabt. Der Golden Gate Park war übrigens am Abend blitzeblank sauber. Alles ohne professionelle Eventplaner.
Drogen. Sprechen wir kurz über Drogen, aber nur kurz. Die Sache ist einfach: Feiern und Feste sind zu allen Zeiten und in den meisten Kulturen keine nüchternen Veranstaltungen gewesen. Es waren nicht die Hippies, die den Drogenkonsum beim Feiern erfunden haben. Chicha, ein Maisbier, gehört in manchen Andenregionen zu jedem großen Fest, so, wie die Europäer seit je Wein und Bier gefrönt haben. In anderen Weltgegenden werden psychoaktive Pflanzen verkostet, in Gabun in Westafrika zum Beispiel die gemahlene Rinde des IbogaStrauchs, der zu den Hundsgiftgewächsen gehört. Wie bei allen Substanzen gilt: Die Dosis macht das Gift. Oft geht es darum, das gemeinschaftliche Erlebnis auch in ein spirituelles zu verwandeln.
Rave. Zwanzig Jahre nach den Hippies ersann eine neue Generation eine eigene Art des Feierns, diesmal in Mittelengland. In den Ruinen ehemaliger Industriegelände, in großen leer stehenden Lagerhäusern bauten sie massive Soundsysteme auf, durch die DJs einen harten, maschinenartigen Beat jagten, der junge Menschen magisch anzog. Zu Acid House und Techno tanzten sie sich zu Hunderten ganze Nächte in Trance, verstärkt durch synthetische Drogen. Der Rave war geboren und breitete sich bald durch die westliche Welt aus. »Raves hatten ein ganz eigenes Ethos, das ›PLUR‹ genannt wurde, für ›Peace, Love, Unity und Respect‹«, schreibt die US-Soziologin Tammy Anderson. Anders als die Flowerpower waren Raves eine Untergrundkultur, die von der Allgemeinheit nicht unbedingt wahrgenommen werden sollte. »Du konntest sein, was immer du wolltest. Auf einem wahren Rave wollten alle Spaß haben«, beschreibt eine australische Raverin die Atmosphäre. Die Zeit außerhalb der Zeit war ein Ausstieg aus der Tristesse sich deindustrialisierender Städte. Vor allem in Großbritannien und den USA wurden Raves schnell als Drogenexzesse kriminalisiert und per Gesetz eingeschränkt. Den Mächtigen war diese selbstbestimmte Art zu feiern zutiefst suspekt. Vielleicht auch weil das Sichin-Trance-Tanzen ein demonstrativer Bruch mit der westlichen Rationalität war.
Im Globalen Süden ist es seit je selbstverständlich gewesen. Die Khoisan etwa, die ältesten Bewohner des südlichen Afrika, trommeln, tanzen und singen sich seit Jahrtausenden in Trance. Es ist eine metaphysische Reise in eine andere Wahrnehmung, gar in eine andere Welt. »Wenn ich tanze, fühlt es sich an, als ob mein Magen in meinem Herzen ist, wie ein Energiestoß, wie ein Leuchten« – so hat ein europäischer Raver seine Trance-Erfahrung beschrieben. Die Khoisan könnten das wohl nachvollziehen.
Emotionale Ansteckung. Kollektives Feiern stand immer im Verdacht, Eskapismus zu sein. Anthropologen hingegen weisen darauf hin, dass Feste auch den sozialen Zusammenhalt stärken, ja Gemeinschaften in ihrem Selbstverständnis überhaupt erst begründen. Selbst Trancetänze sind eine gemeinschaftliche Erfahrung, die Tanzenden eingebettet in eine Menge, die trommelt,
Es wird langsam hell, aber niemand möchte aufhören
singt oder wie im Rave mittanzt. Der USPsychologe Andrew Neher spricht von einer »emotionalen Ansteckung«. Die konnte man auch im Berlin-Mitte der frühen Neunzigerjahre Wochenende für Wochenende erleben. Es war dort damals im Grunde wie ein großer Abenteuerspielplatz für Erwachsene, eine halbe Ruinenlandschaft, in der ebenfalls die Ravekultur gefeiert wurde. Zum Beispiel nachts im E-Werk: Du kommst in diese riesige Industriehalle, in der Hunderte zu einem Technobeat tanzen. Die DJane – es war in jener Nacht Ellen Allien – baut immer wieder kleine Variationen ein, plötzlich dämpft sie die Intensität, Spannung baut sich auf, die Menge ist hellwach, spürt die Veränderung. Dann setzt ein wuchtiger neuer Beat ein, Hunderte Arme fliegen in die Luft, alle schreien vor
Freude, die Spannung entlädt sich, auf den Gesichtern ein Strahlen. Die nächste Runde beginnt. Unvergesslich.
Einfach Musik. Das große Missverständnis beim Feiern ist, dass man es professionalisieren könnte, ja sogar sollte. Wo immer im 20. Jahrhundert eine neue Art des Feierns aufpoppte, ob Straßenfeste, Hippiefestivals, Discopartys im New York der Siebziger, die Raves der Achtziger und Neunziger – am Ende verwandelte sich die Feier in eine Materialschlacht: noch mehr Watt in den Boxen, mehr Technik auf der Bühne, mehr Ausstattung, für ein Heidengeld.
Im Juni 2004 finde ich mich auf einer Strandparty in Cannes wieder. Das jährliche Werbefilmfestival hat die Stadt an der Côte d’Azur mit aufgekratzten Menschen gefüllt.
Eine große europäische Filmproduktion will sich nicht lumpen lassen und hat einen kolossalen Open-Air-Club am Strand errichtet. Die Nachtschwärmer tanzen, aber der Vibe ist höchstens okay – von emotionaler Ansteckung keine Spur. Um kurz nach zwei, die Strandparty wird in einer halben Stunde zu Ende sein, bekommt L. eine SMS. »Seid ihr gleich wieder mit dem Plattenspieler an der Croisette?« L. und ich schauen uns kurz an, grinsen und ziehen los. Um halb drei haben wir meinen kleinen batteriebetriebenen Plattenspieler auf dem Bürgersteig von Cannes’ berühmter Promenade auf einem kleinen Servierwagen aus dem Hotel aufgebaut. Der Deckel des Plattenspielers besteht aus abnehmbaren Boxen. Wirklich laut sind sie nur bis zu einer Entfernung von
zehn Metern. Ich fange an, Vinylsingles aufzulegen, die ich eigentlich nur mitgeschleppt hatte, um mit dem Gerät nachmittags am Strand etwas Spaß zu haben. Die ersten Freunde kommen an, Bekannte im Schlepptau, fangen an zu tanzen, Passanten bleiben hängen und tanzen mit. Bald sind es 70 Nachtschwärmer, die um den kleinen Plattenspieler kreisen. Joints kreisen auch reichlich. Es wird langsam hell, aber niemand möchte aufhören. Ein Müllabfuhrwagen kommt vorbei und bewegt die Laderampe im Rhythmus mit. Einige springen auf und tanzen auf der Rampe. Ein Polizeiwagen rollt langsam vorbei, die Beamten nicken uns freundlich zu. Um sieben Uhr morgens schalte ich den Plattenspieler aus und schaue in lachende, leicht erschöpfte Gesichter.
Merke: Auch mit einem Plattenspieler mit zehn Watt Leistung lässt sich eine Party in Gang setzen
Noch zwanzig Jahre später werde ich in Hamburg von Leuten, die dabei waren, auf diese Nacht angesprochen. An die Materialschlacht am Strand daneben erinnert sich niemand mehr. Merke: Auch mit einem Plattenspieler mit zehn Watt Leistung lässt sich eine Party in Gang setzen.
Feiern ist eine Chance. Das gemeinsame Erleben ist kostbar! Gerade weil die Dauerkrise so drückend erscheint, müssen wir das Gemeinsame wieder entdecken und stärken. Denn alle für sich allein werden den Weg aus dem Tunnel nicht finden.
Niels Boeing war in jungen Jahren DJ und Nachtschwärmer in Berlin und hat später etliche Partys in Hamburg-St. Pauli organisiert.
1. Machen Sie einen Plan für die Musik, und finden Sie jemanden mit Geschmack, der sich darum kümmert. Es können auch mehrere sein. Nichts ist schlimmer als eine Party, auf der jeder einen Song einschieben darf. Das funktioniert nicht, ehrlich.
2. Sagen Sie Ihren Freunden, dass sie weitere Freunde mitbringen dürfen, auch solche, die Sie noch nicht kennen. Sie werden unerwartete Bekanntschaften machen, auf Menschen treffen, die eine echte Bereicherung sind. Und bedenken Sie: Gute Partys sind immer solche, auf denen es sehr voll ist. Was umgekehrt aber nicht heißt, dass nur Partys mit vielen Gästen gut werden können.
3. Überlegen Sie, ob Sie ein Überraschungsmoment in die Feier einbauen können. Perücken zum Beispiel – gehen immer, vor allem fangen dann die Männer als Erste an zu tanzen, was ja ganz hübsch ist, weil sehr selten. Aber Ihnen fällt sicher noch etwas anderes ein.
4. Haben Sie nie zu wenig Getränke. Auch auf die Gefahr hin, dass mindestens eine Schnapsleiche am Ende in der Ecke hängt – Gäste, die nichts mehr zu trinken finden, nerven mehr.
5. Und letztens: Wiederholen Sie die Party allerhöchstens zweimal, wenn sie ein Erfolg war. Ab dem dritten Mal wird es eine Reihe, und der Zauber ist perdu, weil alle anfangen, Vergleiche zu ziehen. Sie selbst auch, glauben Sie mir.
Ein Gel lindert die Folgen von Alkohol. Bei Mäusen wirkt es schon. Davon profitieren Heringe. Und Menschen?
Text Susan Urbanek
Der Mensch berauscht sich gerne mit Alkohol. Das liege in den Genen, vermutet die Wissenschaft, schließlich lieben auch Affen alkoholisierte Früchte. Diese Theorie wird in der Fachliteratur als »DrunkenMonkey-Hypothese« diskutiert. Die Affen wollen demnach nicht feiern – was in der freien Wildbahn gefährlich sein kann. Sondern der vergorene Geschmack würde dem Körper signalisieren, dass es sich um kalorienreiche Nahrung handelt.
Das ist Spekulation. Sicher ist: Beim Oktoberfest wurden im vergangenen Jahr 6,5 Millionen Maß Bier ausgeschenkt, im Durchschnitt knapp ein Liter pro Person. Beim dreitägigen Wacken-Open-Air waren es sogar fünf Liter pro Kopf. Doch nach dem Feiern kommt oft das böse Erwachen: mit Kopfschmerzen und Übelkeit. Es gibt allerlei Tipps, wie man die Kater-Symptome angeblich schnell wieder
loswird, etwa durch Sex, Rollmops oder ätherische Öle. Diese sinnbetörende Kombi löst vielleicht einen Placebo-Effekt aus, aber mehr kann da nicht sein. Denn das Ethanol aus dem Alkohol wird über das Blut zur Leber transportiert und dort in Acetaldehyd umgewandelt. Dieses Zwischenprodukt ist giftig und kann den Kater verursachen. Dagegen können Rollmops, Tigerbalsam und Glückshormone nichts ausrichten.
Nun aber gibt es Hoffnung: Ein essbares »Anti-Kater-Gel« aus Proteinfasern und Eisenatomen wandelt den Alkohol im Körper ohne die Zwischenstufe Acetaldehyd in harmlose Essigsäure um. »Bisher zeigt sich an Mäusen, dass die Einnahme des Gels die Wirkung und Folgen von Alkohol deutlich abmildert«, sagt der Lebensmittelforscher Raffaele Mezzenga, dessen Team an der ETH Zürich das Gel erfunden hat.
Die Tiere, die das Gel gegessen hatten, verrannten sich nicht mehr orientierungslos
im Labyrinth, sondern fanden trotz Alkoholkonsum den schnellsten Weg durch die Gassen. Nun hofft Mezzenga auf eine klinische Studie: »Ich erwarte, dass es beim Menschen ähnlich wirksam sein wird.« Frühstens in eineinhalb Jahren könnte das Gel auf den Markt kommen. Wahrscheinlich wird es dann Anti-Kater-Hausmitteln den Rang ablaufen. Das wäre gut für die Heringe (Rollmops). Und für den Menschen? Wird das Gel bald in Clubs verteilt, um unbeschwert trinken zu können? Nun ja. Es gibt ein Problem. Das Gel wirkt nicht nur gegen den Kater. Es wirkt auch gegen den Rausch. Man könnte ebenso gut Mineralwasser trinken. Damit ist klar, wer zur nächsten Party nicht eingeladen wird: Professor Mezzenga. Bitte zurück ins Labor und weiterforschen – nach einem Stoff, der nur die negativen Folgen von Alkohol bekämpft. Wenn der gefunden ist, knallen die Korken: für den Nobelpreis.
Weiterlesen: Der wissenschaftliche Name des Anti-Kater-Gels lautet »Single-site iron-anchored amyloid hydrogel«. Es wirkt als Katalysator für den Abbau des Alkohol. Die Studie ist unter doi.org/mv4x zu finden
Wie überlebt man im Moshpit? Unsere Autorin wird eingequetscht und geschubst. Warum tanzt sie trotzdem immer wieder in einer schwitzenden Menschenmenge?
Text Marie Castner
Mein Kopf befindet sich auf durchschnittlicher Ellbogenhöhe. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ich im Gedränge einen Hieb abbekomme. Trotzdem: Irgendetwas zieht mich hinein – ich springe in die Mitte, werde herumgeschoben, eingequetscht, geschubst. Ich schubse zurück. Es dauert nicht lange, und ich ringe nach Atem. Es ist fantastisch. Oben auf der Bühne spielt die Metalband Slipknot. Doch was sich hier unten abspielt, ist die eigentliche Show: ein Moshpit. Regelmäßig finde ich mich zwischen schwitzenden schubsenden Körpern wieder. Und regelmäßig frage ich mich, was ich da eigentlich mache. Die kurze Antwort ist: tanzen. Moshen ist ein extremer Tanzstil, der seinen Ursprung in der US-amerikanischen Punkszene der Siebzigerjahre hat. Anarchisch, antiautoritär und gewaltsam tanzte man gegen die bürgerliche Gesellschaft an. Moshpits wirken von außen so brutal, dass man sie für eine Schlägerei halten könnte. Doch das würde ihnen
nicht gerecht werden: Wer den Tanz beherrscht, kennt seine klare Choreografie. Erstens: Stillstand. Das Publikum steht ruhig da und blickt zur Bühne. Zweitens: In der Menge entsteht Bewegung. Langsam bildet sich eine kreisrunde Öffnung, in der der nackte Boden sichtbar wird. Die Aufmerksamkeit ist jetzt nicht mehr auf die Bühne gerichtet, sondern auf das, was gleich passieren wird. Nämlich, drittens: Die Energie entlädt sich. Sobald der Song seinen Höhepunkt erreicht, schwappt es von allen Seiten in die Mitte. Man prallt aufeinander, immer wieder, bis der Song vorbei ist. Viertens: Stillstand. Alles beginnt von vorn.
Nichts wirklich Schlimmes sei ihm in Moshpits passiert, schreibt jemand online. Nur eine ausgekugelte Schulter. Ein angebrochenes Steißbein, schreibt ein anderer, eine gespaltene Lippe, eine Gehirnerschütterung. Dass Moshpits riskant sind, sagen nicht nur Internetforen und der gesunde Menschenverstand, sondern auch die Wissenschaft. Eine US-amerikanische Moshen ist ein extremer Tanzstil, anarchistisch und antiautoritär
Studie aus dem Jahr 2017 ergab: Auf Konzerten mit Moshpits landen 50 bis 200 der mehreren Tausend Konzertgäste im Erste-Hilfe-Zelt. Obwohl nur ein kleiner Teil der Gäste auch wirklich mosht. Ein einzelner Moshpit hat – grob geschätzt – zwischen fünf und 50 Teilnehmern. Der Anteil an Verletzten ist also alles andere als klein.
Warum ziehen mich Moshpits an, trotz der Gefahr? Das frage ich John Drury. Er ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Sussex und Leiter einer Forschungsgruppe zu Massenpsychologie. »Nicht trotz der Gefahr«, sagt er, »sondern ihretwegen. Das Risiko ist Teil des Reizes.« Im Vergleich zu einem echten Kampf hält sich das Risiko allerdings in Grenzen. Denn in Moshpits herrschen klare soziale Regeln: Wer hinfällt, dem wird sofort aufgeholfen. Niemand wird absichtlich zu Boden gestoßen. Niemand gegen seinen Willen hineingezogen. »So gesehen ist ein Moshpit ein kontrolliertes Risiko.« Es geht also darum, kontrollierten Kontrollverlust zu erleben. Geordnetes Chaos. Berechnete Unberechenbarkeit.
Diese Erfahrung ist so widersprüchlich wie ich selbst: Ich sehne mich gleichzeitig nach Sicherheit und dem Übertreten meiner eigenen Grenzen. In Moshpits
finde ich genau das, zusammen mit der Musik, die ich liebe. Ich erlebe Ekstase. Und weil alle aus dem gleichen Grund hier sind, fühle ich mich mit den Menschen um mich herum verbunden. Soziale Unterschiede? Spielen keine Rolle.
Zumindest in der Theorie. Ein praktisches Problem bleibt: Die überwältigende Mehrheit dieser Menschen ist groß und männlich. Ich bin weiblich und keine 1,60 Meter. Mein Körper prallt wie ein Flummi von den anderen ab. Auch sexuelle Belästigung ist ein Thema. Jedes Mal, bevor ich in einen Moshpit einsteige, muss ich abwägen: Ist die Gefahr doch zu groß? Schlechte Anzeichen sind: Typen, die ihre Arme herumschleudern, treten oder mit voller Kraft schubsen. Betrunkene. Ein Mangel an anderen Frauen. Trotzdem: Ein guter Moshpit ist eine Bejahung des Lebens. Menschen kämpfen hier gemeinsam, nicht gegeneinander.
Ist er vorbei, bebt der Moshpit noch lange nach. Adrenalin rauscht durch alle Körper. Langsam orientiert man sich wieder. Verlorene Brillen und Handys werden in die Luft gehalten, um ihre Besitzer wiederzufinden. Und Fremde fallen sich in die Arme.
25 MillionenMenschen sind dringend aufhumanitäreHilfeangewiesen.
AktionDeutschland Hilftleistet Nothilfe.
Helfen Sieuns, Lebenzu retten –jetzt mitIhrer Spende!
Aktion-Deutschland-Hilft.de
Bündnis der Hilfsorganisationen
Jetzt spenden!
Sie fangen meist ganz klein an und wollen beschützt und gepflegt sein, wie zarte Pflänzchen. Wo finden berühmte
Schriftstellerinnen sie? Und wie können wir sie alle wachsen lassen?
Text Volker Weidermann Illustrationen Olaf Hajek
Uns und der Welt fehlt in diesen bleiernen Jahren kaum etwas so sehr wie gute Gedanken. Es ist, als seien wir und all die Menschen, die einander die Geschichte unserer Gegenwart erzählen, immer noch in einer Art innerem Lockdown gefangen. Als hätten die Jahre der globalen Corona-Epidemie, während der wir so viele Tage auf uns selbst und unsere Angst zurückgeworfen waren, uns alle in einer Grübelschleife gefesselt, aus der wir uns kaum selbst befreien können. Hinzu kommt das lähmende Entsetzen im Angesicht der Kriege in Europa und dem Nahen Osten, die jeden Tag außer Kontrolle geraten und die ganze Welt in Brand setzen können. Ängste und dunkle Gedanken haben uns im Griff, und die Frage, ob es uns gelingt, in unseren Köpfen wieder Raum zu schaffen für gute, helle Gedanken, ist auf Dauer eine Überlebensfrage für jeden Einzelnen von uns und die ganze Gesellschaft. Wir wollen uns deshalb hier auf eine kleine Reise in die Welt der guten Gedanken begeben. Und dabei Antworten suchen auf die Frage, wie man sie findet, festhält und fördert. Es sind meist eher unscheinbare, kleine Antworten und Methoden. Aber Gedanken sind
klein, nicht größer als ein blitzartiger elektrischer Impuls in unserem Gehirn, und sie sind individuell. Aber aus allen gemeinsam setzt sich das kollektive Bewusstsein unserer Zeit zusammen. Und die beste Methode, daran zu arbeiten, es aufzuhellen und zu verbessern, ist die Konzentration auf uns selbst. Wir müssen uns wieder auf den Möglichkeitssinn, der in uns liegt, besinnen. Wir müssen Freiräume in unseren Köpfen schaffen, Räume für Fantasie, Helligkeit, neues Denken. Wir werden auf unserer Reise auch mit dem Hirnforscher Surjo Soekadar von der Berliner Charité sprechen, der mit elektrischen und magnetischen Verfahren bei Patienten mit schweren Depressionen oder Zwangsstörungen spektakuläre Ergebnisse erzielt, indem er – mittels aufgesetzter Elektroden – Grübelschleifen durchbricht und das Gehirn der Patienten anregt, aktiviert und Freiräume schafft für neue Gedanken. Aber – wir können und wollen ja nicht alle Soekadars Elektrodenmützchen aufsetzen, und die Behandlung ist auch nur für chronisch Kranke vorgesehen und bezahlbar. Wir müssen uns schon selbst auf die Reise machen.
Wir müssen nicht weit fahren. Jene andere Welt, die Gegenwelt zur Wirklichkeit, so wie sie ist, die Welt der Fiktionen und der Fantasie ist in den Romanen und
Gedichten und Geschichten der Weltliteratur aufgehoben. Sie ist der Schatz, der unverlierbar ist und uns begleitet, wie Jahresringe um uns herum. Wer sie zu lesen weiß, wird Kraft und Helligkeit und gute Gedanken darin finden, die für viele Leben reichen.
Wir haben, auf unserer Reise ins Licht, Schriftstellerinnen und Schriftsteller gefragt, wo sie die hellen Gedanken hernehmen, die sie zum Schreiben, Dichten, Leben brauchen. Was sind ihre Kraftquellen, wenn sie, wie wir alle, von Angst, Enge, Dunkelheit umstellt sind?
Helga Schubert ist 84 Jahre alt, lebt weit oben im Nordosten Deutschlands im Dörfchen Neu Meteln, zusammen mit ihrem pflegebedürftigen Mann, dem fast hundertjährigen Maler und Psychologen Johannes Helm. Helga Schubert ist auch Psychologin und Schriftstellerin, sie hat schon in der DDR unter schwierigen Bedingungen geschrieben und publiziert. Aber beinahe märchenhaft großen Publikumserfolg hat sie erst vor einigen Jahren mit ihrer ungemein ermutigenden Lebensgeschichte Vom Aufstehen errungen und zuletzt mit ihrem Liebesbuch Der heutige Tag.
Helga Schubert ist ein gläubiger Mensch. Das hilft in allen Lebenslagen. »Gute Gedanken«, schreibt sie auf unsere suchende Frage, »sind immer da. Ich bin immer in einem inneren Gespräch. Das unterbreche ich nur für Gespräche mit anderen Menschen.« Aber auch die dunklen Gedanken seien immer da. »Ich bin neugierig auf sie. Ich vertraue darauf, dass ich mich nicht von ihnen verführen oder überwältigen lassen muss. Ich bete oft: ›Hilf mir. Gib mir Kraft.‹ Es geht immer um das Gleichgewicht.« Bestimmte Orte oder Bücher oder Gegenstände brauche sie nicht, um dieses Gleichgewicht zu erlangen. »Ich wende mich an das gute konstruktive Prinzip, das die Orte, Gegenstände, Bücher, Bäume entstehen lässt. Ich lebe in dieser Geborgenheit«, schreibt sie. Und wie verwandelt sie diese hellen, guten Gedanken in eine Geschichte, in ein Buch, in etwas Festes, das man immer bei sich haben kann?
»Ich denke immerzu nach und verrate dem Papier noch nichts«, schreibt sie. »Es ist wie ein Samen, den ich in warme Erde eines Tontopfs lege, etwas mit Wasser befeuchte, der dann aufgeht und weggeschwemmt würde, wenn ich ihn zu sehr gieße.« Sie lässt die Gedanken in sich wachsen – so lange, bis sie sicher ist, dass keine Sonne, kein Sturm, kein Starkregen sie mehr zum Verschwinden bringen kann. »Dann ist die Geschichte fertig zum hintereinander Aufschreiben bis zur existentiellen Erschöpfung.« Für jede Geschichte sei es überlebenswichtig, dass sie nicht zu früh und ungeschützt ins Freie schlüpfe. »Sie stirbt, wenn ich sie nicht schütze, sie verrate, vorzeitig für gelungen halte.«
Das kennen wir doch alle. Vielleicht nicht unbedingt mit Geschichten. Aber mit Gedanken, die wir zu früh äußern. Wenn sie noch unfertig sind, klein, vielleicht noch lächerlich, erst auf dem Weg zu einem
erwachsenen, brauchbaren Gedanken. Es ist so leicht, einen unfertigen Gedanken zu verhöhnen und ihn somit für immer aus der Welt zu schaffen. Um gute Gedanken wachsen zu lassen, brauchen sie ein Umfeld des sanften, zärtlichen Umgangs mit ihnen. Die Welt ist ja voller »Dementoren«, wie die seelenabsaugenden Monster bei Harry Potter heißen. Voller Menschen, die jederzeit zum Besserwissen bereit sind, weil sie glauben, dass sie damit ihr Ansehen erhöhen. Menschen, die das Abwinken, das überlegene Seufzen des Kennen-wirSchon, des Was-soll-das-Bringen zum Lebensprinzip erhoben haben. Sie tragen dicke Bäuche und Strickpullunder und rauchen mit ihren Zigarren der Überlegenheit alle gute Energie aus den Räumen.
Es ist eine Kunst und bedarf der Anstrengungen aller, um in einer Gruppensituation gute Gedanken entstehen zu lassen. Forschungen zeigen immer wieder, dass gemeinsames Brainstorming oft wenig effektiv ist. Das hat viele Ursachen, die Davia Sills in einem Beitrag in der Zeitschrift Psychology today zusammengefasst hat:
1. Soziales Faulenzen: Man kann sich in einer Gruppe leicht verstecken. Irgendeiner redet ja immer. Was soll ich mich da einmischen?
2. Produktionsblockierung: Da immer nur einer reden kann, gehen viele Gedanken derjenigen, die gerade nicht reden, einfach verloren.
3. Bewertungsangst: Furcht vor den Zynikern, die halbfertige Gedanken lächerlich machen.
4. Gruppendenken: Jede Gruppe bringt meist nach kurzer Zeit eine Meinungsführerin oder einen Meinungsführer hervor. An sie oder ihn passen sich die schwächeren Gedanken leicht und häufig an. So kommt es kaum zu Überraschungen. Und kleine Gedanken trauen sich nicht an die frische Luft. Dabei war jeder Riesengedanke, der die Welt verändert hat, irgendwann mal klein und verletzlich.
Der französische Schriftsteller Albert Camus hat einmal über das Erschaffen geschrieben: »Je mehr es gibt, desto mehr empfängt es – sich verschwenderisch hingeben, um sich zu bereichern.« Das gilt für die Liebe, für das ganze Leben und für das freigiebige Verschenken von Ideen und hellen Gedanken. Wir brauchen einen geschützten Raum der Großzügigkeit und Freiheit und des Vertrauens, um neu denken zu können. Das fängt mitunter schon mit den Häusern an, in denen diese Gedanken entstehen sollen. Ich habe einmal ein paar Jahre in einem Haus gearbeitet, bei dem man beim Betreten körperlich spüren konnte, dass hier gutes, neues Denken in einer Art Kälteschleuse abgesaugt wird. Das Gegenteil jener Wärmeschleusen, die es früher in Kaufhäusern gab, um schon beim Betreten eine Atmosphäre der Wohligkeit und Geborgenheit zu schaffen. Es war gar keine echte Kälte, die das freie Denken der Eintretenden da quasi lähmte. Es war etwas in den Steinen, der Architektur, der Geschichte des Hauses, ein kalter Zauber.
Es ist so schwer, in Gruppen eine Atmosphäre des Wohlwollens und der Großzügigkeit zu schaffen. Ich habe einmal in einer Redaktion gearbeitet, in der für die Gruppen-Gespräche das Leitmotiv galt: »Werke der Liebe werden nicht abgewiesen.« Das galt für Texte, aber auch für jede Art von liebevollen Gedanken: Es war uns allen gemeinsam bewusst, dass die Welt, so wie sie ist, ohnehin schon von Kritik, Ablehnung, Destruktion beherrscht wird. Und wie schwer es ist, sich seine Liebe für einen Gegenstand, ein Buch, einen Film, einen Menschen zu bewahren. Deshalb galt dort das Grundgesetz des Schutzes der Liebe. Es hat sich jahrelang bewährt. Und seit drei Jahren habe ich das Glück, regelmäßig an den großen Redaktionskonferenzen der ZEIT unter der Leitung von Giovanni di Lorenzo teilnehmen zu dürfen. Ich hätte es vorher nicht für möglich gehalten,
dass in einer so großen, regelmäßig zusammenkommenden Gruppe machtvoller Ressortleiterinnen und Ressortleiter so eine Atmosphäre des Wohlwollens und der ehrlichen Wertschätzung herrschen könnte.
Für mich hat das viel mit einem Zettelchen zu tun, das Giovanni di Lorenzo selbst geschrieben und in einem kleinen Rahmen in seinem Büro aufgestellt hat: »Heimat ist da, wo jeder seine Geschichte erzählen kann«, steht darauf. Und da verbindet sich der gelebte Alltag einer Zeitungsredaktion mit dem Leben und Schreiben und dem Gedankensuchen und -bewahren der Schriftsteller: Geschichten und Gedanken brauchen einen guten, vertrauten, sicheren Ort, um sich ans Licht der Welt zu trauen. Heimat. Das kann auch eine Redaktion sein, eine Gemeinschaft, wenn in ihr ein guter Geist lebt und herrscht und gefördert wird.
Da fallen mir zwei machtvolle Journalisten ein, die beide nicht mehr leben, die mich beide ungeheuer gefördert haben und die ihre ganz eigene Art hatten, gute Gedanken zu befördern – und zu erledigen.
Frank Schirrmacher, viele Jahre lang Herausgeber der FAZ, war ein Mensch, der stets von einer Aura der Macht umgeben war. Wenn er einen Raum betrat, war die Luft eine andere. Ihm selbst war das jederzeit bewusst. Er hat es genossen. Er hat sich das durch unbändigen Ehrgeiz, Fantasie, Können und einen von mir nie zuvor erlebten Willen zur Macht erarbeitet. Er war unnahbar. Er schüchterte Menschen ein. Er hat viele seiner Mitarbeiter gedemütigt und in Angst und Schrecken versetzt. Aber – und ich hatte das Glück, nur diese Seite seiner Persönlichkeit zu erfahren – er konnte, einfach durch die Kraft seiner Persönlichkeit, durch einen frischen Gedanken, durch die Verbindung eines kleinen Alltagsgedankens mit einem gewaltigen früheren Gedanken aus der Geistesgeschichte – eine unerhörte Gedankenkraft und Gedankenfreiheit im Gegenüber erzeugen. Es war – ich weiß, das klingt esoterisch, aber ich kann es nicht erdnäher beschreiben –, als sei er mit irgendeiner anderen, fantasievollen Macht da draußen verbunden, die ihn gleichermaßen schnell in die Zukunft und die Vergangenheit reisen ließ. Das Reden mit ihm war reine Inspiration. Aber ebenso leicht, wie er gute Gedanken verschenkte, konnte er sie Menschen, die er nicht respektierte oder – noch schlimmer – fürchtete, einfach wegnehmen. Wen er demütigte, der war in der Regel zu keiner Gegenwehr fähig. Mir schrieb er einmal – als ich wegen einer wagemutigen, neuartigen Literaturgeschichte, die ich geschrieben hatte, mächtig unter Feuer arrivierter Kritiker stand: »Sie dürfen sich niemals mit den Augen Ihrer Feinde sehen.« Und:»Vergessen Sie niemals: Sie sind hier in einer Festung.« Damit meinte er die FAZ. Ich fand das beruhigend damals. Heute weiß ich: Es war eine Festung, die aus Angst gebaut war. Er hat seinen hellen und seinen dunklen Zauber, scheinbar spurlos, mit in sein Grab genommen.
Es ist so leicht, einen unfertigen Gedanken zu verhöhnen und somit aus der Welt zu schaffen. Um gute Gedanken wachsen zu lassen, brauchen sie ein Umfeld des sanften, zärtlichen Umgangs mit ihnen
»Mir fällt am meisten ein, wenn ich mich, laufend oder radelnd, durch die Natur bewege, und zwar ziemlich langsam. Und es schadet nicht, wenn es immer dieselbe Strecke ist –im Gegenteil.«
(Dörte Hansen, Schriftstellerin)
Kehlmann, Schriftsteller)
»Ich schreibe ja mit der Hand, das hilft dem Formen der Gedanken, und ich habe auch mehrere Notizbücher, sozusagen eines für jedes konkrete Projekt.« (Daniel
Ein anderer Journalist, an den ich bei der Suche nach guten Gedanken immer denken muss, ist Marcel ReichRanicki. Viele kennen ihn noch aus dem Fernsehen, sein ungeheuer machtvolles Loben und Zerstören im Literarischen Quartett. Ich habe viele Jahre lang eine Kolumne, die er schrieb, betreut. Drei-, viermal pro Woche telefonierten wir, um darüber und über anderes zu sprechen. Jedes Telefonat begann er mit der Frage »Was gibt es Neues?«. Und diese Frage verlangte durchaus immer eine originelle Antwort, die ich mir vorher zurechtlegen musste und die auf keinen Fall –schlimmste Sünde, die man ihm gegenüber begehen konnte – langweilig sein durfte. Der Zwang zur Neuigkeit, zu neuen Gedanken und neuen Geschichten –erzeugt tatsächlich Neuigkeiten und gute Gedanken. Denn das Gute ist: Sie sind ja immer schon da. Man muss nur bereit sein und offen, sie zu denken.
Und man braucht einen Resonanzmenschen als Gegenüber. Jemanden, der gute Gedanken zu schätzen weiß, der den interessanten, neuen, lebenswerten Kerngedanken auch aus einer unansehnlichen, unscheinbaren Gedankenhülle herauszuschälen vermag. Es gibt solche Menschen. Sie sind unglaublich wertvoll. Bisschen wie ein umgekehrter Hans im Glück. Man startet mit beinahe nichts, und am Ende hat man gemeinsam einen Goldklumpen zusammengeredet.
»Wie machen wir’s, dass wir Spaß kriegen?«, fragen sich der kleine Nick und seine Freunde, die Kinderbuchhelden, die sich René Goscinny und Sempé vor vielen Jahren ausgedacht haben. Diese Tausendsassas der guten Gedanken. Und sie machen es, indem sie einfach – auf der Grundlage der immergleichen Rituale ihres Lebens (Otto isst ein Hörnchen, Adalbert weiß alles, Chlodwig weiß nichts) – jeden Tag aufs Neue spaß- und erneuerungsbereit sind. Offene Membran des guten Denkens und der Lebensfreude.
Unser erneuerungsbereitester, fantasievollster und weltweit erfolgreichster deutscher Schriftsteller Daniel Kehlmann schreibt uns, als wir ihn nach guten Gedanken fragen und wie er sie findet und festhält, Folgendes: »Nietzsche hat, was mich betrifft, damit recht, dass man gute Gedanken ›ergehen‹ muss. Mir sind immer die besten Dinge beim Gehen eingefallen, am liebsten in den Bergen, manchmal am Meer, wenn nötig, auch in der Stadt. Gerade das Planen einer Handlung – eigentlich der härteste Teil des Romanschreibens – benötigt so viel Tüfteln und Hin- und Herschieben von Figuren und inneres Schachspielen, das geht einfach besser, wenn man sich dabei vorwärts bewegt und auch noch gute Luft um sich hat. Das ist jetzt keine sehr originelle Beobachtung, aber es ist einfach wahr.«
Gute Luft und Bewegung. Genau das hilft auch Dörte Hansen beim Denken, der wunderbaren Autorin der Superbestseller Altes Land und Zur See. Sie schreibt uns: »Mir fällt am meisten ein, wenn ich mich, laufend
oder radelnd, durch die Natur bewege, und zwar ziemlich langsam. Und es schadet überhaupt nicht, wenn es immer dieselbe Strecke ist – im Gegenteil. Jeden Morgen fahre ich mit dem Fahrrad sieben Kilometer zu meinem Büro. Wenn nicht gerade extremes Hochwasser ist, nehme ich den Weg zwischen Deich und Vorland. Viermal muss ich absteigen, um die Deichgatter zu öffnen, die hinter mir krachend wieder zufallen. Das waren dann auch schon die Highlights auf der Strecke. Im Büro liegt ein Notizbuch, und sobald ich da bin, schreibe ich auf, was mir durch den Kopf gegangen ist. Sofort! Nicht erst Teewasser aufsetzen oder den Computer hochfahren, sonst ist die Hälfte schon wieder weg. Für noch mehr Thrill gehe ich zweimal in der Woche laufen, immer zehn Kilometer, immer dieselbe Strecke, und auch dann muss ich hinterher sofort aufschreiben, was mir durch den Kopf gegangen ist, sonst ist es weg. Ich habe festgestellt, dass das Tempo der Bewegung eine große Rolle spielt. Spazierengehen ist schön, aber nicht besonders ergiebig. Ich muss schon radeln oder laufen. Allerdings nicht zu schnell! Seit ich eine Smartwatch habe und sehen kann, wie schnell ich bin, hat sich mein Pace verbessert. Das ist gut für meine Fitness – aber schlecht für die Gedanken. Zusammenfassend kann man also sagen: Ich muss, damit mir etwas einfällt, in einer Art Dauerschleife durch eine reizarme Landschaft zuckeln, trotten oder traben. Glamouröses Schriftstellerinnenleben!«
Es reicht ja, wenn es innerlich glamourös ist, dieses Leben. Und das mit dem raschen Aufschreiben, das klingt vielleicht erst mal banal und selbstverständlich. Für die Arbeiter im Bergwerk der guten Gedanken ist es aber wesentlich. Um Gedanken zu bannen, zu ordnen, zu bewahren. Auch Daniel Kehlmanns Geschichten und Gedanken entstehen beim Schreiben. Er nimmt uns mit in die geheimen Kammern seines Erfindens: »Ich schreibe ja mit der Hand, das hilft dem Formen der Gedanken,
und ich habe auch mehrere Notizbücher, sozusagen eines für jedes konkrete Projekt (das ist vor allem bei Drehbüchern wichtig, weil man sich so viel mit anderen Leuten berät und alles, wirklich alles aufschreiben muss, der größte Feind der guten Gedanken ist ja das Vergessen) und ein Master-Notizbuch, sehr dick, gut gebunden, das ist tatsächlich seit zwanzig Jahren das gleiche, da stehen schon Ideen für die Vermessung der Welt drin, das habe ich einfach immer weiter geführt, da kommen nur die wichtigen konkreten Handlungs- und Stilideen für den Roman hinein, an dem ich gerade hauptsächlich arbeite. Dieses Notizbuch ist schon sehr abgewetzt, aber es hat Fadenbindung und Lederrücken, und es hält durch und kommt überallhin mit mir.« Wie gern würde man dieses umfassende Gedankenbuch einmal sehen. Wie dick muss das sein. Und wie viele Keimzellen von Geschichten sind darin. Immerhin hat Kehlmann seit der Vermessung acht weitere Bücher geschrieben, darunter den fantasiereichsten deutschen Roman der letzten Jahre, den Tyll. Eine Zeit- und Gedankenreise in die tiefe europäische Vergangenheit.
Von Zeitreisen berichtet auch eine mir besonders liebe Sportlerin, Schriftstellerin und Journalistin, als ich sie nach der Quelle ihrer guten Gedanken frage. Andrea Petkovic war Nummer neun der Tennis-Weltrangliste, sie hat zwei tolle romanhafte Sachbücher über ihr Sportlerinnenleben geschrieben. Sie ist ein Energie-Mensch, wenn man neben ihr auf einer Bühne steht, dann fühlt es sich an, als habe man teil an einem inneren Leuchten. Jede kleine Idee im Gespräch nimmt sie auf, macht sie groß, hell und meist auch gleich ziemlich lustig. Eine ziemlich seltene Mischung aus Selbstironie, brennendem Ehrgeiz und Neugierde. Genug geschwärmt. Sie schreibt: »Eine Sache, die ich gerne gemacht habe während eines Matches und die mir geholfen hat, ist, mich entweder in die Vergangenheit zu versetzen oder
in die Zukunft. Zum Beispiel: Im Tennis führt man oft zum Beispiel 4:1, und dann steht es auf einmal 4:4. In dem Moment denkt man dann, man hat was schlecht gemacht und das Momentum geht weiter bergab. Wenn man sich dann in die Vergangenheit versetzt – vor das Match – und sich fragt: ›Hätte ich vor dem Match ein garantiertes 4:4 genommen?‹, und die Antwort lautet wahrscheinlich ›Ja‹, dann kann man sich aus der Spirale befreien.« Die Zeitreisen zur Befreiung aus einer Spirale der falschen, schwächenden, in die Tiefe ziehenden Gedanken funktioniert bei ihr auch in die entgegengesetzte Richtung. Per SMS schreibt sie: »Umgekehrt geht auch, wenn man dabei ist, ein Match zu verlieren oder etwas zu verkacken (haha), und sich dann eine Woche in die Zukunft versetzt (oder einen Monat) und sich fragt: Wie sehr tangiert mich das Ganze in einer Woche? Das hilft dann oft, die Wichtigkeit der Situation – oder: die Unwichtigkeit – besser einzuschätzen.«
Natürlich laufen diese gewollten Zeitreisen im Kopf nicht immer nach Plan. Jeder Mensch schwankt. Na ja, fast jeder, schreibt Andrea Petkovic halb im Scherz: »Oder man ist wie Roger und geht in jeden Tag mit dem gleichen Gemütszustand. Hahaha. Lucky him!«, schickt sie als Nachricht aufs Handy und meint damit den notorisch ungerührten, viele Jahre schier unbesiegbaren ehemaligen Tennisprofi Roger Federer. Wir anderen – wir müssen immer neue Wege suchen, um uns aus der Spirale unguter Gedanken zu befreien. Was oft viel und immer neue Kraft kostet. Hermann Hesse, der Autor des Steppenwolfs und des Glasperlenspiels, der zeit seines Lebens unter Depressionen litt und sich die helle Welt seiner Fiktionen immer wieder hart erkämpfen musste, schreibt einmal in dem kleinen Prosastück Bewölkter Himmel: »Von Zeit zu Zeit erhebt sich in meiner Seele, ohne äußere Ursachen, die dunkle Welle. Es läuft ein Schatten über die Welt, wie ein Wolkenschatten.« Das geht immer wieder bis zum Todeswunsch: »Diese Stunden sind es, wegen deren man keine Schießwaffe besitzt; sie sind es, in denen man sie vermisst.« Er weiß, dass die grauenvollen Tage der dunklen Gedanken der Preis sind für das Glück, das er immer wieder im Angesicht der Wunder der Welt erfährt. »Ich weiß, dass ich das bezahlen muss durch die Tage, wo das Leben unerträglich ist.« Und was ihm hilft, zurückzufinden zu den guten Gedanken und zur Offenheit für die Welt, das weiß er auch: »Es gibt gute Mittel gegen die Schwermut: Gesang, Frömmigkeit, Weintrinken, Musizieren, Gedichtemachen, Wandern.«
Vor allem das mit dem Wandern sieht der Mann, der unsere Gedanken mittels auf unseren Kopf aufgesetzter Elektroden beeinflussen kann, ganz ähnlich. Surjo Soekadar ist ein eindrucksvoller, ruhiger, zugewandter Mann. Er ist Deutschlands erster Professor für Neurotechnologie. Für unser Treffen hat er ein ruhiges Café in einem modernen Bürohaus neben dem Berliner
Hauptbahnhof vorgeschlagen. Man sitzt sich wie in einem Bahnabteil gegenüber. In der Lobby spielen zwei Gäste Tischtennis. Wenn er privat auf der Suche nach guten Gedanken sei, sagt er, dann gehe er in den Wald, die Natur. Eigentlich sei jeder Ort, der nicht die Überreizung fördere, gut. »Wir brauchen«, sagt Surjo Soekadar, »einen angstfreien Raum. Wo man Gelassenheit zulassen und sich mit der Umwelt verbinden kann. Das tut jedem Menschen gut.« Und er weiß auch, wie wichtig Resonanz ist, um das Denken zu befreien und zu beflügeln. »Je mehr Resonanz Sie empfinden, umso tiefer wird die Kommunikation, umso stärker wird Ihre Gedankenaktivität angeregt«, sagt er. Aber auch das Gegenteil ist messbar: ein gelangweiltes, abwinkendes, routiniertes Gegenüber absorbiert Kräfte. »Das Energielevel sinkt ab.«
Surjo Soekadar ist der Meister der Gedanken. Ein sehr freundlicher, vorsichtiger. Der genau weiß, was für eine Macht er da in den Händen halten könnte. Welche Macht über die Menschen. Staunend, etwas neidisch und ziemlich beunruhigt sieht er aus der Ferne die Aktivitäten der amerikanischen Firma Neurolink, die Elon Musk mit 500 Millionen Dollar Kapital ausgestattet hat. Und deren Mitarbeiter vor einer Weile einem Menschen mit Locked-in-Syndrom einen Chip im Gehirn implantiert hatten. Mit dessen Hilfe dieser, mittels eines Stiftes im Mund, zum Beispiel Schach spielen konnte. Natürlich ist das erstaunlich und angsteinflößend. Nach drei Wochen hatte sich der Chip gelöst, die Funktion versagte zum Entsetzen des Patienten.
Aber vor allem in die Zukunft weitergedacht, muss diese Möglichkeit der implantierten Hirnsteuerung eigentlich jedem Menschen Angst einflößen. Wer steuert unsere Gedanken? Zu welchem Zweck? Zu welchen Superkräften, zu welchen Supergedanken wird das Geld von Elon Musk den Menschen befähigen? Forscher aus aller Welt arbeiten fieberhaft an Regularien, die solche Technologien in der Zukunft einhegen und begrenzen. Und die Anwendungsbereiche auf chronisch Erkrankte einschränken. Aber natürlich wird, in einer massiv alternden Gesellschaft, die Frage, wer eigentlich chronisch krank ist und ob Alterserscheinungen dazugehören, immer schwerer zu beantworten sein, je verheißungsvoller die technischen Möglichkeiten sind.
Surjo Soekadar beteiligt sich selbst aktiv an den Diskussionen zur Nutzung und Begrenzung der Technologien auf Kongressen und im Gespräch mit Politikerinnen und Politikern. Aber sein Alltag ist vor allem der Forschung, der Anwendung, der Heilung gewidmet. Von den Patienten und Patientinnen mit schwersten Depressionen, die er behandelt, erfahren fünfzig bis siebzig Prozent nach einer Woche eine merkliche Besserung ihrer Situation. Aber die Freiräume, die er mittels der Technik in den zuvor blockierten Gehirnen schafft, bleiben nicht auf Dauer erhalten, wenn die Patienten
und Patientinnen nicht mit Psychotherapie begleitet werden. Das Elektrodenmützchen schafft Freiheit und gute Gedanken nicht für immer. Es braucht den Denkenden, den Gedanken erarbeitenden, aktiven Menschen dazu. Und natürlich ist auch das Gegenteil des von Depression verdunkelten Gehirns – eine totale Offenheit – nicht wünschenswert. Eine totale Offenheit ist die »Manie«, ist das Chaos der Gefühle und Gedanken. Das offene Tor der Sinne, ungefiltert, für all die Einflüsse der Welt. »Wir suchen den Spot in der Mitte«, sagt Surjo Soekadar. Den es aber – weil es ein dynamisches System ist – nicht gibt. »Wir kreisen immer um diesen Spot. Buddhistischen Mönchen ist es vielleicht am besten gelungen«, sagt er. Oder – wie Andrea Petkovic sagen würde: Roger Federer auch noch.
Surjo Soekadar ist ein optimistischer Mensch und Forschender. Er sieht, wie wir alle, die Gesellschaft um sich selbst, um die immer gleichen dunklen Gedanken kreisen. Aber: »Wir müssen ein Gegenmodell entwerfen. Es ist einfach so, dass heute vieles von der Zerstörung lebt. Und das ist auch ein wichtiger Teil der Entwicklung. Aber er muss in der Balance stehen mit den anderen, den guten Kräften, die wirken. Und manchmal«, sagt er vorsichtig, »hat man das Gefühl, es ist in einer Disbalance. Aber das muss ja nicht so bleiben. Wir müssen Freiräume schaffen für neues Denken. Und hier« – er deutet auf mich, deutet auf unser kleines Kaffee-Abteil, deutet auf die Straße da draußen vor dem Hauptbahnhof, die Menschen, die vorbeihasten, »hier könnte ja der Ort sein. Er kann in jeder Sekunde entstehen, wenn man sich nicht einfangen lässt. Von den Sorgen und den Ängsten.« »Wir müssen Freiräume schaffen für neues Denken. Und hier könnte ja der Ort sein. Er kann in jeder Sekunde entstehen, wenn man sich nicht einfangen lässt. Von den Sorgen und den Ängsten.« (Surjo Soekadar, Hirnforscher)
Volker Weidermann, 54, ist Kulturkorrespondent der ZEIT. Die meisten guten Gedanken seines Lebens verdankt er der Begegnung mit Schriftstellern und dem Lesen ihrer Bücher.
Vor 20 Jahren erschien die erste Ausgabe von ZEIT WISSEN. Wir sind dankbar und auch ein bisschen stolz, seit so vielen Jahren dieses Magazin mit Geschichten, Blickwinkeln und Ideen befüllen zu dürfen. Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, möchten wir zu unserem Jubiläum etwas schenken: ein von uns gestaltetes Notizbuch mit kleinen Anregungen aus der Welt von ZEIT WISSEN. Auf die guten Gedanken!
Sollte das Notizbuch fehlen, schreiben Sie uns bitte an zeitwissen@zeit.de
(Helga Schubert, Schriftstellerin)
»Ich denke immerzu nach und verrate dem Papier noch nichts. Es ist wie ein Samen, den ich in warme Erde eines Tontopfs lege . «
Wenn man ihre Lieder hört, geht es einem sofort besser. Diese Frau erobert derzeit die deutsche Musikwelt im Sturm. Was da so leicht daherkommt, funktioniert gerade darum so gut, weil sie die Schwere nicht scheut
»Ich brauche kein Ziel, keine Lösungen, ich will einfach nur dauerhaft auf dem Weg sein«
Wir treffen die Musikerin und Schauspielerin Alli Neumann an einem Donnerstagnachmittag im September, im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Sie hat ihre Hündin Laska mitgebracht, die sich im Laufe des Gesprächs noch bemerkbar machen wird.
Alli Neumann, kurz vor unserem Interview haben Sie zufällig zwei große Pakete geschickt bekommen, auf denen »Vorsicht zerbrechlich« stand. Unsere Fotografin sagte »Sieht aus wie eine Mitgift«, und Sie haben gesagt: »Mitgift. Was für ein gutes, zweideutiges Wort! Das schreibe ich mir auf, ich schreibe ja gerade Songs.« Kommen Sie so auf Ihre Ideen?
Absolut. Ich habe gerade eine viel offenere und gleichzeitig selektivere Wahrnehmung, ich habe alle Antennen auf 3.000, achte bei Wörtern, die ich höre, auf alle möglichen Metaebenen. Ich arbeite konzeptuell, wenn ich neue Musik schreibe. Was heißt das?
Ich überlege mir für jedes Album ein Thema, und dann lese ich den gesamten Alltag darauf hin. Bei meinem vorletzten Album Madonna Whore Complex ging es um Sexismus und wie ich ihn selbst internalisiert habe. Der Madonna-Whore-Complex ist eine Theorie, die beschreibt, dass Männer uns Frauen oft nur eindimensional wahrnehmen. Die Arbeit daran hat dazu geführt, dass ich mich ständig selbst hinterfragt habe, selbst daraufhin, wie ich mich anziehe, wie ich mit meinem Vater spreche oder wie ich einen Hund erziehe, wie ich Sex habe. Was ist jetzt Ihr Thema?
Ich beschäftige mich mit dem Gefühl von Zugehörigkeit und was es bedeutet, ein Misfit zu sein. Ich merke bei mir, dass ich einerseits die ganze Zeit versuche, mich anzupassen und zu gefallen. Auf der anderen
Seite weiß ich auch, dass es meine Rolle als Musikerin ist, individualistisch zu sein, etwas anders als andere zu machen. Was witzig ist, weil ich also etwas anders mache, um am Ende doch dazuzugehören.
Sie haben einmal erzählt, dass Sie vor ein paar Jahren in New York eine Zufallsbegegnung mit dem DJ und Produzenten Danger Mouse, einer Hälfte des Duos Gnarls Barkley, hatten. Er hat Ihnen einen Rat gegeben.
Ich hatte damals eine große Identitätskrise, wie wir Musiker:innen das oft haben, eine Schreibblockade. Und Danger Mouse hat zu mir gesagt: »Du musst den Leuten überhaupt nicht zeigen, wer du bist. Die Bürde einem Song aufzuerlegen, dich ganzheitlich zu repräsentieren, ist Quatsch. Zeig den Leuten nicht, wer du bist, sondern einfach nur, was du liebst.«
Das hat Ihnen geholfen?
Sehr. Er hat so recht. Musik ist komplex, sie kann doppelbödig sein, weil meine Stimme ganz anders klingen kann als das, was der Text erzählt – oder selbst als der Bass. Ich versuche jetzt, den Menschen zu zeigen, was ich liebe, auch um mich selbst mal aus dem Fokus zu nehmen. Barbra Streisand hat etwas Kluges gesagt: »Ich gehe nicht mehr zur Therapie, ich bin nicht mehr so an mir selbst interessiert.« Es ist doch viel spannender, sich für die Dinge zu interessieren, die da draußen passieren, als sich immer nur um die eigene Positionierung zu allem zu drehen. Das muss doch gar nicht sein. Ich kann mir die Welt um mich herum anschauen, ich kann Kunst einfach nur wahrnehmen. Ich muss nicht immer alles in Relation zu mir setzen.
Geht es in unserer Zeit vielleicht zu oft vor allem darum, von welcher Position aus gesprochen wird? Wer bin ich? Und was will ich davon auf Instagram zeigen?
Mich überfordert dieser krasse Individualismus. Wir präsentieren uns ja schon, wenn wir kurz zum Späti um die Ecke gehen und
ein Getränk aussuchen. Bin ich jetzt jemand, der sich einen Kombucha holt? Oder bin ich die, die mit ihrem Dosenkauf einen dieser schlimmen Konzerne unterstützt? Früher gab’s Cola und Wasser. Die eigene Identität von dem zu trennen, was man konsumiert – das ist wirklich kompliziert. Es ist nun mal ein Gefühl, ein bestimmtes Auto zu fahren, bestimmte Designerkleidung zu tragen oder sich eine Pueblo-Zigarette selbst zu drehen und Mate zu trinken. Ich habe mich vor einer Weile gefragt, wer ich eigentlich bin, wenn ich alles weggebe. Und?
Ich habe es gemacht! Meine alten Gitarren, meine Banjos, einfach alles.
Und wer sind Sie jetzt?
Ein Fagott.
Ein Fagott?
Ja, ich spiele das jetzt wieder. Das Fagott ist ein Instrument, das niemand freiwillig spielt. Ich habe mir als Kind das Schlüsselbein gebrochen und konnte nicht mehr Geige spielen. Ich habe im Schulorchester gespielt, das war mein Freundeskreis. Unser Orchesterleiter bekam große, strahlende Augen, als ich ihm von dem Bruch erzählt habe: »Da habe ich was für dich!« Und holte diese riesige Barockröhre raus.
Was haben Sie in dem Moment gedacht?
Das wird auf dem Schulweg schwer zu tragen sein. Und werde ich jetzt für immer Single bleiben? Das hat sich als richtig herausgestellt. Und schwer ist das Instrument auch. Laska! Ey! (Alli Neumanns Hündin, die sie zum Interview mitgebracht hat und die bislang brav unter dem Tisch lag, ist aufgesprungen und bellt) Sorry.
Und was ist das Tolle am Fagottspielen?
Es hat mir wieder einen Zugang zur Musik ermöglicht. Im Orchester damals hatte ich mit dem Fagott eine klare Rolle zu erfüllen, ich musste mich der Musik unterordnen, während ich heute als Künstlerin auf gewisse Art auch eine Marke bin. Es geht die ganze Zeit um Positionierungsfragen, um den
»Ich habe mich vor einer Weile gefragt, wer ich eigentlich bin, wenn ich alles weggebe. Meine alten Gitarren, meine Banjos, einfach alles.«
Alli Neumann, geboren 1994 als Alina-Bianca Neumann in Solingen, ist erst in Polen und dann in Nordfriesland aufgewachsen. Zwei Alben hat sie bereits veröffentlicht, gemeinsam mit dem Musiker Trettmann wurde sie mit einer Goldenen Schallplatte ausgezeichnet für ihren Hit »Zeit steht«. Im vergangenen Jahr nahm sie an der Musik-TV-Show »Sing meinen Song« teil, als Schauspielerin war sie in den Serien »Jerks« und »Kleo« zu sehen.
»Ich habe mir irgendwann gedacht, dass ich vielleicht gar nicht die Hauptfigur im Film meines Lebens bin. Vielleicht bin ich die Autorin«
»Es hat erst mal grauenhaft geklungen.
Ich dachte wirklich: Ich kann gar nichts. Es war ein Neuanfang, der mir sehr geholfen hat, mich zu sortieren.«
Schaffensprozess, solche Sachen. Mit dem Fagott wollte ich wieder einen leichteren, freieren Zugang zur Musik haben. Ich habe mir vor einem Jahr eine längere Auszeit genommen, ich hatte den Zugang zur Musik verloren, ich war einfach nur verwirrt. Ich hatte so viele Fragen in meinem Kopf: Was muss meine Musik alles können?
Einerseits muss sie zugänglich sein, aber gleichzeitig auch edgier, modern und zeitlos gleichermaßen, international, aber auch eine neue Form der deutschen Kultur prägen. Was zur Hölle! Was soll das arme Lied noch alles können?
Dabei hat Ihnen das Fagott geholfen?
Ja, es hat mich Demut gelehrt, ich musste es wieder richtig spielen lernen. Also habe ich das Fagott wieder umgeschnallt, und es hat erst mal grauenhaft geklungen. Ich dachte wirklich: Ich kann gar nichts. Es war ein Neuanfang, der mir sehr geholfen hat, mich zu sortieren.
Was ein Instrument alles kann. Was Musik alles kann! Ich erinnere mich noch genau an meinen allerersten Auftritt als Kind in einem Altersheim. Da habe ich
Connie Francis gesungen ...
... die amerikanische Musikerin, die in den 1960er-Jahren deutsche Schlager gesungen hat ...
... und es war ein Lied, das viele im Saal an ihre eigene Kindheit und Jugend erinnert hat, Schöner fremder Mann. Ich dachte, ich singe da jetzt irgendwas in meinem Tüllrock und zeige ihnen meine Show, aber die Leute haben so geweint! Sie sind aufgestanden und haben angefangen zu tanzen. Vorher war es normal und nett, und innerhalb von 30 Sekunden war eine komplett andere Stimmung. Das ist die absurde Kraft von Musik. Mir selbst geht es genauso: Ich fühle mich nie so bei mir wie bei Musik. Wenn ich einen Song schreibe, bin ich alleine, isoliert. Aber wenn ich bei einem Festival auf der Bühne stehe, singe und das Publikum singt mit, da entsteht ein Gemeinsam-
keitsgefühl, das unvergleichlich ist. »In der Retrospektive war das eh keine Liebe«: Ich war so einsam, als ich diese Zeile geschrieben habe, aber wenn man diesen Satz in einer Gemeinschaft singt, fühlt man sich geborgen. Paradox, aber so fühlt es sich an. Sie sind in Solingen geboren, Ihr Vater ist Deutscher, Ihre Mutter Polin, und die Familie ist kurz nach ihrer Geburt nach Polen gezogen. Die ersten sechs, sieben Jahre Ihres Lebens sind Sie dort auf dem Land aufgewachsen. Was ist die erste Musik, die Sie bewusst gehört haben?
Safe Mundharmonika. Mein Opa hatte immer eine Mundharmonika im Mund, er liebt Bluesmusik wie viele polnische Bauern. Meine Mutter hat dazu oft Posaune gespielt, auch Mandoline. Klingt melancholisch.
Sehr emotional, ja. Wir haben immer zusammen Musik gemacht. Das finde ich so toll an Musik: dass man sich mit ihr so gut verbinden kann untereinander. Ich stelle mir das immer vor wie bei Avatar, wenn die Delfine sich mit den Pflanzen verbinden. In Amerika habe ich das später auch immer wieder erlebt, wenn an fast jeder Ecke oder im Park Blues oder Bluegrass gespielt wird, hey, let’s jam! In Deutschland, habe ich das Gefühl, wird Musikmachen oft mit Leistung verbunden, so nach dem Motto: Der kann gar nicht singen. Dabei kann Musik etwas Therapeutisches haben. Musik muss gar nicht gut sein, darum geht es gar nicht. Man macht Musik um der Musik willen. Oder für das Wohlergehen. Man ist auch nie zu alt, um ein Instrument zu lernen. Was war das erste Instrument, das Sie gelernt haben?
Nervensäge!
War das schwer zu lernen?
Das ist mir eher leicht gefallen. Aber mein erstes, echtes Instrument war und ist bis heute: meine Stimme. Die Stimme ist mir am nächsten. Übrigens haben sich gerade auch meine Referenzen geändert.
Wie meinen Sie das?
Ich habe plötzlich Jodie Foster und Vivienne Westwood gesehen und gedacht: Die sind eher meine Referenzpersonen! Vivienne Westwood war der spannendste Misfit der Welt.
Einerseits die Erfinderin des Punk-Looks, andererseits eine international erfolgreiche Modemacherin mit Shows in Paris.
Ja. Sie hat versucht, Punk zu erzählen in der Haute Couture, also in der so ziemlich kapitalistischsten Welt, die es gibt. Verrückt. Wenn man Ihre Songs hört, hat man, egal wie traurig oder wütend die Texte sind, am Ende immer ein positives Gefühl. Ist das Ihre Absicht?
Das will ich, ja! Ich habe mir irgendwann gedacht, dass ich vielleicht gar nicht die Hauptfigur in dem Film meines Lebens bin, der alle möglichen Dinge passieren. Vielleicht bin ich vielmehr die Autorin meines eigenen Lebens und bestimme die Perspektive selbst: Wie will ich mich fühlen? Und weil Musik so tief ansetzt, kann ich das, was ich will, manifestieren, indem ich es aufschreibe.
Wann haben Sie gemerkt, dass Sie Songs schreiben können?
Ich frage mich immer noch jeden Tag, ob ich das kann. Aber ich habe noch in Polen damit angefangen, eigene Lieder laut vor mich hinzusingen. Wie Kinder das oft machen, alleine um ihre Eltern zu ärgern. Die Nervensäge.
(singt): Meine Mama ist blöö-hööd. So ein Zeugs. Aber ich habe damit meine Gefühle vertont. Später gab es schon einen ernsthaften Moment, als ich Jochen Hansen, den Bassisten von Ton Steine Scherben, kennengelernt habe.
Da lebten Sie mit Ihrer Familie nach dem Umzug nach Deutschland in einem Dorf in Nordfriesland.
Er hatte einen Auftritt von mir auf einem Stadtfest gesehen, damals bin ich nur mit Coverversionen aufgetreten. Und er hat zu
»Man macht Musik um der Musik willen. Oder für das Wohlergehen. Man ist auch nie zu alt, um ein Instrument zu lernen.«
mir gesagt: Schreib doch mal selber was. Da war ich neun oder zehn, so fing das an. Erinnern Sie sich an Ihren ersten Song? Ja, o Gott, das ist jetzt unangenehm. Der Song geht so (singt): »One two three / You mean a lot to me / Four five six / You’re the one I dig / Seven eight nine / You make me feel fine.« Es gibt sogar eine Aufnahme davon. Es war nicht schlecht gesungen, aber textlich: anderes Genre, würde ich sagen. In den ersten Jahren, als Sie noch in Polen waren, hatten Sie nicht viel Ablenkung, haben Sie in unserem ZEIT-WochenendPodcast erzählt. Es gab keinen Fernseher, kein warmes Wasser, keinen Strom. Sie mussten lernen, sich selbst zu unterhalten. Auf jeden Fall. Später in Norddeutschland war es ähnlich, dann eher aus einer Haltung heraus, die uns meine Eltern vermittelt haben. Keinen Fernseher, lasst uns lieber selbst was machen. Nordfriesland ist dafür eine gute Gegend. Der Maler Emil Nolde hat auch in der Gegend gelebt. Er hat gesagt: »Da, wo der Horizont frei ist, kann man ihn bemalen.« Diese Leere zu füllen, hat mich sehr motiviert. Ich weiß gar nicht, wie ich wäre, wenn ich in der Stadt groß geworden wäre. Für mich ist es bis heute schwierig, in der Stadt kreativ zu sein, weil ich ständig das Gefühl habe, auf etwas reagieren zu müssen.
Eine Frage haben wir noch zum Fagott: Was ist eigentlich das Besondere daran?
Das Fagott hat diese Sean-Penn-Sexyness: Du läufst mir nicht weg, du bist nicht so begehrt wie das Saxofon. Da rieche ich die Chance für das Fagott, das neue Trendinstrument zu werden. (lacht) Sie arbeiten neben Ihrer Karriere auch als Schauspielerin, in diesem Jahr sind Sie in der Netflix-Serie »Kleo« zu sehen. Ist das angenehm für Ihren Kopf, ein-, zweimal im Jahr in ein anderes Ich abzutauchen?
Das ist der einzige Urlaub, den ich wirklich brauche, Urlaub von mir selbst. Ich suhle mich auch als Schauspielerin in meinem
eigenen Leid und in meinen eigenen Problemen, aber weil es unter dem Deckmantel einer Rolle passiert, fühle ich mich geschützt und frei. Es tut mir auch gut, mal ein Teil eines großen Mikrokosmos zu sein. Als Musikerin Alli Neumann, wenn ich schreibe und auftrete, tue ich das allein. Die Tochter Alli Neumann hat ihrer Mutter einmal vorgehalten, sie stehe nicht zu ihrer polnischen Herkunft. Wie haben Sie das gemeint?
Was für eine Arroganz, ne? Darüber denke ich mittlerweile anders. Heute denke ich: Was habe ich mir da eigentlich rausgenommen als eine, die in der deutschen Gesellschaft so angekommen ist? Es wurde natürlich viel einfacher für sie und für uns, weil wir zu Hause kein Polnisch gesprochen haben. Wer weiß, wo ich wäre, wenn sie das nicht beschlossen hätte? Ich muss heute niemandem meine Herkunft erklären. Und Sie sprechen trotzdem noch Polnisch. Aber ich schreibe wie eine Sechsjährige. Was war bislang eigentlich das größte Publikum, vor dem Sie aufgetreten sind? Das war als Vorband für Coldplay auf deren Tournee, da kamen 60.000 zu einem Konzert.
Wie kommt so etwas zustande? Haben Sie eine Mail bekommen, einen Anruf?
Zuerst kam eine Mail mit einem Absender, management@coldplay-mäßig. Ich dachte, das ist auf jeden Fall Fake, ein Scam. Wir haben erst mal nicht reagiert, aber dann kam eine zweite Nachricht. Moment, das sind jetzt wirklich COLDPLAY, die anfragen? Die haben geschrieben, hey, wir haben gegoogelt, »female artist germany«, wir finden dich geil. Zuerst haben wir drei Konzerte mit Coldplay gespielt, und dann haben sie uns spontan gefragt, ob wir nicht noch weitermachen wollen.
Wie ist das, vor 60.000 Menschen aufzutreten, die für jemand ganz anderen gekommen sind? Und vielleicht auch gar nicht wissen, wer man ist?
Gott sei Dank habe ich mir die Frage nicht gestellt.
Sorry.
Musik ist für mich so einnehmend, wenn der erste Akkord gespielt ist, bin ich drin. Es kann alles Mögliche vor dem Auftritt passieren, wenn es losgeht, übernimmt die Musik.
Sie haben vorhin Momente erwähnt, in denen es Ihnen nicht so gut geht. Hilft Ihnen dann Musik, kann Musik heilen?
Es ist ein bisschen komplizierter. Sie hilft mir, aber es kann auch vorkommen, dass ich mir gerade wegen der Musik so viel Druck mache, dass gar nichts zu hören besser ist. Wenn ich in solchen Situationen Songs höre, die mir eigentlich guttun, frage ich mich: Warum schreibe ich nicht so gute Musik? Es kann Leistungsdruck auslösen. Wenn es aber um Verlust, um Liebe geht, kann sie mir helfen, wie allen, klar. Sie gehen, das spürt man, vollkommen in Ihrer Musik auf. Würden Sie sagen, dass Sie für andere Menschen auch leicht zu erreichen sind?
Früher war ich jemand, die gesagt hat: Lieber wird mir mein Handy einmal im Jahr geklaut, bevor ich immer mit der Hand in der Tasche herumlaufe und darauf aufpasse. Aber leider bin ich durch schlechte Erfahrungen auch konditioniert worden. Je mehr Menschen ich kennenlerne, die in meinem Leben stattfinden wollen, desto öfter muss ich hinterfragen, welche Absichten die Leute haben.
Dabei wirken Sie sehr offen. Offenheit auszustrahlen, kann auch ein Schutz sein. Offen und neugierig zu sein, kann einen davor schützen, nicht gemocht zu werden. Und das muss ich noch lernen: nicht gemocht zu werden. Das auszuhalten. Haben Sie ein Lied, das Ihnen sofort gute Laune macht?
Was heißt gute Laune? Es gibt einen Song, der mich sofort lebendig fühlen lässt: Vienna von Billy Joel.
Warum?
Das Lied ist so offen. Es hält die Komplexitäten des Lebens aus. Wenn ich es höre, denke ich: Ist doch geil, dass ich in diesem Strom der Verlorenheit bin. Ich fühle mich eigentlich immer verloren, und Vienna bestärkt mich, dass es etwas Gutes ist, ein rastloser Mensch zu sein. Ich brauche kein Ziel, ich brauche keine Lösungen, ich will einfach nur dauerhaft auf dem Weg sein. Sie haben von Erwartungen erzählt, die Sie nicht erfüllt haben, von einem Leistungsdruck, den Sie manchmal spüren. Was glauben Sie, woher kommt das?
Es ist für mich gar nicht leicht einzuordnen, was meine Eltern mir mitgegeben haben, weil beide sehr unterschiedlich sind. Es gab keinen Leistungsdruck in dem Sinne von: Mach das, was wir wollen. Es gab vielleicht eher den Druck, kulturell interessiert zu sein. Mein Vater war Architekt, und wenn wir an einem Gebäude vorbeikamen, mussten wir Kinder schon wissen, welche Architektur das jetzt ist. Meine Mutter hat
ANZEIGE
immer gesagt: Mach alles, was dich glücklich macht. Und mein Vater hat gesagt: Mach alles, was dich glücklich macht, und werde dabei erfolgreiche Künstlerin. Die von allen gemocht wird. Klar, das auch noch.
Eine letzte Frage noch: Gibt es Musik, bei der Sie sofort flüchten?
Es gibt tatsächlich etwas, was ein Unwohlsein in mir auslöst: wenn Musik rein technisch ist. Das kann jegliche Musikrichtung sein. Wenn alles perfekt in time ist, dann fühle ich mich wie damals, wenn ich bei Freunden war, und da war alles sauber und weiß, und ich dachte: Ich störe hier. Ich kann auch Techno hören, wenn wenigstens ein Synthie einen Berechnungsfehler hat. Aber Musik ohne Fehler kann ich nicht. Ich habe mir aus Spaß schon Alli-NeumannSongs, produziert von Alli Neumann, von künstlicher Intelligenz schreiben lassen.
Wie klangen sie?
Wie eine sehr plakative Version von mir selbst. Aber wenn ich der KI sage: »Mach mal
Der Absolventenkongress in Köln istdeine Chance, deinenTraumarbeitgeber in entspannterAtmosphäre kennenzulernen unddeine Zukunft zu planen! Auf dem kostenfreienKarriere Event fürStudis, Absolvent:innenund Young Professionals mitbis zu 3JahrenBerufserfahrung, kannst du denArbeitsmarktinKöln undRegion scouten -oder dirdirektein Praktikumodereine Einstiegsstellesichern.
KOMM MIT DEINEN FREUND:INNEN ZUM EVENT UND ERHALTE SPANNENDEPREISE! 150 +UNTERNEHMEN
einen Song auf Deutsch, der klingt wie eine Mischung aus Fiona Apple und Kate Bush«, dann kommen Sachen heraus, die nahe dran an mir sind. Das ist schon gruselig. Sie haben dann aber vorher als Mensch kreative Entscheidungen getroffen, oder?
Fiona Apple, Kate Bush, auf Deutsch. Witzigerweise habe ich selbst die gleichen Probleme wie die KI: Ich muss als Künstlerin aufpassen, nicht zu einer Parodie meiner selbst zu werden.
Klingt ganz schön kompliziert. Vielleicht mache ich es mir auch kompliziert.
Wünschen Sie sich manchmal, dümmer zu sein?
Im Gegenteil: Ich wünschte, intelligenter zu sein, weil ich dann mehr Lösungen hätte.
ZEIT WISSEN-Chefredakteur Andreas Lebert und Christoph Amend, Editorial Director der ZEIT, beide leidenschaftliche Musikfans, kennen sich schon seit den 1990er-Jahren, und doch ist dieses Gespräch ihr erstes gemeinsames Interview.
DeinVorteil:Der persönliche Kontakt mitRecruiter:innen namhafter Unternehmen undInstitutionen gibtdir den entscheidenden Boost in deinerspäteren Bewerbungsphase.
Profitiereaußerdem von unserem Event Rahmenprogramm: Hole dir hilfreiche Tippsbei spannenden Live Coachings, macheeinenCV-Check, einBewerbungsfoto und vieles mehr!
Auch dasEventfeeling kommt garantiert nichtzukurz: Schaue in unseren interaktivenZoneswie der Gaming Zone vorbei,entspanneinder Job Lounge undentdecke coole Goodies beiden Unternehmen.
Ohne Holz wäre die Geschichte des Menschen anders verlaufen. Über eine große Liebe, bei der sich ein Partner oft ganz schön verbiegen musste
Blong, blong, blong, Hammerschläge dröhnen von überall. Stundenlang dauert das Konzert der harten Klänge. Holzspäne fliegen durch die Luft, den Grasboden bedeckt ein riesiger Teppich aus kleinen und größeren Flocken. Frauen und Männer bearbeiten Blöcke, die vom Stamm einer im Sturm gefallenen Linde gesägt und auf robuste Tische im Garten gehievt wurden. Gewerkelt wird nach eigenen Ideen, Fantasie und Originalität sind gefragt. Mit Klüpfeln und Beiteln geht es tiefer und feiner ins Material. Die Kettensäge darf heute nicht kreischen, sie war die Tage zuvor in Aktion, um Grobes zurechtzuschneiden.
Die Sonne bescheint die Kreationen auf den Tischen. Längst ist erkennbar, was am Ende der Woche vollendet sein wird: Skulpturen, zum Teil mehr als einen Meter groß, voller Eigensinn und Witz. Ein überdimensionaler Snoopy mit Stupsnase und Plattfüßen, ein Riesen-Streichholz mit einem menschlichen Kopf statt einer Zündmischung, ein spazierender Hans Guckindieluft mit Dackel samt Hundehaufen, eine Frau mit superlangen Fingernägeln, die entrückt von der Welt auf ihr Handy starrt, und noch viel mehr. Auch ein abstraktes Werk ist präsent, ein Spiel mit Flächen und Formen. Einige der Kunstschaffenden haben Modelle oder Skizzen mitgebracht, andere arbeiten nach Plänen im Kopf.
Lilian Hasler leitet den Holz-Bildhauerkurs, der in Marburg an der Lahn im Rahmen der jährlichen Sommerakademie der Stadt auf dem Gelände eines Gymnasiums stattfindet. Hasler ist eine erfolgreiche und international anerkannte Künstlerin aus Zürich, der Veranstalter konnte sie für den Workshop aus der Schweiz nach Hessen locken. Die Frau geht von Tisch zu Tisch, diskutiert, gibt den fünf Frauen und acht Männern Anregungen und motiviert zum Weiterklopfen. Eine Krankenschwester ist dabei, ein Chemiker, ein Lehrer, eine Versicherungskauffrau; aus der Stadt und der Umgebung, aber auch von weiter her sind die Holz-Fans gekommen.
»Holz ist ein toller Werkstoff, ideal für Skulpturen«, sagt die Kursleiterin, »es ist weich und gut bearbeitbar, reagiert sofort auf Beitel und Klüpfel.« Insbesondere die verwendete Linde habe diese Vorzüge. Das wissen die Kreativen an den Tischen zu schätzen, schnell sichtbare Fortschritte verbreiten gute Laune. Das Naturmaterial strahlt Wärme und Lebendigkeit aus. Wie Lindenblütentee duften die Figuren. Dabei ändert sich im Laufe der Zeit die Farbe, das helle Schlagbild dunkelt. »Holz gibt sich hin, ist allerdings manchmal auch sehr überraschend und macht, was es will«, erzählt Lilian Hasler. Da können Äste und Risse auftauchen. Dann ist Flexibilität gefragt, oder das Malheur wird zum Geschenk und verleiht dem Ganzen etwas Besonderes. »Die Schönheit des Holzes ist anziehend. Gewiss ist es auch ein Vorteil, dass Holz vergänglicher ist als Stein, so belästigt es den Menschen nicht ewig.«
Ob Profi oder Amateur – Künstler mögen das faserig Gewachsene. Doch um ein Faible für das wunderbare Material zu
Holz ist ein Geschenk der Natur, das Emotionen weckt, Glücksgefühle erzeugt, die Seele entzückt
haben, bedarf es nicht eines schöpferischen Talents. Wir alle sind angetan von dem Stoff, den die Natur in Hülle und Fülle erschafft und der Mensch zu verwerten weiß. Immer und überall ist er präsent: Als Fachwerk ziert er Häuserfronten, als Parkbank lädt er zum Tagträumen ein. Als Diele knarrt er beim Gang durchs Zimmer, als Tür schützt er vor Eindringlingen, als Regal stellt er den Bücherschatz zur Schau und als Truhe das Porzellan der Oma. Der Schaft um die Bleistiftmine, die Cockpit-Blende im Luxusauto, der Griff am Brotmesser – all das ist aus Holz gemacht. Selbst das Papier, auf dem dieses Heft gedruckt ist. Brennende Holzscheite im Kamin wärmen uns. Und wenn wir eines Tages die Erde verlassen, liegen wir in einem Sarg aus Holz.
»Ich und mein Holz«, rappt das Essener Duo 257ers. »Best friends forever«, heißt es im Song und »Ich bin auf Kettensäge stolz, der Mahagoni-Proll, ich bring kein’ Pressspan unters Volk«. Ein abgefahrenes Loblied aufs Bioprodukt, das weit mehr ist als ein Werkstoff – all unsere Sinne spricht es an:
Wir bewundern seinen Charakter, seine warmen Farben, die wunderbaren Maserungen, wir streichen mit Wohlgefallen über seine Oberfläche, wir sind entzückt von seinem Geruch. Sogar unsere Ohren und unseren Gaumen betört es – mit Geigenmusik und Geräuchertem zum Beispiel. Ein Geschenk der Vegetation, das Emotionen weckt, Glücksgefühle erzeugt, unsere Seele entzückt. Der Mensch liebt das Holz. Dabei bleibt viel von seiner Magie geheimnisvoll. »Holz ist nur ein einsilbiges Wort, doch dahinter verbirgt sich eine Welt voller Schönheit und Wunder«, schwärmte Deutschlands erster Bundespräsident Theodor Heuss. Heute kommt sein Wert als nachwachsender Rohstoff hinzu: Wenn ein Baum heranwächst, entzieht er der Atmosphäre das Treibhausgas Kohlendioxid und speichert den Kohlenstoff in seinem Gewebe. Holz hat Hochkonjunktur als Bau- und Wohlfühlmaterial.
Wahrscheinlich hat die Liebe zum Holz evolutionäre Wurzeln. Immerhin hausten unsere tierischen Vorfahren vor Millionen von Jahren in einem Gehölz, das damals große Teile Afrikas bedeckte. Doch die Beziehung des Homo sapiens zu seinen knorrigen Weggefährten war keineswegs immer die beste: Er verwandelte riesige Urwälder zu Wirtschaftsflächen. Rodungen für Siedlungen, Weiden und Felder sowie der Bau ganzer Schiffsflotten und der Bedarf des Bergbaus dezimierten den Bewuchs ganzer Kontinente. Hierzulande schützen heute Waldgesetze vor zu großer Ausbeutung; in den tropischen Regenwäldern geht der Raubbau vielerorts weiter.
Jahrtausendelang galt unsere noch übrig gebliebene Welt der Büsche und Bäume als finster, geheimnisvoll und gefährlich. Für den römischen Geschichtsschreiber Tacitus
waren um 100 nach Christus die germanischen Wälder »schauerlich«. In den Märchen, die die Brüder Grimm zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus alten Erzählungen zusammentrugen, war der Forst mit Räubern und Hexen besiedelt – da stand längst die Romantik in voller Blüte. In jener Zeit mutierte der Wald zum Sehnsuchtsort. Caspar David Friedrich pinselte sein berühmtes Werk Waldinneres bei Mondschein auf die Leinwand, und Joseph von Eichendorff reimte: »O Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald, du meiner Lust und Wehen andächt’ger Aufenthalt«.
In unseren Tagen setzten dem grünen Idyll saurer Regen, Erderwärmung und der Borkenkäfer zu. Das Paradies wurde zum Pflegefall. Gleichzeitig rückte seine Bedeutung als Bollwerk gegen den Klimawandel ins Bewusstsein – eine gute Tonne Kohlendioxid speichert jeder Hektar im Jahr. So löste der in der Eifel lebende Förster Peter Wohlleben eine neue Welle der Begeisterung aus. Sein Bestseller Das geheime Leben der Bäume, 2015 veröffentlicht, wurde in über 20 Sprachen übersetzt und verfilmt. Das »Waldbaden« kam in Mode, ein Trend aus Japan. Beim achtsamen Aufenthalt in sauberer Waldluft sollten Körper, Geist und Seele regenerieren. Für Pilzsammler und Wanderer ist das ein alter Hut, doch daran wird bestens verdient. Kurse, Workshops und Bücher sollen auch den letzten Städter in die segensreiche Vegetation locken. Es ist ja auch etwas dran: Schon ein einzelner Baum berührt uns. Ob mit Blättern oder Nadeln. Fest in der Erde verankert und sich kraftvoll gen Himmel reckend, Wind und Wetter trotzend, oft von mächtiger Gestalt und majestätischer Ausstrahlung, mit schlankem Stamm und ausladender Krone, charakteristisch in der Art, doch jedes Exemplar von einmaligem Wuchs, ein Individuum. Spendet Schatten und Sauerstoff. Ein Sinnbild des Lebens, eine Metapher für Fruchtbarkeit, Wachstum und Beständigkeit. Menschen vieler Kulturen und Religionen verehrten solch ein prächtiges Gewächs, sahen darin den Sitz von Göttern und Geistern. Und als »deutscher« Baum, standhaft und von harter Substanz, wurde die Eiche mit ihren Blättern und Früchten hierzulande zum begehrten Symbol auf allerlei Stadt-
wappen, Dienstmützen des Zolls und Schulterklappen der Bundeswehrgeneräle.
»Mein Freund, der Baum«, säuselte 1968 die deutsche Schlagersängerin Alexandra. »Ich hatte manches dir zu sagen und wusste, du wirst mich verstehn ... Ich fühlte mich bei dir geborgen, und aller Kummer flog davon.« Das Lied wurde zur Hymne des Ökozeitalters und zum Soundtrack des Bäumeumarmens. Die Brigitte berichtete 2016 gar von einer Emma aus London, die bei einem Spaziergang »Tim« entdeckt hatte, ihren geästeten Traum. »Ich habe mich in ihn verliebt und möchte ihn heiraten«, erzählte sie. Viermal pro Woche besuche sie Tim, um mit ihm zu reden – doch dabei allein bleibe es nicht. Dann ziehe sie sich aus und reibe sich an seiner Rinde. Es sei
Berlinerin ist Tischlerin und eine von gut 200.000 Frauen und Männern, die hierzulande von Berufs wegen eine sehr innige Beziehung zum Werkstoff pflegen. Was in Süddeutschland oft »Schreiner« heißt, gilt als Traumberuf, und das war und ist er auch für Hutter. »Da kann ich mich selbst verwirklichen«, sagt sie, »ich arbeite mit einem Naturstoff, stelle etwas Konkretes her und bin dabei geistig gefordert.« Räumliche Vorstellungskraft, logisches Denken und Erfindungsreichtum sind gefragt. Die Berlinerin betreut die offene Holzwerkstatt der Regenbogenfabrik, eines alternativen »Kinder-, Kultur- und Nachbarschaftszentrums« im Stadtteil Kreuzberg. Neulich waren die Kinder einer Kita da. Einfachste Miniautos wurden gebastelt, besonders eifrig aber haben die Kleinen gesägt. »Sie hatten großen Spaß daran und wollten gar nicht mehr aufhören«, erzählt Hutter. Wächst da die nächste Tischlergeneration heran?
Nötig wäre es nicht: Während zahlreiche andere Handwerksbetriebe über
Tischlereien haben kein Nachwuchsproblem. Sind Menschen in Holzberufen glücklicher?
»der beste Sex«, den sie je hatte. Dendrophilie nennen Psychologen dieses außergewöhnliche Verlangen.
Mehr als 30.000 verschiedene Baumarten wachsen auf unserem Planeten, Hunderte ihrer Holzsorten werden international gehandelt. Die Vielfalt ist enorm. Da gibt es weiche und harte, leichte und schwere, helle und dunkle, rötliche und gelbliche, schnell verwitternde und sehr langlebige. Manche sind für Schädlinge leichte Beute, andere haben große Widerstandsfähigkeit. Bei allen Unterschieden – das mikroskopische Design ist ähnlich: Holz ist ein poriger und stabiler Zellverbund, der hauptsächlich aus den Bausteinen Zellulose, Hemizellulosen und Lignin besteht; chemischen Verbindungen, die Festigkeit geben und vor Parasiten schützen. Auch Farb- und Gerbstoffe sowie Harze sind eingeschlossen.
»Ich genieße die Arbeit mit Holz jeden Tag aufs Neue«, sagt Conny Hutter. Die
mangelnden Nachwuchs klagen, gab es hier im vergangenen Jahr mehr Bewerber als Ausbildungsplätze. Und es gibt noch viele andere Holzberufe: Schnitzer, Drechsler, Bootsbauer, Waldarbeiter, Förster, Parkettleger, Zimmerleute. Längst kann man Holztechnik, Holzbau oder Holzwirtschaft auch studieren. Manche Zeitgenossen schwören, dass man all diesen Menschen die Nähe zum Holz ansehen kann: Aus ihren Gesichtern strahlt Zufriedenheit.
Sie bauen nicht nur Möbel und Spielzeug, Dachstühle und Fußgängerbrücken. Wenn man Holz in die richtige Form bringt, vermag es Menschen innerlich zu ergreifen, denn es kann wunderbar tönen. Den besten Sound bringen Arten hervor, die gut schwingen können. Sie sind das Material für Xylofon, Flöte, Klarinette, Alphorn, Gitarre und Geige. Ihr Spiel kann verzaubern. Der italienische Musiker und Komponist Niccolò Paganini etwa, 1782 in Genua geboren, hypnotisierte mit dem virtuosen Spiel auf seiner Geige die Zuhörer regelrecht: Wie in Trance fielen sie, heftigste Gefühle brachen aus ihnen heraus. Steife Ladys wurden
Am Anfang schuf der Mensch Boote aus Holz –aber anders als der kubanische Künstler Kcho (unten). Rechts: »Baum« aus Altholz von Ai Weiwei. S. 48: Den »Tisch mit vier Stühlen« hat Pontus Willfors aus Weißeiche und Gleditschie gebaut
»Veronika mit Zopf« (links) hat der Südtiroler Bildhauer Bruno Walpoth aus Linde gefertigt, dem Lieblingsmaterial der Holzschnitzerei. Unten rechts ein Werk von Caroline Slotte. Strahlt Wärme aus, oder?
Oben: »Kameras« des Berliner Künstlers Oliver van den Berg. Rechts: »Vorsätzliche Blindheit« von Willy Verginer. Er lernte sein Handwerk im Grödner Tal, Südtirol, das berühmt für seine Holzkunst ist.
ohnmächtig, selbst den coolsten Männern rollten Tränen über die Wangen. Und als der »Teufelsgeiger« krank wurde, war es sein hölzernes Instrument, das ihm neue Energie schenkte. »Paganini mag noch so leidend oder elend sein«, berichtete sein Leibarzt Francesco Benatti, »der erste Bogenstrich wirkt wie ein elektrischer Funke, der ihm neues Leben verleiht.« In der Violine des Meisters, so Benatti, ruhe seine Seele. »Für mich war die Violine die größte Entdeckung meines Lebens und ist es geblieben«, schwärmt heute die Geigerin Anne-Sophie Mutter, die sich bereits im Alter von fünf Jahren ins hölzerne Instrument verguckte. »Die Geige ist mein künstlerisches Ich. Sie ist das, was ich versuche auszudrücken. Ich bin ja stimmlos ohne mein Instrument.« Die japanische Stargeigerin Midori formulierte es noch rigoroser: »Ohne meine Violine bin ich nicht da.« Und der in New York geborene Geigenvirtuose Yehudi Menuhin erzählte, dass er den Kopf seines Instruments jedes Mal küsste und dann erst in den Kasten legte.
Wer dem Spiel einer Geige oder einer Gitarre lauscht, hört nicht die Saiten, sondern die Schwingungen des Holzkörpers, auf den sie gespannt sind. Auf ihn kommt es an: auf die Form, das Gewicht, die Profile
der verschiedenen Teile, Leime und Lacke. Ausschlaggebend vor allem ist jedoch die Wahl des Holzes. Jedes hat eben seinen eigenen Klang. Für die Decke einer Geige gilt Fichte als optimal, sie soll wenig wiegen und elastisch sein. Alles andere vom Korpus wird meist aus Ahorn hergestellt. Fürs Griffbrett, für den Wirbel und den Saitenhalter werden oft die härteren Hölzer Palisander, Buchsbaum oder Ebenholz verwendet.
Ein Geigenbauer sucht das Material sorgfältig aus, geht oft selbst in die Berge, um knapp unter der Baumgrenze die in der Kälte langsamer wachsenden Fichten aufzuspüren – bei ihnen sind die Jahresringe eng benachbart, das klingt im Resonanzkörper dann besser. Natürlich darf es keine Augen und Äste in den ausgewählten Brettern geben. Sie müssen optimal gelagert werden und über lange Zeit trocknen. So sind einmalige Instrumente entstanden, von Legenden umrankt, sensible hölzerne Kostbarkeiten. Meisterwerke. Weltbekannt sind die des Antonio Stradivari. Vor gut 300 Jahren baute der begnadete Handwerker im norditalienischen Städtchen Cremona zahlreiche Violinen, die auch heute noch als das Nonplusultra gelten. Das Auktionshaus Tarisio versteigerte im Juni 2011 das Exemplar »Lady Blunt«, benannt
nach seiner ersten bekannten Besitzerin. Ein anonymer Bieter zahlte dafür den Rekordpreis von elf Millionen Euro.
Forscher haben die klingenden Kunstwerke mit Röntgenstrahlen durchleuchtet und mit den sensibelsten Sensoren bestückt. »In den vergangenen Jahrzehnten haben Hunderte wissenschaftliche, teils forensische Studien die unterschiedlichsten Facetten des Klangphänomens analysiert«, sagt Robert Mores, Professor für Nachrichtentechnik auf dem Kunst- und Mediencampus Finkenau in Hamburg. Er selbst ist leidenschaftlicher Gitarren- und Cellospieler. »Unser so gesammeltes Wissen ermöglicht heute einzelnen Geigenbauern, qualitativ gleichwertige Instrumente neu zu fertigen.« Besonders verblüffend: »Was die alten Meister an Form und Funktion intuitiv schufen und experimentierend evolutionär über die Jahre verbessert haben, bleibt auch im Licht aktueller Forschungsergebnisse optimal.«
Holz ist nicht nur ein Genuss fürs unsere Ohren, sondern auch für unseren Gaumen. Die Geschmackszellen lieben seine Aromen. Bei Gegrilltem oder über der Glut von Buche Geräuchertem etwa. Und zahlreiche alkoholische Drinks blieben ohne die Reifung im Eichen- oder Kastanienfass nur fade. Eine solche Veredlungsstation für Hochprozentiges arbeitet am Dresdner
Artworks: Kameras 2007, von Oliver van den Berg, Courtesy Galerie Kuckei + Kuckei, Berlin Foto: Thomas Bruns (Ausstellungsansicht:
Cecità Voluta 2007, von Willy Verginer; Sisyphus Casemate 2018, aus ramification (Le Havre) von Henrique Oliveira
Henrique Oliveira lässt ganze Bäume aus Wänden hervorquellen, so wie hier im botanischen Garten von Le Havre. Er nannte sein Werk »Frankensteins Baum«, denn: Der Mensch kann die Natur niemals nachbauen.
Alberthafen, die Dresdner Whisky Manufaktur GmbH. Es ist die größte Whiskybrennerei in Deutschland. »Helliger 42« heißt ihre Spirituose, ein Single Malt nach schottischem Vorbild, aber »ein echter Sachse durch und durch«, verkündet die Firmenwerbung. Fruchtig mit Vanille-Karamell-Note – so beschreiben Experten das Erlebnis auf der Zunge.
»60 bis 80 Prozent des Geschmacks des Whiskys kommen vom Holz«, sagt Thomas Michalski, einer der beiden Gründer und »Blendmaster« der Manufaktur. Er kreiert aus den verschiedenen Fässern, in denen der Alkohol nach dem Brennprozess reift, das endgültige Getränk. Mehr als 5.000 dieser hölzernen Gefäße, gefüllt mit jeweils 140 bis 700 Litern Gebranntem, lagern derzeit in mächtigen Stahlregalen in zwei Hallen im Umland, bis ihr Inhalt eines Tages für gut befunden und in Flaschen gefüllt wird. Dabei ist jedes einzelne Fass des Magazins ein Stück traditioneller Handwerkskunst, hergestellt von einem Küfer. Er spaltet
Bretter aus einem Baumstamm entlang der natürlichen Fasern, dann hobelt und schleift er sie nach langer Trocknung, sodass sie später zusammengelegt eine bauchige Form ergeben. Mithilfe von Feuer und Wasser werden sie schließlich gebogen und mit Eisenreifen fest zusammengehalten. Ohne Leim und ohne Nagel. Dicht und robust. Ein Spezialbetrieb in Rheinland-Pfalz beliefert die Dresdner.
»Der ins Fass gefüllte Alkohol dringt im Laufe der Zeit ins Holz ein und löst dort Aromen, beispielsweise Vanillin und Holzzucker, heraus«, erklärt Michalski, »so bekommt er Farbe und Geschmack.« Im Einzelnen ein komplexer Vorgang, denn die hölzerne Wand entzieht der Füllung auch unangenehme Bitterstoffe, zudem diffundieren durch das Holz Alkohol von innen und Umgebungsluft von außen. So spielen die Art des Holzes, aus dem das Fass gebaut wurde, die Fassgröße, aber auch die Dauer der Lagerung und das Außenklima eine
Rolle. Zudem werden viele der Fässer »getoastet«, das heißt: vor dem Füllen mit Feuer geröstet. Dabei entstehen der karamellisierende Holzzucker und das Vanillin. Und es werden auch gerne solche Fässer benutzt, die »vorbelegt« waren, in denen also zuvor zum Beispiel Sherry oder Rotwein gelagert wurde. Auch von diesen Resten bekommt dann der Whisky etwas ab.
»Unser Hellinger 42 reift überwiegend in Bourbon-Fässern«, sagt Michalski. Das sind Eichenfässer, in denen zuvor die amerikanische Whiskey-Variante Bourbon lagerte. »Darüber hinaus arbeiten wir mit den verschiedensten Vorbelegungen und neuen Fässern aus Eiche, aber auch Maulbeere, Robinie, Walnuss, Kastanie und Kiri.« Kiribäume waren ursprünglich in China beheimatet, werden aber auch in Europa kultiviert. So ist Whiskyherstellen ein immerwährendes Mixen von Geschmacksnuancen und ein Experimentieren mit allerlei Aromen aus dem Holz. Es werden immer wieder neue Gaumenreize komponiert, Fassinhalte mit mannigfaltigen Buketts zu Sondereditionen verschnitten.
Zu allem Sinnlichen gibt uns Holz auch noch ein Zuhause – und oft ein einmaliges Wohngefühl obendrein. Das Bauen
Die US-Künstlerin Jessica Drenk hat eine Sperrholzplatte so bearbeitet, dass eine Holzlandschaft entsteht (links).
Unten: Die Skulptur Zero Mobil aus Zedernholz diente Georg Baselitz als Vorlage für eine Kupferversion.
mit dem Naturstoff boomt, allein im vergangenen Jahr wurden in Deutschland knapp 15.000 solcher Häuser genehmigt. Dabei sind verschiedene Konstruktionen im Angebot – mal mit mehr, mal mit weniger Vollholz. Wenn nicht alles davon hinter Putz oder einer anderen Abschirmung verschwindet oder sogar eine eigene Innenraumvertäfelung angebracht wird, leben die Bewohner im direkten Kontakt zum Biomaterial, das unbehandelt sein sollte. Man riecht es: Der Duft bleibt auch lange nach dem Bau noch in der Nase. Ein behagliches Zuhause mit rustikalem Charme. Wie inmitten der Natur. Ein »optimales gesundes Raumklima« mit »hohem Wohlbefinden«, schwärmen die Hersteller.
Ein Experiment aus Österreich liefert Konkretes. Wissenschaftler der Joanneum Research Forschungsgesellschaft aus Graz wollten herausfinden, ob und wie sich die hölzerne Einrichtung eines Klassenzimmers auf die Schülerinnen und Schüler und ihr Lernen auswirkt. Als eine Schule renoviert wurde, bekamen zwei Räume eine üppige Holzausstattung: Parkettboden wurde gelegt, Decke und Wände wurden mit Tanne und Fichte, die Lampen mit Zirbelkiefer verkleidet. Dann beobachteten die Forscher die Mädchen und Jungen, die in diesen beiden Zimmern Unterricht hatten, und verglichen sie mit denen in den konventionellen Klassenräumen – ein ganzes Schuljahr lang. Unter anderem wurde bei jeweils zehn der Schüler im Zweimonatsabstand mittels Elektrokardiogramm der Herzschlag gemessen.
Ergebnis: Die Lernenden in den Holzklassen zeigten zwar keine besseren schulischen Leistungen als die in den anderen, doch ihr Herz schlug im Durchschnitt 8.600-mal weniger am Tag, macht sechs Pulsschläge pro Minute. Diese Kinder und Jugendlichen waren stressfreier und entspannter unterwegs als ihre Mitschüler.
Doch was ist es, das solche Effekte hervorruft? Klar ist: Holz hat die Fähigkeit, Feuchtigkeit aufzunehmen und wieder abzugeben, das macht das Raumklima angenehm. Darüber hinaus jedoch wird es kompliziert: Das Naturmaterial, insbesondere in verarbeiteter Form, emittiert verschiedene Substanzen. Dabei hängen die Ausdünstungen von der verwendeten Art ab, der Temperatur im Raum, vom Leim und von
anderem. »Vor allem Laubhölzer wie Buche, Birke und Eiche können einen eher säuerlichen Geruch haben, der durch die Emission von Ameisen- und Essigsäure hervorgerufen wird«, sagt Martin Ohlmeyer vom Thünen-Institut für Holzforschung in Hamburg-Bergedorf. »Wir sehen unter üblichen Bedingungen allerdings keine Auswirkungen auf Menschen, die in damit ausgestatteten Räumen leben.«
Der Holzwissenschaftler und sein Forschungsteam untersuchen in zahlreichen Experimenten die Substanzen, die aus Brettern, Platten und Balken austreten.
mung des Feuers wäre ohne es nicht möglich gewesen, die Menschheitsgeschichte hätte einen anderen Verlauf genommen. Auch unsere Zukunft ist nur mit ihm denkbar, seine Bedeutung als Ökostoff wird auf unserem Planeten weiter zunehmen und ihn verändern. Sogar im Weltraum könnte das irdische Pflanzengewebe demnächst Furore machen. Forscher der Universität im japanischen Kioto haben einen Satelliten aus Holz entwickelt. »LignoSat« heißt er, ein Würfel mit zehn Zentimetern Kantenlänge. Zwar hat er einen Rahmen aus Aluminium, und auch im Inneren gibt es Metallteile, doch die Hülle besteht aus Magnolie. Demnächst soll er mit einer Raumfähre zur Internationalen Raumstation ISS geschossen und von dort
Forschende haben Klassenzimmer mit Holz renoviert und den Herzschlag der Jugendlichen gemessen
»Die Stoffe, die jedoch den Geruch von Nadelhölzern insbesondere der Kiefer prägen, sind vor allem leicht flüchtige Terpene.« So angenehm die Nase sie auch empfindet – diese ätherischen Öle aus dem Harz wurden immer wieder verdächtigt, in hohen Konzentrationen die Gesundheit zu schädigen. Doch in der gewöhnlichen Praxis sind die viel zu gering.
Darüber hinaus sind bestimmte Terpene möglicherweise sogar segensreich. »Wir haben Hinweise darauf, dass einzelne flüchtige organische Verbindungen für das menschliche Wohlergehen förderlich sein können«, sagt Ohlmeyer. »Um das zu erhärten, bedarf es allerdings noch weiterer Forschungen.« Die laufen derzeit. Fest steht aber schon jetzt: Die Psyche des Menschen spielt eine bedeutende Rolle. »Die Wertschätzung bei der Wahrnehmung von Holz hat eine große Wirkung«, so Ohlmeyer. Das gute Gefühl ist entscheidend. Unser Nervensystem kennt den Stoff aus der Natur und schaltet bei seiner Anwesenheit auf Ruhe und Entspannung. Eine facettenreiche Liebe, groß und grenzenlos: Wir sind mit Holz verbunden seit Anbeginn unserer Existenz. Die Zäh-
im All ausgesetzt werden. Dann wollen die Wissenschaftler herausfinden, wie der kleine Kubus die unwirtlichen Bedingungen in seiner Umgebung aushält.
Das Experiment soll ein Umdenken in der Weltraumforschung anstoßen, ein erster Schritt für Nachhaltigkeit bei der Erkundung des Kosmos sein. So ließe sich mit der Verwendung von Holz bei Satelliten in Zukunft beispielsweise der Metallschrott reduzieren, der derzeit noch massenhaft um die Erde kreist, eines Tages in die Atmosphäre eintritt und dort beim Verbrennen jede Menge Rückstände hinterlässt – mit negativen Folgen für die Ozonschicht und womöglich auch unser Klima.
In ihren Fantasien sind die japanischen Wissenschaftler jedoch schon weiter: Sie träumen von Häusern aus Holz auf dem Mond und dem Mars.
Horst Güntheroth beglückte als Kind mithilfe von Sperrholz und Laubsäge immer mal wieder seine Eltern. Ein Schlüsselbrett, ein Hampelmann und diverse Bücherstützen waren seine stolzen Werke.
Wenn Menschen im Hotel übernachten, verändern sie sich. Was passiert da mit uns?
Checken Sie ein für einen Kurzaufenthalt in der Übernachtungspsychologie.
Text Max Rauner Illustrationen Maren Amini
n dem Film Lost in Translation trifft der alternde Filmstar Bob Harris (gespielt von Bill Murray) auf die Philosophieabsolventin Charlotte (Scarlett Johansson). Ort: Das Park Hyatt Hotel in Tokio. Es ist spät in der Nacht. Die beiden haben Jetlag und können nicht einschlafen. Sie begegnen sich an der Bar.
Charlotte: Was machen Sie hier?
Bob: Ich mache dies und das. Eine Pause von meiner Frau, vergesse den Geburtstag meines Sohnes, drehe für zwei Millionen eine Whiskywerbung, während ich irgendwo Theater spielen könnte.
Charlotte: Oh.
Bob: Das Gute daran ist, der Whisky wirkt. Was machen Sie hier?
Charlotte: Mein Mann ist Fotograf, und er hat hier einen Auftrag.
Und ich hatte Zeit und bin mitgekommen. Und wir haben hier auch ein paar Freunde.
Bob: Schon lange verheiratet?
Charlotte: Zwei Jahre.
Bob: Ich endlose 25.
Charlotte: Ach, Sie haben wahrscheinlich nur eine Midlife-Crisis.
Schon einen Porsche gekauft?
Bob: Ehrlich gesagt, denke ich schwer darüber nach.
Charlotte: 25 Jahre. Das ist, na ja, beeindruckend.
Bob: Aber immerhin schläft man ein Drittel der Zeit.
Der Film ist Fiktion, aber er fängt ein Phänomen ein, das auch Soziologen, Anthropologinnen und Psychologen beschäftigt: Hotels verändern Menschen. An der Bar, in der Lobby, beim Frühstück, im Restaurant treffen wildfremde Gäste aufeinander und halten sich nicht lange mit Small Talk auf. Sie tragen ihr Herz auf der Zunge. Sie offenbaren Intimitäten, die sie im Bekanntenkreis oder in der Familie lieber für sich behalten.
Sozialpsychologinnen und -psychologen haben den Effekt zuvor in Zügen beobachtet und sprechen vom Stranger-on-a-TrainPhänomen: Fremde, die sich in einem Bahnabteil begegnen, bilden
für vorübergehende Zeit eine Schicksalsgemeinschaft. Sie kennen einander nicht und werden sich wohl nie wiedersehen. Außerdem macht die körperliche Nähe vertrauensselig. Wir sitzen alle im selben Abteil. Und so ähnlich ist das auch im Hotel.
Manche Gäste durchleben im Hotel eine regelrechte Metamorphose. Sie essen im Bett, leben sexuelle Fantasien aus, feiern bis in die Puppen, verwandeln sich in glückliche Kinder oder störrische Teenager. Soziale Normen? Bitte nicht stören!
Keith Richards kletterte mit 62 Jahren in einem Luxusresort auf den Fidschi-Inseln auf eine Palme (und fiel herunter). Kate Moss verwüstete ihr Zimmer im Hôtel du Cap-Eden-Roc (weil sie nicht im Bikini rumlaufen durfte). Michael Jackson hielt seinen neun Monate alten Sohn im Berliner Adlon aus dem Fenster im fünften Stock (niemand weiß, warum).
Sicher, das sind Superstars. Die sind vielleicht auch sonst so. Aber selbst die Junge Union, Kreisverband Duisburg, offenbarte in einem Berliner Hotel Allüren: Die Bildungsreise wurde zum Saufgelage. Der Vize-Vorsitzende habe vor dem Hotel nach »Jesus Christus« gerufen und später dann die Zimmertür eingetreten, berichtete eine Mitreisende.
»Hotels regen die Fantasie an«, schreiben die britische Tourismusforscherin Annette Pritchard und ihr Kollege (und Ehemann) Nigel Morgan, »sie bieten eine Bühne für Drama und Rollenspiele, sie sind ein Ort, an dem unsere fluiden Identitäten neu zusammengesetzt oder gefestigt werden können.«
Der Manager eines Londoner 5-Sterne-Hotels schreibt (anonym) im Insider-Bericht Hotel Babylon: »Ich weiß nicht, warum es passiert, ich weiß nur, dass den Gästen etwas Seltsames widerfährt, sobald sie im Hotel einchecken. Aus irgendeinem Grund scheinen die normalen Verhaltensregeln nicht mehr zu gelten, selbst wenn sie im wirklichen Leben gut erzogene, anständige Menschen mit ausgeglichenen sozialen Beziehungen sind. Sobald sie durch die Drehtür kommen, verschieben sich ihre Grenzen. Sie folgen anderen Spielregeln. Sie fühlen sich für nichts verantwortlich, sie halten sich für unsichtbar, sie denken, sie könnten
sich wie Rockstars benehmen. Und am nächsten Tag tauchen sie wie unschuldige kleine Kinder an der Rezeption auf.«
Menschen im Hotel schlafen anders, träumen anders, denken, handeln und fühlen anders. Was passiert da mit uns? Das versucht die Wissenschaft mit Interviews und Feldversuchen, Laborexperimenten und Umfragen herauszufinden. Manche mischen sich wie Ethnografinnen unter die Belegschaft und versuchen die transformative Kraft dieses Ortes aufzuspüren. Andere durchforsten Bewertungen auf booking.com und Tripadvisor mit künstlicher Intelligenz auf der Suche nach emotionalen Schlüsselbegriffen. Es ist, als seien sie einer neuen Spezies auf der Spur: Homo hotelensis.
»Und so begann mein Leben. Junior Lobby-Boy in der Lehre, Grand Budapest Hotel, unter dem gestrengen Kommando von Monsieur Gustave H. Ich wurde sein Schüler, und er sollte mein Mentor und Beschützer werden.« So erzählt es Zéro Moustafa in dem Film Grand Budapest Hotel von Wes Anderson, gedreht in Görlitz und Babelsberg, prämiert mit dem Silbernen Bären 2014. Ort: ein Riesenhotel in der fiktiven Republik Zubrowka.
Monsier Gustave: Was ist ein Lobby-Boy? Ein Lobby-Boy ist unsichtbar und doch immer in Sichtweite. Ein Lobby-Boy merkt sich, was wer hasst. Ein Lobby-Boy erahnt das Begehr des Kunden, bevor das Begehr begehrt wird. Ein Lobby-Boy ist vor allem und in höchstem Maße diskret. Unsere Gäste wissen, dass wir ihre tiefsten Geheimnisse, so ungebührlich einige auch sein mögen, mit ins Grab nehmen. Also schön den Mund halten, Zéro.
Zéro: Ja, Sir!
Monsier Gustave: Das war’s fürs Erste.
Soziologen beschreiben Hotels als Übergangsräume oder »liminale Orte«, abgeleitet vom lateinischen limen für Schwelle. Ursprünglich bezog sich der Begriff auf den Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter; später wurde er auf so unterschiedliche Orte wie Strände, Bahnabteile und Hotels ausgeweitet. An diesen Orten befindet sich der Mensch irgendwie dazwischen: halb öffentlich, halb privat, in einer Transitzone zwischen Start und Ziel, weder hier noch dort, ein bisschen heimisch und doch fremd. »In dieser Lücke zwischen geordneten Welten kann fast alles geschehen«, schrieb der britische Soziologe Victor Turner.
Geschäftsleute überschreiten im Hotel die Schwelle zwischen privat und beruflich. Abends checken sie in Jeans und Pullover ein, morgens gehen sie in Bluse und Hosenanzug zum Termin. Familien
wechseln vom Erledigungs- in den Entspannungsmodus. Paare tauschen Alltagsroutinen gegen Entdeckerlust. »Hotels sind Orte außerhalb der Zeit und außerhalb des Raums«, schreiben Pritchard und Morgan. »Zwar gelten im Hotel dieselben Gesetze und Sitten, die unser Leben auch anderswo regeln. Aber zugleich ist es ein scheinbar anonymer Ort, an dem Gäste unsichtbar werden und soziale Konventionen hinterfragt werden können.«
Soziologen bezeichnen Hotels ebenso wie Flughäfen und Züge als »Nicht-Orte«. Wenn sich Fremde dort begegneten, schrieb Zygmunt Bauman, sei das eine Art Aneinander-vorbei-Treffen: »Ein Ereignis ohne Vergangenheit und in den meisten Fällen auch ohne Zukunft, eine Geschichte ohne Fortsetzung, eine einmalige Gelegenheit, die man beim Schopfe greifen muss.«
Niemand kennt mich. Ich kenne niemanden. Und ich habe bezahlt. Das macht was mit der Psyche.
Der Frankfurter Psychotherapeut Claus Lampert hat ein Lehrbuch über Hotel- und Barpsychologie geschrieben. Seine Eltern belieferten in vierter Generation Hotels mit Fleischwaren. Er selbst half als junger Mann in der Firma aus, interessierte sich dann aber mehr für Freud. Er sagt: »Im Hotel finden Übertragungen statt: auf das Personal, auf das Haus, auf die Stadt.« Übertragung ist ein Konzept aus der Psychoanalyse und bedeutet: Wir übertragen unbewusst Gefühle, Wünsche oder Erwartungen, die wir in früheren Lebensphasen mit wichtigen Bezugspersonen verinnerlicht haben, auf andere Menschen und neue Situationen.
Zum Beispiel, wenn wir dem Servicepersonal begegnen, der Rezeptionistin, dem Kellner, der Reinigungskraft. »Diese Menschen übernehmen Versorgungsrollen«, sagt Lampert, »da fallen die Gäste unbewusst in gelernte Verhaltensmuster zurück.« Früher haben die Eltern das Essen auf den Tisch gestellt, heute serviert es die Kellnerin oder der Kellner. Auf diese Personen finde dann eine Elternübertragung statt, sagt Lampert, positiv oder negativ: »Da gibt es Gästetypen, die wie als Kind brav am Tisch sitzen und sich gut benehmen, und andere, die die ganze Zeit nörgeln oder das Personal rumkommandieren.« Früher: Den Rosenkohl mag ich nicht! Heute: Der Beaujolais könnte noch etwas wärmer sein! Kellner sind ebenso wie Eltern aber auch nur Menschen – mit eigenen Verhaltensmustern. »Sie sollen dienen, haben aber nicht immer Lust dazu, sich kleinzumachen«, sagt Claus Lampert. »Wenn man den ganzen Abend an einem Tisch bedient, wo man von einem narzisstischen Gast schlecht behandelt wird, kann ein ›aggressiver Triebimpuls‹ zurückschlagen. Der Kellner verschüttet dann vielleicht ›aus Versehen‹ den Wein.« Oops, entschuldigen Sie vielmals! Freud würde Fehlleistung dazu sagen.
Hotels sind Transitzonen und Möglichkeitsräume.
Ein Mann und eine Frau nehmen sich ein Motelzimmer. Vor ein paar Stunden kannten sie sich noch nicht. Der chilenische Spielfilm En la cama (Im Bett) bleibt 90 Minuten lang mit den beiden in diesem Raum. Am Anfang haben sie Sex (FSK 12). Dann raucht die Frau eine Zigarette.
Bruno: Wie ist dein Nachname?
Daniela: Mein Nachname?
Bruno: Ja.
Daniela: Weißt du, was ich glaube? Dass du meinen Vornamen vergessen hast. Jemand, der nach dem Nachnamen fragt, will eigentlich den Vornamen wissen.
Bruno: Indem man nach dem Nachnamen fragt?
Daniela: Klar. Oder jemand bittet einen um die Telefonnummer, damit man seinen Namen aufschreibt.
Bruno: Nein, das läuft doch nicht.
Daniela: Mal sehen. Wie ist mein Vorname?
Bruno: (schweigt)
Daniela: Wir hatten gerade Sex, und du weißt nicht, wer ich bin?
Bruno: Ich weiß, wer du bist. Ich weiß bloß nicht deinen Namen.
»In der sozialen Vorstellungswelt des Westens nehmen Hotels einen faszinierenden Platz ein«, schreiben die Tourismusforscher Annette Pritchard und Nigel Morgan. »In der Populärkultur werden sie mit
heimlichen Treffen von Spionen und Liebhabern, mit Hochzeitsnächten, Flitterwochen und unerlaubten oder vorübergehenden sexuellen Beziehungen in Verbindung gebracht.« Im fiktiven Grand Budapest Hotel steht Monsieur Gustave den Kundinnen auch für sexuelle Dienstleistungen zur Verfügung.
Der Übergang zur Realität ist fließend. In Großbritannien –genauer: in den britischen Seebädern wie Brighton am Ärmelkanal – entstand nach dem Zweiten Weltkrieg die Tradition der »dirty weekends«: Menschen verabredeten sich für einen Seitensprung im Hotel. In der Branche gibt es zwar den geflügelten Spruch: »Was im Hotel passiert, bleibt im Hotel.« Aber wenn man damals Pech hatte, dienten die Übernachtungsbelege als Beweis vor Gericht – in jedem dritten Scheidungsfall wurde Ehebruch als Begründung angeführt. Das ist lange her, regt aber noch immer die Fantasien an: Noch Jahrzehnte später hatten Hotels in Großbritannien »Dirty Weekend Specials« im Angebot, bei denen verheiratete Paare unter dem Pseudonym Mr. & Mrs. Jones eincheckten, um ihr Liebesleben zu revitalisieren. Reiseführer zu den besten Hotels für romantische Treffen wurden Bestseller. »Hotels werden als Fantasiewelten entworfen«, schreiben Annette Pritchard und Nigel Morgan, »als Oasen der Freiheit fernab des Vertrauten, wo Tabus und Hemmungen überwunden werden können.«
Die britische Sozialforscherin Michelle Thomas wiederum hat für eine Studie 35 Frauen zwischen 17 und 40 interviewt, zwei verwitwet, die anderen unverheiratet, die jeweils allein in den Urlaub gefahren waren und nun von ihren Hotelflirts erzählten.
Angela: Es war seltsam, wir hatten nur etwa fünf Tage miteinander verbracht, aber ich fühlte mich ihm näher als allen meinen früheren Freunden.
Frances: Du musst das alles in nur zwei Wochen hinbekommen.
Andrea: Es fühlte sich aus irgendeinem Grund einfach richtig an, so als hätte ich ihn mein ganzes Leben gekannt, weil wir die ganze Zeit miteinander geredet haben.
Samantha: Im Urlaub vertraut man den Leuten einfach mehr.
Jodie and Tanya: Was auf Teneriffa passiert, bleibt auf Teneriffa.
»Urlaubsbeziehungen folgen einem ähnlichen Muster wie zu Hause, nur in viel kürzerer Zeit,« schreibt Michelle Thomas im Fachblatt Culture, Health & Sexuality. Flirten, reden, Sex, reden und tschüss. Es ist wie in der Relativitätstheorie: Im Hotel gehen die Uhren anders. Das Leben spielt sich wie im Zeitraffer ab.
Der Queer-Theoretiker Jonathan Allan von der Brandon University in Kanada stellt in seinem Aufsatz »Sex in Hotels« die These auf, dass Menschen in einem Hotelzimmer Rollen performen können, die sie sich an wenigen Orten sonst zutrauen: »Als würde das Hotelzimmer, dieser magische Zwischen-Raum, uns allen die Freiheit geben, sich in vielerlei Gestalt zu zeigen: verführerisch, reizvoll, charmant, sexy, anzüglich, sinnlich, nachlässig, leidenschaftlich, fesselnd, heiß oder einfach als jemand ganz anderes.«
Der Schaumstoffkeil, den Hotels in einem Doppelbett mit zwei Matratzen in die Ritze legen, heißt übrigens »Liebesbrücke«.
In dem Film Pretty Woman lernt der Geschäftsmann Edward Lewis die Sexarbeiterin Vivian Ward kennen und verliebt sich in sie. Er lädt sie in seine Suite im Regent Beverly Wilshire ein, einem Luxushotel in Los Angeles. Die folgende Szene aus dem Drehbuch hat es nicht in die Endfassung des Films geschafft.
Zimmermädchen: Möchten Sie, dass ich Ihre Tagesdecke umschlage?
Vivian: Keine Ahnung. Muss man da etwas Besonderes beachten?
Zimmermädchen: Eigentlich nicht. Es ist ein Service des Hotels. Vivian: Na gut, vielleicht sollten Sie es machen. Ich weiß nicht, ob er das mag oder nicht. Ich schaue zu, wie es gemacht wird. Das Zimmermädchen betritt das Schlafzimmer und schlägt die Tagesdecke zurück.
Vivian: Das war’s? Das ist alles? Sie schlagen sie einfach um?
Zimmermädchen: Ja.
Vivian: Es gibt Leute, die zu faul sind, das selbst zu machen?
Zimmermädchen: Es ist nicht wirklich Faulheit.
Vivian: Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, ich bin sicher, das war nicht Ihre Idee, aber ich kann nicht glauben, dass jemand erwartet, dass man jeden Abend die Tagesdecke umschlägt. Staubsaugen, Geschirr spülen, okay. Aber das?
Zimmermädchen: Ja, ich finde es auch ziemlich albern.
1 Woanders schlafen
Eine Expedition auf den Spuren des Homo hotelensis. (in dieser Ausgabe)
Serie: Wie Reisen uns weiterbringt
2 Unterwegs sein
Wie ein Roadtrip (Bahn, Rad, Auto, Fuß) das Denken befreit. (erscheint am 13. Dezember)
Die erste Nacht könnte unruhig werden. Die Forschung spricht vom First Night Effect. »Wir schlafen in der ersten Nacht etwas schlechter, weil es eine ungewohnte Umgebung ist«, sagt Ingo Fietze, der das Schlafmedizinische Zentrum der Charité in Berlin leitet. Das Hirn sei etwas wacher, zeigen die Hirnströme. »Ab der zweiten Nacht sollte es wie zu Hause sein.« Bei schlechten Schläfern ist allerdings der umgekehrte Effekt zu beobachten: die erste Nacht im Hotel ist besser, die zweite Nacht wieder so schlecht wie zu Hause. Norwegische Schlafforscher haben 2.500 Menschen nach ihrer Schlafqualität in Hotels befragt und kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Männer, jüngere Menschen und Personen mit Schlafstörungen berichteten von besserem Schlaf im Vergleich zu Frauen, älteren Menschen und Menschen ohne Schlafprobleme. Am häufigsten wurde der Schlaf durch unbequeme Kissen gestört, gefolgt von zu hoher Zimmertemperatur, unbequemen Matratzen, schlechten Bettdecken, Straßenlärm, schlechtem Raumklima, Helligkeit und Lärm von der Klimaanlage.
Kanadische Forscher haben versucht, all die Erkenntnisse über Homo hotelensis zu einer theory of lodging zu verdichten, einer Theorie des Übernachtens, publiziert im Journal of Hospitality & Tourism Research. Die Theorie orientiert sich an der Maslowschen Bedürfnispyramide, der zufolge die menschlichen Bedürfnisse einer Hierarchie unterliegen, ganz unten die lebensnotwendigen Basisbedürfnisse Essen und Obdach, ganz oben das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und einem sinnhaften Leben. Diese Pyramide gilt demnach auch fürs Hotel. Ein sauberes Bad, eine gute Matratze und genug zu essen sind die notwendigen Bedingungen für zufriedene Gäste. Der Unterschied zur Mietwohnung oder zum Eigenheim ist, dass Hotelgäste nur wenige Tage bleiben und für das Fundament der Pyramide viel Geld bezahlen. Daraus entsteht eine Haltung, die die Verhaltensökonomie »Entitlement Bias« nennt. Anspruchsdenken. »Diese Haltung zeigt sich oft im gesamten Hotel«, schreiben die Forscher: »Gäste nutzen die Fitnessgeräte, das Spa oder den Pool häufig eher nachlässig, da sie kaum Konsequenzen fürchten müssen, wenn ein Gerät beschädigt wird, Handtücher kaputtgehen oder das Poolwasser verunreinigt wird.«
Die Concierge eines norddeutschen Luxushotels kommt ebenfalls auf die Bedürfnispyramide zu sprechen, und zwar auf die mittleren Ebenen: Freundschaft und Anerkennung. »Menschen wollen irgendwo dazugehören«, sagt sie, »und dieses Gefühl können wir auch im Hotel vermitteln.« Es gibt diese Geschichten von Concierges, die für reiche Gäste schon mal 120 Kühe, einen Ferrari oder eine Siamkatze mit verschiedenfarbigen Augen organisiert haben. Lustig, aber diese Bedürfnisse haben in der Pyramide keinen Platz.
3 Leben im Freien
Frische Luft und Sternenhimmel. Das macht philosophisch. (erscheint am 14. Februar 2025)
Nein, der Alltag bestehe eher darin, schnell einen Knopf anzunähen, ein Restaurant zu empfehlen, Opernkarten zu besorgen oder einfach nur zuzuhören. »Psychologen sind wir alle«, sagt die Concierge. »Ich werde dafür nicht extra bezahlt, aber sollte ich eigentlich.«
Am letzten Tag ist das Hotel unerbittlich. Es drängt auf Trennung. Noch mal umschauen, ob man etwas vergessen hat. Dann ist die Beziehung zu Ende. Heute Nachmittag ist das Zimmer schon für jemand anderen da. Und du bist raus.
Nun schlägt die Stunde der WOM-Forschung. Die Abkürzung steht für word of mouth, Mundpropaganda. Was schreiben die Gäste über das Hotel auf booking.com, Tripadvisor oder Google? Die Kommentare sagen mitunter mehr über die Gäste aus als über das Hotel, haben britische Forscher in einer Studie mit rund 400 Befragten festgestellt: Sie fanden einen Zusammenhang von besonders fiesen Hotelrezensionen und einem unterentwickelten moralischen Selbstkonzept. Da wird Rache geübt und nachgetreten.
Vielleicht wird man im Hotel nicht zu einem anderen Menschen, sondern einfach zu einer ehrlicheren Version seiner selbst. Es gibt Gäste, die sich am Frühstücksbuffet leise anstellen und vor dem Auschecken die Handtücher zusammenfalten. Es gibt diejenigen, die kurz nach dem Einchecken zurück an die Rezeption stürmen, weil angeblich ein benutztes Taschentuch auf dem Nachttisch lag, und die dann die Frankfurter Tabelle zur Preisminderung bei Reisemängeln aus der Tasche ziehen. Und es gibt das ganze Spektrum dazwischen. Wer kann wohl den Aufenthalt am meisten genießen?
Bruno und Daniela liegen nach 90 Minuten immer noch im Motelbett. Bruno: Bist du glücklich, Daniela?
Daniela: Bruno, nicht. Damit will ich gar nicht erst anfangen, im Ernst!
Bruno: Ich aber. Ich will wissen, wer du bist.
Daniela: Und was haben wir davon? Wir beide kennen uns nicht weiter, und wir sind nicht zusammen. Das bringt uns nicht weiter. Ich kann dir nicht in einer Stunde meine Lebensgeschichte erzählen. Wir sind hergekommen, ich weiß nicht, warum, aber wir sind hergekommen. Wir haben unseren Spaß gehabt. Wir gehen wieder. Du warst eine Auszeit für mich vor dem Rest meines Lebens. Und ich war das Abenteuer vor deiner Reise. Wir bedeuten uns nichts. Wir haben uns nie was bedeutet. Und mehr wird auch nie sein. Also frag nicht mehr, ob ich glücklich bin. Das hat dich wirklich nicht zu interessieren!
Es ist ja nicht so, als würden sich die Hersteller keine Mühe geben. Sie entwickeln immer innovativere Kopfhörer mit vielen Extras, bauen ihnen Geräuschunterdrückung, Bewegungserkennung, Mikrofone, Bluetooth, True Wireless, Pulsmesser und Umgebungsgeräuschdetektoren ein. Und dann benutzen die meisten Deutschen trotzdem noch immer klassische Kopfhörer mit Kabel. Nach wie vor sind diese Kabelmodelle weiter verbreitet als die kabellosen; sowohl bei Kopfhörern, die in der Ohrmuschel getragen werden, als auch bei den Bügelkopfhörern. Was ja auch durchaus Vorteile hat. Denn die Übertragung per Kabel ist der drahtlosen vom Prinzip her überlegen – so wie ja auch Festnetztelefonie erst einmal stabiler ist als Mobilfunk. Um eine Funkverbindung zu stören, kann es reichen, in der Nähe eine Mikrowelle einzuschalten. Ein Kabel dagegen muss man dafür schon mit einer Schere bearbeiten. Auch das Anschließen ist leichter. Man stöpselt ein, anstatt zu »pairen« oder zu »koppeln«. Stecker und Buchse passen immer. Wen das Kabel nicht nervt oder in der Bewegungsfreiheit einschränkt, ist damit grundsätzlich erst einmal besser bedient.
Welcher Kopfhörertyp aber liefert den besten Klang? Dafür gibt es bei kabelgestützten Kopfhörern einen Hinweis in Form einer einfachen Zahl. Man muss sie auf der Packung manchmal ein bisschen im Kleingedruckten suchen: Sie steht neben dem griechischen Buchstaben Ω, also Omega, und hat einen Wert, der normalerweise irgendwo zwischen 16 und ein paar
Hundert liegt. Er steht für das physikalische Maß »Ohm« und beziffert die Impedanz des Kopfhörers. Impedanz kommt von lateinisch impedire und bedeutet so viel wie »hemmen« – gemeint ist damit der elektrische Widerstand. Der entsteht, wenn Strom durch etwas hindurch muss, durch ein Kabel oder ein elektrisches Gerät. Je feiner die Elektrik ist, durch die der Strom durchmuss, desto größer ist der Widerstand.
In Kopfhörern wird der Ton mittels einer Spule erzeugt, einem aufgewickelten Draht, der eine Membran in Bewegung setzt. Diese lässt die Luft wellenförmig schwingen – was unsere Ohren dann als Schall, also Musik, wahrnehmen. Die Qualität solcher Schallerzeuger ist sehr unterschiedlich. Es gibt welche, die sind simpler konstruiert: Sie übertragen die Klangimpulse etwa so, wie ein Grobmotoriker ein Mandala ausmalen würde – gut erkennbar, aber nicht wirklich sauber. Aber sie sind lauter, weil sie mehr Strom durchlassen. Ihr Widerstand – also ihr Impedanzwert, der mit Ω benannt wird – ist also niedrig.
Sehr gute HiFi-Kopfhörer hingegen verfügen über feinere Komponenten; ihre Spulen bestehen aus dünnen Drähten, was sich nicht nur in einem besseren Klang, sondern auch in einem höheren Widerstandswert niederschlägt. Die wichtigste Faustregel ist also: Je höher der Ω-Wert, desto besser der Sound. Manche Kopfhörer der Oberklasse haben bis zu 600 Ω. Sie sind hochohmig, wie Fachleute das nennen. HiFi-Fans geben dafür viel Geld aus. Doch wenn die Gleichung so einfach wäre –viel Ohm gleich hohe Qualität –, dann könnte der Text hier eigentlich enden.
Manche sind so winzig, dass man sie kaum noch sieht, andere größer als Mickymaus-Ohren. Sorgen sie für einen besseren Sound?
Oder entscheiden Kabel oder Bluetooth darüber, wie die Musik klingt?
Es ist aber doch ein wenig komplizierter. Denn für die Klangqualität ist auch die Schallquelle von Bedeutung. Es macht einen großen Unterschied, von welchem Gerät aus ein Kopfhörer bespielt wird. Ein Kopfhörer mit einer hohen Impedanz klingt nur dann gut, wenn die Schallquelle auch die erforderliche Power mitbringt, um den physikalischen Widerstand zu überwinden und die Membranen ordentlich in Schwingung zu versetzen. Hat sie das nicht, kann man aufdrehen wie man will – die Musik bleibt trotzdem leise oder klingt irgendwie schwachbrüstig.
Für eine kabelgebundene HiFi-Anlage ist das kein Problem. Hier gilt das Prinzip hohe Impedanz gleich gute Klangqualität. Doch immer mehr wird Musik über mobile Geräte wie Smartphones, Tablets oder Laptops abgespielt. Und bei denen kommen in der Regel schwächere Signale aus der Buchse. Das bedeutet nicht nur, dass das Potenzial des teuren HiFi-Kopfhörers nicht ausgereizt wird, sondern dass der Kopfhörer mit hoher Impedanz sogar schlechter klingen kann als einer mit niedriger Impedanz. Hochohmige Kopfhörer brauchen zudem viel mehr Strom und können batteriebetriebenen Geräten den Akku leer saugen.
Den Grenzwert beziffern Fachleute dabei auf etwa 80 bis 100 Ω: Liegt der Wert darüber, ist der Kopfhörer gut geeignet für die Stereoanlage (und optimierte mobile Geräte, zum Beispiel manche Notebooks von Apple), aber er ist nicht geeignet für Smartphones. Ein Ohm-Wert unter 80 bis 100 passt dagegen gut für Smartphones, Tablets und andere mobile Geräte – wenn die sich überhaupt noch mit einem
Kabelkopfhörer verbinden lassen. Denn immer mehr moderne Geräte verzichten inzwischen auf eine eigene Kopfhörerbuchse. Man kann sie nur noch über Funk mit einem Kopfhörer koppeln.
Bei diesen Bluetoothkopfhörern allerdings sucht man den Ohm-Wert auf der Verpackung vergeblich. Das hat einen einfachen Grund: Sie erzeugen den Klang direkt im Kopfhörer, sie brauchen also keine starke Schallquelle. Und man muss außerdem nicht die OhmWerte von Ausgangsgerät und Kopfhörer aufeinander abstimmen. Ein Widerstand weniger beim Shoppen.
Welcher Kopfhörer-Typ
Es könnte so einfach sein:
Kopfhörer im stilvollen Design auswählen, fertig. Aber es ist komplizierter: In-Ear oder mit Bügel, Kabel oder Bluetooth? Smartphone oder Hi-Fi-Anlage?
Das Zauberwort heißt Ohm.
Smarte Uhren, Ringe, Socken – alle möglichen Gegenstände erfassen inzwischen unsere Körperdaten. Erkennen die Gadgets auch echte Gesundheitsrisiken?
Text Insa Schiffmann Illustration Phil Constantinesco Infografiken Carsten Raffel
Die elektrische Aktivität des Herzens zu messen (ein EKG), war 1911 eher mühsam, wie der Aufbau von Cambridge Instruments zeigt (links). Heute genügen Smartwatch oder Brustgurt. Ersetzen Apps den Arzt?
Michael Snyder fühlte sich nicht krank, aber seine Smartwatch war alarmiert. Snyder ist Professor für Genetik an der Stanford University. Im Rahmen einer Studie trugen er und 42 weitere Versuchspersonen mehrere Biosensoren am Körper. Und die detektierten nun bei ihm eine niedrige Sauerstoffsättigung im Blut sowie einen erhöhten Puls. Das Fieber kam später. Ein Arzt stellte schließlich fest, dass Snyder Borreliose hatte, vermutlich eingefangen durch einen Zeckenbiss bei Gartenarbeiten zwei Wochen zuvor. Antibiotikum!
Snyder war sein eigenes Versuchskaninchen und hatte am eigenen Leib erfahren,
was sein Team später in der Studie feststellte: Tragbare Sensoren, sogenannte Wearables, können früh erkennen, wenn Krankheiten den Körper beschäftigen. Allerdings können sie auch Fehlalarme auslösen. Die Werte eines Sensors lagen in der Studie deutlich neben den Vergleichswerten eines für klinische Zwecke zugelassenen Geräts.
Die Stanford-Studie stammt von 2017. Seitdem hat sich einiges getan. Inzwischen nutzt jede dritte Person in Deutschland eine Smartwatch. Hinzu kommen smarte Ringe, Stirnbänder, Socken, Einlagen, Handschuhe und Pflaster (siehe Grafik auf S. 66). Ein Drittel der User zeichnet nicht nur Schritte oder Trainings auf, sondern trackt Gesund-
heitsdaten. Und die werden zunehmend von künstlicher Intelligenz analysiert. Wie zuverlässig sind Selbstdiagnosen, die so zustande kommen? Welche Versprechen der Hersteller sind unseriös? Zahlreiche Studien versuchen diese Fragen zu beantworten. Hier die wichtigsten Ergebnisse.
Die Diagnose von Vorhofflimmern war eine der ersten Gesundheitsanwendungen von Wearables. Diese Herzrhythmusstörung betrifft ein bis zwei Prozent aller Deutschen, bei über 65-Jährigen sogar 10 bis 20 Prozent. Weil sich beim Vorhofflimmern ein Blutgerinnsel im Herzen bilden
kann, verfünffacht sich das Schlaganfallrisiko. Nur wissen viele nicht, dass ihre Vorhöfe flimmern, einer von drei Betroffenen spürt davon nichts. Doch wer lässt sich schon mehrmals im Jahr von der Hausarztpraxis für ein Langzeit-EKG verkabeln? Wearables könnten die Lösung sein.
Um Herzrhythmusstörungen zu finden, senden die Gadgets Infrarotstrahlen aus. Anhand der Reflexion erfassen sie, wie schnell das Blut am Gerät vorbeifließt, und rechnen dies in eine Pulswelle um. Photoplethysmographie (PPG) heißt die Technik. Sie kann nicht nur bestimmen, wie oft das Herz pro Minute schlägt, sondern auch, ob dies rhythmisch geschieht. Beim Vorhofflimmern schlägt das Herz phasenweise unregelmäßig und meist auch zu schnell.
2019 veröffentlichte Apple die Ergebnisse der »Apple Heart Study«. Mehr als 400.000 Menschen hatten dem Konzern sowie Forschenden aus Stanford erlaubt, Daten ihrer Apple Watches auszuwerten. Im Beobachtungszeitraum von vier Monaten schickte die Smartwatch einem von 200 Teilnehmenden eine Vorhofflimmern-Warnung. Das ist eine niedrige Quote. Entgegen den Befürchtungen kam es also nicht zu einer Welle falscher Warnsignale.
Von den über 2.000 Gewarnten erhielten 450 tragbare EKG-Technik, um den Herzschlag eine Woche lang parallel zur Smartwatch zu überwachen. Bei einem Drittel trat in dieser Zeit ein Vorhofflimmern auf – und wurde in 84 Prozent der Fälle simultan von Smartwatch und EKG beobachtet. Da Vorhofflimmern oft kommt und geht, ist auch nicht überraschend, dass nicht jeder Verdachtsfall in diesem Zeitraum ein Vorhofflimmern hatte. Über einen längeren Zeitraum hinweg wären vermutlich noch mehr Fälle aufgedeckt worden.
Mit neueren Generationen der Apple Watch können User zusätzlich ein 1-KanalEKG, also eine typische Herzstromkurve, aufzeichnen. Dafür legen sie einen Finger an einen Sensor an der Seite der Uhr. Dreißig Sekunden lang misst die Uhr die elektrische Aktivität des Herzens und stellt fest: normal, Vorhofflimmern oder uneindeutig.
Viele weitere Anbieter wie Samsung, Fitbit, Withings und AliveCore bieten ebenfalls smarte Geräte mit Vorhofflimmern-Warnfunktion an, die in Studien vergleichbar abschnitten. Einige sind so zuver-
AtemgasTest
misst Sto e im Atem, die bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten entstehen Spirometer Lungenfunktion
Stirnband Puls, Hirnströme (EEG), Schlafqualität
Medizinische Ohrstöpsel Herzrhythmus
Brustgurt Herzströme (EKG)
Smart Patches messen Blutzucker, Herzströme, Elektrolyte
Smartwatch/Armband Smartring Puls, Herzrhythmus, Herzströme, Blutdruck, Sauersto sättigung, Atemfrequenz, Hauttemperatur, Fruchtbarkeit, Schritte, Stresslevel, Schlafqualität, Schlafapnoe, Stürze
Smartphone Schritte, Tagebuch/ Tracking-Funktionen
Smarte Handschuhe Puls, Temperatur, Stürze, Bewegungsstörungen
Smarte Socken / Einlagen Puls, Herzrhythmus, Schritte, Stress
Fast täglich kommen neue Wearables auf den Markt. Die wenigsten wurden in klinischen Studien überprüft. Manche nötigen aber auch Fachleuten Respekt ab
lässig, dass sie von der Food and Drug Administration (FDA) in den USA als Medizinprodukt zugelassen wurden. Mittlerweile gibt es auch smarte Ringe, die das Herz auf Vorhofflimmern überwachen. Einen Arztbesuch ersetzen sie aber nicht. Eine Warnung muss durch ein 12-Kanal-EKG bestätigt werden, bevor über Therapien und Medikamente gesprochen wird.
Bei jedem dritten Deutschen fließt das Blut mit zu viel Druck durch die Gefäße. Von einem zu hohen Blutdruck spricht man, wenn dieser über 140/90 mmHg liegt (die Maßeinheit ist Millimeter-Quecksilbersäule). Bluthochdruck selbst verursacht meistens keine Beschwerden, erhöht aber das Risiko für Schlaganfälle, Herzinfarkte und Nierenschäden. Mittels EKG und PPG, also derselben Technik, mit der Wear-
ables den Puls messen, können sie auch den Blutdruck schätzen. Besonders die nächtlichen Blutdruckwerte geben Aufschluss über den Schweregrad der Erkrankung. Allerdings unterschätzten gängige Smartwatches in Studien hohe Blutdruckwerte, manchmal nur ein wenig, manchmal um mehr als 30 mmHg. Experten und Fachgesellschaften sehen in den Wearables großes Potenzial, halten sie zurzeit aber noch nicht für zuverlässig genug.
SCHLAF
Laut einer Umfrage der Barmer Krankenkasse leiden sechs Millionen Menschen hierzulande unter Schlafstörungen. Schlafmangel ist ein Risikofaktor für zahlreiche Krankheiten. Etliche Wearables stehen zum Schlaftracking zur Verfügung. Intelligente Uhren, Armbänder und Ringe nutzen dafür zum Beispiel Bewegungssensoren. Studien
zeigen, dass die Geräte, zum Beispiel von Fitbit oder Whoop, Wach- und Schlafphasen gut unterscheiden. Allerdings überschätzen sie die Schlafdauer insgesamt eher etwas. Das muss besser werden.
Es gibt auch Stirnbänder, die die elektrische Aktivität des Hirns direkt messen (EEG) und die Schlafphasen so genauer auseinanderhalten sollen. In Studien schnitten die »tragbaren Schlaflabore« gut ab. Kommerzielle EEG-Stirnbänder, beispielsweise von Dreem oder Muse, erreichen eine Genauigkeit von 80 bis 90 Prozent. Die Frage ist nur, was man mit dieser Information anfängt. Schlaf- oder Meditationsprogramme der Hersteller sollen den Schlaf verbessern. Die Stirnbänder liefern dabei Biofeedback, einzelne Geräte senden sogar sanfte elektrische Impulse aus, die das Gehirn schlafbereit machen sollen. Erste Studienergebnisse sind vielversprechend.
Anderes Beispiel: Schlafapnoe. Schätzungen zufolge hören bis zu 26 Millionen Menschen in Deutschland nachts kurzfristig auf zu atmen. Schlafapnoe heißt die Erkrankung, bei der sich lautes Schnarchen und Atemaussetzer abwechseln. Tagesschläfrigkeit und Kopfschmerzen sind die Folge, langfristig können Herz, Kreislauf, Stoffwechsel und Gehirn Schaden nehmen. Die Diagnose erfolgt aufwendig in einem Schlaflabor oder zu Hause mit einem Polygrafie-Gerät, das Veränderungen im Atemmuster und im Sauerstoffgehalt des Bluts erfasst. Dafür trägt man einen Brust- und Bauchgurt, eine Nasenbrille und ein Sauerstoffmessgerät am Finger. Nicht so bequem.
Wearables versprechen, die Atempausen anhand der Bewegungen im Schlaf und der Sauerstoffsättigung zu erkennen. Dieses Jahr ließ die FDA Smartwatch-Features zur Erkennung einer Schlafapnoe von Apple und Samsung zu. Andere Gadgets, darunter ein Smartring, befinden sich noch in der Prüfung. Die Hersteller geben an, dass ihre Geräte 67 bis 85 Prozent der Menschen mit Schlafapnoe herausfiltern und nur wenig Fehlalarme erzeugen.
Das ist bei Weitem nicht perfekt, für eine Screening-Methode aber sehr gut: Forschende schätzen, dass nur etwa zehn Prozent aller Betroffenen von ihrer Schlafapnoe wissen. Die weite Verbreitung von Wearables, insbesondere Smartwatches, könnte die Dunkelziffer deutlich senken.
Stress spielt sich nicht nur im Kopf ab. Er lässt unsere Herzfrequenz schwanken, die Handflächen schwitzen oder den Blutdruck ansteigen. Anhand dieser körperlichen Reaktionen können Wearables Stress erfassen. Schon jetzt bieten Hersteller entsprechende Erkennungsfunktionen für ihre Wearables an. Um die Geräte zu testen, ließen Forschende Probanden kopfrechnen, eine öffentliche Rede halten oder schickten sie in eine mündliche Prüfung. Die Uhren, Brustgurte und Stirnbänder erkannten höhere Stresslevel zuverlässig.
Ob sie im Alltag zwischen einem Sprint zum Bus und einer emotional belastenden Situation unterscheiden können, ist unsicher. Die größere Frage lautet: Ist die Stress-
Bis zu 26 Millionen
Deutsche haben Schlafapnoe, aber nur wenige wissen das. Die Smartwatch könnte ihnen die Augen öffnen
messung überhaupt sinnvoll? Antwort: Vielleicht. Stresswarnungen könnten Betroffenen helfen, Muster zu erkennen, die Stress auslösen – und als Erinnerung im Alltag oder Feedback-Methode bei AntiStress-Programmen dienen.
Doch psychische Gesundheit ist komplex. Lässt sie sich auf wenige Parameter reduzieren? Zumindest annäherungsweise. Bei einer Depression können sich der Schlafwach-Rhythmus, die körperliche Aktivität, aber auch die Herzfrequenz im Tagesverlauf verändern. Eine Übersichtsarbeit kam zu dem Schluss, dass Wearables mit künstlicher Intelligenz eine depressive Stimmung in 60 bis 80 Prozent der Fälle richtig erkannten. Allerdings gaben sie nur Auskunft über den Istzustand. Nützlicher wäre, wenn sie eine Verschlechterung der Stimmung vorhersagen könnten. So wie in einer Studie mit 59 Menschen mit einer Angststörung: Eine Smartwatch prophezeite Panikattacken mithilfe von Fragebögen, Herzfrequenzwerten und Schlafdaten mit einer Genauigkeit von 65 bis 80 Prozent.
Noch findet man die entsprechende Software eher in der Forschung als im App-Store. Einige Hersteller bieten allerdings schon jetzt Stimmungstagebücher an, mit denen man den Gemütszustand tracken kann.
STOFFWECHSEL
Sie haben die Behandlung von Diabetes revolutioniert: Blutzuckersensoren, die wie Pflaster auf die Haut geklebt werden und mittels winziger Nadeln die Zuckerwerte im Unterhautfettgewebe messen und ans Smartphone senden. Continuous Glucose Monitoring (CGM) heißt die Technik auf Englisch. Sie ist mittlerweile auch bei Gesunden beliebt, die »glukosebewusst« leben möchten. Ein Trend, den Forschende mit Sorge betrachten, weil die Folgen der Selbstüberwachung bei Menschen ohne Blutzuckerstörung nicht ausreichend erforscht sind. Eine eigenmächtige Veränderung der Essgewohnheiten, etwa indem gesunde Lebensmittel wie Obst, Nüsse oder Milch gemieden werden, weil diese den Blutzucker kurzfristig ansteigen lassen, könnte der Gesundheit sogar schaden. Obwohl die Nadeln der CGM-Pflaster mikroskopisch klein sind, ist die Messmethode dennoch invasiv. Eine Blutzuckermessung ist theoretisch auch ohne Mikropieks möglich. Das gelingt intelligenten Uhren, Ringen und Ohrstöpseln, indem sie die Haut mit Lichtstrahlen beleuchten, die von Glukosepartikeln reflektiert und von einem Sensor aufgefangen werden. Mit so einem Verfahren könnten Risikopatienten ihren Blutzucker regelmäßig testen und Diabetes-Vorstufen entdecken. Das ist zumindest die Hoffnung. Die nichtinvasiven Messmethoden von kommerziellen Wearables sind aber noch unzuverlässig – und riskant: Eine Überdosis Insulin aufgrund falsch gemessener Glukosewerte kann tödlich sein. Die FDA warnte im Februar dieses Jahres ausdrücklich vor der Nutzung.
GEHIRN
Etwa eine halbe Million Menschen leben in Deutschland mit Epilepsie. Ein Armband zum Aufspüren von epileptischen Anfällen ist von der FDA zugelassen. Auch die Apple Watch erkannte in einer Studie mit rund 100 Versuchspersonen zuverlässig Anfälle, löste allerdings viele Fehlalarme aus. Noch besser wäre es, der intelligente Begleiter
würde den Träger warnen, bevor ein Anfall auftritt. Das testeten Forschende in einer kleinen Studie mit elf Menschen. Ein smartes Armband von Fitbit, verbunden mit künstlicher Intelligenz, sagte Anfälle besser vorher, als wenn man geraten hätte. Das ist ermutigend, aber noch nicht gut genug für den Einsatz in der Praxis.
Beispiel Parkinson: Die Apple Watch kann Menschen im frühen Stadium von Parkinson erkennen. Das zeigten Forschende an 82 Menschen, die an der fortschreitenden Bewegungsstörung litten. Sie verglichen die Gesundheitsdaten mit denen von 50 Gesunden. Unterschiede fanden sich besonders bei der Bewegung der Arme beim Gehen (bei Parkinson schwingen diese weniger mit) und dem Finger-Tapping-Test, bei dem Probanden auf einem Smartphone mit dem Finger tippen.
Parkinson-Patienten leiden unter Steifigkeit, Zittern und Überbeweglichkeit, die sich im Tagesverlauf und mit Fortschreiten der Krankheit verändern. Die Therapie muss laufend angepasst werden. Wearables können dabei helfen: Sie erfassen die Krankheit im Jahresverlauf und können auch Tagesprofile der Beweglichkeit anfertigen. Den Ärztinnen und Ärzten hilft das, ParkinsonPatienten besser zu behandeln.
In wissenschaftlichen Studien liefern die Wearables ermutigende Ergebnisse. Doch bewährt sich im Alltag, was im Labor funktioniert? Temperaturschwankungen, starke Bewegungen oder Schweiß können die Messwerte verfälschen. Außerdem fehlen hochwertige Studien, wie sie für Medikamente und Medizinprodukte notwendig sind. Viele Anwendungen entbehren einer wissenschaftlichen Grundlage. Hier ist mehr Transparenz gefordert. Es muss klar erkennbar sein, welches Gerät verlässliche Zahlen für (Selbst-)Diagnosen liefert und welches mehr eine Spielerei für Fitnessfans ist. Auch den Datenschutz müssen viele Anbieter verbessern. Die hochsensiblen Körperdaten sind oft nicht so sicher gespeichert, wie sie es sein sollten.
Und dann sind da noch die ganz großen Fragen: Sparen Wearables Kosten, weil sie Krankheiten vorbeugen? Oder verursachen sie welche, weil sie ein Leiden zu erkennen vorgeben, wo gar keines ist? Rettet die smarte Technik Leben, oder verbessert sie die Lebensqualität? Oder führt sie, im Gegenteil, zu Verunsicherung und Stress? Forschungsteams auf der ganzen Welt arbeiten daran, Antworten zu finden. Sie kommen mit Studien nicht hinterher.
Die Hersteller werden auf die Forschung nicht warten. Fast täglich bringen sie neue Wearables auf den Markt: smarte Socken, die Stürze von Demenzkranken melden; Atemgassensoren, die Lebensmittelunverträglichkeiten aufspüren; intelligente Ohrstöpsel, die als Hörgeräte dienen; Spirometer, mit denen Lungenkranke zu Hause ihre Lungenfunktion testen können; technisch aufgemotzte T-Shirts, die Körperfunktionen überwachen.
Für Verbraucher ist kaum erkennbar, welches Gerät gute Ergebnisse liefert und welches nur gut vermarktet wird. Derzeit sind selbst die besten Wearables nur für Screenings geeignet. Eine ärztliche Beratung ersetzen sie nicht. Aber wenn es gut läuft, dann lautet die entscheidende Frage auch nicht, welche Fachärztin als Nächstes durch ein Gadget ersetzt wird, sondern wie Arztpraxen und Gadgets am besten zusammenarbeiten. Die Geräte könnten die Messwerte künftig direkt an den Arzt übermitteln. Mal sehen, ob die Menschen da mitmachen. Aber nennt es bitte nicht Smart Praxis!
Insa Schiffmann ist Neurologin und fragt sich, ob eine Smartwatch mit Stresswarnung sie vor Überlastung warnen könnte. Oder ob so eine Funktion sie nur noch mehr stressen würde.
Smartphone
Smartwatch
Smartring
Smart Patch
Stirnband
Ernährungstagebuch Stimmung
Blutdruck
Hauttemperatur
Atemfrequenz Puls
Sauerstogehalt
Schritte
Schlaf
Blutzucker
Hirnstöme (EEG)
Psychische Gesundheit
Stress Angststörung
Depression
Herz-Kreislauf-System
Vorho immern
Schlaganfall Infarkt
Bluthochdruck Herzversagen
Virusbedingte Infektione n Covid-19
Borreliose
Grippe
Blutzuckerstörungen
Diabetes-Vorstufen
Insulinresistenz und -sensibilität
Gehirn und Nerven
Schlafstörungen, Stress, Epilepsie
Um Krankheiten zu erkennen, messen die Wearables (links) allerlei Körperfunktionen (Mitte). Apps scannen die Daten nach Unregelmäßigkeiten. Herausforderung: Risiken aufspüren (rechts), aber Fehlalarme vermeiden
DieAllianz-Arena.Ausverkauft mit75.000Fußballfans. Undnun sollenaus dieser Menschenmengedrei bestimmtePersonengefunden werden,von deneneinigenicht einmal wissen, dass siegesucht werden.
Dies eS ituation veranschaulich tdie Herausforderung ,der sich Wissenschaftlerinne nu nd Wissenschaftler desB iotech-Unternehmen sB ioge ng egenübersahen, alss ie Probande nf ür klinisch eS tudien zu rSpinale n Muskelatrophie (SMA )s uchten
In Deutschlan dleiden3 bis 4MillionenMenschenan seltenen Krankheiten, doch dieForschung dazu wurdelange Zeit vernachlässigt.Oft scheuteman daswirtschaftliche Risiko, in diese„verwaisten Krankheiten“ zu investieren, da diePatientenzahlen proIndikationgeringwaren.
Obwohl dieEU-OrphanDrug-Verordnung von2000 dieBedingungen verbesserte, „bleibtklinischeForschung in Deutschlandschwierig“, so AndreasBracher,Medical Director vonBiogen. Trotzhervorragendem Gesundheitssystem,hoher Bevölkerungsdichteund exzellenter Forschung gibt es bürokratischeHürden, dieden Standort beeinträchtigen.
Foto:unsplash.com/@tama66
demWunschder Patientennach schnellenBehandlungen, besonders beiKindern.Elternmüssendas Risiko einerneuen Medikamentenerprobung gegendas Risiko einer unbehandeltenKrankheit abwägen. DabeisindPatientenorganisationen entscheidendeAnsprechpartner und Ratgeber.
DieBasis vonMedikamentengegen seltene Krankheitenwie SMA, Friedreich Ataxie (FA) oder Amyotrophe LateralSklerose(ALS) istklinische Forschung.Dochhierzulande nehmen nur wenige PatientenanStudien teil, da sieoft nichtüber dieseinformiertsindund es an Anlaufstellen fehlt. Bracherunterstreicht,wie wichtigessei, dass ÄrzteihrePatienten auflaufendeStudien hinweisen, um dieses Problemanzugehen.
Bisher galten Genehmigungsprozesse für klinischeStudien in Deutschlandals langwierig Dies führte zu Verzögerungen beim Studienstart, obwohl eineffektiver Datenaustausch,besonders beiseltenenErkrankungen,entscheidendist,um dierichtigen Patientenzufinden.Inder Folge ging dieAnzahlklinischer StudieninDeutschland zurück.Während 2016 dieBundesrepublik mit641 vonPharmaunternehmen initiierten klinischen Studiennochweltweitanzweiter Stelle stand, wurden es in denFolgejahren immerweniger.
Abhilfesollnun dasimJulivom Bundestag verabschiedete Medizinforschungsgesetzleisten Nach denPlanungen desBundesgesundheits-
ministeriums werden Arzneimittelzukünftig schnellerzugelassenund Genehmigung und Durchführung klinischer Prüfungen vereinfacht und beschleunigt.Außerdemwirdder Zeitraum fürjuristische Prüfungen undVertragsverhandlungen durchdie Einführung verbindlicher Standardvertragsklauseln wesentlichverkürzt. Bracherzeigt sich verhaltenoptimistisch: „Mit demGesetzwerdenwesentliche Teile derPharmastrategieder Bundesregierung umgesetzt. Dasist eine positive Entwicklungfür innovative medizinische ForschunginDeutschland,die speziellenHerausforderungen im Bereichder Seltenen Erkrankungen dürfen aber nichtaußer Achtgelassenwerden.“
Wasbleibt, sind auch ethische Fragen bei derEntwicklung vonOrphan-Medikamenten. Dasbegrenzte Wissenüberdie Krankheit unddie neue Therapie stehtimKonflikt mit
Wiewichtig gute Rahmenbedingungenund ethische Standards fürden medizinischenFortschritt sind,wirddurch eine vonBiogen entwickelteSMA-Therapiedeutlich. Zuvorwar SMAdie häufigste genetisch bedingte Todesursache beiSäuglingen. Obwohl derzugrundeliegende Gendefektseit22Jahrenbekannt war, wurdeerst2017 daserste Medikament in Deutschlandzugelassen. DieTherapiebietet keineHeilung,hat aber dieBehandlung von SMArevolutioniert: Unbehandelte Kinder mit schwerer SMAsterben üblicherweise vordem zweitenLebensjahr, währendfrühzeitigbehandelteKinderüberleben und dieKrankheit einen milderen Verlaufnehmenkann. Mittlerweile stehen sogarzweiweitere Therapieoptionen zur Verfügung, um denindividuellenBedürfnissen derPatienten gerechtzuwerden.
www.biogen.de
Di eF orschung zu seltenen Erkrankungen bleibt riskant, aber EU-Regelungen wi ee in e zehnjährige Marktexklusivitä th aben dazu geführ t, da ss heut ej ährlic he in ez we iste ll ige Zahl neue rM edikamente au fd en Mark t kommt .„ Di eB ürokrati em us sw eite ra bgebau t werden ,w en nd er Pharmastandort Deutschla nd wieder Bo de ng ut ma ch en so ll“ so de r Apel lv on Andrea sB racher .N ur so könne es gelin ge n, da ss de r„ Fors ch ungs -u nd Produktionsstandort fü rd ie Pharmabranch ew iede r attraktiver“ wird ,w ie es in de rS trategie de r Bundesregierung heißt.
Am 17. Juni 1972 beginnt der Watergate-Skandal. Mittendrin: zwei hartnäckige Reporter, ein starrsinniger US-Präsident und ein paar ihm ergebene Männer, die sich »die Klempner« nennen und von Tag zu Tag rücksichtsloser agieren.
Text: Tobias Hürter
In der Nacht auf den 17. Juni 1972, kurz nach Mitternacht, macht ein Wachmann seinen Rundgang durch den WatergateKomplex, einen Betonbau am Potomac-Fluss in Washington mit teuren Büros und Wohnungen. Ein Stück Klebeband fällt ihm auf, das den Riegel einer Tür zur Tiefgarage zurückhält, sodass die Tür nicht mehr ins Schloss fallen kann. Er zieht das Klebeband ab und geht weiter. Als er später wieder vorbeikommt, klebt da wieder ein Stück Band. Der Wachmann ruft die Polizei und löst damit eine Ereigniskette aus, die die USA ins politische Chaos stürzen wird, zum ersten und bis heute einzigen Rücktritt eines amerikanischen Präsidenten führt und den Keim der politischen Krise setzt, in der die USA heute stecken. Mit diesem Stück Klebeband beginnt die Watergate-Affäre.
Um halb drei Uhr morgens nimmt die Polizei fünf Männer fest, die meisten von ihnen Kubaner. Sie tragen dunkle Anzüge und OP-Handschuhe. Die Polizisten stellen Walkie-Talkies sicher, 40 unbelichtete Filmrollen, zwei Kameras, Dietriche, Stifte zum Abfeuern von Tränengas, Wanzen zum Abhören von Telefonen und Gesprächen im Raum und einige 100-Dollar-Scheine mit fortlaufenden Seriennummern.
Um neun Uhr weckt ein Anruf den Lokalreporter Bob Woodward, neu bei der Washington Post, in seinem Ein-ZimmerApartment. Sein Chef setzt ihn auf einen Einbruch an. Woodward ist genervt. Schon wieder so ein Allerweltsdelikt. Woodward will endlich großen Journalismus machen. Und dann soll er auch noch mit seinem Kollegen Carl Bernstein zusammenarbeiten, diesem Hippie. Die beiden mögen sich nicht. Bernstein ist 28. Woodward fühlt sich erwachsener. Er ist 29.
Woodward sitzt im Gerichtssaal, als die fünf Männer um halb vier Uhr nachmittags vor den Haftrichter geführt werden, immer noch in ihren Anzügen, nun ohne Krawatten und Gürtel. Der Richter fragt sie nach ihren Berufen. »Antikommunisten«, antworten sie. Wo angestellt? Bei der Regierung, sagt einer. Welche Behörde? CIA. Woodward horcht auf. Es ist vielleicht doch eine große Geschichte.
Am Nachmittag klingelt im Ferienhaus des Präsidenten Richard Nixon in Key
Biscayne das Telefon. Sein Stabschef Bob Haldeman erzählt ihm von den Festnahmen. Nixon wiegelt ab. Eine Lappalie, glaubt er noch. Bei der Durchsuchung der Hotelzimmer der Einbrecher tauchte in einem Adressbuch ein Eintrag »H. H.« auf. Howard Hunt, ein Mitarbeiter des Präsidenten. Die Geschichte wird noch größer. Gut für Woodward. Schlecht für Nixon. Das FBI übernimmt die Ermittlungen.
Wer die Ereignisse dieser Tage verstehen will, der muss etwas von Richard Nixon verstehen. Sein Erfolgsrezept ist, immer etwas härter zu kämpfen als die anderen. In der U.S. Navy dient er sich bis in den Rang eines Lieutenant Commander hoch, in der Republikanischen Partei schafft er es zum
Nixons Team betreibt die Fortsetzung der Politik mit kriminellen Mitteln. Es ist der Keim der Krise, in der die USA heute stecken
Vizepräsidenten unter General Eisenhower, der ihn verachtet. Er hat den Ruf eines unerbittlichen Kommunistenhassers.
Im Jahr 1960 erbt Nixon die Präsidentschaftskandidatur von Eisenhower. Er verliert gegen John F. Kennedy, den Sonnyboy, das genaue Gegenteil von Nixon. In der entscheidenden Debatte der beiden wirkt Nixon zwar im Radio besser, sieht im Fernsehen aber schlecht aus, bleich, verschwitzt und unrasiert. Im Jahr 1968 kommt Nixon zurück. Diesmal gewinnt er.
Es ist eine Zeit der politischen Polarisierung, der Gegenkultur, der Hippies, der Proteste gegen den Vietnamkrieg. In den Monaten vor der Wahl werden Martin Luther King und Robert Kennedy von Attentätern ermordet. Die Demokraten sind zerstritten. Nixon versteht sich als Repräsentant der bürgerlichen Vernunft. Vor der Wahl verspricht er, den Vietnamkrieg rasch zu beenden. Danach jedoch weitet er den Krieg nach Kambodscha aus. Die Proteste werden heftiger. An manchen Tagen ist das Weiße Haus umringt von Demonstranten. Nixon und seine Mitarbeiter kommen weder rein
noch raus. Nixon fühlt sich wie im Krieg, nicht nur in Vietnam, sondern zu Hause. Im Jahr 1971 spielt ein Whistleblower aus dem Verteidigungsministerium, Daniel Ellsberg, die »Pentagon Papers« an die New York Times. Sie belegen das Missmanagement und die Lügen der Regierung zum Vietnamkrieg. Bei Nixon und seinem Sicherheitsberater Henry Kissinger wächst das Misstrauen. Sie sehen überall Verräter. Kissinger verlangt sogar, dass seine eigenen Leute abgehört werden. Das FBI widersetzt sich. Also bauen Nixon und Kissinger ihren eigenen inoffiziellen Geheimdienst im Weißen Haus auf, der die Feinde der Regierung beobachten und bekämpfen soll. Die Gruppe besteht vor allem aus politischen Außenseitern, wie Nixon einer ist. Sein Stabschef Bob Haldeman arbeitete früher in einer Werbeagentur. Howard Hunt, ehemals CIA, war mitverantwortlich für die Schweinebucht-Invasion, den gescheiterten Versuch der CIA, den kubanischen Präsidenten Fidel Castro zu stürzen. Gordon Liddy, ehemals FBI, ist ein Rechtsradikaler mit Nazi-Faible, er zeigt im Weißen Haus Propagandafilme von Leni Riefenstahl. Sie nennen sich »die Klempner« (the Plumbers), weil sie undichte Stellen im Regierungsapparat reparieren sollen, und ihre Methode nennen sie »political intelligence«: politische Aufklärung. Tatsächlich geht es um die Fortsetzung der Politik mit kriminellen Mitteln. Nixon will im Herbst 1972 unbedingt wiedergewählt werden.
Den ersten Rechtsbruch begeht Nixons Geheimtruppe, als sie den Whistleblower Ellsberg ins Visier nimmt. In einer Aktion wie aus einer Krimikomödie, mit Perücken und falschen Brillen, brechen sie in die Praxis seines Psychotherapeuten ein und durchwühlen dessen Aktenschränke nach belastendem Material. Sie finden nichts.
Die Pläne der »Klempner« werden immer aberwitziger. Sie stören eine Wahlkampfveranstaltung der Demokraten, indem sie tausend Pizzen dorthin bestellen. Sie überlegen, die Brookings Institution, eine angesehene Denkfabrik, in Brand zu setzen, um dann als Feuerwehrleute verkleidet den Safe zu sprengen und Dokumente herauszuholen. Liddy schlägt vor, ein Hausboot zu mieten und mit »den besten« Prostituierten zu besetzen, um demokratische Funktionäre zu verführen und unter Druck zu setzen.
Einen unliebsamen Zeitungskolumnisten könnte er einfach umbringen, sagt er. Das geht zu weit, finden die anderen.
Sie beschließen, die Parteizentrale der Demokraten abzuhören, weil sie reiche Geldgeber im Hintergrund vermuten. Für die Drecksarbeit heuert Howard Hunt ein paar regierungstreue Exilkubaner an. Die Parteizentrale ist im Watergate-Gebäude. Der erste Einbruch im Mai 1972 endet wegen einer verriegelten Tür im Vorzimmer der Sekretärin. Über die dort platzierten Wanzen hören die »Klempner« Belanglosigkeiten wie die Vereinbarung eines Friseurtermins. Sie müssen noch mal rein. Der zweite Einbruch endet am 17. Juni 1972 in den Haftzellen der Polizei.
Allmählich dämmert den Männern im Weißen Haus, in welche Bredouille sie sich gebracht haben. Sie dürfen keinesfalls zulassen, dass der Einbruch zu ihnen zurückverfolgt wird. Schon gar nicht zu Nixon.
Sechs Tage nach dem Einbruch, am 23. Juni 1972, spricht Nixon im Oval Office mit seinem Stabschef Haldeman. Nixon nimmt das Gespräch mit einer versteckten Tonbandanlage auf. Er ist so misstrauisch, dass er sogar sich selbst abhört. Er fragt Haldeman nach dem Stand in der Watergate-Geschichte. Nicht gut, sagt dieser. Nixon ordnet an, dass Haldeman den Chef der CIA instruiert, dem FBI mitzuteilen: Dies sei eine streng geheime Aktion für die nationale Sicherheit gewesen. Das FBI solle den Fall nicht weiter verfolgen. »Play it tough«, sagt Nixon.
Die »Klempner« versuchen mit allen Mitteln, die Sache zu vertuschen. Sie entführen ein paar Tage später Martha Mitchell, die Frau von Nixons Wahlkampfmanager, die mit Reportern gesprochen hatte, sperren sie in einem Hotel ein und setzen sie unter Beruhigungsmittel, um sie zum Schweigen zu bringen. Doch Woodward und Bernstein, die Reporter der Washington Post, rekonstruieren in mühsamer Kleinarbeit die Geldflüsse aus Nixons Umfeld an die Einbrecher. Sie verfolgen Schecks nach Mexiko und arrangieren konspirative Treffen mit Informanten. Einer ihrer Quellen geben sie den Codenamen »Bookkeeper« (Buchhalter), eine andere nennen sie »Deep Throat«, nach einem Pornofilm. Dahinter verbirgt sich, wie sich später zeigt, der stellvertretende Direktor des FBI.
Richard Nixon wurde 1913 als Sohn von Quäkern geboren, die in Kalifornien ihr Glück suchten. Mit Fleiß und Intelligenz erarbeitete er sich ein Stipendium für die Harvard Law School. Er starb 1994 an den Folgen eines Schlaganfalls. Ein Staatsbegräbnis blieb ihm verwehrt
Zunächst kann Nixon triumphieren. Im November 1972 gewinnt er souverän die Wahl gegen seinen demokratischen Herausforderer George McGovern, einen Historiker und Weltkriegsveteranen. McGovern ist vielen Amerikanern zu weit links, zu nah an der Protestbewegung, zu drogenfreundlich, zu mild in Sachen Abtreibung. In der Nacht seines Triumphs sitzt Nixon allein in seinem Arbeitszimmer im Weißen Haus und legt seine Lieblingsplatte auf: Victory at Sea, den schmalzigen Soundtrack einer Fernsehserie über die Seeschlachten des Zweiten Weltkriegs. Er hat einen Sieg errungen und sieht gleichzeitig das Ende drohen.
Im Januar 1973 wird Nixon zum zweiten Mal vereidigt. Im selben Monat gelingt ihm der Waffenstillstand in Vietnam. Doch die ganze Zeit fließt weiter Geld an die inhaftierten Einbrecher. Schweigegeld. Das Geld zieht Spuren. Am 21. März 1973 spricht Nixon mit seinem Anwalt John Dean. Sie brauchen noch mehr Geld, um das Schweigen der Einbrecher zu kaufen. Eine Million Dollar in bar, sagt Dean. »Ich weiß, wo das zu kriegen ist«, grummelt Nixon mit düsterer Entschlossenheit. Dean bekommt es mit der Angst zu tun. Nixon werde auch ihn opfern, fürchtet er.
Am 23. März verkündet der Richter das Strafmaß für die Einbrecher. Dabei verliest er einen Brief, den ihm einer der Einbrecher gegeben hat: Sie seien unter Druck gesetzt worden, zu schweigen. Das Gericht sei über die Hintergründe des Einbruchs getäuscht worden. Die mächtigen Hintermänner stünden noch im Dunkeln. Eine Sensation. Die Reporter im Gerichtssaal eilen zu den Telefonen.
Nun kommt der Skandal richtig ins Rollen. Wer sind diese Hintermänner? Nixons Anwalt Dean wechselt die Seiten. Er nimmt Kontakt mit dem Untersuchungsausschuss auf. Als Nixon davon hört, weiß er, dass er alle seine Mitwisser opfern muss, um noch eine Chance zu haben, sich selbst zu retten: Sie waren es, ich wusste nichts. Nur Henry Kissinger, sein Sicherheitsberater, bleibt ihm. Kissinger schmeißt die Regierungsgeschäfte, während Nixon immer tiefer im Skandal versinkt. Er schläft schlecht, trinkt, spricht mit sich selbst.
Im Sommer 1973 sind die Anhörungen des Senatsausschusses das große politische Thema in den USA. Watergate wird zum
ersten Fernsehskandal der Geschichte. Die Sender übertragen die Anhörungen live. 85 Prozent der Amerikaner schalten ein. Im Juni erklärt John Dean vor dem Ausschuss, dass Nixon von der Vertuschung des Watergate-Einbruchs wusste. Im Juli bestätigt ein Regierungsbeamter dem Ausschuss, dass es im Weißen Haus ein geheimes Aufnahmesystem gibt – und damit eine Chance, Nixon seine Mitwisserschaft nachzuweisen.
Ein Sonderermittler wird eingesetzt. Er verlangt die Herausgabe der Bänder. Nixon weigert sich. Er klammert sich verbissen an sein Amt. Dann bricht der Jom-KippurKrieg zwischen Israel, Ägypten und Syrien aus und in der Folge die weltweite Ölkrise. Ein Krieg zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion droht. Kissinger erhöht die Alarmbereitschaft der Streitkräfte. Nixon ist daran nicht beteiligt. Sein Denken dreht sich nur noch um Watergate.
Als der Sonderermittler droht, den Supreme Court einzuschalten, gibt Nixon
ein bisschen nach. Er rückt sieben Bänder heraus. Eines von ihnen, aufgenommen am 20. Juni 1972, hat eine verdächtige Lücke von 18 Minuten. Nixons Sekretärin beteuert, sie habe es versehentlich gelöscht. Niemand glaubt ihr. Der Präsident selbst muss es gelöscht haben.
Nixon ist mit seiner Verzögerungstaktik am Ende. Der Supreme Court ordnet die Herausgabe sämtlicher Bänder an. Die Gespräche im Oval Office nach dem Einbruch kommen der Welt zu Gehör: die Lügen, die Vertuschung. Am 9. August 1974 tritt Nixon zurück, um einer Amtsenthebung zuvorzukommen. Er hat nächtelang nicht geschlafen, gibt eine wirre Fernsehansprache. Er sagt: »Die Größe kommt, wenn man wirklich auf die Probe gestellt wird, wenn man Schläge einstecken muss, Enttäuschungen, wenn die Traurigkeit kommt. Nur wenn man im tiefsten Tal war, kann man wissen, wie großartig es ist, auf dem höchsten Berg zu stehen.« Er spreizt die
Finger zum Victory-Zeichen und entschwebt im Hubschrauber nach Kalifornien.
Nixons Nachfolger Gerald Ford, der sein Vizepräsident war, begnadigt ihn »für alle Straftaten, die er begangen hat oder begangen haben könnte oder an denen er beteiligt war«. Sein Leben lang weist Nixon alle Schuld von sich. »Wenn der Präsident es tut, ist es nicht illegal«, sagt er im Jahr 1977 in einem Interview.
Nixons Parteikollege Barry Goldwater nannte ihn später »das unehrlichste Individuum, das ich je in meinem Leben getroffen habe«, und erklärte: »Wahrheit ist das Fundament einer stabilen Gesellschaft.«
Das war vor Donald Trump. Es wurde viel über die Parallelen zwischen Nixon und Trump geschrieben, die beiden politischen Außenseiter, ihre Lügen, ihre kriminelle Rücksichtslosigkeit. Im Fall Nixon hat das demokratische System gehalten: das Parlament, die Justiz, die Presse. Im Fall Trump muss es noch halten.
Wie bleibt man freundlich, wenn andere rumstänkern? Das wissen ein britischer Kinderarzt, eine Talkshow-Moderatorin, ein Concierge.
Und die Psychologie weiß, wie man die Gegnerin der Freundlichkeit besiegt
Text Tobias Hürter
Warum sind Menschen so oft unfreundlich und verletzend zueinander? Weil sie selbst verletzt sind. Diese Antwort gab der englische Kinderarzt Donald Winnicott in den 1940er-Jahren. Er war überzeugt, den Weg zu einer freundlicheren Welt zu kennen.
Winnicott behandelte Kriegskinder: Mädchen und Jungen, die in dieser schlimmen Zeit in dysfunktionalen Familien aufwuchsen, die wegen der Bombenangriffe ihr Zuhause verloren hatten, die zu Waisen geworden waren, in Heime oder zu Pflegeeltern kamen. Winnicott erkannte, wie die
Umgebung, in der ein Kind aufwächst, dessen Persönlichkeit prägt. Wie wichtig guter Umgang mit Kindern für deren Entwicklung ist – und damit für die Gesellschaft, die einst von diesen Kindern getragen werden wird. Sein Projekt zur Weltverbesserung bestand darin, seine Landsleute anzuleiten, gute Eltern zu sein.
Fesselt euch nicht mit dem Ziel, brillante Eltern zu sein, immer alles richtig zu machen, riet Winnicott. Seid bescheidener. Seid »gut genug« (good enough). Kinder brauchen Halt, Verständnis und Wohlwollen, aber keine Göttereltern. Bleibt Menschen. Es ist okay, auch mal genervt
vom Kind zu sein. Perfektionismus kann schaden. Ein Kind, das nur mit Liebe und Fürsorge überschüttet wird, fühlt sich irgendwann verkannt. Bin wirklich ich gemeint? Sieht denn keiner, dass ich manchmal unausstehlich bin?
Diese Kinder, wie auch vernachlässigte oder zu streng erzogene Kinder, laufen Gefahr, ein »falsches Selbst« auszubilden, warnte Winnicott. Sie werden so, wie sie eigentlich nicht sind: vielleicht chronische Quengler. Vielleicht frühreif und hochbegabt. Vielleicht versuchen sie, »Eltern ihrer Eltern« zu werden, weil sie sich für deren Laune verantwortlich fühlen.
Später, als Erwachsene, irren manche dieser Menschen wie Waisenkinder durch die Welt, werden vielleicht harte Typen, die durch jede Wand gehen, oder herzallerliebste Frohnaturen, die allen gefallen wollen, äußerlich erfolgreich, innerlich auf der Suche nach Halt und ihrem wahren Selbst. »Psychotisch« nannte Winnicott Menschen, die auf solche Weise verletzt sind. Sie neigen dazu, ihre Verletzungen auch andere Menschen spüren zu lassen.
Donald Winnicott hielt rund 600 Radiovorträge in der BBC, um seine Landsleute zu ermutigen, »gut genug« zu werden. Das Wort »Freundlichkeit« (kindness) sprach er selten aus, zu Beziehungen innerhalb von Familien sagte er eher »zugewandt« oder »liebevoll«. Aber Winnicott brachte auf den Punkt, was Menschen in Interaktionen mit anderen brauchen, um ihr »wahres Selbst« zu finden, ihre Emotionen und Bedürfnisse auszudrücken, ohne Zurückweisung fürchten zu müssen.
Es ging Donald Winnicott nicht nur um Erziehungsrat für Eltern. Familien sind soziale Labors. Was Menschen in ihnen erfahren und lernen, tragen sie in ihre Beziehungen außerhalb. Es ging ihm um eine bessere Gesellschaft.
Winnicott hielt Eltern dazu an, ihren Kindern Empathie und Unterstützung entgegenzubringen und gelassen zu bleiben, wenn ein Kind mal scheinbar grundlos rumstänkert. »Wenn ein Baby in einem Zustand der Wut schreit, die Menschen um es herum aber ruhig und unverletzt bleiben, stärkt diese Erfahrung seine Fähigkeit, zu erkennen, dass das, was es für wahr hält, nicht unbedingt real ist.«
Es ist okay, auf die Launen eines Kinds einzugehen. Es ist nicht so gut, sie persönlich zu nehmen. Es ist gar nicht gut, mit dem erhobenen Zeigefinger zu kommen. Winnicott vermutete, dass Erwachsene, die nicht kreativ sein können, die innen wenig lebendig sind, fast immer die Kinder von Eltern sind,
denen es schwerfiel, Trotz zu dulden, die ihren Nachwuchs vorzeitig »gut« machen wollten und damit die Entwicklung echter Freundlichkeit hemmten.
Winnicott ärgerte sich speziell über »Leute, die Babys ständig auf dem Knie auf und ab wippen, um sie zum Kichern zu bringen«. Das mag auf den ersten Blick nett gemeint wirken. Doch es ist rücksichtslos und übergriffig: Das Kind soll für den Erwachsenen fröhlich sein. Hat es überhaupt Lust dazu? Vielleicht ist es selbst gerade traurig oder nachdenklich. Wirklich freundlich wäre, für einen Moment von den eigenen Wünschen abzusehen und den Bedürfnissen des anderen nachzuspüren.
Damit illustrierte Winnicott, was es bedeutet, freundlich zu einem anderen Menschen zu sein: das eigene Ego, den eigenen Vorteil mal beiseitezustellen, um dem anderen zuzuhören, ohne Drohung, gleich zu verurteilen oder zurückzuschlagen, wenn man dabei etwas vermeintlich Negatives
Die Weltfreundlichkeitsbewegung hat den 13. November zum Weltfreundlichkeitstag erklärt. Wird die Menschheit so netter? Oder wird Freundlichkeit dadurch zur Fitnessübung degradiert?
hört – was bei Erwachsenen wie bei Kindern geschehen kann. Dieser Moment des Innehaltens, den man dem anderen Menschen gibt und nicht einem selbst: Da beginnt Freundlichkeit. In jedem dieser Momente wird die Welt ein bisschen besser. Es braucht keine großen Gesten, keine hohen moralischen Ideale. »Gut genug« sein, wie Winnicott es mit britischem Understatement nannte, ist alles, was es braucht. Es gibt den Witz von einem Pfadfinder, der jeden Tag eine gute Tat vollbringen soll, dafür einer alten Frau über die Straße hilft und dann stöhnt: »Das war anstrengend, sie wollte einfach nicht über die Straße.« Der Pfadfinder hat es gut gemeint, freundlich zu der alten Frau war er aber nicht.
Manche Menschen setzen sich tatsächlich solche Freundlichkeitsziele. Die Weltfreundlichkeitsbewegung (World Kindness Movement) hat durchgesetzt, dass der 13. November jedes Jahres in aller Welt als Weltfreundlichkeitstag begangen wird. An
diesem Tag sind Menschen dazu angehalten, besonders freundlich mit ihren Mitmenschen umzugehen, als Training und Vorbild für den Rest des Jahres. Die Random Acts of Kindness Foundation (wörtlich: Stiftung für Zufällige Akte der Freundlichkeit), die in den 1990er-Jahren in Kalifornien entstand, fördert Freundlichkeit weltweit. Schulen und Unternehmen können Lehrmaterial bestellen und sich als »Kindness School« zertifizieren lassen.
Auch auf sozialen Medien gibt es Kindness-Challenges: einen Monat lang täglich eine gute Tat. Der TikTok-Kanal @lalalandkindcafe sammelt Filmchen von kleinen Akten der Freundlichkeit, begangen an fremden Menschen auf der Straße.
All diese Initiativen können dazu beitragen, die Welt ein bisschen freundlicher zu machen. In ihnen steckt aber auch das Risiko, Freundlichkeit mit einer mentalen Fitness-Übung zu verwechseln, ähnlich wie der Pfadfinder in jenem Witz.
Um zu wahrer Freundlichkeit zu finden, hilft es, sich von den Meistern der Freundlichkeit inspirieren zu lassen. Zu ihnen gehört Tobias Lindner, 41, Chefconcierge im Bayerischen Hof, dem ersten Haus am Platz in München. Sein Job ist es, Gäste zu betreuen, die mit viel Geld und hohen Erwartungen kommen. Einen »hauptberuflichen Wunscherfüller« nannte ihn die Süddeutsche Zeitung. Es geht um Planungen angenehmer Reisen und Arrangements denkwürdiger Abende, manchmal um die Beschaffung von Ersatzteilen für den Oldtimer. Es geht auch darum, stets freundlich zu bleiben, bei allen Wünschen, Beschwerden und schwierigen Charakteren.
Man könnte vermuten, dass die Freundlichkeit des Chefconcierge eine gut geübte Rolle ist, ein professioneller Skill, sorgfältig gebügelt wie eine Livree und nach Feierabend ebenso leicht abgelegt.
So ist es nicht, versichert Tobias Lindner glaubhaft. Seine Freundlichkeit ist eine
SERIE IN ZEIT WISSEN DIE KRAFT DER FREUNDLICHKEIT
1. Teil: Geheimrezept Freundlichkeit Für ein glückliches, erfolgreiches, langes Leben (Ausgabe 5/2024, nachbestellbar unter zeit.de/zw-archiv)
2. Teil: Schön, euch zu sehen! Wie wir Freundlichkeit erlernen können (in dieser Ausgabe)
3. Teil: Die Chance, zu entwaffnen. Konflikte lösen mit der Kraft der Freundlichkeit (erscheint am 13. Dezember)
Haltung, ein »Mindset«, wie er sagt: »Ich bin neugierig auf Menschen.« Seine Freundlichkeit besteht nicht nur in seiner Freude daran, Menschen ihre Wünsche zu erfüllen. Wahre Freundlichkeit zeigt sich, wenn es schwierig wird. Wenn zum Beispiel Beschwerden, unangemessene Erwartungen oder ungezügelte Launen sie prüfen.
Gibt es Grenzen, an denen Freundlichkeit endet? Nein, sagt Lindner. »Man kann in jeder Situation freundlich bleiben. Aber das kann auch mal bedeuten, klare Worte zu sprechen.« Freundlich sein bedeutet nicht, sich alles bieten zu lassen. Es ist kein Widerspruch, sich abzugrenzen, persönliche
Angriffe zurückzuweisen und gleichzeitig wohlwollend zu bleiben. Eine Gästin sagte im Gespräch mit Lindner den Satz: »Du musst dem anderen die Ehre lassen.« Dieser Satz ist bei Lindner hängen geblieben. Er hat ihn sich zum Wahlspruch für schwierige Situationen genommen.
Freundlich zu jemandem zu sein, der seinerseits freundlich ist: Das ist der einfache Teil. Höhere Kunst ist, freundlich zu bleiben, wenn jemand einem blöd kommt. Dann kämpft wohl jede und jeder mit dem Impuls, mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Tobias Lindner zieht einen anderen Weg vor: »Zuhören«, sagt er. Da ist wieder
der entscheidende Moment des Innehaltens. Den Meister der Freundlichkeit zeichnet aus, auch in solch einer Situation nicht den eigenen Impulsen, sondern den Bedürfnissen des anderen Raum zu geben – und damit auch dem anderen die Chance zur Besinnung. »Irgendwann kommt der Punkt, an dem er sich selbst zuhört«, sagt Lindner. Er hat schon oft erlebt, dass schwierige Situationen sich auf diesem Weg wie von selbst bereinigen.
Tobias Lindner hilft das Wissen, dass die Ursachen von Unfreundlichkeit oft gar nicht dort liegen, wo diese sich entlädt. »Wenn jemand unfreundlich ist, dann hat
das meistens nichts mit mir zu tun«, sagt Tobias Lindner, »warum sollte ich es also auf mich beziehen?« Menschen sind unfreundlich, weil sie schlecht geschlafen haben, weil sie gestresst oder enttäuscht sind. Das kennt jeder von sich selbst und sollte es auch anderen zugestehen. »Nicht persönlich nehmen« ist Lindners Regel bei Unfreundlichkeit, im Bayerischen Hof und daheim, wenn jemand vielleicht mal nicht so gut gelaunt ist wie sonst. Er ist nicht nur ein freundlicher Concierge, sondern ein freundlicher Mensch.
Freundlichkeit ist nicht nur eine Tugend, sondern auch ein Wirtschaftsfaktor. In der Gastronomie, Hotellerie, in Callcentern und Pflegeeinrichtungen wird das Personal in speziellen Lehrgängen geschult, auch im Bayerischen Hof gibt es so etwas. Bei Coaches kann man Hospitality-Training, Kindness-Training und Compassion-Training buchen. Diplomaten und Manager haben Freundlichkeit im Repertoire für ihre Verhandlungsstrategien. Bestenfalls unterstreicht die antrainierte Technik eine freundliche Haltung. Oft kaschiert sie Unfreundlichkeit.
In Fernseh-Talkshows zeigt sich selten echte Freundlichkeit. Eine der härtesten Talkshows der deutschen Fernsehgeschichte hat Birte Karalus moderiert. Karalus lief ab 1998 auf RTL, brachte ihr den Spitznamen »Krawallus« und immer wieder Ärger mit den Landesmedienanstalten ein. Die Sendungen hatten Titel wie »Igitt – Du gehst zu Huren«. Wut und Empörung waren Programm. Die Gäste heulten, brüllten, pöbelten und schimpften. Familien stritten sich live im Studio. Sätze wie »Du solltest mal das Maul halten« und »Mein Erzeuger ist ein Schwein« flogen durchs Studio. Sex, Eifersucht und Scheitern brachten Quote. Freundlichkeit nicht.
Heute gibt es auch ohne solche Inszenierungen genug Anlass zu Streit: Corona, Klima, Migration, die Rechten. Trotzdem ist eher Streitvermeidung angesagt: »Viele Alltagsgespräche gleichen inzwischen einem Tanz um rohe Eier«, schreibt Karalus in ihrem gerade erschienenen Buch Lasst uns streiten!. »Heikle Themen werden lieber ausgespart. Zu groß ist die Sorge, unversehens einen Streit zu provozieren.« Doch bei aller freundlichen Absicht: »Konstruktiver Streit« könne helfen, die von Hass, Hetze,
Freundlichkeit bedeutet auch, sich selbst zurückzuhalten und andere nicht mit jeder Regung zu behelligen
Auf anderem Weg kommt die ehemalige Talkmasterin Birte Karalus zu einer ähnlichen Sicht wie der Chefconcierge Lindner. Freundlichkeit ist keine Kommunikationstechnik, keine Verhandlungsstrategie, keine aufgesetzte Höflichkeit. Sie beginnt mit einem Schritt auf einen anderen Menschen zu. Er kann ein kleiner Schritt sein: die Bedienung im Restaurant mit Namen ansprechen, sie als Person behandeln statt als bloßen Diener. Oder in einer Warteschlange jemanden vorlassen, der gestresst wirkt. Verständnis, Respekt oder Anerkennung zeigen, ein Kompliment geben. Es kann ein großer Schritt sein: ruhig und offen bleiben, wenn jemand wütend wird. Sich in die Perspektive eines Menschen mit schrecklichen politischen Ansichten versetzen. Freundlichkeit bedeutet auch, sich selbst zurückzuhalten, andere nicht mit jeder eigenen Regung zu belästigen. Man muss nicht immer zu hundert Prozent offen sein. Nicht alles ist wichtig genug, um geteilt werden zu müssen.
Beleidigungen und aggressiven Tönen in sozialen Medien entzweite Gesellschaft wieder zu einen, meint Karalus.
Und wie streitet man gut? Birte Karalus, die einst mit schlechtem Streit ihr Geld verdiente, sagt heute: »Gutes Streiten ist eine Frage der Haltung. Es setzt wohlwollendes Interesse am Gegenüber voraus.« Aus ihren Erfahrungen in ihrer Talkshow und heute im Internet hat sie gelernt, dass verbaler Krawall zu nichts führt als noch mehr Krawall. Sie wirbt deshalb für das Gegenteil: Freundlichkeit und Zuhören.
Karalus argumentiert so: Wir müssen lernen, besser zu streiten, um friedlich miteinander zu leben. Wenn die Gemäßigten schweigen, schreien nur noch die Extremisten aufeinander ein. Um gut zu streiten, müssen wir freundlich zueinander sein, und der Schlüssel dazu ist, einander zuzuhören. »Zuhören ist die stille Kunst der wahren Diplomaten«, sagt Karalus. »Wer zuhört, erfährt mehr, bewirkt mehr und ist offener für andere Sichtweisen als die eigene.«
Gegen die Verführung, andere Menschen bei Nichtgefallen gleich an die Wand reden zu wollen, hilft ein Experiment, das die Psychologen Michael Dufner und Sascha Krause sich ausgedacht haben, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Psychological Science. Die Studie zeigt, dass Freundlichkeit in persönlichen Gesprächen mehr Sympathiepunkte bringt als demonstrative Selbstsicherheit. Psychologen unterschieden seit Jahrzehnten zwei Dimensionen, in denen Menschen sich gegenseitig beurteilen: »communion« und »agency«. Die erste Dimension umfasst freundliches, kooperatives Verhalten und Gemeinschaftssinn. Die zweite Dimension steht für Selbstsicherheit, Führungsstärke und Selbstbehauptung. Beides kann das eigene Wohlergehen fördern. Die Frage, die Dufner und Krause beantworten wollten: Wie beeinflussen communion und agency den ersten Eindruck, den ein Mensch abgibt?
Die Psychologen setzten ihre Probanden zu zweit und in größeren Runden zusammen. Nach den Begegnungen befragten die Forscher die Versuchspersonen. Ergebnis: Menschen, die in communion hoch bewertet werten, kommen sympathisch rüber. Wer in agency hoch bewertet wird, bekommt zwar eher Respekt und hohen Status zugeschrieben, gemocht wird er aber nicht.
Sympathisch rüberkommen ist ein schönes Extra der Freundlichkeit. Doch es hat auch eine Kehrseite. Der Psychologe Dacher Keltner von der University of California in Berkeley spricht vom »Machtparadox« (power paradox): Freundlichkeit bringt Macht, und Macht macht unfreundlich. Bei politischen Wahlen zum Beispiel gewinnen oft Kandidaten, die von den Wählerinnen und Wählern als am bescheidensten und freundlichsten eingeschätzt werden – das zeigen viele Studien (Donald Trump wäre demnach eine Ausnahme). Sind diese Kandidaten dann aber in Amt und Macht, verlieren sie gerade die prosozialen Eigenschaften, die sie dorthin gebracht haben.
Dieses Muster hat Keltner nicht nur in der Politik beobachtet, sondern auch in Studierendenorganisationen, Unternehmen, afrikanischen Dörfern, mexikanischen Drogenkartellen, sogar Ehen, in denen die Macht ungleich verteilt ist. »Macht korrumpiert«, schrieb der englische Historiker und Parlamentsabgeordnete Lord Acton 1887, »und absolute Macht korrumpiert absolut.«
Dem Mechanismus dahinter ist die Wirtschaftspsychologin Ena Inesi von der London Business School nachgegangen. Bei der Auswertung mehrerer Studien fand sie, dass Macht die Einstellung zu anderen Menschen ins Negative verzerrt. Mächtige Menschen neigen dazu, misstrauisch und zynisch zu werden. Sie halten andere Leute für faul und unzuverlässig. Ist jemand freundlich zu ihnen, dann unterstellen sie ihm unlautere Motive: Die Person will sich nur bei mir einschmeicheln. Sie folgern aus ihrer negativen Sicht auf andere Menschen, dass diese streng geführt, kontrolliert und reguliert werden müssten – und dass dazu sie selbst berufen seien. Sie verlieren die Fähigkeit, freundliche Beziehungen zu führen. Macht macht einsam.
Wie lässt sich dieser Freundlichkeitsverfall abwenden? Auch diese Frage hat Ena Inesi untersucht. Ihre Antwort heißt »indirekte Reziprozität«. Mächtige Menschen handeln freundlich gegenüber anderen, nicht weil sie sich dafür etwas direkt von diesen anderen erwarten, sondern weil sie
mit dieser Freundlichkeit Anerkennung und einen guten Ruf in der Gesellschaft gewinnen, weshalb dann auch sie gut behandelt werden. Zum Beispiel steckt eine Berühmtheit ihrem Image zuliebe einen Teil ihres Vermögens in eine wohltätige Stiftung. Oder ein reicher Bauer leiht seine Mähmaschine seinem Nachbarn, um im Dorf als großzügig zu gelten. Auch diese Freundlichkeit kann echt sein, selbst wenn Eigennutz ihr Anlass ist.
Für eine freundlichere Welt geht es also nicht nur darum, die eigene Freundlichkeit zu pflegen, sondern auch Freundlichkeit an anderen Menschen zu belohnen. Es lohnt sich für alle, das sah Donald Winnicott vor 80 Jahren, als er Kriegskinder behandelte: Ohne Freundlichkeit entwickeln Menschen ein falsches Selbst. Wir brauchen wahre Freundlichkeit, um zu gedeihen.
Tobias Hürter bewundert die Freundlichkeit eines Bekannten, der mal eine öffentliche Toilette aufsuchte und nach einer halben Stunde mit der Lebensgeschichte der Reinigungskraft herauskam.
Gespräch mit einem, der sich aufs Feiern spezialisiert hat: der Blumenstrauß über das Loslassen
Wenn es was zu feiern gibt, gibt es immer auch Blumen – je mehr, desto besser. Zum Jubiläum besucht uns daher diesmal ein ganzer Strauß: Sonnenblume, Hortensie, Glockenblume und Hahnenkamm springen mit ihren kräftigen Farben sofort ins Auge. Das Septemberkraut hält sich mit der Montbretie eher im Hintergrund. Unten tummelt sich der Frauenmantel neben dem Amarant, der lässig an der Vase hängt. Oben schwirren Fenchel und Segge in der Luft. Der Enzian überragt alle, scheint aber noch nicht ganz da zu sein. Wir sprechen mit ihnen über natürliche Schönheit, ausgelassene Tänze und die Kunst, sich von Ängsten zu lösen.
Hallo in die Runde, möchte jemand anfangen?
Sonnenblume: Da ich die Größte bin, spreche ich mal als Erstes.
Hortensie: Also das stimmt ja schon mal gar nicht. Meine Blüte ist viel üppiger.
Johanna Michaels Foto Marie-Therese Cramer
Sonnenblume: Das ist aber nur eine sterile Schaublüte. Ich wollte ja nur sagen, dass ich mich freue, ein zweites Mal zu so einem Gespräch in diesem Heft eingeladen zu sein. Hortensie: Ich auch! Also ein zweites Mal. Und ich freue mich auch. Da sind wir ja schon mitten im Thema. Wir haben was zu feiern: 20 Jahre ZEIT WISSEN. Und da dürfen Blumen natürlich nicht fehlen. Was macht Sie eigentlich zu Expertinnen in Sachen Freude?
Hahnenkamm: Das beantworte ich mal, damit die zwei sich nicht streiten. Wir sind ja extra gezüchtet worden, um Freude zu bereiten. Das macht uns zu Expertinnen. Glockenblume: Das mag vielleicht für dich gelten, mit deiner künstlichen Verbänderung. Die restlichen Anwesenden sind meinem Wissen nach natürliche Schönheiten.
Hahnenkamm: Na, ihr habt vielleicht nicht so eine Pracht aus Cristaten gezüchtet bekommen wie ich, aber mindestens die Hortensie hat doch wohl auch künstlich nachgeholfen, bei dieser Riesenschaublüte. Bevor hier alle mit dem Finger aufeinander zeigen, eine Frage: Was sind Cristaten?
Hahnenkamm: Wenn Pflanzen wachsen, verzweigen sie sich normalerweise irgendwann. So entstehen Stauden, Büsche, Baumkronen. Manchmal bleibt diese Verzweigung aber unvollständig, die einzelnen Teile hängen dann noch zusammen, ein bisschen als hätten sie Schwimmhäute. So eine willkürliche Wuchsveränderung nennt man Verbänderung, das Ergebnis Cristaten. Auf diese Weise ist bei mir, durch einen Zufall in der Züchtung, aus lauter zusammengewachsenen Blüten dieser freudebringende Hahnenkamm entstanden.
Liebe Glockenblume, Sie wurden nicht extra gezüchtet, um zu beglücken, kennen sich aber trotzdem damit aus?
Glockenblume: Natürlich! Wir zelebrieren mit unseren Farben das pure Leben. Ganz einfach. Welche Freude könnte größer sein? Hortensie: Die Glockenblume hat recht, auch wenn sie es etwas plump ausgedrückt hat. In der alten japanischen Kunst des Blumensteckens, dem Ikebana, ist die Verbundenheit mit der Natur ein zentrales Element. Ein Strauß zeigt die Wertschätzung der Natur und ihrer Schönheit.
Glockenblume: Nur weil ich nicht in Japan verehrt werde und mit einer jahrhundertealten Theorie der Ästhetik aufwarten kann, bin ich noch lange nicht plump!
Immerhin tragen Feen und Elfen meine zarten Glockenblüten als Hut auf ihren kleinen Köpfen. Unter dir würden sie ja sofort einknicken mit deiner hochgezüchteten, üppigen Schaublüte.
Hahnenkamm: Aha, ich wusste es!
Hortensie: Jetzt fühle dich doch nicht gleich angegriffen. Ich habe dir ja recht gegeben. Wie zeigt sich diese Wertschätzung in der Kunst des Ikebana?
Hortensie: Das Ikebana folgt zwar strengen Regeln, doch es entfernt sich dadurch niemals vom Vorbild der Natur. Jede Blume strahlt für sich in ihrer natürlichen Schönheit und ist Teil einer Komposition, die die Natur nachzuahmen sucht.
Sonnenblume: Auch wenn unsere Gruppe hier vermutlich etwas zu farbenfroh und laut für ein Ikebana-Gesteck ist.
Hortensie: Wir sind zwar sehr bunt, aber trotzdem kein symmetrisches, makelloses Bouquet, wie es sonst bei Sträußen oft der Fall ist. Wie im Ikebana hat hier jede Blume ihre Rolle in einem dramatischen Stück aus zarten Linien, gewagten Diagonalen und kräftigen Farbklecksen.
Amarant: Ganz genau! Ich hänge hier nämlich gar nicht träge am Vasenrand, sondern bilde eine gewagte Diagonale! Schließlich bin ich auch als Superfood bekannt.
Frauenmantel: Das glaubst du doch wohl selber nicht. Wir hier unten geben dem Strauß seine Bodenhaftung. Das ist das Gegenteil von Wagnis.
Amarant: Nur weil du eher eine Nutz- als eine Zierpflanze bist, musst du nicht immer so bescheiden sein – wir tragen genauso unseren Teil zur Geschichte bei wie die Blüten mit ihrer Hauptrolle in der Mitte. Du hast als alchemistische Zutat sogar eine geheimnisvolle Vergangenheit zu bieten! Und du musst zugeben, dass meine Lässigkeit dem ganzen Strauß Dynamik verleiht. Fenchel und Segge führen diese Dynamik nach oben hin fort, richtig?
Segge: Wir lockern den Strauß auf, indem wir ein Gegengewicht zu den großen Blüten bilden. Diese Lücken sind im Ikebana ebenso wichtig wie die Blumen selbst. Fenchel: Erst das gewagte Zusammenspiel von Fülle und Leere schafft Harmonie in
der Komposition. Ein Blumenstrauß muss so wild tanzen, als wäre jeder Tag ein Fest. Von Harmonie war in diesem Gespräch bisher nicht viel zu spüren. Hier herrscht ja mehr Streit als bei einer Familienfeier. Septemberkraut: Lassen Sie sich nicht von den Schreihälsen in die Irre führen. Sie sind zwar laut und streiten sich gerne, aber doch nur, weil sie Aufmerksamkeit wollen. Eigentlich lieben sie sich wie Geschwister. Montbretie: Ihr Vergleich mit einer Familie passt gut – dort gibt es auch die Lauten und die Stillen, die Ernsten und die Lustigen, die Geselligen und die Zurückhaltenden. Eine Balance der Gegensätze gibt Familien ebenso wie Blumensträußen ihre wunderbare Lebendigkeit.
Ist es nicht zynisch, bei einem Blumenstrauß von Lebendigkeit zu sprechen?
Schließlich wurden Sie alle von der Wurzel und somit vom Leben abgeschnitten. Hortensie: Das mag für Sie so wirken. Doch in der Philosophie des Ikebana können wir erst durch den Schnitt zu unserem wahren Ich finden, da er uns von der Wurzel befreit, mit der wir uns an das irdische Leben klammern. Im Strauß lassen wir all diese Ängste los. »Ikebana« lässt sich auch mit »Blumen beleben« übersetzen.
Enzian: Oh, hat das Gespräch etwa schon angefangen?
Sonnenblume: Auch schon wach? Keine Sorge, du hast nicht viel verpasst. Die Hortensie hat nur wieder einen Vortrag über ihr Lieblingsthema zum Besten gegeben. Enzian: Ah, die Kunst des Ikebana. Ich habe kaum meine Blüten geöffnet, und schon soll ich zu meinem Ich finden.
Na, nicht so begeistert wie die Hortensie?
Enzian: Ich denke, wir Pflanzen sind euch Menschen im Grunde sehr ähnlich. Wir versuchen alles, um den Tod auszutricksen. Wir graben unsere Wurzeln in die dunkle Erde, nur um neu auszutreiben, falls uns etwas passiert. Dabei ist das Leben da, um es zu genießen, und nicht, um sich daran festzuhalten.
Sonnenblume: Es stimmt schon – man muss sich von den Ängsten lösen. Wer sich am Boden festklammert, kann sich nicht frei bewegen.
Fenchel: Das ist ein gutes Stichwort – jetzt ist mal Schluss mit den ernsten Gesprächen. Wir haben doch etwas zu feiern! Wer hat Lust zu tanzen?
»Wir Pflanzen sind euch Menschen sehr ähnlich. Wir versuchen alles, um den Tod auszutricksen.
Dabei ist das Leben da, um es zu genießen, und nicht, um sich daran festzuhalten.«
ZEIT WISSEN behandelt alle relevanten Themen unseres Alltags – charmant, überraschend und bereichernd. Lassen Sie sich inspirieren und auf gute Gedanken bringen. Sichern Sie sich jetzt drei Ausgaben für nur 18,– €.
Ihre Vorteile: nur 18 € statt 26,85 € versandkostenfrei monatlich kündbar nach der Probephase
3 Ausgaben 32 % sparen
Kartenbox »Gebrauchsanweisung für ein Gefühl«
Entdecken Sie 20 Emotionen neu!
Wunderschön illustrierte Karten und Booklet mit Texten aus ZEIT WISSEN. 22,00 €* | Bestell-Nr. 48356
Mehr spannende Erkenntnisse aus ZEIT WISSEN und der ZEIT:
Manches Wissen wächst in verdammt hohen Gebieten. Trotzdem sollte man sich hin und wieder dorthin aufmachen, auch wenn es richtig anstrengend wird. Willkommen auf dem Pfad von Krieg und Frieden
Gibt es gerechte Kriege? Welche Art Krieg wird in der Ukraine und in Gaza geführt? Und hört das nie auf? Rüsten Sie auf für eine Expedition in vermintes Gelände.
Text Jens Jessen
Gehen Sie erst los, wenn Sie die folgenden Grundlagen in Ihren Rucksack gepackt haben
Krieg ist die Zumutung schlechthin. Er bedroht Menschen massenhaft mit Tod, Hunger, Armut und Obdachlosigkeit. Krieg ist eine Zumutung für die Moral, er verstößt gegen alle Zehn Gebote, nicht nur gegen das Tötungsverbot. Er schändet Frauen und Männer, zerstört Heiligtümer, Familienbande und jeglichen Respekt. Krieg ist eine Zumutung für Demokratie und Politik, insofern er, einmal ausgebrochen, schwer zu lenken und schwer zu beenden ist. »Die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst«, lautet ein Merksatz, und wo keine Wahrheit ist, gibt es auch keine Kontrolle. Der berühmte preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz sprach vom »Nebel des Krieges«. Krieg ist darum auch eine Zumutung für das Selbstverständnis der Moderne, Gewalt zu kontrollieren und Regeln zur Begrenzung von Kriegshandlungen durchzusetzen. Die Haager Landkriegsordnung von 1899 hat es versucht– erfolglos, wie die folgenden Weltkriege zeigten. Nach ihrem Ende schien es, jedenfalls für den europäisch geprägten Westen, als seien solche Regeln im humanitären Völkerrecht zuverlässig verankert. Aber spätestens seit dem Ende der sozialistischen Staatenwelt, seit den Zerfallskriegen im einstigen Jugoslawien, zeigte sich, dass der Krieg mit gänzlich unkontrollierten Übergriffen auf die Zivilbevölkerung auch wieder in Europa ausbrechen kann. Im Moment tobt er vor unserer Haustür, in der von Russland überfallenen Ukraine.
Krieg hat es gegeben, so weit die historische Erinnerung zurückreicht, und es gibt ihn weiterhin. Krieg scheint ein unverlierbares Übel der Menschheit zu sein. Es gibt Leute, die ihn wollen, Leute, die ihn mitmachen, Leute, die mit ihm Geld verdienen. Es
Carl von Clausewitz (1780–1831), preußischer General und Reformer. Sein Hauptwerk »Vom Kriege« ist Pflichtlektüre in Militärakademien.
gibt vor allem Leute, deren ganzer Einsatz sich darauf richtet, Waffen zu verfeinern und neue Waffen zu erfinden. »Der Krieg ist der Vater aller Dinge«, soll der antike Philosoph Heraklit gesagt haben, und tatsächlich hat sich ein großer Teil der Menschheitsentwicklung in Kriegen vollzogen.
Krieg, dieser größte Feind der Zivilisation, war immer auch ein Motor des zivilisatorischen Fortschritts. Telekommunikation, Digitalisierung und Internet eingeschlossen, ist ein Ergebnis militärischer Forschung. Revolutionskriege haben Menschen aus jahrhundertealter Unfreiheit und Unterdrückung erlöst. Auch Demokratien sind selten unblutig entstanden. Der Krieg ist ein Teil menschlichen Strebens und wird es wahrscheinlich bleiben. Diese Einsicht zu akzeptieren – diese bittere Pille zu schlucken –, ist die erste Aufgabe, die sich im pädagogischen Basislager stellt, bevor die Expedition in die unwirtliche Welt des Krieges beginnen kann.
Es ist eine heikle Expedition, weil sie die Hemmungen überwinden muss, die dem Nachdenken über den Krieg entgegenstehen. Es gab sogar eine populäre Theorie, nach der allein schon die geistige Auseinandersetzung mit dem Krieg verwerflich sei, weil er damit aus der Zone des Tabus herausgerückt und gewissermaßen wieder »denkbar« gemacht werde.
Den Expeditionsteilnehmern muss aber klar sein, dass Auseinandersetzung nicht Zustimmung bedeutet. Drei erste Merksätze vorweg: Erstens, es gibt Krieg und gab ihn immer. Zweitens, den Krieg zu verstehen, heißt nicht, ihn zu billigen. Drittens: Den Krieg abzulehnen, hat nicht dazu geführt, ihn aus der Welt zu schaffen. Wer schon Probleme mit diesen Sätzen hat, sollte lieber im Basislager bleiben.
Unsere Bergführer
Thukydides (vor 454–399/396 v. Chr.), Feldherr und Historiker, hat scharfsinnig das Verhältnis von Politik und Krieg beschrieben.
Der Politologe Herfried Münkler hat sich in zahlreichen Werken mit der Geschichte und Gegenwart des Krieges beschäftigt.
Los geht’s! Auf leichten Anhöhen begegnen Sie Erkenntnissen, die Sie ins Schwitzen bringen können
Es wird nämlich noch ungemütlicher. Nicht nur, dass es fortdauernd und in fast allen Weltregionen Kriege gibt, ist festzustellen, sondern auch, dass sie weiterhin mutwillig begonnen oder pedantisch gerechtfertigt werden, dass sie begrüßt, gefeiert oder passiv hingenommen werden. Krieg stößt keineswegs weltweit auf die einhellige Ablehnung, die friedensbewegte Ostermarschierer für selbstverständlich halten.
Manchen Staaten werden Kriege aufgezwungen, wie Israel der Gazakrieg durch den Überfall der Hamas aufgezwungen wurde. Solche Kriege sind gewissermaßen Notwehr, können aber trotzdem außer Kontrolle geraten und zu etwas führen, was die Juristen einen Notwehrexzess nennen. Das überfallene Opfer wird in seiner Raserei zum Täter, sich aber immer weiter im Recht fühlen. So kann auch eine Militäroperation, die zur Verteidigung begann und insofern das Kriterium des »gerechten Krieges« erfüllte, das der Kirchenvater Augustinus formuliert hat, zu neuem Unrecht führen, mitunter den Charakter einer reinen Racheaktion annehmen. Deswegen hat Augustinus selbst von einem »gerechten« Verteidigungskrieg gefordert, dass er nur mit Nachsicht und Wohlwollen gegenüber dem Gegner und Mitleid für die Besiegten geführt werden dürfe.
Wissenschaftler, Philosophen und Dichter, die bei uns und heute eher als pazifistisch gelten, haben sich tatsächlich schon immer als große Hassproduzenten und Feindbild-Erfinder hervorgetan. Die serbische Akademie der Wissenschaften hat, lange bevor der jugoslawische Zerfallskrieg begann, Pläne für ein ethnisch gesäubertes Großserbien ersonnen und an der Abwertung der kroatischen, bosnischen, albanischen Nachbarvölker gearbeitet.
Ein Krieg zur Selbstverteidigung darf nicht alles, schrieb Augustinus
Aufgezwungen wurde auch der Ukraine ihr Abwehrkampf gegen den russischen Aggressor Putin. Hier wird man kaum von einem Notwehrexzess sprechen können, wohl aber von einem ideologischen Exzess, der in einer Hochrüstung der Herzen besteht. Aus dem verständlichen Hass auf die russischen Soldaten ist ein Hass auf alles Russische geworden, auch dort, wo es in keinem Zusammenhang zu Putins Regime steht. Ein solcher Zusammenhang lässt sich aber konstruieren, und das taten die Künstler und Intellektuellen, die damit ihren Patriotismus beweisen konnten. So ist es auch nach Aufstieg und Unterwerfung Napoleons zwischen Deutschland und Frankreich geschehen, als Dichter und Denker wechselseitig das Französische oder Deutsche zu Abschaum erklärten und eine uralte »Erbfeindschaft« konstruierten (die es in Wahrheit nur lange zuvor zwischen Frankreich und dem Österreich der Habsburger gab).
Exzessive Feindbestimmung und Kriegsbegeisterung bei Künstlern und Intellektuellen ist nicht neu. In der Kultur hat der Krieg seit alters einen prominenten Platz, auch als Inspirationsquelle. Komponisten, sogar große, schrieben Musik für Siegesfeiern. Das beseligende Kirchenlied Tochter Zion, freue dich geht auf den Triumphmarsch See, the Conquering Hero Comes zurück, den Händel seinem Oratorium Judas Makkabäus anfügte nach dem empörenden Unrechtssieg der Engländer über die Schotten 1746. Berüchtigt geworden ist die Kriegseuphorie der Intellektuellen bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Mit Gedichten und Pamphleten fügten sie sich nahtlos in die Staatspropaganda ein. Die Hassgesänge erwiesen sich als so massenwirksam, dass schon im September 1914, als auf deutscher Seite Zweifel an einem möglichen Sieg aufkamen, die Regierung meinte, die Bevölkerung sei bereits zu aufgehetzt, um den Krieg wieder zu stoppen. Halten wir als weiteren Merksatz fest: Krieg produziert ungeheuerliche Kollateralschäden, nicht nur an Menschenleben, Material und Umwelt, sondern geistige Kollateralschäden. Krieg produziert Hass, und Hass produziert Krieg. Es entsteht aber auch eine allgemeine Verrohung der Sitten, des Denkens und Sprechens. Der griechische Feldherr und Historiker Thukydides hat diesen kulturellen Alltagsverfall zum ersten Mal in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges zwischen Athen und Sparta im 5. Jahrhundert vor Christus beschrieben: Die Gewöhnung an den Verlust der Wahrheit und an die Macht des Stärkeren habe sich selbst in den Sprachgebrauch und die Bedeutung der Wörter gefressen. Krieg ist ein ganzheitlicher Prozess – nichts, was an den Außengrenzen der Krieg führenden Länder haltmacht.
Atmen Sie tief durch: Es ist alles ganz anders, als Sie dachten –aber Sie schaffen das
Schon Clausewitz hat für sein 19. Jahrhundert darauf hingewiesen, dass militärische Operationen nur ein Teil der Kriegführung sind. Propaganda und gezielte Einmischung in die Innenpolitik des Gegners gehören ebenfalls dazu. Nur in bestimmten Epochen blieb die Wirkung auf die Zivilgesellschaft schwach: in den Kriegen, die die alten Römer an den Außengrenzen ihres Imperiums führten, oder, im 20. Jahrhundert, die USA in entfernten Weltgegenden, die sie ihrer Einflusssphäre zurechneten. Auch die sogenannten Kabinettskriege des 17. und 18. Jahrhunderts wurden weitgehend ohne Beteiligung von Bürgern und Öffentlichkeit geführt, mit oft zwangsrekrutierten Soldaten zwar, aber eher wie auf einem Schachbrett. Der Gegner wurde nicht als Feind gesehen, man konnte leicht wieder Frieden schließen. Der Grund war, dass auf dem Schlachtfeld Monarchien konkurrierten, die meist verwandt oder verschwägert waren.
Trotzdem wurden Landstriche verwüstet, manchmal ernährten sich die Soldaten auch durch Plünderungen, wie es im Dreißigjährigen Krieg der Fall war. Dieser Krieg nutzte noch den Religionsstreit zwischen Katholiken und Protestanten wie in den Konfessionskriegen zuvor, war im Grunde aber schon ein dynastischer Kabinettskrieg, in dem es nur um Macht ging und deshalb auch das katholische Frankreich mit den protestantischen Fürsten koalieren konnte. Es gab jedenfalls keine absolute, auf Glauben oder Moral oder Identität gegründete Feinderklärung.
Die Bestimmung eines absoluten Feindes ist das traurige Privileg der Demokratien – hierin den Weltanschauungsdiktaturen verwandt, den religiösen wie den faschistischen oder kommunistischen. Die Ursache liegt auf der Hand: Man muss die Bevölkerung für Opfer gewinnen, und dafür braucht es einen Grund von existenzieller Bedeutung. Der Gegner muss der schlechthin Andere sein, der ganz Fremde, der das Eigene bedroht, der Klassenfeind, der Andersgläubige – oder eben der Demokratiefeind.
Vor allem sind immer die ureigenen Werte in Gefahr. In ihrem moralischen Maximalismus sind auch Demokratien unersättlich. Darum musste seinerzeit, beim Einsatz gegen die Taliban, nicht weniger als Deutschlands Freiheit am Hindukusch verteidigt werden, und jetzt wieder, nur diesmal in der Ukraine.
Das war vor 2.500 Jahren, im Peloponnesischen Krieg, schon ähnlich. Obwohl die Konkurrenz der beiden Mächte den Krieg auslöste, ging es zugleich darum, die eigenen Werte, die eigene Lebens- und Staatsform zu sichern – und zu exportieren. Wo immer Athen eine Stadt oder Insel eroberte, führte es die Demokratie ein, wo immer Sparta siegte, wurde eine Oligarchie installiert. Sarkastisch schildert Thukydides, wie manche Städte mehrmals, je nach dem, wer sie gerade eroberte, die Regierungsform wechseln mussten.
Das müsste uns bekannt vorkommen: Ein »Demokratieexport« sollte auch mit dem Irak- und Afghanistankrieg einhergehen – und scheiterte spektakulär. Erfolgreicher waren die politischen Systemwechsel, die in den Stellvertreterkriegen nach 1945 von Sowjetunion und USA erzwungen wurden. Kommunistische Regime konnten die Sowjets in Äthiopien mithilfe eines inszenierten Volksaufstands einsetzen, in Angola und Mosambik mithilfe einer gesteuerten Befreiungsbewegung gegen die Kolonialmacht Portugal. Kubanische Söldner halfen dabei, die den Vorzug hatten, als Schwarze nicht als landfremd aufzufallen.
Um den Kommunismus in Angola zu verhindern, erfanden wiederum die USA eine politisch entgegengesetzte Befreiungsbewegung, die mit südafrikanischen Söldnern unterstützt wurde. Der darauf folgende Bürgerkrieg hatte seine Wurzel nicht im Land, sondern in Moskau und Washington. Endlos ist die Liste der US-Interventionen zugunsten von südamerikanischen Diktatoren, die angeblich die Freiheit gegen den Kommunismus verteidigten.
Auch dort, wo Werte nur vorgeschoben sind, um Machtpolitik zu verschleiern, wirken sie kriegsunterstützend. Vor allem innenpolitisch sind die vorgeblichen Werte nützlich, weil mit ihnen der eigenen Bevölkerung vorgegaukelt werden kann, man engagiere sich in fernen Weltgegenden aus hehren Gründen. Der Soziologe Niklas Luhmann hat einmal gesagt, Moral sei selbst »polemogen«, also kriegserzeugend. So weit muss man nicht gehen. Aber sicher ist, dass Kriege, die moralisch gerechtfertigt erscheinen, nur noch schwer auf dem Wege eines Kompromisses zu beenden sind. Sobald die Kriegsbegründung, so Clausewitz, »großartiger und mächtiger wird, so wird es auch der Krieg, und das kann bis zu der Höhe steigen, auf welcher der Krieg zu seiner absoluten Gestalt gelangt«.
Jetzt wird es zugig: Diese Theorien müssen Sie meistern, um auf der Höhe der Zeit anzukommen
Herfried Münkler hat in dem Buch Die Logik der Weltherrschaft gezeigt, warum Imperien in ihren Randzonen gerne Unruheherde unterhalten. Der Feind ist dort schon zu spüren, aber noch in Schach zu halten. Auf diese Weise wird die direkte Konfrontation vermieden, aber eine stete Drohung aufrechterhalten. Die Unruhezonen müssen dem Imperium weit vorgelagert sein, um den Feind in einer Distanz zu halten, der ihn für die eigene Bevölkerung kaum wahrnehmbar macht. Auch Niederlagen dort sind nicht schlimm, sondern beweisen nur die Notwendigkeit des Engagements.
Oft gibt es einen Lieblingsgegner, an dem sich das Schauspiel entfalten kann. Für die Römer waren das lange die Parther, für die USA in jüngerer Zeit vor allem die nahöstlichen »Schurkenstaaten«. Es gehört wenig Fantasie dazu, in der Ukraine den neuesten Zankapfel zu vermuten, über den sich mit dem altneuen Lieblingsfeind Russland streiten lässt.
Für Athen und Sparta waren es Städte und Inseln unsicherer Bündniszugehörigkeit, in denen sie ihre Muskeln spielen ließen. Die Lage wurde erst prekär, als Athens Seebund zu wachsen begann und sich die umstrittenen Orte dauerhaft einverleibte. Sparta musste eingreifen, um den Status quo des Gleichgewichts zu sichern. Thukydides hat daran die Theorie geknüpft, wonach aufstrebende Großmächte wie Athen unweigerlich in einen Krieg gezogen würden: Sie sind gewissermaßen zu gefährlich geworden, um von den etablierten Mächten toleriert werden zu können, und geraten deshalb selbst in Gefahr. Der amerikanische Politologe Graham Allison hat den Gedanken mit dem Begriff der »Thukydides-Falle« heute wieder populär gemacht. Sein aktuelles Beispiel, das hoffentlich nicht Realität wird, ist China, das durch wachsende Einflusszonen die USA bedroht.
Die Zeit, in der Machtkonkurrenzen von der Heimat ferngehalten werden können, ist aber möglicherweise vorbei. Sie können in Form von Terrorismus längst direkt in das Herz des Gegners getragen werden. Die Chance haben auch Mittelmächte wie der Iran oder staatsferne Attentäter, die ihre eigene fanatische Agenda haben und doch für die Zwecke Dritter eingesetzt werden können. Der Nebel des Krieges ist hier nicht die gefürchtete Nebenfolge, sondern die
strategische Absicht. Allgemeine Verunsicherung ist das Ziel, ähnlich wie bei Cyberattacken.
Das Ergebnis sind die sogenannten asymmetrischen Kriege, in denen reguläre Truppen kaum etwas ausrichten können. Einen »Krieg gegen den Terror« zu führen, wie der jüngere George Bush es wollte, ist genauso wenig möglich, wie es den napoleonischen Truppen in Spanien möglich war, gegen die Partisanen siegreich zu sein. Der Partisan ist der Vorläufer des Terroristen, weshalb die Partisanentheorien von Clausewitz und Carl Schmitt (dem satanisch begabten Staatsrechtler mit NS-Vergangenheit) sich auch auf den Terroristen anwenden lassen – hier wie dort dieselbe mörderische Praxis, den Feind durch willkürlich (oder symbolisch) gewählte Opfer zu demoralisieren. Der Terrorist kämpft aber nicht notwendig für eine Heimat, es kann auch eine abstrakte Idee sein (die Religion, die unterdrückten Massen). Terror ist die internationalisierte Antwort auf die internationalisierten Interessen der Großmächte und darum wahrscheinlich die Gestalt, die der Krieg der Zukunft annehmen wird. Aber warum sollte es überhaupt weiterhin Krieg geben? Die tiefere Antwort kann nicht in den Machtkonflikten, in Religions-, Kultur- oder Rassenhass liegen, denn damit sich diese in organisierter Gewalt niederschlagen, muss eine menschliche Aggressionsbereitschaft abrufbar sein, die ihrerseits erklärungsbedürftig ist. Eine populäre, von Freud inspirierte Theorie sah die Ursache in unterdrückter Sexualität – der Todestrieb siege über den Eros, wenn dieser nicht ausgelebt werde. Deshalb hieß es in den Anti-Vietnamkriegs-Demonstrationen »Make love, not war«. Die marxistische Theorie sah den Kapitalismus als Quelle an – der Gegensatz von Kapital und Arbeit produziere fortlaufend gesellschaftliche Widersprüche, die sich gewalttätig entladen. Es gibt auch Theorien, die Religionen die Schuld geben, aber alle haben den Nachteil, dass sie den Frieden an die Utopie eines Neuen Menschen knüpfen, der nicht gewaltlos zu schaffen ist. Der Weltfrieden ist das mutmaßlich blutigste Kriegsziel, das sich denken lässt. Warum? Weil jeder, der diesem Ziel entgegensteht (der Altmensch, der Gläubige, der Kapitalist), nur als der absolute Feind gesehen werden kann, der absolute Vernichtung verdient. Ein Krieg für das Ende aller Kriege wäre der schlimmste Krieg.
Können diese wunderbaren Tiere die Welt feiner wahrnehmen als der Mensch? Schauen Sie selbst
Fotos Drew Doggett
Drew Doggett, 1984 in Maryland geboren, gilt als einer der besten Pferde-Fotografen der Welt. Einige seiner Aufnahmen sind in der freien Wildbahn in der Camargue, auf Sable Island in Kanada und auf Island entstanden. Auf anderen zeigt er für den Sport gezüchtete Voll- und Warmblüter.
Wie fühlen sich Pferde, die nicht im Stall oder auf der umzäunten Koppel leben? Sind sie glücklicher als die, die hochspringen und im Dressurviereck tanzen müssen mit einem Menschen auf dem Rücken? Wir projizieren unsere Sehnsucht nach Freiheit und Natürlichkeit auf diese Tiere und wissen doch so wenig über sie. Dabei ist es gar nicht schwer, ihre Körpersprache zu entschlüsseln. Achten Sie mal auf die lockeren Schweife der Schimmel am Strand
»Ich bin für Pferde klar zu lesen.
Andrea Kutsch versteht diese Tiere so gut wie kaum ein anderer. Sie weiß, wann sie alles für uns tun – und wann nicht
Interview Hella Kemper
Warum ist es so leicht, Pferde zu lieben, Frau Kutsch?
Weil es sehr emotionale Tiere sind. Ihr limbisches System, das die Emotionen steuert, ist doppelt so groß wie das des Menschen. Wir gehen von 170 Empfindungen aus, die sie erleben können. Sie haben eine extrem große Emotionalität. Und sie sind die perfekten Tiere, um unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Pferde geben dem Menschen, was er sich wünscht: Gold bei Olympia, ein weiches Fell, einen schnellen Galopp. Und was macht so ein Tier glücklich?
Wenn seine Bedürfnisse gestillt werden, es satt ist und sich sicher fühlt, dann ist es ruhig, ausgeglichen und zufrieden. Das bringen sie klar zum Ausdruck. Pferde zeigen ihre Gefühle.
Wie machen sie das?
Wie ein Pferd sich fühlt, das können wir an seiner Körpersprache ablesen. Für den körperlichen Ausdruck habe ich sogenannte
Ethogramme entwickelt. Das sind typische körperliche Verhaltensmuster. Damit interpretieren wir ihr Verhalten nicht mehr, sondern haben faktenbasierte Kriterien: Wir sehen an Nüstern, Ohren, Halslinie, Schweif, Muskeltonus und Augen, was sie fühlen. Wir unterscheiden zwischen fünf negativen Grundgefühlen: Scham, Ärger, Wut, Angst und Trauer. Sind Pferde auch eifersüchtig oder besorgt?
Klar, sie können skeptisch sein, verwirrt, misstrauisch, ungeduldig, aufgeregt, angespannt, verunsichert, entsetzt. Warum sollten sie das nicht empfinden können?
Erwidern sie die Liebe der Menschen? Pferde sind interessiert und inspiriert, wenn wir sie richtig behandeln. Dann haben sie auch Lust, mit uns Neues zu erleben. Wie löst man diese Lust aus?
Indem ich bei ihnen positive Gefühle erzeuge, Freude oder Neugierde. Pferde fühlen sich dann wohl, und das kann man an
ihrem Körper sehen. Ich kann erkennen, ob sie zufrieden oder dankbar sind, begeistert oder erfüllt. Die größte Motivation des Pferdes ist die Abwesenheit von Angst.
Dann empfindet es sich als neutral. Was bedeutet das?
Dann ist der Körper losgelassen, Muskeltonus und Atemfrequenz sind ruhig, das Ohrenspiel ist schön, der Schweif locker, es guckt umher, ist aufmerksam.
Sind Pferde klug?
Es ist eines der am meisten unterschätzten Tiere. Ein angstfreies Pferd kann ich an fast jede neue Situation heranführen, ich darf es nur nicht überfordern. Wenn das Pferd merkt, dass ihm nichts passiert, traut es sich mehr zu.
Würden sie weglaufen, wenn wir sie nicht einsperren oder festbinden würden?
Wenn wir sie schlecht behandeln, würden wir sie nie wiedersehen. Ich muss immer ruhig und liebevoll bleiben.
Aber bauen die Tiere, mit denen Sie arbeiten, keine Beziehung zu Ihnen auf?
Doch, natürlich. In unseren Laufstallungen in Niedersachsen, wo wir zurzeit ausbilden, haben wir 170 Pferde, die bleiben zunächst auf Distanz, checken mich, mehr nicht.
Aber wenn ich eine Woche lang mit ihnen gearbeitet habe, kommen sie morgens sofort zu mir, wenn ich im Stall auftauche.
Warum?
Sie fühlen sich mit mir wohl.
Aber meinen die wirklich Sie als Person?
Ich bin für die Pferde klar zu lesen, ich spreche ihre Sprache. Aber kein Pferd trauert mir hinterher. Ich bin austauschbar mit jedem, der mit unserer Arbeitsmethode vertraut ist.
Erinnern sich diese Tiere aneinander oder auch an Sie?
Sie lernen schnell und haben ein gutes Gedächtnis. Ähnlich wie Elefanten verfügen
Pferde über ein sehr gutes Erinnerungsvermögen. Wir haben mit ihnen Tests im Labyrinth gemacht. Es ist großartig, wie sie sich Wege merken können. Sie vergessen nichts. Auch Angst nicht. Deshalb zerstört der Mensch mit Bestrafung alles: Vertrauen, Motivation und auch Freude. Und Pferde haben viel Freude an allem, was angeboren ist. Wir müssen es nur richtig machen.
Wie machen wir es richtig?
Rennen beispielsweise ist eine angeborene
Disposition, Springen auch, durch den Wald galoppieren. Das können sie alles. Ich muss es ihnen nur kontextbezogen beibringen. Also rennen, ohne einen Fluchtimpuls auszulösen. Wenn ich Flucht auslöse, rennt das Pferd kurz, stoppt und dreht sich um, um zu checken, ob es weiterrennen muss. Pferde lernen durch Routine, und sie lernen gern. In der Abwesenheit von Angst tun Pferde alles für uns. Das ist sehr bewegend.
Warum gehorchen Pferde uns Menschen?
Weil sie lernfähig und lernwillig sind. Vielleicht mehr als wir Menschen. Reiter müssen lernen, Pferde wahrzunehmen.
Wie versteht der Mensch das Pferd? Pferde sehen unsere körperlichen Signale und kommunizieren auf dieser Ebene mit uns. Sie beherrschen das besser als wir. Deswegen können wir die Pferde nicht austricksen. Sie sind sehr faire Partner. Denken Sie da an ein bestimmtes Tier?
An die bildhübsche Calzedonia. Sie galt als untrainierbar. Sie war aggressiv und ließ
sich nicht anfassen. Sie ist volle Attacke auf alle losgegangen und hat niemandem eine Chance gegeben. Wir hatten alle etwas Angst vor ihr und nannten sie die PopcornStute. Weil alle zugucken wollten, als ich mit dem Training begann. Anfangs hat sie mich auf 15 Meter Entfernung akzeptiert. Näher durfte ich ihr nicht kommen. Heute ist Calzedonia eines der meistgeliebten Pferde auf dem Gestüt, ein Athlet. Sie wird ihren Weg in den großen Sport machen. Wie haben Sie das geschafft?
Unser Training ist völlig unspektakulär. Wir lösen das aggressive Verhalten möglichst nicht mehr aus, indem wir den Reiz,
Andrea Kutsch, 56, trat als Pferdeflüsterin vor großem Publikum auf und gründete mit drei Universitäten die erste Fachhochschule für Pferdewissenschaft (die Akademie ist heute eine private Schule)
der Calzedonia aggressiv macht, meiden. Dann ist sie lieb, und die Menschen sind es auch. Angstfreiheit ist das Wichtigste. Dafür muss ich aber wissen, wie Angst aussieht. Ich muss sie lesen können. Warum war Calzedonia aggressiv? Sie muss irgendwann mal gelernt haben: Wenn ich ausschlage, ist der Mensch weg. Vielleicht hat ihr jemand in der Vergangenheit etwas angetan. Dann hat sich ihr Verhalten über die Zeit gesteigert. Es gab kein Rankommen mehr an sie.
Gibt es Freundschaft unter Pferden?
Ganz doll. Sie kennen sich gut. In der Herde wollen sie zusammenbleiben. Aber Trennung kann man konditionieren. Nach drei Wiederholungen akzeptieren sie es, getrennt zu werden. Dabei sieht man, wie sie aneinander hängen und sich freuen, wenn sie wieder zusammenkommen.
Erkennen sie sich wieder?
Ja, aber es braucht einen Trigger. Kommen zwei Pferde nach einer Trennung wieder zusammen, müssen sie sich erst einmal beschnüffeln. Pferde flehmen, um einen Geruch besonders intensiv wahrzunehmen, dafür rollen sie die Oberlippe nach außen. Jeder Geruch ist abgespeichert. Haben zwei Pferde eine emotionale Bindung, erkennen sie sich am Geruch wieder, denn der löst die Emotionen aus. Geschwister, die keine Bindung haben, erkennen sich nicht wieder. Sind Einzelboxen ein guter Ort für Pferde? Sie fühlen sich dort sicher. Ein Boxenpferd nimmt länger als ein Pferd auf der Weide eine liegende Position ein und hat dadurch doppelt so lange REM-Phasen – denn dafür muss es liegen, ohne Muskeltonus, dann ruht auch der Kopf. Hält es den Kopf noch hoch, döst es nur oder gleitet gerade in den slow wave sleep über. Aber eine Box ist nur unter bestimmten Voraussetzungen besser als ein Leben auf der Koppel: Der Stall muss groß sein, hell und trocken. Er muss gut ausgemistet sein, und die Pferde müssen soziale Kontakte haben. Und natürlich müssen sie regelmäßig bewegt werden. Ist es besser für sie, in der Herde zu leben? Pferde sollten nicht allein gehalten werden. In der Natur leben sie in individualisierten Familienverbänden und kennen sich untereinander, ähnlich wie in einem Wolfsrudel oder einer Elefantenherde. Die Tiere sind untereinander verwandt. Mit ein oder zwei Jahren sammeln sich die männlichen Tiere in sogenannten Bachelorgruppen, wandern ab und gründen eigene Herden. Sie ziehen ein paar weibliche Tiere mit, aber 80 Prozent der Stuten bleiben im Ursprungsverband. Das ist übrigens der Grund dafür, warum es Stuten schwerer fällt, den Stall oder Besitzer zu wechseln.
Sind Pferde empathisch?
Bislang konnten wir bei ihnen keine Spiegelneuronen nachweisen – das ist ein entscheidender Unterschied zwischen Menschen- und Pferdegehirnen. Aber es ist bemerkenswert, wie einfühlsam Pferde sind. Was haben Sie von diesen Tieren gelernt? Am eigenen Ich zu arbeiten. Wenn ich es schaffe, den anderen in seiner Welt wahrzunehmen und zugleich mich selbst, kann ich hinterfragen, warum tut der andere das jetzt? Was ist mein Anteil daran? Anders gefragt: Wie bin ich eigentlich?
Gregor Samsa wird zum Käfer. Menschen werden zu Zwergen, Götter zu Menschen, Mann wird zu Frau, Fossilwirtschaft zu Ökotopie. Hier bleibt nichts, wie es war
Empfehlungen für Bücher, Filme und Digitales
Wären wir zufriedener, wenn wir 120 Jahre alt werden könnten? Älter werden heißt, sich permanent zu verwandeln. Nicht nur intellektuell, sondern schon rein biologisch: Auf mikroskopischer Ebene werden im menschlichen Körper fortwährend Zellen beschädigt, repariert und erneuert. Das geht allerdings nicht unendlich oft, denn: Die Kraftwerke der Zellen (die Mitochondrien) nehmen im Laufe der Zeit Schaden; in die DNA schleichen sich bei der Zellteilung Kopierfehler ein; und die Schutzkappen der Chromosomen, Telomere genannt, nutzen sich ab. Venki Ramakrishnan hat die Prozesse im Zellinneren mit erforscht und dafür 2009 den Chemienobelpreis bekommen. Er weiß, auch als ExPräsident der Royal Society, wie man komplizierte Wissenschaft mit guten Vergleichen erklärt. Die Zelle wird dann zur Stadt, mit Müllabfuhr, Supermärkten und Paketdiensten. Und er verknüpft Grundlagenforschung mit großen Fragen: Sollen wir ewig leben? Was hieße das für die Gesellschaft? Und wären wir dann glücklicher? Ramakrishnan: »Wenn wir 120 oder 150 Jahre alt werden, würden wir uns darüber ärgern, dass es nicht 300 sind.«
Venki Ramakrishnan: Warum wir sterben, Sachbuch, Klett-Cotta, 2024, 348 S.
Zur Zukunft geht’s hier entlang In den 2020erJahren entscheidet sich, wie die Welt sich im 21. Jahrhundert weiter verändern wird: hin zu ausgelaugten Landschaften oder zu einem großen Garten mit hoher Lebensqualität für alle? »Zu wenig, zu spät« und »Der große Sprung« nennen der Club of Rome und das Wuppertal Institut die beiden Szenarien und rechnen sie mithilfe einer KIgestützten Simulation für Deutschland durch. Nicht nur die Umwelt, sondern auch Armut und Ungleichheit berücksichtigt das Modell. An diesem Buch könnte man die Wahlprogramme zur Bundestagswahl 2025 messen. Club of Rome & Wuppertal Institut: Earth for All Deutschland, Oekom, 2024, 320 S.
Wie flexibel ist die Natur?
Im 18. Jahrhundert lieferten sich zwei Männer einen Wettlauf um die Bestandsaufnahme allen irdischen Lebens. Aus heutiger Sicht ein fast lächerlich größenwahnsinniges Unternehmen, aber Carl von Linné und GeorgesLouis de Buffon versuchten mit durchaus originellen Ideen, die Vielfalt der Welt begreifbar zu machen. Linné schuf ein Ordnungssystem unveränderlicher Arten. Buffon sah in der Natur mehr Veränderung am Werk, eher Richtung Darwin. Zwei rivalisierende und persönlich sehr unterschiedliche Gelehrte, die ihrer Zeit weit
voraus waren, aber scheiterten, denn, so Buffon, »die Natur ist kein Ding«. Jason Roberts: Die Entdeckung allen Lebens, Sachbuch, Heyne, 2024, 448 S.
Demokratie, neu erfunden
Die Juristin C. L. Skach erhält 2008 den Auftrag, an der neuen Verfassung des Irak mitzuarbeiten. Ein Raketenangriff erschüttert nicht nur ihr Quartier, sondern in der Folge auch ihre Überzeugungen. »Verfassungen – und Regeln im Allgemeinen«, musste Skach sich eingestehen, können »den Keim zur Zerstörung der gesellschaftlichen Ordnung in sich tragen«. Jahre später hat sie in ihrem neuen Buch sechs Prinzipien formuliert, mit denen wir die Demokratie neu erfinden könnten – und sollten. C. L. Skach: Demokratie ohne Gesetze, Sachbuch, Ullstein, 2024, 272 S.
Große Transformationen
K. Polanyi: The Great Transformation (1944); Michael Mann: Geschichte der Macht (1994); B. Sommer & H. Welzer: Transformationsdesign (2014); Bini Adamczak: Beziehungsweise Revolution (2017)
Das Essen ist fertig!
Die Prämisse dieses Buches lautet, dass die Techniken, die der Mensch entwickelt hat, um Rohstoffe in wohlschmeckende Speisen
Wechselbad
»Man muss über die Stränge schlagen, kann nicht lebenslang ein braves Kind bleiben«
Constance Debré
zu verwandeln, zu den interessantesten Tätigkeiten überhaupt gehören. Der Bestsellerautor Michael Pollan hat sich in Bäckerei, Molkerei und Brauerei ausbilden lassen, um zu verstehen, wie Natur zu Kultur wird. Das Buch ist ein Rezept für ein besseres Leben. Michael Pollan: Kochen, Sachbuch, Kunstmann, 2014, 524 S.
Der Philosoph Nimmersatt
Der Autor, Philosophieprofessor, träumt davon, sich in Seide zu wickeln und in einem Kokon abzuschotten von der Welt, um neugeboren die Verwandlung zu lieben, nicht zu fürchten. Emanuele Coccia: Metamorphosen. Sachbuch, Hanser, 2021, 206 S.
Lässt sich ein Leben umkehren?
Sie verändert alles: Die Französin Constance Debré trennt sich von ihrem Ehemann, kündigt ihren Job als Anwältin, gibt ihre Wohnung auf, rasiert ihre Haare ab und liebt Frauen. Vielleicht hält sie so aus, dass sie ihren Sohn nicht mehr sehen darf. Constance Debré: Love Me Tender, Roman, Matthes & Seitz, 2024, 149 S.
Hallo, Gregor Samsa!
Die von Robert Crumb gezeichnete Biografie Kafka ist zu dessen 100. Todestag als Taschenbuch erschienen. Natürlich mit dabei: Die Verwandlung Reprodukt, 176 S.
Wandel durch Alter
Niemand weiß, wie Rente sich anfühlt – bis man selbst drinsteckt. Oder bis man diese Dokufiktion über Ängste, Selbstzweifel und Hoffnungen eines angehenden Rentners gelesen hat. Traurig: Der Autor ist schon mit 68 gestorben. Wolfgang Prosinger: In Rente, Sachbuch, Rowohlt, 2015, 240 S.
Wandel durch Krankheit
Fallstudien von Menschen, die sich durch Hirnschäden verändern. Klassiker aus dem Jahr 1985, neu aufgelegt. Oliver Sacks: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, Sachbuch, Rowohlt, 2023, 352 S.
Wandel durch Zauber
Ein hübscher Mann und ein hässlicher Typ – »lass mich so schön sein wie du für einige Tage, dann wirst du reich belohnt!« –, ein Körpertausch, dann: der Verrat. Eine mitreißende Graphic Novel nach einer Erzählung von Mary Shelley (Frankenstein). Lara Swiontek: Verwandlung, Avant, 2022, 192 S.
Wandel durchs Leben
Wer auf der Suche nach einem Neubeginn oder einem glücklichen Leben ist, findet in diesem Buch viele inspirierende Ansätze, seine Denkmuster zu verändern. Brianna Wiest: 101 Essays, die dein Leben verändern werden. Sachbuch, Piper 2022, 430 S.
Werwolf im Widerstand
19. Jahrhundert, ein Werwolf wurde gefangen. Die junge Forscherin Margot findet heraus, dass er mehr ist, als die älteren Wissenschafter glauben – aber die hören nicht auf eine Frau. Also brechen die beiden aus. Noëlle Krögers Graphic-Novel-Debüt Meute ist klug, berührend und überschreitet mit Lust Grenzen, nicht nur die zwischen Tier und Mensch. Reprodukt, 2024, 232 S.
Danke, Jim!
13 Jahre hat François Schuiten mit Jim zusammengelebt, nun ist sein Hund tot – und der Comiczeichner hat ihre gemeinsame Zeit in ein Buch verwandelt. »Ich musste ihn zeichnen, um das zu sagen, was Worte nicht ausdrücken können«, sagt er. Das ist ihm gelungen, mit Tiefe und ohne jeglichen Kitsch. Jim, Schreiber & Leser, 2024, 128 S.
1.000 Roboter
Die Transformers können sich nicht nur von Robotern in allerhand anderes transformieren – auch ihre Geschichte ist ein Beispiel für Wandel: Erst gab es eine Serie von Spielzeugen (1984 f.), dann Comics, TV-Serien, nach 2007 schließlich Filme. Der jüngste heißt Aufstieg der Bestien, 2023, 128 Min.
Heiratet die Tochter im Körper der Mutter ihren Stiefvater?
Verwandlung ist eines der Lieblingsthemen des Kinos. Da gibt es Literaturverfilmungen wie Dr. Jekyll and Mr. Hyde und Männerverkleiden-sich-als-Frauen-Blockbuster wie Tootsie oder Mrs. Doubtfire (mit dem zu Recht vergessenen Untertitel Das stachelige Kindermädchen) – und natürlich Filme wie Freaky Friday: Mutter und Teenagertochter tauschen die Körper für einen Tag. Warum der Film so großartig ist? Da reichen drei Wörter: Jamie. Lee. Curtis. 2003, 97 Min.
Tonis falsche Zähne
Winfried Conradi (Peter Simonischek) hat ein Problem: Zu gerne wäre er seiner Tochter Ines (Sandra Hüller) näher. Also gibt er sich, grotesk verkleidet, als Geschäftsmann aus, mischt sich in ihr turbokapitalistisches Leben ein – und eine Tragikomödie nimmt ihren Lauf. Maren Ades Toni Erdmann ist einer der besten deutschen Filme der vergangenen Jahrzehnte. 2016, 162 Min.
Das Kind in mir ... bin ich
Jack altert viermal so schnell wie normal, mit zehn Jahren sieht er aus wie mit 40 –und muss nun zur Schule. Das ist der Handlungsrahmen, der Robin Williams erlaubt, die ganze Wandelbarkeit seines Schauspiels zu zeigen. Traurig, dass er die Welt so früh verlassen hat. Jack, 1996, 109 Min.
Kleiner
Die Komödie Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft (1989, 89 Min.) war ein solcher Erfolg, dass es zwei Fortsetzungen gab: Liebling, jetzt haben wir ein Riesenbaby (1992, 89 Min.) und Liebling, jetzt haben wir uns geschrumpft (1997, 72 Min.). Danach war geschrumpft: das Interesse des Publikums.
Größer
Eine Anwältin, die sehr groß und sehr grün wird, wenn sie sich aufregt? Das kann doch nur She Hulk sein! Leider gibt es davon nur eine Staffel. Fernsehserie, 2022, 9 Episoden
Noch kleiner
Um der Überbevölkerung etwas entgegenzusetzen und um Ressourcen zu sparen, lassen sich Menschen auf 12,7 Zentimeter verkleinern. So weit in Kürze die Handlung des Films Downsizing, 2017, 135 Min.
Größer und kleiner Filmregisseur Jack Arnold war vernarrt in Größenveränderungen: 1955 brachte er den Horrorfilm Tarantula in die Kinos, in dem eine Stadt gegen eine Riesenspinne kämpft. 1957 folgte Die Unglaubliche Geschichte des Mister C. (81 Min.). Darin wird ein Mann immer kleiner, bis er schließlich verschwindet. Arnold trieb bei beiden Filmen damals so viel Aufwand, dass deren Spezialeffekte auch heute noch beeindruckend sind.
5 x »Ich werd zum Tier!«
1. Die Fliege (1958, 94 Min.), 2. Die Hexe und der Zauberer (1963, 79 Min.), 3. Wolf –Das Tier im Manne (1994, 121 Min.), 4. Ein Königreich für ein Lama (2000, 75 Min.), 5. Animalia (2023, 130 Min.)
Verwandelte Trauer
Dass Tales of Kenzera: Zau ein besonderes Videospiel ist, hört man gleich. Schließlich gibt es nicht viele Games, in denen Swahili gesprochen wird und deren Geschichte auf der Mythologie der afrikanischen Bantukultur basiert. Außerdem verarbeitet der Chefentwickler darin den Verlust des Vaters. Im Spiel wird viel gekämpft – und der Held kann sich mithilfe seiner Sonnen- und Mondmaske verwandeln. Jede Maske verleiht ihm unterschiedliche Kräfte. Electronic Arts, 2024, div. Plattformen
Fotorealismus
Wie praktisch wäre es, wenn man mit Fotos die Welt verändern könnte: Man steht etwa an einer Straße, kramt das Foto von einem Zebrastreifen hervor, hält es vor sich, und schon gibt es dort einen Zebrastreifen! Im 2D/3D-Puzzlespiel Viewfinder geht das –und noch sehr viel mehr. Thunderful Publishing, 2023, PC und Playstation
Die ideale Form der Dinge
Am Anfang von Katamari sind wir ein kleiner Ball, und während wir so herumrollen, bleibt ein bisschen etwas von der Umgebung an uns kleben, also werden wir größer, und immer größere Sachen haften an uns, also erst Flusen und später Flugzeuge, und am Ende haben wir die ganze Welt in einen Ball verwandelt und alles ist eins. Videospielreihe, Namco, 2004 f., div. Plattformen
Vom Tier im Menschen
In der griechischen Mythologie wird verwandelt und verzaubert ohne Ende: Menschen zu Tieren und Pflanzen, Götter zum Stier, zum Adler, zum Schwan, zum Lorbeerbaum. In diesem englischsprachigen Podcast sorgen die Hosts für Übersicht und erklären minutiös und mit viel Spaß das Personaltableau der Griechen sowie Mythen und Märchen aus vielen anderen Kulturen. Spirits, Podcast, div. Plattformen
Warum bin ich manchmal so?
So gut wie jedes Verhalten lässt sich psychoanalytisch deuten, und das tun Cécile Loetz und Jakob Müller mit Fachwissen und Fallbeispielen. Wenn sanfte Zeitgenossen zum Beispiel im Straßenverkehr ausflippen, sitzen unterbewusste Konflikte mit am Steuer. »Tiefseel-Tauchen« heißt die Reihe innerhalb des Podcasts Rätsel des Unbewussten, auf psy-cast.org und diversen Plattformen
Veränderung I
Nur wenige Bücher hatten mehr Einfluss auf die westliche Kunst und Literatur als Ovids Metamorphosen, eine Geschichte der Welt von ihren Anfängen »vor dem Meer und der Erd’ und dem allumschließenden Himmel« bis zur Gegenwart des Autors. Die gesammelten Verse gibt es beim »Projekt Gutenberg« zu lesen: t1p.de/zw_ovid
Veränderung II
Von Millibar in Megapascal, von Lichtjahr zu Parsec, von Unze in Pennyweight: Seit 20 Jahren gibt es eine Website, die so ziemlich jede Einheit in eine gewünschte andere Einheit umwandelt – sogar Währungen und internationale Schuhgrößen. Man findet sie verlässlich hier: convertworld.com/de/
Veränderung III
Brauche ich einen Avatar? Wenn Sie diese Frage mit Ja beantworten möchten, dann könnte die App Bitmoji etwas für Sie sein. Bitmoji erzeugt aus Ihrem Porträtfoto ein passendes Avatar-Gesicht, das Sie zum Beispiel in Messenger-Apps verwenden können. Bitstrips, 2021, iOS und Android
Veränderung IV
Die App Olli legt live Kunstfilter über die iPhone-Aufnahmen – dann sieht alles zum Beispiel aus wie ein Comic. Das erschließt ganz neue Weltsichten! Tinrocket, 2017, iOS
»Alles verändert sich nur, nichts stirbt. Herüber, hinüber irrt der belebende Hauch, und in andre Glieder ziehet er ein.«
Ovid
Metamorphose ist nicht alles: Weitere lesenswerte Neuerscheinungen
Warum wir Stickstoff, Phosphor und Kalium auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, erklärt Kerstin Hoppenhaus in Die Salze der Erde so spannend, dass man sich ab sofort für Chemie interessiert. Hanser, 334 S.
Aleida und Jan Assmann zeigen in Gemeinsinn, dass der sechste, soziale Sinn nur in einer resilienten Demokratie eine Chance hat. C. H. Beck, 262 S.
Wer sich wie die Philosophin Barbara Bleisch in Mitte des Lebens frei fühlt, wenn sie sich nicht durch die Tage schieben lässt wie Geröll am Berg, hat schon viel verstanden vom Sinn des Lebens. Hanser, 272 S.
Die Künstlerin Maren Aminis will in ihrer Graphic Novel Ahmadjan und der Wiedehopf das Leben ihres Vaters erzählen und an ein Afghanistan der Vielfalt erinnern. Beides gelingt ihr mit Bravour. Carlsen, 240 S.
Weil sich Jan Mohnhaupt in Von Spinnen und Menschen auch mit Architektur und Handwerk (Weben) beschäftigt, wird ein Tierbuch zur Philosophie-Stunde. Hanser, 254 S.
Nach 30 Jahren an Bord teilt Kapitän Elliot Rappaport in Das Wetter lesen sein sturmerprobtes Wissen über Wind, Wolken und Wellen. mare, 400 S.
Was man als vernünftiger Mensch in diesen Zeiten noch hoffen kann, fragt Philipp Blom in Hoffnung. Hanser, 182 S.
Am Anfang jeder Ausgabe von ZEIT WISSEN stellen wir drei Fragen. Am Ende des Heftes wünschen wir uns jetzt von Ihnen eine Frage. Welche kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie das Telefon auf dem Stuhl im Bild rechts betrachten? Schreiben Sie uns bitte bis zum 3. November 2024. Die beste eingesandte Frage beantworten wir in der nächsten Ausgabe. Gewinnen können Sie den aktuellen ZEIT-Bildband »Hotels zum Verlieben«.
Die Redaktion erreichen Sie unter: zeitwissen@zeit.de
Recherchequellen:
Unter zeit.de/serie/quellennachweis-zeit-wissen finden Sie zu zahlreichen Artikeln dieser Ausgabe die Studien und Bücher, die unsere Autoren und Autorinnen zurate gezogen haben.
Social Media: Folgen Sie uns auf Instagram unter @zeitwissen und auf facebook.com/zeitwissen.
Podcast:
Unser ZEIT WISSEN-Podcast »Woher weißt Du das?« erscheint alle zwei Wochen mit Reportagen, Hintergrundinfos und Interviews zu spannenden Themen. Zu hören ist er unter zeit.de/zeitwissen-podcast sowie auf Spotify und allen anderen großen Podcast-Plattformen.
Das nächste ZEIT WISSEN erscheint am 13. Dezember 2024
Herausgeber Andreas Sentker Chefredakteur Andreas Lebert Art-Direktion Wiebke Hansen Redaktion Hella Kemper, Dr. Max Rauner, Katrin Zeug Bildredaktion Sebi Berens, Lisa Morgenstern Layout Christoph Lehner Autoren Niels Boeing, Sven Stillich Mitarbeiter dieser Ausgabe Christoph Amend, Marie Castner, Christoph Drösser, Lena Frings, Horst Güntheroth, Tobias Hürter, Jens Jessen, Rahel Lang, Johanna Michaels, Till Raether, Dr. Insa Schiffmann, Ulf Schönert, Susan Urbanek, Volker Weidermann Onlineredaktion Jochen Wegner (verantw.) Korrektorat Thomas Worthmann (verantw.), Oliver Voß (stellv.) CPO Magazines & New Business Sandra Kreft Director Magazines Malte Winter Marketing Elke Deleker Vertrieb Sarah Reinbacher Unternehmenskommunikation und Veranstaltungen Silvie Rundel Anzeigen ZEIT Advise, Lars Niemann (CSO), www.advise.zeit.de Herstellung Torsten Bastian (verantw.), Oliver Nagel (stellv.) Repro Mohn Media Mohndruck GmbH Druck Firmengruppe APPL, appl Druck, Wemding Anzeigenpreise ZEIT Wissen-Preisliste Nr. 20 vom 1. Januar 2024 Abonnement Jahresabonnement (6 Hefte) 49,80 Euro, Lieferung frei Haus, Auslandsabonnementpreise auf Anfrage; Abonnentenservice: Telefon 040/42 23 70 70, Fax 040/42 23 70 90, E-Mail abo@zeit.de, www.zeit.de/zw-abo Anschrift ZEIT WISSEN, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg, Telefon 040/32 80-0 Diese Ausgabe enthält in einer Teilauflage Publikationen von Fattoria La Vialla, IT 52029 Castiglion Fibocchi; Plan International Deutschland e. V, 22305 Hamburg
Gott hatte ja gesagt, die ersten Menschen sollten ihrer Neugierde widerstehen. Vom Apfel der Erkenntnis haben sie dennoch gekostet. Und selbst wenn man nicht an diesen (oder einen anderen) Gott glaubt, steckt in der Erzählung etwas drin. Und zwar: Wir Menschen waren von Anfang an neugierig. Abgesehen davon, dass wir deswegen aus dem Paradies geflogen sind, hat uns das auch ziemlich weit gebracht. Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston schreibt, Neugier sei enorm wichtig für die Wissenschaften. Verglich man sie früher mit der Wollust, empfinde man sie heute als »respektabel und sogar hochlöblich«. Neugier hat also eine Erfolgsgeschichte hinter sich. Dank ihr haben wir Penicillin erfunden, Sauerteigbrot und Maschinen, die schlauer sind als wir. Nur, wann ist Schluss?
Bei manchen Berufsgruppen wäre ein Ende der Neugier besonders unpraktisch.
Vielen Dank für Ihre zahlreichen Einsendungen zu diesem Bild im vorigen Heft. Gewonnen hat die Frage von Lisa Scholz
Bei Journalistinnen etwa oder bei Detektiven wie Martin Schütt aus Hamburg. Die machen ja Geschäfte mit der Neugierde. Kinder lernen durch ihre Lust am Neuen, durch ihre Bereitschaft, sich Ungewohntem auszusetzen. Sie suchen regelrecht danach, ihren Horizont zu erweitern. Und auch Erwachsene bilden sich aufgrund von Neugierde weiter, probieren scharfe Chilis oder befassen sich mit anderen Meinungen. Die Neugier ist also kaum totzukriegen, nur phasenweise lässt sie etwas nach. Wenn zu wenig passiert, oder: absurderweise manchmal auch dann, wenn zu viel Neues passiert. Wer durchgehend mit Reizen überflutet wird, hat wenig Platz im Kopf. Hannah Olbert, die sich mit Meditation auskennt, beobachtet, wie wichtig Freiräume für die Neugierde sind. Zu ihr kämen gestresste Menschen in ihren Mittagspausen. Aus der Stille könnten dann wieder neue Impulse erwachsen, neue Ideen, denen man nach-
gehen kann. »Ich finde, es ist total wichtig, dass wir immer wieder in Langeweile fallen, um uns mit unserem individuellen Selbst zu verbinden«, sagt Olbert. Wer wieder neugieriger werden will, sollte also eine Prise Langeweile nehmen, vermischt mit der Offenheit für neue Herausforderungen und Reize. Die Neugier kann auch aufhören, weil sie zu weit gegangen ist. Denn wenn man seine Nase tief in bestimmte Angelegenheiten steckt, kann das negative Konsequenzen haben. Detektiv Schütt schreibt, Neugierde »hört auf, wenn sie gegen den Artikel 6 der DS-GVO zu verstoßen droht«. Das heißt, wenn die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung nicht vorliege. Oder wenn sie unmoralisch sei. Adam und Eva könnten ein Lied von den Konsequenzen singen. Obwohl man den beiden wirklich keinen Vorwurf bezüglich dieser Paradiesgeschichte machen sollte, denn auf der Erde ist es auch ziemlich schön – und es gibt so viel zu entdecken!
Nicht nur Schimpansen, OrangUtans und Elstern erkennen sich, wenn sie sich im Spiegel sehen. Auch Elefanten haben eine solche Selbstwahrnehmung. Sie geht sogar weit darüber hinaus. In einem Test von Forschern der University of Cambridge wurden Elefanten aufgefordert, einen Stock aufzuheben, der mit einem kurzen Seil an einer Matte befestigt war, auf der sie standen. In 42 von 48 Durchläufen verließen die Elefanten die Matte, um den Stock anheben zu können. »Sie können sich von anderen Objekten und ihrer Umwelt abgrenzen«, sagt der Co-Autor der Studie Josh Plotnik. Plotnik hatte zuvor zusammen mit dem bekannten Verhaltensforscher Frans de Waal in Halbfreiheit lebende Asiatische Elefanten im Norden Thailands beobachtet. Die Tiere im Alter von 3 bis 60 Jahren waren nicht miteinander verwandt, lebten aber in natürlichen Gruppenverbänden mit engen sozialen Bindungen. Die Forscher hielten in einem Video fest, wie beispielsweise eins der Tiere erschrak, als eine Schlange durchs trockene Gras raschelte. Der Elefant stellte Ohren und Schwanz auf und gab ein lautes, tiefes Brummen von sich. Sofort – das ist in dem Video zu sehen –näherte sich ein anderes Gruppenmitglied dem erschreckten Tier, quietschte in hohen Tönen, berührte es vorsichtig am Kopf und steckte seinen Rüssel in dessen Maul – was ihn verletzbar machte, weil bei Elefanten kein Körperteil so empfindlich und überlebenswichtig ist wie der Rüssel. »Trost in Form von Körperkontakt hat eine beruhigende Wirkung«, schrieb de Waal in seinem
Buch Mamas letzte Umarmung, »Körperkontakt wirkt äußerst effektiv.« Das größte Landsäugetier hat das verstanden, »aber dem Menschen fällt es schwer, aus sich selbst herauszukommen und in einen anderen reinzukommen«, sagt der Philosoph Wilhelm Schmid. Doch getröstet werden könne nur, wer sich sinnlich berühren lässt – so wie ein Elefant, der vor der Schlange zittert. »Berührung ist elementar«, sagt Schmid. Wer berührt, verbindet sich. Wie beim Küssen, wie beim Ablecken der Tiere untereinander. Oder beim Stillen des Säuglings – dem frühesten Trost im Leben. Nur wenn jemand die Bedürfnisse des Babys stillt, kann es überleben. Die warme Milch tröstet. Später die Suppe, die jemand kocht. Wen eine Brühe wärmt, der fragt nicht nach dem Sinn, sondern gewinnt neue Energie.
Der Mensch hat Probleme damit, andere zu trösten. Der Elefant nicht
»Das wird schon wieder« ist dagegen so eine Floskel, die schnell dahingesagt ist und das Leid auszureden versucht. »Aber wie das gute Zureden hilft das nicht gegen Kummer«, sagt der Psychologe Frank-M. Staemmler, »wichtig ist die mitfühlende Zuwendung und Anerkennung.« Der zu Tröstende spürt, er wird gesehen. »Das ist heilsam.«
Der Philosoph Schmid beobachtet dagegen eine Verhärtung. »Wer seine Autonomie strikt zu bewahren versucht, verhindert Nähe.« Schmid rät deshalb, bei jeder Begegnung neu zu justieren: sich öffnen, um für Berührung empfänglich zu bleiben, sich schließen, um sich zu schützen. Selbst mal trostbedürftig gewesen zu sein, helfe, eine Empfindsamkeit für die Not anderer zu entwickeln. »Wer nie Trost brauchte, hat kaum Sensibilität dafür zu trösten.«
Mit ZEIT REISEN erleben Sie die Welt begleitet von inspirierenden Experten. Entdecken Sie das Besondere einer Region, die schönsten Orte und Kulturstätten. Ausgesuchte Hotels, kulinarische Erlebnisse und exklusive Begegnungen zeichnen unsere Programme ebenso aus wie aufregende Ideen und umfassender Service.
Ihre genussvolle Sonderzugreise führt
Sie von Andalusien über Kastilien bis nach Galicien an die Atlantikküste.
Termine: 30.8. | 17.10. | 22.10.2025
Dauer: 10 Tage | Preis: ab 9.350 €
Bei abwechslungsreichen, anspruchsvollen Wanderungen entlang alter Pilgerpfade durch Olivenhaine und Weinberge entdecken Sie den herrlichsten Küstenstreifen der italienischen Riviera.
Termine: 26.4. | 24.5. | 20.9. | 4.10.2025 | Dauer: 8 Tage | Preis: ab 1.590 €
Höhepunkte:
• Sevilla, Córdoba, Toledo, Aranjuez, Ávila und Santiago de Compostela
• Exquisite Küche und Weine
• Komfortabler Nostalgiezug
Unser aktuelles Reiseprogramm finden Sie online. Oder rufen Sie uns an, wir beraten Sie gern persönlich. 040 / 32 80-455 zeitreisen@zeit.de zeitreisen.zeit.de
Philosophische Reise mit Dr. Peter Vollbrecht an die Ostsee – zu den Räumen des Denkens, der Lebenswelt, der Kunst und Architektur. Inspirierende Raumfahrten im herrlichen Hotel Genueser Schiff.
Termin: 12.5.2025 | Dauer: 6 Tage | Preis: ab 1.890 €
Höhepunkte:
• Naturerlebnis auf wenig begangenen Wegen
• Ligurische Köstlichkeiten genießen
• Weinproben bei engagierten Winzern
Höhepunkte:
• Intensive philosophische Gespräche über unser Dasein
• Kontemplative Strandspaziergänge
• Norddeutscher Frühling zur Rapsblüte
Esth er B a u m , B ergfü h rerin
Bergevon Bürokram erledigt sie mitlinks. Es istein eisigerWeg,den Esther Baum ihre Klettergruppehochführt.Diesmal ist es einzugef rorenerWasserfallinIsland, densie mitihren Kunden erklimmt.Als Jungunternehmerinhat sieeinesteileKarrierevor sich. IhreBuchhaltung macht sie dabeiautomatisch –von unterwegs.Für großeTräumebraucht es jemanden, derdir denRückenfreihält. www.lexware.de