So erholst du dich beim Lesen
Literaturtipps von Iris Radisch
So erholst du dich beim Lesen
Literaturtipps von Iris Radisch
Fast Forward! Klimaneutralität und -anpassung gemeinsam realisieren.
Beim ZEIT WISSEN Kongress bringen wir großartige Expert*innen aus Wirtschaft, Politik und Forschung zusammen und diskutieren die wichtigsten Klimaschutzmaßnahmen, die bereits umgesetzt werden oder noch realisiert werden müssen Mit dabei sind u a Melanie Bergmann, Eckart von Hirschhausen, Claudia Kemfert, Andreas Sentker und Staatssekretär Stefan Wenzel.
Wassind diegrößten Hebelauf dem Weg zur Klimaneutralität? § ?
Waskostetes, unsere Gesellschaft an den Klimawandelanzupassen und wie können wir diese Vorhaben finanzieren? ? ? ?
26. 09. 2024 14 UHR ALTE MÜNZE BERLIN
WiekönnenUnternehmen ihre Produktionsketten nachhaltigergestaltenund welche Innovationen helfen unsimKampf gegen die weitereErhitzung derErde?
Wasdarf undmuss man denBürger*innen in diesemProzess an Veränderungund finanziellerLast zumuten?
diskutierennetzwerken gemeinsam Lösungenfinden
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie man Sex genießen kann, wenn man nicht katholisch ist«, sagte der Mann und sah seinen Tischnachbarn (mich) dabei ernst an. Der Zufall hatte uns nebeneinandergewürfelt, bei einem beruflichen Dinner in Düsseldorf. Das Thema des Abends war Mode, weil hier gerade Modewoche war. Der Mann war Nino Cerruti, der aus der Stofffabrik seines Großvaters ein Modeimperium gemacht hatte. »Weil Sex verboten und das Verbotene reizvoll ist?«, fragte ich. Nein, das war Cerruti zu simpel. »Es geht um die Nähe zu Gott«, sagte er. Katholiken würden wissen, dass Gott es ist, der die Sünde erfunden hat, nicht der Mensch. Wenn der Mensch also sündigt, hat nicht nur er selbst ein Problem, sondern beide, Gott und er, haben eins. Ein Problem, das sie verbindet. »Der Mörder sündigt auch«, sagte ich zu ihm. »Ist auch er beim Töten Gott nahe?« – »Vielleicht«, sagte der Mann neben mir. Seine Augen waren stahlblau. Liebe Leserin, lieber Leser, Sie merken schon: Das wurde kein Abend des gepflegten Small Talks über Kleidungsstücke, sondern einer, den ich nie vergessen habe. Beim Lesen unseres Themas »Genuss, die Zumutung«, Seite 75, musste ich wieder an das lange Gespräch denken. Nino Cerruti ist 2022 gestorben. Er kann meiner Erinnerung nicht mehr widersprechen oder etwas hinzufügen. Aber da wir zwei Katholiken uns damals geeinigt hatten, dass der Tod kein Ende, sondern ein Anfang ist, kann ich ihm zurufen:
Lieber Nino, Ihre Gedanken sind noch sehr lebendig!
Andreas Lebert, ChefredakteurNiels Boeing war früher in Asien, Afrika, Amerika und Ozeanien unterwegs. Warum es ihn heute immer wieder auf dieselbe kleine Insel zieht, beschreibt er ab Seite 18. Auch seinen Blick auf Deutschland hat das Reisen verändert: Es täte gut daran, findet er, sich als Einwanderungsland zu begreifen (S. 68).
Wirüben das Runterkommen –mit unserem compact-Hef t zumThema
Caroline Péron nutzte bei der Illustration unserer Titelgeschichte (S. 18) – so, wie sie es häufig tut –hauptsächlich Buntstifte. Sie hat Kunst in Paris und Chicago studiert und lässt sich beim Gestalten von Farbkontrasten und Körpern, die sich bewegen, von ihren Erfahrungen als Balletttänzerin beeinflussen.
Iris Radisch:
»Lesen ist die Schule des Herzens«
Bei sich und gleichzeitig beim anderen sein. Wie diese Kunst gelingt
6 AM ANFANG DREI FRAGEN
1. Ist die falsche Richtung manchmal genau richtig? 2. Was macht Schönheit mit dem Charakter? 3. Warum sollten wir immer durch die Nase atmen?
12 GEORDNETE VERHÄLTNISSE
Infografiken über Gewicht
14 JUNGES WISSEN, ALTES WISSEN
Charlie Kiehne (22) und Michael Garnier (75) über Baumhäuser
30 »BEIM LESEN FLIESST EIN WÄRMESTROM«
Ein Gespräch mit Iris Radisch 30
38 DEINE OLYMPISCHEN SPIELE
Sieben Disziplinen für den Alltag
46 KUSCHELTIER, TEEKOCHER, JADE-VASE
Von wegen nur Dinge! Eine ernst gemeinte Kontaktaufnahme
54 DAS MODERNE UNTERNEHMEN
Was das heutzutage bedeutet
60 GESPRÄCH MIT DER HORTENSIE
Über das Geheimnis der Beständigkeit
64 ICH + JOB = ?
Wie uns der Beruf verändert.
Vor allem mehr, als Sie meinen!
Was das eigene Leben gelassener macht + Interview: Wie man das Insel-Gefühl im Alltag findet
68 HERZLICH WILLKOMMEN!
Deutschland war schon immer ein Land des Kommens und Gehens
74 FIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIEP!
Es gibt neue Hoffnung: Tinnitus könnte endlich heilbar werden
75 ZUMUTUNG GENUSS
Kaviar und Fernreisen – darf man das noch? Antworten aus 2.500 Jahren Philosophiegeschichte
80 HALT GEBEN
Wie kann man gut für andere da sein?
Teil 2 der Serie über Kraftquellen
86 KÖNNEN BÄUME UMZIEHEN?
Wenn sie lange genug zur Schule gehen
94 RIECHEN, BETASTEN, GENAU HINSEHEN
So erkennt man Qualität beim Fisch
96 WAS DAMALS GESCHAH
Am 8. Februar 1729 knackt Voltaire den Jackpot der Staatslotterie
100 AUF ACHSE
Empfehlungen für Bücher, Filme, Digitales
104 IMPRESSUM / BESTE FRAGE
106 LERNEN VOM WEISSSTORCH
Der Holzweg war nicht immer das, wofür man ihn heute hält. Ob man auf ihm unterwegs ist, kommt auf die Perspektive an
Text Tobias Bachmann Foto Dan WoodWollten meine Freundin, unsere Hündin und ich für ein sonniges Wochenende an die Ostsee fahren, wäre eine Sache logisch: Wir sollten Richtung Ostsee, also in die richtige Richtung fahren. Von Berlin aus in den ICE nach Leipzig zu steigen, wäre falsch. Und es wäre immer falsch, auch an jedem anderen Wochenende. Eine Sache kann nicht richtig und falsch zugleich sein. Auch nicht manchmal. Allerdings ändert sich mitunter im Laufe der Reise die Perspektive.
Würden wir im Zug Richtung Ostsee feststellen, dass sich das Wetter ändert und uns am Ziel ein verregnetes Wochenende bevorsteht, hätten wir für das sonnige Wochenende an der Ostsee die falsche Richtung eingeschlagen. Und auch, wenn wir plötzlich bemerkten, dass wir doch lieber einen Freund in Leipzig besuchen wollten, wären wir, von jetzt auf gleich, in die falsche Richtung unterwegs. Wer sagt außerdem, dass wir uns einig sein müssen? Meine Freundin könnte feststellen, dass sie es schöner fände, mit ihrer Freundin in Kreuzberg tanzen zu gehen, statt mit mir ans Meer oder nach Leipzig zu fahren. Überdenkt man Richtungen nicht allein, sondern innerhalb von Beziehungen, kann für die eine falsch sein, was für den anderen richtig ist.
Gerade in großen Beziehungskonstellationen wie Gesellschaften sei das eher die Regel als die Ausnahme, schreibt die Philosophin Bini Adamczak in ihrem Buch Beziehungsweise Revolution. Es sei leichter, sich misszuverstehen, als sich zu verstehen. Menschen könnten Unterschiedliches zu unterschiedlichen Zeiten wollen, Unterschiedliches zu gleichen Zeiten und Gleiches zu unterschiedlichen Zeiten. Gleiches zur gleichen Zeit zu wollen, sei eher unüblich. Adamczak lebt in Berlin und arbeitet zu politischer Theorie. Nach einer gemeinsamen Richtung zu suchen, sei aber keineswegs
unsinnig, im Gegenteil, das Missverständnis offenbare erst, dass es mehr Mühe braucht, um sich zu verstehen.
Weshalb sich Menschen bei bestimmten Themen besonders schwertun, eine gemeinsame richtige Richtung zu finden, weiß Sally Haslanger. Sie ist Philosophieprofessorin am Massachusetts Institute of Technology und beschäftigt sich seit Jahren damit, wie wir durch die Kultur, in der wir leben, lernen, was wir für richtig und für falsch halten: Bei Rot über die Ampel zu gehen, ist falsch, warmes Essen zum Mittag richtig, ein Arbeitstag hat acht Stunden. Ihr Fachbegriff dafür ist »cultural techné«. Frei übersetzt: gesellschaftliche Gewohnheiten. Diese helfen, den Alltag zu organisieren, sie regeln den Straßenverkehr, das öffentliche Leben. Doch es ist mit den gesellschaftlichen Gewohnheiten wie mit den privaten: Selbst wenn sie schädlich sind, ist es schwer, sie loszuwerden.
Manche merken erst gar nicht, dass sie auf dem Holzweg sind. Anderen wiederum fällt es schwer, sich einzugestehen, dass das, was sie schon immer so gemacht haben, plötzlich falsch sein soll – acht Stunden am Tag arbeiten, zum Beispiel. Andere wiederum sind schneller. Der Holzweg, so heißt es übrigens, war im Mittelalter einer, der genutzt wurde, um in den Wald zu kommen und dort Holz zu schlagen. Waren alle Bäume an der einen Stelle gefällt, brauchte es einen neuen Ort –und einen neuen Weg dorthin. So entstanden im Laufe der Zeit viele Holzwege, die nirgends hinführten als zu kahl geschlagenen Plätzen. Kirchenprediger griffen dieses Bild auf: Sie bezeichneten diejenigen Wege als hölzern, die von Gott wegführten. Auch nicht für jeden die falsche Richtung. Sally Haslanger sagt, wir könnten neue cultural technés erlernen. »Dafür müssen wir miteinander reden.« Das ist auch für meine Freundin und mich bislang eine bewährte Strategie.
Eine Frage, die aufs Glatteis führt.
Um nicht auszurutschen, sollte man das Marilyn-Monroe-Syndrom kennen
Text Anne-Lena Leidenberger Foto Markus Jans
Die Forschung nennt das Phänomen »Schönheitsprämie«, die sozialen Medien diskutieren es unter dem Stichwort »Pretty Privilege«: Attraktiven Personen im Sinne des vorherrschenden Schönheitsideals werden häufig positivere Charaktereigenschaften unterstellt. Sind sie wirklich die besseren Menschen?
Schon im antiken Griechenland glaubten die Gelehrten, dass Schönheit und ein gutes Wesen eng zusammenhängen. Wenn der Philosoph Platon in seinen Dialogen von »schön« sprach, meinte er damit nicht nur, dass jemand äußerlich attraktiv ist, sondern auch moralisch integer. Für die enge Verbindung zwischen schön und gut steht der altgriechische Begriff Kalokagathia. Er kann als Schön- und Gutheit übersetzt werden und bezeichnet das griechische Ideal der körperlichen und geistigen Vollkommenheit.
Ein Blick in die Attraktivitätsforschung zeigt, dass das Schöne und das Gute auch heute noch miteinander assoziiert werden. Menschen, die von Versuchspersonen als attraktiver bewertet werden, gelten zugleich als leistungsfähiger, ehrlicher, freundlicher, intelligenter, durchsetzungsfähiger und sympathischer. Die Wissenschaft spricht vom Heiligenschein-Effekt, dem zufolge wir bei der Beurteilung anderer häufig von bekannten auf unbekannte Merkmale schließen. Das Aussehen einer Person eignet sich für ein solches Urteil besonders gut, da wir es sofort wahrnehmen und innerhalb von Millisekunden bewerten.
Belege dafür, dass Schönheit und Charakter tatsächlich zusammenhängen, gibt es in der Wissenschaft jedoch kaum. Einzige Ausnahme: Extrovertiertheit. Hübsche Menschen sind im Schnitt etwas geselliger als diejenigen, die dem Schönheitsideal weniger entsprechen. Was sich dagegen deutlich zeigt, ist, dass gutes
Aussehen das Leben erleichtern kann. Schöne Säuglinge bekommen von ihren Müttern mehr Zuwendung. Später im Leben erhalten attraktive Menschen mehr Aufmerksamkeit, sie verdienen mehr, und in Notsituationen wird ihnen eher geholfen.
Das Pretty Privilege kann so zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. »Merkt eine Person, dass man an sie glaubt, wird sie häufig auch eher an sich selbst glauben«, sagt Maria Agthe, die an der Universität UMIT Tirol über Attraktivität, Selbstwert und Rivalität forscht. Schöne Menschen werden demnach bevorzugt und stärker gefördert, und das könnte eventuell wiederum dazu führen, dass sie mehr positive Eigenschaften entwickeln. Gerade im Jugendalter könne Schönheit aber auch zu Neid, Ausgrenzung und Einsamkeit führen, sagt Agthe. Tatsächlich gelten einige der schönsten Menschen als besonders einsam. Der Zusammenhang wird Marilyn-Monroe-Syndrom genannt. Monroe galt zu ihrer Zeit als Verkörperung von Schönheit, fühlte sich aber stets ausgenutzt und unverstanden. In ihr Tagebuch schrieb sie: »Ich bin allein. Ich bin immer allein.« Das US-amerikanische Supermodel Cameron Russell sagt in einem der weltweit meistgesehenen TED-Talks über ihre Model-Kolleginnen: »Die haben die dünnsten Oberschenkel, glänzendsten Haare und coolsten Klamotten und sind vermutlich die Frauen auf diesem Planeten, die wegen ihres Aussehens am unsichersten sind.« Gerade weil sie, Russell, sich täglich Gedanken über ihr Aussehen machen müsse, sei sie selbst unsicher. Die US-Psychologinnen Barbara Fredrickson und Tomi-Ann Roberts beschreiben den dahinterliegenden Prozess als Objektifizierung. Wird das eigene Aussehen ständig von anderen Menschen beurteilt, betrachtet man sich selbst irgendwann als Sehenswürdigkeit, die es ständig zu verbessern gilt.
Indigene Völker schwören auf Nasenatmung ebenso wie Yogi-Meister, Hillary Clinton und deutsche Reha-Zentren. Da muss was dran sein
Text Silke Weber Foto Rico Reinhold
Das sogenannte Mouth Taping hat sogar einen Wikipedia-Eintrag: Der erklärt die eigenwillige Praxis, beim Schlafen die Lippen mit einem Streifen Klebeband zuzuhalten, um der Nase sozusagen freie Bahn zu schaffen und ihren größten Konkurrenten, den Mund, auszuschalten.
Hilft das wirklich, besser zu schlafen?, fragte die New York Times , nachdem dieser Trend auf TikTok und YouTube unzählige Videos hervorgebracht hatte. Manche Leute behaupten dort, die Mundatmung könne die Gesichtsform im Laufe der Zeit drastisch verändern und uns geradezu entstellen.
Seltsam. Ist Atmen nicht etwas, was Menschen natürlicherweise tun? Mit Nase – und Mund? Gibt es richtiges oder falsches Atmen?
Richtiges Atmen, erklärt der Wissenschaftsjournalist James Nestor, bedeute, langsamer zu atmen, also weniger Atemzüge pro Minute, und: durch die Nase! Nestors Buch Breath erschien 2020 und wurde ein Bestseller. Ein Großteil des neu erweckten Interesses an der Atmung geht darauf zurück. Für Nestor ist klar, dass der moderne Mensch sich zu weit von seiner Atmung entfernt hat. Er muss sie sich wieder bewusst machen. Mit der gesunden Nasenatmung habe er, Nestor, sich während seiner Buchrecherche von diversen Schwächeleien und einer wiederkehrenden Lungenentzündung kuriert. Auch er klebte sich den Mund zu.
Die Nase reinigt die eingeatmete Luft, wärmt und befeuchtet sie: Die Nasenhärchen fangen Staub, Keime, Schadstoffe ab, und die Nasenschleimhäute befeuchten und erwärmen oder kühlen die Luft wie eine Filter- und Klimaanlage, bevor sie in die Lunge gelangt. In den Nasenpassagen wird zudem Stickstoffmonoxid produziert, das den Lungenbläschen den Austausch von Sauerstoff erleichtert. Die so eingeatmete Luft unterscheide
sich von der Mundatmung wie destilliertes Wasser von einem Froschteich, meinte schon der US-amerikanische Ethnologe George Catlin im 19. Jahrhundert. Catlin hatte zeitlebens indigene Stämme in Nordamerika beobachtet, wurde zu ihrem Chronisten und Anwalt und stellte fest, dass Mütter immer wieder den Mund ihrer Babys mit den Fingern verschlossen, um die Mundatmung und damit Krankheiten zu vermeiden.
Tatsächlich schwören viele alte Kulturen und Religionen auf die Nasenatmung. Für die alten Griechen, Buddhisten, Hindus und amerikanischen Ureinwohner war das richtige Atmen ein Thema. Sieben Bücher des chinesischen Tao (400 v. Chr.) befassen sich mit der Atmung. Die 5.000 Jahre alte Yoga-Praxis ist zuallererst eine Atemtechnik. Nadi Shodana ist eine der bekanntesten Yoga-Atemübungen. Dabei wird durch das linke Nasenloch ein- und durch das rechte ausgeatmet. Studien zufolge vermag diese Übung Stress und Ängste signifikant zu reduzieren. Hillary Clinton hat nach eigener Aussage die Wechselatmung genutzt, um über ihre Wahlniederlage hinwegzukommen.
Durch die Nase zu atmen, senkt den Blutdruck und kann das Risiko für Herzerkrankungen mindern. James Nestor hat zudem Belege dafür gesammelt, dass die Nasenatmung gegen chronischen Stress, schlechte Verdauung und sogar bei erektiler Dysfunktion hilft. Auch Reha-Zentren raten zur Umstellung von Mundauf Nasenatmung »zur Pflege der oberen Atemwege und Schutz Ihrer Bronchien« und stellen Übungen vor.
Eine einfache Übung zu allerletzt: Sex mit krönendem Orgasmus soll die Nasenatmung verbessern. Das fand Cem Bulut, Professor und Facharzt im Hals-NasenOhren-Zentrum Rheinneckar, heraus. Er gewann dafür den Ig-Nobelpreis, der kuriose Forschungsergebnisse auszeichnet, die Lust auf Wissenschaft machen.
Alles auf der Welt nimmt zu oder ab –so ist das Leben. Oft sind ein paar Gramm das Zünglein an der Waage, manchmal Millionen Tonnen. Dazu einige Fakten
Globale Verteilung der Biomasse aller Säugetiere auf der Welt (in Millionen Tonnen)
Haus- und Nutztiere (Top 10)*
Wildtiere Land (Top 10)
Im Anthropozän: Allein die Nutzschweine in den Ställen wiegen fast doppelt so viel wie alle wild lebenden Landsäugetiere
Wildtiere Meer (Top 10)
Finnwale 8
Pottwale 7
Buckelwale 4
Südliche Zwergwale 3
Blauwale 3
Krabbenfresser (Robbenart) 2
Brydewale 1,3
Minkwale 1,3
Sattelrobben 1,2
Grönlandwale 1,1
Untergewicht Übergewicht
Normalgewicht
Gewicht der Erwachsenen in Deutschland, nach Body-Mass-Index
212 g
war Amin schwer, als er 2020 in Singapur geboren wurde – wohl das leichteste lebende Baby der Welt
Grootfontein, Namibia, 1920 Meteorite Island, Grönland, 1894 Chaco, Argentinien, 1969 Hiiraan, Somalia, 2020 Chihuahua, Mexiko, 1600
60 30,8 28,8 15,1 10,1
Auf der Erde gefundene Meteoriten (Gewicht in Tonnen, Fundort, -jahr). Deutschlands größter Meteorit wiegt 30,7 kg, gefunden 1989 in Blaubeuren
Erntemenge der wichtigsten Getreidearten weltweit in Millionen Tonnen
4,2 t in 2-EuroMünzen 1 Million Euro wiegen ...
5,35 kg in 200-EuroScheinen
in 1-CentMünzen
2.422,18 kg
136 kg in 5-EuroScheinen
hob Gregg Ernst 1993 an – zwei Autos inklusive Fahrern. Weltrekord für das schwerste Gewichtheben
Ländliche Wohngebiete
Weideflächen
Ackerland
Zerstörte Meeresböden durch Schleppnetzfischerei
Straßen außerorts
Plantagen
Reservoirs
Eisenbahnen
Geschätztes Gewicht menschengemachter Flächen und Objekte (in Billionen Tonnen). Seit 2020 wiegen alle künstlichen Strukturen mehr als die natürliche Biomasse
Privatjet-Emissionen, die ausgewählte Prominente im Januar 2024 verursacht haben. Zum Vergleich: Der durchschnittliche CO₂-Fußabdruck eines ganzen Jahres beträgt in Deutschland pro Kopf 10,5 Tonnen, davon 2,2 Tonnen durch Mobilität
Unsere Expertin: Charlie Kiehne, 22, hat zwei Jahre lang in einem Baumhausdorf gelebt, um einen Wald vor der Abholzung zu schützen. Heute pflegt Kiehne in Kassel beruflich Bäume und ist in der Klimabewegung aktiv
Mein erstes Baumhaus ist nie richtig fertig geworden, aber die erste Nacht darin war toll. Das war im Alti, dem Altendorfer Wald bei Ravensburg, den wir besetzt haben, um ihn vor der Abholzung zu schützen. Zu wissen, wow, das habe ich selbst gebaut, war faszinierend, weil ich davor selten etwas Handwerkliches gemacht hatte. In der Schule habe ich Lesen gelernt, im Alti, wie ich ein stabiles Baumhaus baue, mit einem dichten Dach: schräg, damit der Regen gut abfließt. Nicht zu spitz, sonst geht im Winter Wärme verloren.
In meinem zweiten Baumhaus habe ich zwei Jahre gelebt. Das hing auf 17 Meter Höhe in der Krone einer Buche. Buchen und Eichen sind ideal – wenn sie unbewohnt sind. Wir wollen ja die Tiere nicht stören. Wichtig ist auch, zu prüfen, ob der
Baum gesund ist: Steht er ein bisschen schief, würde ich da nicht reinbauen. Auch nicht, wenn ein Pilz außen am Stamm zu sehen ist. Der ist dann auch im Inneren. Sind viele nackte Ästchen in der Krone, geht es dem Baum wahrscheinlich nicht gut, und man sucht sich besser einen anderen.
Im Alti gibt es etwa 20 Baumhäuser. Sie verhindern, dass der Wald heimlich für eine Kiesgrube gerodet wird. Und sie schaffen einen politischen Ort. Jedes Wochenende kommen Leute zu Waldspaziergängen vorbei, um sich die Besetzung anzugucken und sich zu informieren, auch Menschen, die selbst aktiv werden wollen.
Wir bauen die Baumhäuser so, dass wir sie schnell zurückbauen können. Schrauben sie nicht an, sondern befestigen sie mit Seilen. Darunter legen wir Holzplättchen als Rindenschutz. Wir wollen den Wald ja nicht
Aufgezeichnet von Tobias Bachmann
Foto
Helena Schätzle
beschädigen, sondern retten. Und in Ruhe lassen, sobald das geschafft ist.
Ich bin vor ein paar Monaten aus meinem Baumhaus ausgezogen. Zuerst fehlte mir der Wind um die Nase. Jetzt vermisse ich es total, jeden Tag zu klettern. Man fühlt sich so frei in den Bäumen. Auch die Gemeinschaft mit den Leuten im Wald fehlt mir sehr. Man verfolgt zusammen ein Ziel und probiert dabei aus, wie man anders zusammenleben und eine bessere Welt schaffen kann: versucht, alles Wichtige gemeinsam zu entscheiden und die Bedürfnisse der anderen zu verstehen. Das ist zwar anstrengend, aber auch superwertvoll und spannend.
Was braucht jedes Baumhaus? Eine Gemeinschaft.
Welche Größe ist perfekt? Sieben bis zehn Quadratmeter: genug für zwei Personen und im Winter schön kuschelig.
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Um entspanntzubleiben,ist fürviele Menschen der Gartendie Nr. 1.Aber wasist eigentlich unsereNr. 1 für Gedächtnis und Konzentration –wenn wirz.B.mal wieder die Gartenschere verlegt haben?
Bei uns allen lässt die Merkfähigkeit im Laufedes Lebens allmählich nach. Denn die Anzahl unserer Gehirnzellen sinkt und die Durchblutungim Gehirnkann sich verschlechtern.Dadurch nimmtauchunseregeistige Leistungsfähigkeit ab.Umsowichtiger wird es dann, sich um seine geistige Fitness zu kümmern.
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Gerade heutzutage ist es wichtig, neben körperlicher Fitness auchdie geistige Leistungsfähigkeit zu stärken. Wir können einiges tun, um unseregeistige Fitness zu verbessern, z. B. unsregelmäßig bewegen, gesund ernähren odersozialeKontakte pflegen.Zusätzlich gibt es Hilfeaus der Natur: das pflanzliche Arzneimittel Tebonin® mit dem bewährten, einzigartigen GinkgoSpezialextrakt EGb 761®.
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Unser Experte: Michael Garnier, 75, hat in seinem Leben Vieles ausprobiert. Heute lebt er in einem dreistöckigen Baumhaus in Oregon, das er selbst gebaut hat. Er gehört zu den Mitbegründern der World Treehouse Conference
Schon als Kind bin ich gerne auf Bäumen herumgeklettert, heute baue ich Häuser rein. Ich hatte Glück, dass ich nie heruntergefallen bin. Seit etwa zehn Jahren lebe ich in einem Baumhaus. Ich habe es auf einer 350 Jahre alten Eiche gebaut. Man sieht von hier aus den Wald und schneebedeckte Bergspitzen. Oft werde ich von Vogelgezwitscher geweckt: Hier leben Falken, Krähen, Raben, Tauben und auch Kolibris. Ich bin stolz auf mein Baumhaus. Es ist hübsch und ziemlich groß, 160 Quadratmeter, es hat zwei Bäder und eine Küche. Von hier oben kriegt man eine andere Perspektive auf die Welt. Wenn du in einem Baumhaus sitzt, schaust du nach unten, wie ein Vogel. Wenn du auf dem Boden bist, schaust du nicht so oft nach oben. Baumhäuser erinnern dich daran, auch mal nach
oben zu schauen. Sie entheben dich irgendwie der Schwere der Realität.
Mein erstes Baumhaus habe ich für meine Kinder entworfen. Ich habe es Jahre später repariert und dann noch zwei weitere gebaut. Ich habe sie vermietet, aber selbst auf dem Boden gelebt. Ich konnte es mir nicht leisten. Ein richtiges Baumhaus kostet mehr als ein normales Haus derselben Größe. In meinem Treesort gibt es 16 Häuser – meine Kinder arbeiten hier inzwischen alle mit. Eins der Häuser ist ein Segelboot-Baumhaus, es hängt an Seilen und bewegt sich. Ich mag es, in den Schlaf gewiegt zu werden. Wie viele Baumhäuser ich gebaut habe, weiß ich nicht. Vielleicht 50, vielleicht 75, ich habe sie nie gezählt. Außerdem habe ich vielen Leuten geholfen, sich ein Baumhaus zu bauen, und ihnen Bauteile dafür verkauft. Aus einer selbst konzipierten Baum-
Aufgezeichnet von Jana Mack
Foto
Tia Reagan
hausschraube haben wir eine Open-SourceTechnologie gemacht. Wer ein Baumhaus bauen will, muss den richtigen Baum wählen. Fichten etwa wachsen zu schnell und werden nicht so alt. Der Baum sollte groß sein, in der Mitte seines Lebens stehen und kräftige Wurzeln haben. Welche Baumart sich eignet, hängt von der Region ab, hier sind es Douglasien. Eichen oder Ahorne sind auch meistens gute Baumhausbäume. Wenn man dem Baum Raum zum Wachsen lässt, hält das Haus länger. Was viele nicht wissen: Baumhäuser verrotten, weil sie der Witterung ausgesetzt sind, man muss das Holz also schützen und immer mal wieder Teile austauschen.
Was braucht jedes Baumhaus? Ein Fenster. Welche Größe ist perfekt? Es muss zum Baum passen, Platz zum Schlafen und Lesen bieten. Oder für einen Tisch.
Zum 75. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland gratuliert die ZEIT auf ganz besondere Art: Mit Sachkenntnis, Leidenschaft und auch mit Augenzwinkern werden 150 typisch deutsche Dinge und Eigenschaften bewertet: Was soll bleiben? Was muss sich ändern? Herausgekommen ist ein kritischer, aber auch humorvoller und zuversichtlicher Blick auf unser Land.
Ihre Vorteile:
– Eine außergewöhnliche Bestandsaufnahme Deutschlands zum 75. Geburtstag
– Unterhaltsam, informativ und überraschend
– Hochwertige Hardcoverausgabe mit Lesebändchen, 304 Seiten
– ZEIT-Extra: Deutschland-Chronik als Poster-Schutzumschlag
Da will ich hin: in ein überschaubares Leben mit einfachen Regeln und klaren Grenzen – aber nicht nur in den Ferien. Wie kann das gelingen?
Beharrlich arbeitet sich die kleine Fähre über beachtliche Wellenberge, die so gar nicht zum wolkenlosen blauen
Himmel passen. Böen aus Nordost jagen das Schiff, treiben Gischt bis in unsere windgeschützte Nische am Heck der Fähre. Über drei Stunden sind wir bereits unterwegs, doch am Horizont ist immer noch nichts zu sehen. Ungeduldig spähe ich von Zeit zu Zeit backbords über die Reling. Dann endlich treten sie aus der Unschärfe der Ferne hervor: die Konturen der Insel. Die letzten Minuten bevor das Schiff anlegt, sind pure Vorfreude. Wie sieht es im Hafen aus? Wer steht am Anleger? Was hat sich im Dorf verändert?
Die Laderampe senkt sich auf die Kaimauer, ein paar Inselbewohner kommen an Bord, um Post, Gemüse und andere Ladung aus dem Bauch des Schiffs zu holen. Wir blicken in freundliche Gesichter, gehen direkt zur kleinen Hafentaverne und begrüßen den Inhaber und seinen Sohn, sie lachen beide – sind schon wieder so viele Monate rum? Sie schenken Getränke ein, wir setzen uns an einen der Tische und blicken der Fähre nach, die schon wieder abgelegt hat. Der Anleger hat sich geleert.
Auf einmal ist da tiefe Ruhe. Nichts ist mehr zu sagen. Nur auf das Meer und ein paar ferne Inseln gucken – und sich freuen. Ihr und eure Insel, sagen Freunde daheim. Ihr wart doch neulich erst auf der Insel.
Ich kann mich nicht erinnern, wann genau mich diese Insel-Faszination erfasste. Anziehend fand ich Inseln immer schon. Auf dem schon fast obligatorischen ersten Asien-Trip, dem Initiationsritus der Generation X, durfte eine Insel nicht fehlen. Bei mir wurde es Koh Phangan im Golf von Thailand, die kleine Nachbarinsel des damals schon gut besuchten Koh Samui. Die ältere Generation der Reisenden jammerte darüber, dass man auf Koh Phangan kürzlich die erste Straße quer durch den Inseldschungel asphaltiert hatte. Das ist der Anfang vom Ende, schimpften sie. Mir hingegen gingen am Nordwestzipfel der Insel die Augen über angesichts der tropischen Idylle.
Es wurden wunderbare Tage, aber ich hatte nicht das Gefühl, dorthin zurückkehren zu müssen. Erst einige Jahre später spürte ich auf Rarotonga, dem Zentrum der Cook-Inseln, zum ersten Mal eine »Islandness«. So bezeichnet das noch recht junge Forschungsgebiet der Island Studies, der Inselstudien, den Wesenskern von Inseln im Unterschied zum Festland der Kontinente. An dieser Forschung sind Soziologen, Geografen, Anthropologen und Ökonomen beteiligt. Bislang tun sie sich schwer damit, Islandness wissenschaftlich zu definieren. Wie übersetzt man das überhaupt: Inselhaftigkeit? Insel-Sein? Verinselung? Einig ist sich die Disziplin nur darin, dass die Insel-Definition des Alltagsverstandes die Sache nicht ganz trifft.
»Nicht alle Inseln sind von Wasser umgeben, noch sind alle Orte, die von Wasser umgeben sind, Inseln«, schreibt der schwedische Kulturanthropologe Owe Ronström von der Universität Uppsala. Einige vollständig von Wasser eingeschlossene Orte (im Original: »places«) widersetzten sich dem Insel-Sein, weil sie groß oder wichtig seien. Großbritannien etwa ist groß und war einst auch wichtig: Sein Empire beherrschte für anderthalb Jahrhunderte die Welt. Sardinien mag nicht wichtig für das Weltgeschehen sein, aber es ist innerhalb des Mittelmeeres riesig, eine der größten seiner Inseln. Von diesen großen Brocken gibt es einige auf der Welt, das riesige Madagaskar, Borneo, aber auch Irland, Kreta, Java. Entfernt man sich auf ihnen nur weit genug von der Küste, erinnert nicht mehr viel an eine Insel. Diese Brocken fühlen sich wie Festland an.
Rarotonga hingegen ist sehr klein. Als ich dort zum ersten Mal am Meeressaum stand, war mir sofort klar: Das da draußen, dieser Ozean, der ist größer als alles, was ich bislang gesehen hatte. Das ist der gewaltige Pazifik, der fast eine Hälfte der Erdkugel bedeckt. Der Horizont bestand aus nichts als einer Linie. Die nächste echte Landmasse, Neuseeland, war sicher mehr als 3.000 Kilometer entfernt.
In meinem Rücken erhoben sich 600 Meter hohe Vulkanberge, deren Gipfel in Wolken gehüllt waren. Die Inselbewohner leben auf einem schmalen Küstenring um das Gebirge herum. Ohne die schützenden Korallenriffe wäre die Insel dem Ozean ausgeliefert. Die Brandung, die in vielleicht hundert Meter Entfernung auf die Korallenbänke krachte, sagte mir unmissverständlich: Hier stehst du auf einem winzigen Fleck in einer gefühlten Unendlichkeit. Du bist nicht wichtig. Diese Verlorenheit traf mich unvorbereitet.
»Remoteness« nennt das die Inselforschung. Echte Inseln sind scheinbar entrückt, außerhalb der Welt, womöglich nicht einmal von dieser Welt der Städte, Autobahnen, Eisenbahnlinien und endlosen Agrarlandschaften. Diese Betrachtung ist allerdings noch nicht so alt.
Erst mit dem Beginn von Aufklärung und Moderne sei ein Bewusstsein dafür entstanden, dass Inseln etwas ganz Eigenes sind, sagt Ronström. Nach und nach nahmen die Europäer bei Inseln den Kontrast zum Leben in den Metropolen wahr. Mit Wörtern wie insular, verinselt, isoliert (von italienisch »isola« für Insel) bekam dieser Gegensatz ab dem 18. Jahrhundert einen negativen Beigeschmack. Als ob Inseln nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich weit entfernt, gewissermaßen in der Vergangenheit stecken geblieben wären.
Mit der sich ausweitenden Industrialisierung wandelte sich der Blick der Europäer: Die entfernte Insel wurde zu einem Versprechen, dass es noch einen anderen Way of Life als die Hektik der Industriegesellschaft geben könnte: beschaulich, ursprünglich, langsam. Was zuvor als rückständig gegolten hatte, wurde nun zu einer
Hoffnung. Die Gemälde von Paul Gauguin um die vorletzte Jahrhundertwende zeichneten ein geradezu mythisches Bild einer friedlichen Inselwelt im Pazifik. Die Moderne schien dort noch nicht angekommen zu sein.
Diese Figur der Ursprünglichkeit, der Abgeschiedenheit hat seither immer wieder Menschen in ihren Bann gezogen. Besonders Künstler, aber auch Dichter, Denker und Wissenschaftler. Werner Heisenberg zog sich im Sommer 1925 nach Helgoland zurück, um sich Klarheit über das Rätsel zu verschaffen, wie die Quantenwelt wirklich funktioniert. In einer sturmdurchtosten
Nacht war sein Geist offenbar besonders wach, wie Carlo Rovelli in seinem Buch Helgoland nachzeichnet. Heisenberg notierte Gleichungen auf Papier, die zur ersten mathematischen Grundlage der damals revolutionären Quantenmechanik wurden.
Den Kanadier Leonard Cohen zog es Jahrzehnte später auf die griechische Insel Hydra. Dort fand er die entscheidende Inspiration für seine Dichtung, die ihn erst als Schriftsteller, dann als Singer-Songwriter weltberühmt machte.
Der Massentourismus hat den Blick noch einmal geändert. Remoteness sei nun nicht mehr nur die reine Entfernung, notierte der US-Historiker und Inselforscher John Gillis vor zwanzig Jahren. Inzwischen bezeichne sie die Schwierigkeit, einen entlegenen Ort wie eine Insel zu erreichen. Der Aufwand und die investierte Reisezeit, idealerweise noch mit erzwungenen Zwischenhalten, machten nun den Unterschied. Das mag einerseits dem Wettbewerb unter Reisenden geschuldet sein, noch irgendeinen Dschungel-Tempel, irgendeinen Strand zu finden, wo nicht schon eine Bude mit kalten Getränken und Souvenirs aufgebaut ist. Alex Garland hat diese Obsession in seinem Roman The Beach eindrücklich beschrieben.
Andererseits hat das Global Village auch Überdruss am allzu leichten, allgegenwärtigen Konsum produziert. Informationen, Waren und Genüsse sind – jedenfalls für Bewohner des Globalen Nordens – sofort verfügbar, ohne Anstrengung. Das gilt selbst für manche Insel. Aber wo jeder schnell und bequem Mallorca erreichen kann, ist es nicht länger entrückt. Kein Versprechen mehr. Keine Remoteness. Keine richtige Islandness. Anders auf der kleinen Kykladen-Insel, in deren Hafen wir die Fähre verlassen haben. Der Frühling hat gerade begonnen, die Vegetation ist saftig grün. Am Dorfstrand umfliegen Hummeln die Blumen. Touristen sind kaum da. Auf dem Weg zu unserem Zimmer grüßen uns zwei Inselbewohner. Irgendwo hinter dem Bambushain hört man jemanden am Haus werkeln, ein Hahn kräht in der Nachbarschaft. Wind raschelt in den Palmen am Rand des Baches, der nur nach den Regenfällen im Winter Wasser führt und in den anderen Jahreszeiten als sandiger Weg ins Innere des Dorfs führt. Alles ist ein Versprechen, dass sich nichts ereignen wird.
Jedenfalls nichts Überraschendes. Die Fähre bringt frisches Gemüse, das ist sicher. Denn viel wächst auf der kargen Insel nicht. Im Dorfladen gibt es in den ersten drei Tagen unseres Aufenthalts nur Zwiebeln und Kartoffeln. Manche Insulaner haben zwar noch ihre eigenen Gemüsegärten, aber die Kiste mit Zucchini und Auberginen ist dennoch schon zwanzig Minuten nach Ankunft der kleinen Fähre leer gekauft. Es gibt Linsen, Reis oder Nudeln, mit Dosentomaten und Zwiebeln. Das muss genügen.
Der britische Schriftsteller James Hamilton-Paterson notierte in seinem wunderbaren Buch Seestücke: »Die Insel wiederholt eine Phantasie menschlicher Anfänge.« Der Mensch komme eigentlich als Insel in die Welt, schrieb er, wenn er neun Monate lang in einer See aus Fruchtwasser lebe und »nur über eine Nabelschnur mit dem Festland verbunden« sei. Der Vergleich ist vielleicht etwas überraschend. Aber James HamiltonPaterson hat recht: Am Anfang unserer Existenz gibt es keinen Überfluss, geschweige denn eine Allverfügbarkeit von Dingen, die einem nur in den Sinn kommen, weil irgendein äußerer Reiz das Bedürfnis nach ihnen getriggert hat.
Die Nabelschnur der kleinen Insel, die mir so viel bedeutet, wie auch die vieler anderer kleiner Inseln ist die Fähre mit ihrem Gemüse. Es ist keine dauerhafte Nabelschnur: Die Fähre kommt nicht täglich. Und bei schlechtem Wetter möglicherweise gar nicht. Deshalb ist ihre Ankunft ein Ereignis, zu dem sich viele Insulaner am Anleger versammeln.
Eine Brücke ist auch eine solche Nabelschnur. Auf der schwedischen Insel Fårö entbrannte in den Neunzigerjahren eine heftige Diskussion über den Bau einer Brücke zur großen Nachbarin Gotland. Eine Abstimmung unter den 500 Fåröern brachte keine Entscheidung: 60 Prozent der Männer seien für die Brücke gewesen, aber 70 Prozent der Frauen dagegen, berichtet Owe Ronström. Vielleicht hatten die Frauen besser verstanden, was die Inselforschung auch festgestellt hat: Eine Insel, zu der eine Brücke – ein Tunnel oder ein Damm – führt, ist nicht länger eine Insel. Sie wird gewissermaßen ans Festland (oder in diesem Fall an eine große Insel wie Gotland) angebunden, mit all dessen Schattenseiten. Mehr Autoverkehr, mehr Touristen, vielleicht auch mehr Kriminalität, mehr Umweltprobleme – und mehr gesellschaftlicher Zwist. Die Sylter können ein Lied davon singen.
Auf der kleinen Kykladen-Insel fehlt das alles. Kein Auto- oder Motorradverleih. Größere Mengen von Touristen nur im Juli und August. Es gibt nicht einmal einen Polizisten. Die Insulaner regeln die Dinge untereinander. Zwischen 120 und 160 Menschen leben hier dauerhaft, ganz genau weiß man es nicht. Die älteren sitzen abends beim Kaffee in der Hafentaverne, die jüngeren bei einem Bier in der Hafenbar. Manchmal
werden die Gespräche abrupt laut, wenn mit Leidenschaft über den Alltag oder die Politik geredet wird.
Bei der Wahl zum Gemeinderat stellen Jüngere in der Taverne eine eigene neue Wahlliste vor. Die halbe Insel ist zusammengekommen, um das Programm zu diskutieren. Darin der schöne, fast schon poetische Satz: »Vor uns liegen nur die Probleme unserer Insel, und die haben keine Farbe.« Dimítri, der Barbetreiber, der früher mal Hochschuldozent an der Universität in Athen war und im Winter immer noch dort lebt, erklärt uns, warum er auf der Insel, auf der er geboren wurde, wählt. Bei rund 100 Wahlberechtigten mache seine Stimme ein Prozent des Ergebnisses aus. In Athen mit seinen Millionen Einwohnern hingegen sei sie nicht mehr als ein Promille von einem Promille wert. Also praktisch wirkungslos. Die Begeisterung zündet, die Wahlliste gewinnt eine Woche später, und am Wahlabend wird gelacht, gegessen und gefeiert. Könnte Demokratie doch immer so nahbar sein, so respektvoll funktionieren, denke ich, obwohl ich natürlich weiß, dass auch hier sich nicht alle grün sind.
Mit solchen Gedanken bin ich nicht allein. Inseln haben von jeher Philosophen und Schriftstellern als Bühne ihrer Ideen und Träume gedient. Platon beschrieb einen glanzvollen und überaus mächtigen Staat auf der Insel Atlantis, der zuletzt an seiner Vermessenheit scheiterte. Es sollte eine Warnung an seine Athener Zeitgenossen sein.
Umgekehrt siedelte Thomas Morus die ideale Republik Utopia in seinem gleichnamigen Buch von 1516 auf einer Insel an. Den Utopiern genügten sechs Stunden gemeinschaftliche Arbeit am Tag, um alles Lebensnotwendige zu produzieren, schrieb Morus, sie litten keinen Mangel, benutzten kein Geld und versorgten die Kranken vorbildlich. Unvorstellbar im Europa des frühen 16. Jahrhunderts. Dass die Utopier zugleich recht puritanisch waren und übermäßige Sinnesfreude verschmähten, war Morus’ katholischem Glauben geschuldet. Das Buch entfaltete eine enorme Wirkung, die bis heute anhält. Sein Titel bezeichnet längst ein eigenes Genre politischphilosophischen Denkens.
Aldous Huxley legte 1962 kurz vor seinem Tod noch einmal eine Alternative zu seiner berühmten Dystopie Schöne neue Welt vor. In Island (deutscher Titel: Eiland) skizzierte er eine Inselgesellschaft, die die sanftmütige Spiritualität des Buddhismus mit der Rationalität der Aufklärung verbunden hat. Weil die Inselgesellschaft um die mitunter desaströsen Folgen gekränkter Männlichkeit weiß, kümmert man sich auf der fiktiven Insel Pala besonders fürsorglich um Jungen, um die »Peter Pans« und die »Muscle Boys«. Ihre Persönlichkeiten sollen nicht vom Testosteron beherrscht, ihre friedfertigen Talente hingegen entfaltet werden.
Dass Inseln zu Bühnen oder sogar Projektionsflächen auserkoren werden, überrascht nicht. Sie sind
Der Mensch kommt als Insel zur Welt. Der Anfang unserer Existenz kennt keinen Überfluss
überschaubare Mikrokosmen, weil das Meer ihnen eine sichtbare Begrenzung gibt. Auf dem Festland ist jede Landschaft immer auch ein Durchgangsgebiet. Händler, Armeen, Flüchtlinge und in heutigen Zeiten auch Heerscharen von Reisenden ziehen hindurch und verändern es unablässig. Alles ist im Fluss, gemächlich in Friedenszeiten, turbulent in Krisen- oder Kriegszeiten. Unser Wissen über Gegenwart und Vergangenheit ist unvollständig, und wir wissen auch nicht, wie sich verschiedene Ereignisse gegenseitig beeinflussen.
Eine stete Veränderung scheint auf Inseln – erst recht auf kleinen – überschaubar. Der Philosoph, der Schriftsteller, der Bauer, der Tavernenbetreiber kann sich auf das Wesentliche konzentrieren. Nichts drängt von außen hinein und bringt alles durcheinander. Der Horizont bleibt, allenfalls ziehen Wolken oder Schiffe über ihn hinweg. Die Überschaubarkeit wird zur Beschaulichkeit. Die winzige Nordseeinsel Neuwerk im Wattenmeer vor Cuxhaven verkörpert das par excellence. Vom 1310 erbauten Leuchtturm aus erscheint die Welt wie eine Spielzeuglandschaft. Alles ist erkennbar. Alles mit einem Blick erfassbar. Wer als Kind eine Spielzeugeisenbahn hatte, findet hier eine Spielzeuglandschaft in der Wirklichkeit.
Nicht nur für Schriftsteller sind Inseln Leinwände, auf die sich Erzählungen auftragen lassen. Auch der Mensch des Festlandes, erst recht der Großstadt, kann auf ihnen neue Aussichten auf das Verstreichen der Zeit, auf die Welt, vielleicht sogar auf sein eigenes Leben entdecken. Der Rhythmus des Alltags auf der kleinen Insel ist gemächlich. Nie sehen wir die Inselbewohner eilen –was man nicht mit Müßiggang verwechseln darf.
Sie arbeiten oft hart, vor allem diejenigen, die das kurze Sommergeschäft mit Touristen betreiben, oder diejenigen, die noch fischen. Doch mürrische oder ernste Gesichter sind selten. Immer scheint Zeit für ein Gespräch zu sein, ob mit den Nachbarn – und das sind im Prinzip alle anderen Inselbewohner – oder mit Gästen. Im Vorbeigehen rufen die Insulaner den anderen etwas zu, das mit Gelächter und freudigen Ausrufen beantwortet wird. Das würde Festländern und Städtern auch gut stehen.
Für unsere Schwimmleidenschaft im kalten Meer, es herrschen noch Wassertemperaturen von 18 bis 19 Grad, erhalten wir von einem alten Inselbewohner ein anerkennendes Lachen. Er ist früher zur See gefahren und freut sich jedes Mal, dass wir uns über das Meer, das Licht, die Insel freuen. »Ja, es ist wunderschön hier«, sagt er in gebrochenem Englisch und strahlt.
Ein anderer Seemann kommt mir in den Sinn, viele Jahre zuvor, auf einer anderen kleinen Insel. Auch er war nach Jahrzehnten zurückgekehrt: nach Aitutaki, einem kleinen Atoll im Pazifik. Er lud mich eines Nachmittags ein, mit ihm am Korallenriff zu schnorcheln. Tauono, so hieß er, nahm seine armbrustartige Harpune Die
mit. Ansatzlos tauchte er vier, fünf Meter ab und schoss einen Fisch. Wieder oben reichte er mir lächelnd das Gerät, ich solle es doch auch einmal versuchen. Ich traf natürlich nicht. Ich fädelte die Harpune wieder in die Holzschiene ein, aber falsch: Beim nächsten Schuss riss die Halterung an der Spitze ab.
Es war mir unendlich peinlich. Aber Tauono sagte nur: »Ärgere dich nicht, es war mein Fehler, ich hätte es dir besser erklären müssen.« Und lächelnd fügte er hinzu: »Float and be happy.« Auch das war nicht aufgesetzt. Ich war tief beeindruckt und bin es heute noch, wenn ich daran zurückdenke.
»Float and be happy« scheint mir eine gute Charakterisierung von Islandness zu sein. Denn den Fluss der Zeit geben das Meer und der Wind vor. Wenn der stark bläst und hohe Wellen in die Dorfbucht einrollen und auf den Anleger krachen, fahren die Fischer nicht raus. Bei Sturm bleibt die Fähre schon einmal mehrere Tage aus. Es lässt sich nicht ändern. Es hat keinen Sinn, damit zu hadern. Der Mensch führt hier nicht die Regie. Ich schaue dann gern in die vorbeifliegenden Wolken. Da, die eine Wolke sieht doch plötzlich wie ein Wildschwein aus, für eine halbe Minute erscheint sie mir so, dann zerfliegt die Form. Eine andere Wolke formt sich zu einem Elefanten, der Rüssel ist ganz klar zu erkennen. Ich bin verblüfft, wie sehr der Mensch darauf konditioniert ist, Augen und Gesichter zu sehen, wo keine sind. Vielleicht ist es ein Relikt der Evolution, aus Zeiten in einer unruhigen Savannenlandschaft. Hier auf der Insel ist es ein Spiel. Auch das sollte ich mit nach Hause nehmen.
Natürlich ist keine Insel immer nur idyllisch. Das ist sie nur in Prospekten der Tourismusindustrie. Wenn ein Gewitter tobt und Blitze die aufgepeitschten Wassermassen in gespenstisches Licht tauchen oder eine Sturmflut auf Strand und Felsen kracht, bekommt der Festländer plötzlich ein Gefühl dafür, was es heißt, ausgeliefert zu sein. Dann kann sich eine Insel wie ein Gefängnis anfühlen. Und wie ein Ort der Verbannung – für die Inseln seit Jahrtausenden missbraucht werden. Selbst die kleine Kykladen-Insel, auf die wir nun schon zwölf Mal zurückgekehrt sind, war in der Antike ein Ort der Verbannung. Als Cicero erfuhr, dass man einen Bekannten zur Strafe hierher geschickt hatte, soll er ausgerufen haben: »Der Arme.«
Inzwischen taucht eine neue Bedrohung auf, die von Weitem nicht ersichtlich ist. Aber als wir über den Strand gehen: In der Saumlinie wimmeln im Seegras kleine blaue Körner. Das ist kein Sand. Sondern Plastik. Die fein zerriebenen Teilchen, millimetergroß, stammen von den blauen Verschlüssen der Trinkwasserflaschen. Es sind zu viele, um sie aufzulesen. Und um sie auszusieben, bräuchte es ein sehr feines Sieb.
Der abstrakte Begriff des Anthropozäns für ein neues Erdzeitalter, in dem die Menschheit den Planeten
massiv verändert, ist hier im Sand plötzlich sehr konkret. Das in die Atmosphäre entlassene Kohlendioxid mag unsichtbar sein. Die blauen Plastikkörner hingegen lassen keinen Zweifel daran, dass etwas Ungutes im Gange ist. Und das bedroht viele Inseln inzwischen unmittelbar in ihrer Existenz.
Wenn der Meeresspiegel infolge des Klimawandels weiter steigt, werden die flachen unter den kleinen Inseln verschwinden. Spätere Generationen werden sie nur noch als Untiefen oder bei Ebbe freiliegende Sandbänke erleben. Es wird eine Welt mit weniger Islandness sein – und das wäre ein enormer Verlust.
Denn tatsächlich verkennt der moderne Blick, der Inseln als abgeschiedene Orte romantisch verklärt, ihre Bedeutung für die menschliche Kulturgeschichte. Auf den griechischen Kykladen haben bereits Jahrtausende vor der athenischen Demokratie Menschen gelebt, gefischt, gehandelt und Heiligtümer gebaut.
Diese Inseln sind nie nur isolierte Punkte im Ägäischen Meer gewesen. Als Archipel sind sie Teil einer maritimen Kulturlandschaft und über weitreichende Verwandtschaftsbeziehungen miteinander verbunden. Meine Lieblingsinsel etwa wurde vor knapp 200 Jahren von vier Familien einer Nachbarinsel wiederbesiedelt, nachdem sie einige Jahrzehnte verlassen dagelegen hatte. Heute haben die Inselbewohner alle Onkel, Tanten, Cousinen, Neffen auf den umliegenden Inseln.
Die Inselforschung misst inzwischen Inseln als Teilen eines Archipels eine neue Bedeutung zu und bezeichnet dies als »archipelagic turn«, als ArchipelWende. Diese maritimen Kulturlandschaften lebten von und mit dem Meer: Es war Verkehrsfläche und Nahrungsquelle zugleich. Man mag sich über altertümliche Meeresgottheiten lustig machen, die die Insulaner verehrten. Aber in dieser Verehrung zeigte sich eigentlich nur die schlichte Erkenntnis, dass die Ozeane der Ursprung des Lebens sind. Auch anderswo auf der Welt sind Inseln und Archipele schon lange Zeit maritime Kulturlandschaften gewesen. Zusammengenommen machen sie nur 1,5 Prozent der Landoberfläche auf der Erde aus. Aber sie beherbergen rund zwölf Prozent aller Unesco-Welterbestätten.
Heute mögen Inseln nicht mehr für ihre kulturellen Dreingaben berühmt sein. Eher geraten sie in die Schlagzeilen aufgrund touristischer Exzesse. Aber die kleinen Inseln und ihre Bewohner haben eine wichtige Botschaft für dieses hypernervöse, überdrehte Anthropozän. Die Botschaft kann nur vernehmen, wer sich Zeit dafür nimmt: Nimm dich nicht so wichtig, Mensch.
Niels Boeing entdeckte auf der Kykladen-Insel seine Leidenschaft für das Schwimmen. Er nahm sie mit nach Hause, und beim Bahnenziehen im Schwimmbad denkt er an die Dorfbucht der Insel. Ihren Namen möchte er für sich behalten.
Fragen an die Psychologin, Philosophin und Autorin
Eva Wlodarek
Interview Niels Boeing und Hella KemperFrau Wlodarek, wie erhält man sich das besondere Insel-Feeling im Alltag?
Das geht nicht auf Knopfdruck. Der Vorsatz allein reicht nicht, man muss es vorbereiten und einüben.
Wie kann man das üben?
Es geht hier ganz praktisch um einen Minimalismus, wie ihn die japanische Autorin Marie Kondo vertritt. Von ihr können wir lernen, mit weniger Dingen zufrieden zu sein. Nur die richtigen sollten wir behalten. Am besten nimmt man jedes Teil in die Hand und fragt sich: Macht mich das glücklich? Bei praktischen Dingen wie Klebstoff oder Schere prüft man, ob man es mehrfach hat. Eine einzige Schere reicht. Es geht darum loszulassen?
Ja, wer viel hortet, plant schlecht. Das ist weniger eine Frage der richtigen Kalkulation. Dahinter steckt meist die Sorge, dass nicht genug von etwas da ist. Etwa Reis oder Nudeln. Handtücher oder Strümpfe. Vor allem, wenn man für eine Gruppe oder Familie verantwortlich ist, will man es gut machen. Es ist oft auch eine Frage des Naturells. Ein ängstlicher Mensch hat alles gerne doppelt und dreifach in Reserve. Da erziehen uns die Fluggesellschaften: Wer nur mit Handgepäck reist, schleppt wenig Ballast mit sich herum ... ... und beschränkt sich auf das Wesentliche. Das ist mit Nachrichten und Social Media ganz ähnlich. Wie kommt man mit weniger News aus? Man sollte feste Zeiten haben und sich dann kompakt informieren. Am besten Nachrichten nur lesen oder hören. Ohne Bilder, keine Videos, denn die prägen sich besonders stark ein. Gut ist es auch, Mitteilungstöne auszuschalten. Pling, schon ist man wieder abgelenkt. Man muss nicht über jedes negative Detail auf der Welt informiert sein. Viel mehr Hoffnung geben gute Nachrichten, etwa auf goodnews.eu. Sie blenden so Teile der Realität aus? Nein, ich wähle meine Quellen bewusst und selektiv aus. Bevor man sich die Welt aufs Display holt, ist es außerdem gut, sich bewusst zu machen, was man seelisch verkraften kann: Halte ich die schlechten
Nachrichten noch aus? Oder war mein Tag schon anstrengend genug?
Aber alltägliche Pflichten, wie Rechnungen bezahlen, muss man erledigen. Ja, aber ich kann mir solche Aufgaben einteilen. Also auch feste Zeiten dafür reservieren und sie dann erledigen. Bloß nicht über den Tag verteilen, dann wirken Kleinigkeiten wie ein schleichendes Gift. Oder auch mal Nein sagen. Die Welt geht nicht unter, wenn man anderen manchmal eine Hilfe verwehrt oder eine Bitte ablehnt. Auf einer Insel ist es leicht, klare Grenzen zu erkennen. Aber im Alltag?
Das muss man trainieren. Am besten fängt man dort an, wo es keine gravierenden Auswirkungen hat. Den Apfel mit Druckstellen am Marktstand zurückgeben. Und bei größeren Herausforderungen in sich reinhorchen: Will ich das jetzt wirklich?
Mal keine Verantwortung zu übernehmen, wie auf einer Ferieninsel, kann erleichternd sein. Warum fällt das vielen Menschen im Alltag schwer?
Das hat etwas mit Vertrauen ins Leben zu tun. Ein guter Weg dafür ist es, ein Tagebuch zu führen! Nach einer Weile überprüfen Sie, worüber Sie sich umsonst Sorgen gemacht haben, was also an negativen Entwicklungen gar nicht eingetreten ist. Oder lassen Sie mal Ihr Leben Revue passieren. Es passiert so vieles, was Sie gar nicht planen können. Auch Gutes. Ich habe an einem runden Geburtstag, da war ich übrigens auf einer Insel, für alles, was mir in den letzten Jahren Gutes passiert ist, einen Kieselstein hingelegt. Am Ende lag da eine lange Kette von Steinen. Ich hatte gar nicht so viel Steine, wie ich hätte legen können. Man hat doch nicht alles in der Hand. Stimmt. Leben ist Veränderung. Es gibt keine Sicherheit. Die Stoiker hatten dazu eine sinnvolle Unterscheidung: Kann ich es ändern? Wenn nein, nehme ich es hin. Wenn ja, werde ich aktiv. Das lernt man auf der Insel. Wind, Wetter, Wellengang – das kann ich nicht beeinflussen. Fährt die Fähre? Gibt es frisches Gemüse? Don’t sweat the small stuff – mach dir keine Gedanken über Kleinigkeiten!
Wenn es auf der Ferieninsel regnet, macht man einen Lesetag. Aber im getakteten Alltag können Kleinigkeiten die ganze Planung kaputt machen.
Die alten Römer haben das unter dem Blickwinkel der Ewigkeit gesehen: sub specie aeternitatis. Ist das in einem Jahr noch wichtig? Dann relativiert sich auch die Verspätung des Busses.
Zum schönen Inselgefühl gehört auch, am Strand zu sitzen oder im Café und einfach mal nur aufs Meer zu gucken.
Das entspannt.
Und im Alltag – ohne das weite Meer?
Gucken Sie Löcher in die Luft. Oder träumen vor sich hin. Das ist auch entspannend. Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen. Da lagen die Frauen und auch die Männer oft auf einem Kissen im Fenster und haben geguckt, was sich draußen abspielt. Das gibt es nicht mehr, aber das sollten wir uns auf andere Weise mal wieder gönnen.
Rausgehen und beobachten. Oder führen Sie ein Dankbarkeitstagebuch. Dafür schreiben Sie abends auf, was Sie an schönen kleinen Dingen erlebt haben. Das gibt einem Vertrauen ins Leben.
Wie kann man das entspannte Gefühl in der Stadt bekommen?
Sie können in den Park gehen und sich an einen Baum lehnen. Oder an den See fahren und aufs Wasser gucken. Oder durch eine schöne Allee laufen. Natur tut gut. Das muss nicht unbedingt Strand sein. Wenn Sie gern im Meer baden, gehen Sie ins Freibad. Lassen Sie sich auf dem Wasser treiben, und stellen Sie sich vor, Sie sind im Meer. Aber das ist doch nicht dasselbe! Stellen Sie sich vor, Sie beißen auf eine Zitrone! Schon spüren Sie in Gedanken die Säure. Unsere Vorstellungskraft ist sehr wirksam, weil unser Unterbewusstsein nicht unterscheiden kann zwischen Realität und Vorstellung. Wenn Sie sich in der Fantasie auf die Insel begeben, ist das so erholsam, als wären Sie wirklich kurz dort gewesen. Sie können sich Ihre Insel jederzeit nach Hause holen.
Auch mit sinnlichen Erfahrungen?
Am besten man bringt etwas von der Insel mit, etwa Lavendelseife oder Pinienzapfen, einen schönen Duft, Olivenöl oder Honig. Die Kehrseite der Insel-Happiness ist das Gefühl von Einsamkeit. Was hilft dagegen?
Aktiv werden. Rausgehen. Sich zwingen, etwas zu machen: Das verändert das Gefühl von Isolation. Jemandem etwas Nettes sagen. Ein Kompliment kann den Tag zum Leuchten bringen. Wir sollten wieder lernen, nicht so misstrauisch zu sein. Auf der Insel vertrauen sich alle. Es hilft auch, anderen etwas zu geben. Das bringt einen wieder in die eigene Kraft und Bedeutung. Aber dafür muss man über seinen Schatten springen und nicht in Selbstmitleid baden.
Wie springt man über den eigenen Schatten? Da habe ich eine gute Methode – die Robotermethode. Sie basiert auf dem Wissen, dass man seine Gefühle nicht aus dem Stand verändern kann. Aber man kann handeln. Wenn Sie sich also einsam fühlen, dann ignorieren Sie sämtliche Gefühle, die Sie vom Ausgehen abhalten wollen, und verhalten Sie sich wie ein Roboter: Stehen Sie auf, ziehen Sie Ihren Mantel an, öffnen Sie die Haustür, und gehen Sie raus. Nach ein paar Mal wird es zur Selbstverständlichkeit. Wie lernt man das inseltypische Sichselbst-nicht-so-wichtig-Nehmen? Mehr zuhören. Weniger reden. Was ich sagen will, weiß ich ja schon.
»Lesen
Dafür gibt es keinen Ersatz«
Können Bücher trösten? In Krisen helfen?
Welche soll man wann aufschlagen?
Verpasst man das Leben beim Lesen? Wie führt man Kinder in die Welt der Geschichten?
Fragen an die große Literaturkritikerin
Iris RadischZEIT WISSEN: Liebe Iris Radisch, angenommen, Außerirdische kämen auf die Erde und würden Sie beim Lesen eines Buchs beobachten und fragen, was Sie da tun – was würden Sie antworten?
Iris Radisch: Wenn mir Außerirdische eine Frage stellen, können sie sich offenbar unterhalten, also würde ich antworten: Lesen ist wie angehaltenes Reden. Man kann das Reden festhalten und morgen noch mal anschauen. Genau das ist der archaische Ursprung des Lesens, nämlich das Erzählte festzuhalten.
Lesen trickst also die Zeit aus. Genauso wie das Schreiben.
Egal ob man schreibt oder liest, man steigt aus dem Zeitstrom aus. Das Geschehen wird schneller oder langsamer. Es sind Zeitsprünge in die Zukunft und in die Vergangenheit möglich. Jede Art von Literatur, egal wie realistisch oder unrealistisch sie ist, muss außerdem unendlich verdichten. Allein einen Tag könnte man ja niemals in seiner Gesamtheit aufschreiben. Schon eine Stunde ist vielleicht unmöglich zu erfassen.
Wenn wir die Gegenwart eins zu eins aufschreiben würden, wäre das wahrscheinlich ziemlich öde.
Es wäre ein interessantes Experiment, ist aber genauso unmöglich, wie alle Zahlen zwischen eins und zwei aufzuzählen. Die Unendlichkeit steckt in jedem gelebten Augenblick. Das Schreiben vereinfacht, weil es eine Auswahl trifft, und zugleich entfernt es sich von dem Film des Sichtbaren. Es verdichtet und vertieft und hat so viele verändernde Funktionen, dass es nicht ganz einfach wäre, einem Außerirdischen das alles zu erklären.
Sie beschäftigen sich seit mehr als 40 Jahren mit Literatur. Empfinden Sie die Welt dadurch anders?
Ich baue alles in meiner Fantasie um. Ich sitze in der Bahn und denke mir zu vielen Leuten Geschichten aus, bis hin zu existenziellen Fragen: Wie lange leben die noch? Wie werden die sterben? Sind sie glücklich? Haben sie schon mal groß geliebt? Mein Alltagsfilm bricht schnell in lauter Geschichten, Fragen und Fantasien auf. Die Literatur hat das sicher befördert, aber ich hatte schon als Kind diesen Blick und bin vielleicht deshalb zur Leserin geworden.
Warum lesen Sie Romane? Durch Sachbücher versteht man die Welt doch viel besser.
Finde ich nicht. Alles, was passiert, hat verschiedene Ebenen. Man kann die Welt nicht nur auf einer faktischen Ebene begreifen, sondern immer auch poetisch, philosophisch, zwischenmenschlich, seelisch, emotional, psychologisch – alle diese Ebenen zugleich bedient fast nur die Literatur. Können wir dadurch die Kriege begreifen, die jetzt geführt werden?
Man kann nicht alles durch Romane verstehen, aber manches an den Machtgelüsten, Nationalismen und Grausamkeiten. Es gibt sehr gute und ergreifende Dokumentationen über Auschwitz, aber den Schrecken wirklich tief empfunden habe ich, als ich Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen las. Das ist das Einmalige an Literatur: Keine andere Kunst macht es möglich, ins Innere der Menschen einzudringen.
Netflix-Serien? Filme?
Die können das vielleicht auch, der Film Der Pianist von Roman Polański hat mich zum Beispiel zum Weinen gebracht. Aber der Film überwältigt einen. Alles ist vorgegeben, die Schnitte, die Blicke. Man sieht die Menschen nur von außen. Man hört sie sprechen, aber man dringt nicht in ihr Inneres vor. Dieses Eintauchen und MichEinfühlen in andere Innenwelten, das gibt es nur in der Literatur. Das ist unersetzbar. Pathetisch gesagt: Wenn wir menschlich bleiben wollen, müssen wir das können.
Lesen als Empathie-Training?
Als Schule des Herzens, Schule des Einfühlens. Dafür gibt es keinen Ersatz. Deswegen ist Lesen mehr als ein Hobby. Ein Nebeneffekt ist, dass man sich selbst fremd werden kann, weil man andere Innenwelten wie real erlebt. Dann guckt man auch viel distanzierter auf sich selbst. Diese Technik ist unglaublich wichtig für Weisheit, für menschliche Reife.
Es muss keine positive Geschichte sein. Überhaupt nicht. Kertész’ Roman ist am Ende rabenschwarz. Albert Camus’ Die Pest, Der Mythos des Sisyphos, Der Fremde, alles rabenschwarz. Aber von so einer seelischen Intensität, dass man sich nie ganz verlassen fühlt, selbst wenn auf der inhaltlichen Ebene nicht viel Trost bleibt. Der Trost steckt in der Intensität.
Wenn jemand keine Bücher liest, könnte man ihn damit locken: Du trainierst eine andere Wahrnehmung der Welt. Die Wirklichkeit wird vielfältiger, poröser,
brüchiger. Wenn man liest, hat man immer im Hinterkopf, dass alles ganz anders sein könnte. Das Lesen trainiert den Möglichkeitssinn wie einen Muskel. Doch ob man dafür Leseförderprogramme auflegen sollte?
Ich weiß nicht. Für mich ist Lesen eine große Bereicherung, aber man wird davon weder reich noch glücklicher, noch hat man materielle Vorteile.
Wenn jemand so viel liest und gelesen hat wie Sie, könnte man auch sagen: Sie haben das echte Leben versäumt.
Das ist nicht ganz falsch. Obsessives Lesen kann uns von der Wirklichkeit ablenken. Während man in der Buchstabenwelt unterwegs ist, kümmert man sich nicht genug um seine Mitmenschen und ignoriert den Rasen, der immer höher wächst. Man lebt in der Illusion, dass die Buchstabenwelt viel interessanter ist als diese Waschmaschinenund Rasenmäher-Welt. Das ist eine Gefahr, dass man das eigene Leben nicht mehr ernst genug nimmt und es vernachlässigt.
Denken Sie manchmal in der normalen Welt: Diese Situation kenne ich schon aus diesem oder jenem Buch?
Ich erkenne nicht konkrete Szenen wieder, aber Muster, die man sich erlesen hat oder in einen Augenblick hineinprojiziert. Muster einer Ehe zum Beispiel. Ich bin so erzogen worden, dass Liebe unbedingt glücken muss. Liebe ist das Höchste im Leben. Aber seitdem ich Proust gelesen habe – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit –, weiß ich, dass das Scheitern der Liebe der Normalzustand ist. Proust hat mich demütiger gemacht.
Sie haben sich viel mit Camus beschäftigt. Auch nicht gerade Erbauungsliteratur. Albert Camus hat mir ein Zauberwort gegeben: das Absurde, was ja bei ihm, anders als man landläufig meint, nichts Negatives ist, sondern eher ein Mittel, um die Schmerzen und das Unvollkommene des Lebens gut auszuhalten. Das Absurde hat bei Camus so etwas Stoisches, auch ein wenig Heroisches, wo man sagt: Ich halte das schon aus, ich habe geistige und moralische Kräfte, die mir helfen, damit klarzukommen, dass nicht alle Geschichten gut ausgehen. Ich kann trotzdem ein gutes Leben führen. Das hat mir unglaublich geholfen. Ohne Camus hätte ich das selbst nie auf den Punkt bringen können. Den Sinn des Lebens für Atheisten?
Der richtige Atheist könnte auch verzweifeln: Ich finde Gott nicht, keiner hilft mir. Aber Camus hat da so eine Härte. Er sagt: Nee, das ist das Leben. Zum Leben gehört das jetzt alles. Auch wenn nicht alles gut wird: Leb mal! Vertrau dem Augenblick. Sind Sie Atheistin?
Also nicht so richtig. Nee. Ich würde auch nicht sagen, dass Camus Atheist war. Große Leser sind immer auch ein bisschen Gottsucher, ohne dass sie sich diesen Gott vorschreiben lassen wollen von irgendwelchen Institutionen oder alten Traditionen. Es ist eine offene Suche nach etwas anderem, was mehr als das Materielle ist. Dass die materielle Welt nicht alles sein kann, das spürt man beim Lesen.
Was spüren Sie da?
Dass es nicht nur darum geht, reich zu werden, zu funktionieren, sich anzupassen und ein ordentliches Leben zu führen. Ich spüre, dass wir diese ganzen Sehnsüchte haben, dass wir Fantasien haben, dass wir Leidenschaften haben, die sich in der materiellen Welt gar nicht erfüllen lassen.
Im Lesen zeigt sich die Suche nach dem Göttlichen und Erhabenen?
Das sind alles schon Namen. Die großen monotheistischen Religionen haben das alles ausbuchstabiert. Das Schöne an der Literatur ist, dass sie ihre eigenen Wege geht. Sie öffnet Räume, die nicht vordefiniert sind, Türen in etwas Unbekanntes. Es ist eine offene Suche. Die Sprachkrise in der modernen Literatur ist ja nicht nur Müdigkeit, sondern der Versuch, den Panzer des Konventionellen und Banalen zu sprengen und tiefere Erfahrungen zu ermöglichen. Was meinen Sie mit Sprachkrise?
Die Erkenntnis, dass die Worte nicht ausreichen. Um 1900 war so viel im Umbruch, die Psychoanalyse entstand, die Relativitätstheorie, später die Quantenphysik, da merkten Dichter und Denker wie Hugo von Hofmannsthal: Unsere Worte und Kategorien erfassen das alles nicht mehr. Wir haben den realistischen Roman – auch wichtig –, der soziale Beziehungen wunderbar beschreibt. Aber da ist noch so viel mehr in der Welt, das unser Verstand und unsere Worte nicht fassen können. Damit fing eine existenzielle Suchbewegung in der modernen Literatur und Dichtung an, die bis heute nicht abgeschlossen ist und die mich ganz besonders fasziniert hat.
Iris
Radisch, geboren 1959 in West-Berlin, ist Redakteurin der ZEIT. Sie moderierte verschiedene Fernsehsendungen, darunter das »Literarische Quartett« neben Marcel Reich-Ranicki. Sie schrieb viel beachtete Bücher wie »Die Schule der Frauen« und »Camus. Das Ideal der Einfachheit«.
Acht Jahre lang leitete Iris Radisch das Feuilleton der ZEIT. Sie hat drei Töchter und wohnt in Berlin und im Wendland, wo die Fotos entstanden sind.
Buchtipps zur Erholung: Buchhändlerinnen empfehlen die beste Sommerlektüre auf unserem Instagram-Kanal @zeitwissen
»Literatur macht es möglich, ins Innere eines Menschen einzudringen. Wenn wir menschlich bleiben wollen, müssen wir lesen«
In Ihrer Dankesrede zur Verleihung des Heinrich-Merck-Preises haben Sie gesagt, dass die Aussicht auf die Mauer in WestBerlin Sie zur Literatur gebracht hat. Wie meinten Sie das?
Wir haben in den 60er-Jahren in BerlinKreuzberg an der Mauer gewohnt mit Wohnzimmer-Blick auf den Todesstreifen. Wo man die Schäferhunde sah, die Militärfahrzeuge. Ich glaube, dass mich diese Absurditätserfahrung unmittelbar zum Lesen gebracht hat. Weil ich für die Irrealität, die ich da erfahren habe, Antworten suchte. Die Gespräche mit meinen Eltern oder in der Schule konnten das nicht auffangen, weil die Menschen um mich herum selbst von der Situation paralysiert waren. Die zerbombten Häuser ringsum, die ganzen Kriegsversehrten, die verstörten Frauen, die traumatisierten Väter. Ich spürte als Kind natürlich, dass das alles verrückt war. Sie haben dann aber keine Sachbücher über die deutsch-deutsche Teilung gelesen, sondern Romane.
Ja. Da sind wir wieder beim Möglichkeitssinn. Durch das Lesen habe ich gemerkt: So, wie es da aussieht, muss es nicht aussehen. So sieht es auch nicht überall aus. Wirklichkeit ist nicht Wirklichkeit und Schluss, sondern Wirklichkeit ist in Bewegung. Das Lesen war meine Rettung. Man muss aber nicht in Trümmern aufwachsen, um eine Leseratte zu werden. Das war meine persönliche Situation. Andersherum kann auch jemand, der in scheinbar sehr stabilen Verhältnissen aufwächst – denken Sie an ein erzkatholisches traditionelles Bauerndorf –, den Wunsch haben, sich wegzulesen oder wegzuschreiben. In der österreichischen Literatur spürt man das bei Josef Winkler zum Beispiel, in der sogenannten Anti-Heimat-Literatur. Unsere aktuelle Titelgeschichte handelt von der Insel. Auf einer Insel entkommt man für eine Weile den Zumutungen der Welt. Wenn man es sich zu Hause gemütlich macht und ein Buch liest, könnte das dieselbe Wirkung haben. Das kann man gut vergleichen, weil man in dieser Situation keinen Ansprüchen genügen muss. Lesen ist ein bisschen wie Wachträumen. Die Realitätsregeln gelten nicht mehr. Ich folge nur dem, was innerhalb dieser Inselsituation gerade passiert. Ähnlich übrigens im Gefängnis, das überhaupt
nur aushaltbar wäre, wenn ich ganz viele Bücher mitnehmen dürfte. Am besten einen E-Reader. Habe ich auch, doch ich lese lieber auf Papier. Aber im Ernst, denken Sie an Jan Philipp Reemtsma, diesen leidenschaftlichen Leser. Was er von seinen Entführern erbeten hat, als er im Keller eingesperrt war, waren Bücher. So eine Situation war nur lesend zu ertragen. Sind Bücher für Sie wie Freunde?
Wenn sie nicht da sind, bin ich jedenfalls unglücklich. Wohnungen ohne Bücher sind für mich sehr kalt. Bücher sind ein stummes Versprechen. Wenn ich sie alle zu Hause habe, habe ich so viele Fenster in die Welt, ins Weltall, so viele Gedanken, so viel Poesie auch – über Lyrik haben wir noch gar nicht gesprochen, die so tiefe Assoziationen und innere Bilder wachrufen kann. Man ist ja nicht nur ein Verstandesleser, sondern liest als der ganze seelisch-körperlich-intellektuelle Mensch, der man ist. Nehmen Sie in schwierigen Situationen bestimmte Bücher zur Hand?
Ich war schon mal sehr krank, und das Lesen hat nicht aufgehört. Das war eine unglaubliche Stütze. Ich hätte vorher nicht gewusst, was ich dann lese. Es hat mich überrascht, was ich nicht mehr ertragen habe und was sich dann plötzlich als ganz wunderbar und lebenshelfend erwiesen hat.
Zum Beispiel?
Fontane hat mir wahnsinnig gutgetan. Dieses Humorvolle und Gütige, dieser stoische Wille, dass die Dinge nicht völlig zerfallen. Wohingegen ich Thomas Mann, den ich noch nie wirklich mochte, überhaupt nicht mehr vertragen habe. Dieses Angeberhafte, Süffisant-Ironische und Großbürgerliche konnte ich, weil ich selbst so schwach war, nicht aushalten.
Lesen Sie Bücher auch mehrmals? Klar.
Das geht doch auf Kosten von neuen Entdeckungen. In Deutschland erscheinen Zehntausende Titel pro Jahr. Ich habe große Lust, vieles noch mal neu zu lesen, für das ich früher vielleicht zu jung war, um es ganz zu verstehen. Den Mann ohne Eigenschaften zum Beispiel. Und Goethe, den ich ehrlich gesagt im Germanistikstudium zuletzt richtig gelesen habe. Stimmt es, dass Sie Ihre Töchter nach Romanfiguren benannt haben?
Eine heißt Tonka, so wie eine Figur bei Robert Musil in den Drei Frauen. Mascha gibt es bei Tschechow. Meine dritte Tochter heißt Valja, aber ich kenne keine Romanfigur, die so heißt.
Sie legen es darauf an, Wirklichkeit und Fiktion zu vermischen.
Nein, das hatte eher phonopoetische Gründe. Ich mag die drei »i« in meinem Namen nicht. Ich wollte für meine Kinder diese beruhigenden tiefen A- und O-Laute. Es heißt nicht umsonst »Mama«. Klänge lösen etwas aus. Angefangen bei Zauberformeln, die in der Menschheitsgeschichte die ersten Gedichte waren. Bis hin zur Lyrik, wo der Klang auch so wichtig ist. Worte haben eine ungeheure Macht. Diese Qualitäten werden erst in der Literatur richtig freigesetzt, weil sie die Sprache aus ihrem banalen Funktionieren herauslöst.
Wie sollten sich Neulinge der Lyrik nähern? Laut lesen. Unbedingt.
Wenn Sie als Berufsleserin einen Roman in die Hand nehmen, wie gehen Sie dann vor, wie lange hat der eine Chance? Ich bin sehr sprachempfindlich. Wenn ich auf abgegriffene Sprachbilder stoße, auf das Seichte, Banale, Konventionelle, dann vergeht mir die Lust. Auch wenn die Geschichte, die erzählt wird, spannend ist. Auch wenn Sie erst auf Seite zwei sind? Auch dann. Das kann sehr schnell gehen. Gut schreiben ist gut denken. Und schlecht geschrieben ist schlecht gedacht.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Abgegriffenes Zeug. X-Mal verwendete Stereotype. »Eine seichte Brise strich über ihr Gesicht«, irgend so ein nur so dahingesagter Kram. Das ist unverzeihlich. Das macht mich tot, das klebt mich zu, das sperrt mich ein in den banalen Sprachfilm, den ich selbst schon im Kopf habe, ich bin selbst nicht frei davon. Aber ich will da raus. Literatur ist die Befreiung aus dieser Banalität.
Sie wollen Originalität?
Ich will nichts Vorgedachtes. Keine Gedanken- oder Sprachformeln, keine Floskeln. Wobei, es gibt großartige Literatur, die Formeln bewusst verwendet. Flaubert! Der nutzt Floskeln, um uns darauf aufmerksam zu machen, was sie auslösen. Er beschreibt Menschen, die in Stereotypen feststecken, in konventionellen Vorstellungen über die Liebe, über Erfolg. Sie sind gesellschaftlich formatiert und kommen aus diesen Prägungen
Erholsame Empfehlungen von Iris Radisch
Es gibt Sommer- und Winterbücher. Bücher, die sich für die Lektüre in der Sonne eignen, und Bücher, die eher Kerzenschein vertragen. Zu den Sommerbüchern, die ich sehr mag, gehört Im Sommer von dem norwegischen Autor Karl Ove Knausgård. Darin sind herrlich schwebende Momente aus seinem Landhaus in Südschweden eingefangen. Es gibt federleichte Miniaturen über verschwundene Eiscreme-Sorten und Schmetterlinge und Skizzen über Birken und Kastanienbäume. Das alles, wie immer bei Knausgård, garniert mit Reflexionen über Gott, die Kunst und das schwierige Familienleben. Ein ähnlich im nordischen Landsommer schwelgendes Buch ist das gerade aus dem Nachlass erschienene Tagebuch der Dichterin Sarah Kirsch (1935 bis 2013) Der Sommer fängt doch so an! Die Dichterin sitzt darin im Sommer 1990 schon morgens gegen 6 Uhr mit ihrem »Koffie« in der Küche, hört den Seewetterbericht und schwärmt vom weiten »feuchtblauen Himmel mit meergrauen Wolken« hoch oben im Norden. Nebenbei kommentiert sie die deutsch-deutschen Wiedervereinigungsdramen im fernen Berlin und freut sich, dass sie diesem »Bleedsinn« in ihrem Landkönigreich in Schleswig-Holstein so wunderbar entkommen ist: »Mein Gott isses schön hier! Genau an dieser Stelle des Planeten!«
Zu allen Jahreszeiten lesen sich sehr gut: Die schönsten Geschichten von Alice Munro, Ferne Verabredungen; die geheimnisvolle Paris-Geschichte Treibgut vom Altmeister Julien Green, die gerade neu übersetzt wurde; und der vielleicht eleganteste und humorvollste deutschsprachige Roman der Frühjahrssaison: Heilung von Timon Karl Kaleyta.
nicht mehr raus. Man spürt diese Enge und denkt: Wie kann diese Bovary denn so blöd sein? Diese Stereotype so zu verwenden, dass man die Enge beim Lesen geradezu miterlebt, das muss man können.
Zeitgenössische Werke können das nicht? Manche schon. Manchmal werde ich gefragt, ob ich denn wenigstens in den Ferien Unterhaltungsliteratur lese, um auch mal zu entspannen. Nein, ich ertrage das nicht. Denn Unterhaltungsliteratur benutzt Stereotype eben nur affirmativ. Die werden in meinem Kopf dann beim Lesen bestätigt, dabei will ich sie doch endlich mal loswerden. Auch in den Ferien. Die Handlung eines Romans ist Ihnen nicht so wichtig?
Da bin ich vielleicht speziell. Mir ist die innere Stimme des Autors wichtig. Dass ich höre, hier hat jemand eine besondere Sicht auf die Welt. Das muss nicht durchgeknallt sein. Es kann realistisch sein wie bei Fontane. Nur keine Stereotype, bitte. Nehmen wir also an, die Sprache des Buchs findet Ihre Gnade. Was dann?
Dann tauche ich ein. Ich springe nicht hin und her zwischen den Seiten. Mit Bleistift mache ich mir Notizen. Deswegen lese ich auch lieber auf Papier. Selbst wenn mir ein Buch vielleicht doch nur halb gefällt: Dieses Wegtauchen, dieses Näheverhältnis mit dem Text ist trotzdem immer eine Freude. Da fließt ein Wärmestrom, sodass ich dann auch wirklich alles bis zu Ende lese.
Gleichzeitig müssen Sie den Text aber für die Rezension intellektuell durchdringen. Ist das nicht ein Widerspruch zum Loslassen und Eintauchen?
Es geht nicht anders. Was der Kopf denkt, muss durchs Gefühl beglaubigt werden. Erwarten Sie von Menschen in Ihrer Gegenwart dieselbe Tiefe, die Sie in der Literatur finden? Oder sind Sie mit Menschen gnädiger als mit Büchern?
Ich höre Menschen gern zu. Wenn die Geschichte, die mir jemand erzählt, nicht so interessant ist, achte ich vielleicht auf die Gestik, den Gesichtsausdruck, die Mimik. Irgendetwas Eigenartiges und Berührendes ist da immer. Aber ich bin schon sehr allergisch gegen zu große Konventionalität. Eine Woche auf einer Insel mit jemandem, der so redet, wie ich es langweilig finde –das könnte anstrengend werden. Macht Lesen einsam?
Eigentlich nicht, weil man immer diese vielen Stimmen um sich hat. Wenn ich allein zu Hause bin, habe ich die vielen Tausend Bücher bei mir. Aber wenn man exzessiv liest, entfernt einen das ein wenig von den Menschen, die nun gar nicht lesen. Über diese Brücke muss man dann gehen.
Schauen Sie Serien, über die man sich mit Ihnen unterhalten kann?
Das würde ich schon machen, aber ich lese einfach so gern, dass ich meine Abende dann doch lieber mit Büchern verbringe. Wie viele Stunden pro Woche?
Ich lese eigentlich fast immer.
Gleich nach dem Aufwachen?
Ja. Es ist eine Sucht. Eine Mischung aus Sucht und Beruf. Wenn ich nicht mehr lesen könnte, das wäre wahrscheinlich das Schlimmste.
Wenn Sie Eltern einen Rat geben, wie sie ihr Kind ans Lesen heranführen können ... Vorlesen. Sofort. Und noch früher Bilder zeigen und dazu etwas erzählen. Es ist so eine wertvolle, intime Situation. Genauso übrigens, wie an einem Krankenbett vorzulesen. Manchmal weiß man da ja gar nicht mehr, was man noch reden soll. Durch das Vorlesen erlebt man gemeinsam eine Geschichte. Das ist wunderbar.
Welche Zauberkräfte haben Sie gegen die Verführung der sozialen Medien?
Keine. Ich nutze Smartphone, Facebook, Twitter – vor allem wegen Klatsch und Tratsch. Der Gustav Seibt von der SZ macht also wieder eine Radtour durch die Uckermark – weiß ich dann alles. Auch was es bei ihm zu essen gab, das ist doch herrlich. Für viele junge Menschen haben soziale Medien die Bücher abgelöst.
Das ist aber nicht wirklich lesen. Da fehlt das Eintauchen, denn dafür braucht es die Langstrecke. Ob junge Menschen das tiefe Lesen verlernen? Ich weiß es nicht. Jetzt kommt die erste Generation, die komplett damit aufwächst. Vielleicht wird sie anders lesen. Aber das menschliche Urbedürfnis, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen, in Möglichkeiten zu leben, die Welt zu vertiefen, anzuhalten, zu öffnen – das wird nie verschwinden.
Andreas Lebert und Max Rauner interviewten Iris Radisch vor einer riesigen Bücherwand. Wenn Bücher um uns sind, kann uns nichts passieren, sagte sie. Die beiden fühlten sich sofort geborgen
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Wer bei Olympia antritt, braucht mentale
Superkräfte. Hier verraten Athletinnen und Sportpsychologen, was wir vom Spitzensport für den Alltag lernen können
Text Max Rauner
Der olympische Siebenkampf beginnt mit 100 Metern Hürdenlauf. Es folgen Hochsprung, Kugelstoßen und 200 Meter Sprint. Am nächsten Tag Weitsprung, Speerwurf und zum Schluss die 800 Meter. Aber da sind noch mehr Disziplinen. Sie sind unsichtbar und stehen in keinem Regelwerk. Ohne sie ist Gewinnen so gut wie unmöglich. Konzentration, Resilienz und Motivation gehören dazu. Das Mentale. Die Kopfsachen.
Jens Kleinert leitet das Psychologische Institut der Deutschen Sporthochschule in Köln und hat Erfahrungen als Trainer, als Sportpsychologe, als Sportler. Er sagt: »Das Körperliche ist natürlich die Grundlage,
außerdem Technik und Strategie einer Sportart. Aber um alles im richtigen Moment abrufen zu können, braucht es den Kopf. Der steuert, mit welcher Inbrunst und in welcher Gefühlslage ich antrete.«
Mentale Stärke braucht man nicht nur im Finale von Olympia, sondern auch im Training, um sich immer wieder neu zu motivieren. Und vor allem dann, wenn es nicht so gut läuft. Der Spitzensport ist wie ein Psycholabor. Hier wurde das psychische Rüstzeug entwickelt, um Niederlagen zu verdauen und Druck auszuhalten.
Von den Erkenntnissen können wir alle profitieren. Für diese Recherche haben Olympionikinnen und Sportpsychologen ihre mentalen Techniken offengelegt. Für den Siebenkampf des Lebens. Fertig? Los! Überwinde erst mal ein paar Hürden.
Christiane Reppe hatte verloren, bevor sie gestartet war. Bei den Paralympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro hatte sie 2016 noch Gold im Handbike-Rennen gewonnen (Handbikes sind Liegeräder mit Handkurbeln). Anschließend trainierte sie ein Jahr lang für ihren nächsten großen Traum: Doppelgold bei der Weltmeisterschaft 2017 in Südafrika. Im Straßenrennen wie im Einzelzeitfahren zählte sie zu den Favoritinnen. Doch zwei Wochen vor der Abreise stellte sich heraus: Der Verband hatte vergessen, sie anzumelden.
»Ich hätte sagen können: O Gott, alle sind gegen mich, und das ist alles so schlimm«, sagt Reppe heute. »Stattdessen habe ich mir gesagt: Ich akzeptiere das jetzt. Es ist ein Schock, aber ich fahre da trotzdem mit hin.« Wozu? Um die anderen anzufeuern.
In der Psychologie gibt es den Ansatz der radikalen Akzeptanz: Nimm die Realität so an, wie sie ist, ohne sie zu bewerten. Das bedeutet nicht, dass man resigniert. Sondern dass man sich bewusst dafür entscheidet, auch die schmerzhaften Erfahrungen und Gefühle anzuerkennen, um dann konstruktiv
mit ihnen umzugehen. Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.
Christiane Reppe hat nur ein Bein, das linke. Als sie fünf Jahre alt war, entdeckten Ärzte im rechten Bein einen bösartigen Tumor und rieten zur Amputation. Heute ist Reppe 36 Jahre alt und hat schon dreimal die Sportart gewechselt. Angefangen mit Schwimmen (Bronze bei den Paralympics in Athen 2004), dann Radsport (Gold in Rio 2016), dann Paratriathlon (WM-Dritte 2019). Nebenher absolvierte sie ein BWLStudium. Anschließend gründete sie eine Firma und verließ sie wieder.
Manchmal machen Menschen ihr Komplimente. Wie sie das alles schaffe, toll!
Ziele sind auch nicht verkehrt. Bei Olympia eine Medaille gewinnen zum Beispiel. Marktführer werden. Ein Haus bauen. Die Welt retten. Aber ohne etwas kürzere Etappenziele leidet die Motivation. Reppe hat von ihrem Handbike-Trainer stets Pläne für die kommenden zwei bis drei Wochen bekommen. Alle drei bis vier Monate stand ein Leistungstest auf dem Plan. Einmal im Jahr die WM. Alle vier Jahre Olympia. Ziele sollten »smart« sein, heißt es aus der Psychologie: spezifisch, messbar, anpassbar, realistisch, termingebunden. Die Konstanzer Psychologin Julia Schüler gibt im Handbuch Sportpsychologie ein Beispiel: »Ich will einen Halbmarathon laufen« ist ein schlechtes Ziel. Zu vage. Motivierender sei das Ziel: »Es soll der Halbmarathon in Zürich sein, den ich in einer Zeit unter zwei Stunden laufen will (spezifisch). Ein Teilziel ist, dass ich bis Ende dieses Monats eine Stunde am Stück laufen kann, in drei Monaten zwei Stunden am Stück. Im vierten bis sechsten Monat will ich besonders an der Lauftechnik und an der Geschwindigkeit arbeiten (kurzfristige Teilziele). Mein Ziel ist es, im Training ein gutes Laufgefühl zu entwickeln (Prozessziel) und mit meiner Leistung in Zürich etwa im Mittelfeld zu liegen (Ergebnisziel).«
Wenn die Ziele zu hoch gesteckt sind, bewirken sie das Gegenteil. Sie demotivieren, denn dann dominiert die Versagensangst. Von solchen Zielen sollte man Abschied nehmen, rät Schüler. Du kannst alles schaffen? Nein. Manchmal eben nicht.
Die Olympionikin Christiane Reppe sagt, gerade im Job habe sie gelernt, eine Leiter nicht nur an die Wand zu stellen und schnell hochzuklettern. »Wichtiger ist, zu gucken, an welche Wand ich die stelle.« Das nächste Ziel ist eine Weiterbildung, danach möchte sie wieder gründen.
Wenn die Ziele zu hoch gesteckt sind, demotivieren sie. Dann dominiert die Versagensangst
Sie könne die Reaktion verstehen, sagt Reppe. »Aber es gibt keinen Grund für Mitleid, weil ich alles machen kann. Ich habe einfach nur ein Bein, mehr ist es nicht.« Kurzfristige Ziele seien superwichtig, sagt sie. Klar, große
Bei der Weltmeisterschaft in Südafrika hat sie am Ende doch noch beide Goldmedaillen gewonnen. Das hatte allerdings weniger mit der Psychologie zu tun als mit ihrem Vater. Drei Tage vor dem Rennen, sie war schon vor Ort, erlaubte der Weltverband überraschend ihre Nachmeldung. Christiane Reppe war allerdings ohne ihr Handbike angereist. Ihr Vater setzte sich ins nächste Flugzeug und brachte es ihr.
Sanni Beucke zählt zu den besten Seglerinnen der Welt. Sie hat bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021 zusammen mit Tina Lutz die Silbermedaille gewonnen – in der Bootsklasse 49er FX, einer Art Formel-1 des Jollensegelns. Dann wechselte sie zum Hochseesegeln. Über die Hochs und Tiefs auf ihrem Weg hat sie das Buch »Gegen den Wind« geschrieben.
ZEIT WISSEN: Sie trainieren für die härteste Regatta der Welt, die Vendée Globe. Was ist daran hart?
Sanni Beucke: Man segelt allein um die Welt und passiert die gefährlichsten Seegebiete, die es gibt. Wochenlang ist man auf sich gestellt. Wenn im Südpolarmeer etwas passiert, dauert es Tage, bis Hilfe da ist.
Kevin Escoffier, mit dem Sie eine Etappe beim Ocean Race gesegelt sind, wäre bei der letzten Vendée Globe im Südpolarmeer fast umgekommen, weil sein Boot durchgebrochen ist. Wie bereiten Sie sich auf solche Szenarien vor?
Darauf kann man sich nicht vorbereiten. Man muss darauf vertrauen, dass man den richtigen Instinkt zur richtigen Zeit hat und dann alles aus sich herausholen kann.
Kevin hat innerhalb von Minuten genau das Richtige getan … … SOS gefunkt und die Rettungsinsel aktiviert.
Und deswegen hat er überlebt. Aber natürlich, man muss verrückt sein, um an so einem Rennen teilnehmen zu wollen. Und viel Vertrauen haben, dass es gut ausgeht. Woher haben Sie Ihre Hartnäckigkeit?
Ich bin an der Ostsee aufgewachsen und hatte schon immer ein extrem starkes Bedürfnis, aufs Wasser zu kommen. Olympia hat mich natürlich motiviert, aber ich habe danach nicht mit dem Segeln aufgehört. Was haben Sie als Olympionikin über Ausdauer gelernt?
Manche Leute sind frustriert, wenn sie ein Ziel in einem halben Jahr nicht erreicht haben. Für mich hat Olympia 15 Jahre gedauert. Nach dem zweiten Versuch, mich zu qualifizieren, dachte ich, das wird nichts mehr. Noch mal vier Jahre trainieren. Aber dann habe ich am eigenen Körper erlebt, wie es ist, wenn man nicht aufgibt und am Ende mit einer Medaille nach Hause kommt. Ich habe verinnerlicht, dass wahrer Erfolg lange dauert. Man muss viele Berge und Täler durchlebt haben, um sich wirk-
Fokussiert bleiben, im Wettkampf wie im Beruf – dabei helfen die gleichen mentalen Techniken. Das Foto zeigt die Österreicherin Ivona Dadic beim Siebenkampf in Rio 2016
lich gut nennen zu dürfen. Und es geht weiter so auf und ab. Ich bin nicht vom Ergebnis motiviert, ich liebe den Prozess. Welchen Rat haben Sie für uns NichtOlympioniken?
Ein Ziel zu verfolgen, ist anstrengend, weil es Veränderung bedeutet. Deshalb würde ich mir überlegen, welche ein, zwei Ziele einem wichtig sind. Sonst steckt man sich zu viele Ziele und erreicht am Ende keines davon. Also aussortieren, was unwichtig ist. Und dann seinen Zielen treu bleiben. Was ist Ihr großes Ziel?
Immer ankommen, egal auf welchem Platz.
Im Spitzensport zählt jede Sekunde. Man darf nicht den Fokus verlieren und muss im entscheidenden Moment seine Gedanken bündeln wie ein Laserpointer das Licht. Michael Phelps schien als kleiner Junge nicht das größte Talent dafür zu haben. Seine Mutter Deborah erinnerte sich später an die Worte der Erzieherinnen im Kindergarten: Michael kann nicht still sitzen, er kann nicht ruhig sein, er kann sich nicht konzentrieren. In der Grundschule meinte eine Lehrerin: »Ihr Sohn wird sich niemals auf irgendetwas konzentrieren können.«
So kann man sich irren. Der Schwimmtrainer Bob Bowman schenkte Michaels Mutter ein Buch über progressive Muskelentspannung. Abends übte sie mit ihrem Sohn, sich zu entspannen. Außerdem lernte Michael, sich mithilfe von Visualisierung auf Wettkämpfe vorzubereiten. Er spielte Rennen in Gedanken mal aus der eigenen Perspektive durch, mal aus Zuschauersicht. Er stellte sich vor, was schiefgehen könnte, etwa dass vor dem Start der Schwimmanzug einreißt. Phelps wurde der erfolgreichste Olympionike aller Zeiten: Er gewann 28 Medaillen, davon 23-mal Gold.
»Das Wichtigste, was mich während meiner gesamten Karriere ausgezeichnet hat, war meine mentale Stärke«, sagte Phelps später, »alles, was zwischen den Ohren passiert.« Einen Monat vor wichtigen Wettkämpfen begann er damit, sich vorzustellen, was im Rennen passieren könnte, was passieren sollte, was nicht passieren sollte. Bob Bowman sagte: »Die Visualisierung muss möglichst lebendig sein und sehr oft wiederholt werden. Wenn Michael bei einer WM
oder bei Olympia auf dem Startblock steht, ist er das Rennen bereits Hunderte Male im Kopf geschwommen. Der Autopilot springt an, und der Körper weiß, was zu tun ist.«
Die Visualisierung aktiviert Motorareale im Gehirn und hilft, Bewegungsabläufe zu perfektionieren. Die ParalympicsSiegerin Christiane Reppe erzählt, dass sie vor wichtigen Straßenrennen die Strecken auf Video aufgenommen hat und später immer wieder in Gedanken abfuhr, um sich die Schlaglöcher einzuprägen. Visualisierung kann auch der Stressbewältigung dienen. Als Reppe beim Semperopernball 2018 in Dresden geehrt werden sollte, sollte sie vor ein paar Tausend Menschen eine Dankesrede halten. »Das habe ich mir immer und immer wieder vorgestellt«, sagt sie. »Und genau so war es dann auch.«
Selbstgespräche können die Visualisierung unterstützen, sagt der Sportpsychologe Jens Kleinert, das gelte auch für stressige Situationen im Beruf. »Vor einem Meeting, in dem ich einen wichtigen Vortrag halten muss, kann ich mich emotional in eine positive Stimmung bringen.« Man sagt sich: Du hast schon oft gezeigt, dass du das kannst, und ruft sich ähnliche Situationen
– »Moments of Excellence« genannt – ins Gedächtnis. Man geht die Präsentation in Gedanken durch, wiederholt die wichtigsten Punkte im Einstieg und am Ende.
Die Eiskunstläuferin Aljona Savchenko erzählt, sie habe sich im Training oft vorgestellt, sie würde in einem Wettkampf vor 20.000 Menschen und ihren Lieblingspreisrichtern laufen. »Und andersherum habe ich mir beim Wettkampf vorgestellt, ich wäre
durch den Kopf gehen lassen und dann erst in mein Laufen übertragen.« Einmal durfte sie wegen einer Verletzung zwei Monate lang nicht aufs Eis. Stattdessen übte sie Sprünge im Kopf, während sie die entsprechenden Muskeln anspannte. »Ich kam zurück aufs Eis, und die Leute dachten, ich hätte heimlich woanders trainiert.«
Wer eine Prüfung bestehen muss, kann sich vom Sport die Technik der Visualisierung abschauen
im Training, um die nötige Gelassenheit zu haben.« Savchenko meldet sich per Videocall von der Eishalle in Chemnitz. Jahrelang hat sie hier trainiert, inzwischen arbeitet sie selbst als Trainerin, gemeinsam mit Robin Szolkowy. Sie hat an fünf Olympischen Spielen teilgenommen. Mit Szolkowy holte sie zweimal Bronze im Paarlauf.
»Körperliche Stärke ist wichtig«, sagt sie, »aber die mentale Stärke ist noch wichtiger. Oft habe ich mir Elemente zunächst
Ein Viertel der Athletinnen und Athleten geht zu hart mit sich ins Gericht. Dagegen hilft Selbstmitgefühl-Training. Unten: Jessica Ennis-Hill auf dem Sprung zur Silbermedaille
Die Olympischen Winterspiele 2018 in Pyeongchang waren Savchenkos letzte Spiele. Vier Jahre lang hatte sie mit Bruno Massot dafür trainiert. Am ersten Tag des Paarlaufs, im Kurzprogramm, springt Massot den Salchow nur doppelt, nicht dreifach. »Das hätte nicht passieren dürfen«, ruft der ARD-Moderator, »das ist ’n Klops!« Als die beiden am nächsten Tag zur Kür antreten, liegen sie nur auf Platz vier. Sie behalten die Nerven und laufen die Kür ihres Lebens. Gold!
Eiskunstlauf und Segeln trennen Welten, aber die Seglerin Sanni Beucke nennt diese Kür der beiden als Inspiration: »Ganz oft, wenn es darum ging, etwas perfekt zu machen, habe ich sie mir angeschaut«, sagt sie. »Da kriege ich jedes Mal Gänsehaut!«
Als Aljona Savchenko in der Ukraine Eiskunstlauf lernte, beschimpften die Trainer die Mädchen schon mal als »dicke Kühe«. Sie sollten abnehmen, um höher springen zu können. Im Trainingslager wurden sie auf Diät gehalten, erinnert sich Savchenko. Wer mit Essen erwischt wurde, musste Strafrunden laufen. Mit 19 Jahren siedelte sie nach Deutschland über. Das Training blieb hart. »Es war immer Arbeit«, sagt sie. »Nie wurde gelacht, und wenn du was falsch gemacht hast, hast du halt Anschiss gekriegt.« Nachdem sie die Bronzemedaille in Vancouver geholt hatte, sagte ihr Chemnitzer Coach »Der Sieg war möglich, deshalb bin ich so sauer.«
Man könnte denken: Großartig, der Druck hat funktioniert. Die Frau hat schließlich 2018 Gold geholt. Denkbar ist aber auch, dass sie nicht wegen, sondern trotz des äußeren Drucks Erfolg hatte. Dank eines dicken Fells. Dank Resilienz. »Ich brauche keinen Extradruck«, sagt Savchenko, »ich drück mich schon selber.«
Mit Bruno Massot wechselte sie 2014 zu einem neuen Trainer nach Oberstdorf, Alexander König, ein Eislauf-Buddha mit Berliner Zungenschlag. »Ich kannte ihn von einem früheren Wettkampf«, sagt Savchenko. »Der hatte so ein warmes Lächeln, dass ich dachte: Da kommt die Sonne. Er begrüßt
dich, er schätzt dich, er verbreitet so positive Energie. Solche Menschen zu finden, ist kompliziert. Aber wenn man sie gefunden hat, sollte man ihnen die Treue halten.«
Resilienz heißt auch, zu erkennen, welche Menschen einem guttun. Die Kölner Sportpsychologin Johanna Belz spricht vom »Unterstützungsnetzwerk«.
Belz empfiehlt das Konzept des Selbstmitgefühls, um mit Druck und enttäuschten Erwartungen umzugehen – egal, ob im Sport oder in anderen Lebenslagen. In einer Studie mit 500 Athletinnen und Athleten hat sie festgestellt, dass rund jede vierte Person unter ihnen ein niedriges Selbstwertgefühl hat. Sie gehen hart mit sich ins Gericht, wenn sie scheitern. »War ja klar, dass das schiefgeht«, sagen sie dann zu sich. Oder: »Du bist schlechter als die anderen.«
Selbstmitgefühl dagegen heißt, mit sich selbst zu reden wie mit einer guten Freundin. Sich zu trösten: Das kann mal passieren. Das war eine schwierige Situation. Du hast dein Bestes gegeben und kannst daraus lernen. Es ist in Ordnung.
»Selbstmitgefühl hängt ganz eng mit der psychischen Gesundheit zusammen«, sagt Belz. Um es zu trainieren, spielt sie mit den Sportlerinnen und Sportlern belastende Situationen durch und übt die Selbstmitgefühlspause. Sie besteht aus drei Teilen.
1. Achtsamkeit. Man horcht in sich hinein: Was nehme ich wahr, was fühle ich?
2. Gemeinsam Mensch sein. Sich bewusst machen: Es geht nicht nur mir so. Ich bin in einer schwierigen Situation nicht allein. Andere sind bei mir.
3. Selbstbezogene Freundlichkeit. Sich freundlich Mut zuzusprechen. Es wird wieder besser. Du machst das richtig gut.
Die Eiskunstläuferin Aljona Savchenko will jetzt in Chemnitz zeigen, dass Erfolg auch durch antiautoritäres Training möglich ist. Sie will ihre Schülerinnen fordern, schon klar, aber sie sollen auch Spaß haben. Von Alexander König habe sie gelernt, gelassener an die Sachen heranzugehen und auch mal weniger zu trainieren. Eine Balance zu finden, sei wichtig, sagt Savchenko: »Die Balance zwischen Ich und Ich.«
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Fabian Pels erforscht Teamwork in der Abteilung Soziale Prozesse am Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule in Köln. Er hat diverse Mannschaften sportpsychologisch betreut, darunter Hockey- und Fußballteams. Sein Spezialgebiet ist Gruppen-Flow: wenn Teamarbeit euphorisch macht.
ZEIT WISSEN: Welches sind häufige Probleme von Teams?
Fabian Pels: Die Rollen innerhalb des Teams sind oft unklar. Wer soll führen, wer soll folgen, wer soll zuarbeiten? Ebenso die Ziele: Was ist das realistische Ziel für das Team, und wie ist das in Einklang zu bringen mit den individuellen Zielen? Was ist daran so schwierig? Das Ziel ist zu gewinnen und die Rollen sind Angriff und Verteidigung. Fertig. So einfach ist das nicht. Es gibt ganz unterschiedliche Führungsrollen. Ein task leader trifft zentrale Entscheidungen, etwa ob während die Taktik geändert werden soll. Motivation leaders feuern die anderen an und richten andere Spieler auf, wenn es mal nicht so gut läuft. Social leaders kümmern sich um das soziale Wohl einer Mannschaft,
vor allen Dingen auch neben dem Platz. Klaps auf den Rücken, kurzer Zuspruch, »ist doch alles gut, geht weiter«. Und der externe Leader vertritt die Mannschaft nach außen. Unterhalb der Führungsebene sind die Wasserträger. Sie sind Zuarbeiter und haben die enorm wichtige Rolle, andere zur Geltung kommen zu lassen.
Der Trainer oder die Trainerin kann die Rollen doch verteilen.
Die Rollen sind nicht starr und können sich sogar während eines Turniers verändern. Bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien war Per Mertesacker zunächst Stammspieler in der Verteidigung. Als dann Philipp Lahm aus dem Mittelfeld auf die Rechtsverteidigerposition abgezogen wurde, hat Mertesacker außerhalb des Spielfeldes alles gegeben, um der Mannschaft zu helfen. Besser, als Rollen zu verordnen, ist es, die Rollen gemeinsam zu erarbeiten. Das erfordert eine enge Begleitung, weil Spieler vielleicht auch feststellen: Meine Mitspieler haben ein ganz anderes Bild von mir als ich selbst. Wer möchte schon gern Wasserträger sein. Oh, es gibt Menschen, die total darin aufgehen. Wichtig ist, stillschweigende Annahmen offen zu diskutieren. Die deutsche
Basketballnationalmannschaft, die im vergangenen September sensationell die Weltmeisterschaft gewonnen hat, war eine Mannschaft, in der die Rollen klar verteilt waren. Der Trainer Gordon Herbert hatte eine genaue Vorstellung davon, welche Spielertypen er braucht. Jeder wusste um seine Rolle. Das hat super funktioniert. Wie sieht schlechte Führung aus?
Triff Entscheidungen allein. Begründe deine Entscheidungen nicht. Lass dumme Sprüche im Team zu.
Was halten Sie von Teambuilding im Job?
Gut und wichtig, wenn die Firma weiß, was dadurch erreicht werden soll. Manche Maßnahmen trainieren die Kommunikation, andere helfen eher dabei, eine Vision zu entwickeln. Wer den Zusammenhalt fördern möchte, kann zusammen Sport machen, aber so, dass sich die verschiedenen Leistungsniveaus gut darin wiederfinden und die Teilnehmenden sich wohlfühlen.
Belohnungen und Prämien?
Studien zeigen: Menschen, die eine Tätigkeit an sich schon erfüllend finden, sind weniger intrinsisch motiviert, wenn sie plötzlich dafür eine Belohnung erhalten. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Aufgaben, die man einfach erledigen muss. Und da können zusätzliche externe Anreize die Motivation erhöhen.
Wie werde ich ein guter Teamplayer?
Indem Sie überlegen: Wie kann ich meinem Team helfen? Wer soziale Kompetenz hat, spricht mal mit einer Person, von der man weiß, dass es ihr privat nicht so gut geht. Wer sich besondere organisatorische Fähigkeiten zuschreibt, kann zum Trainer oder zur Führungskraft gehen und sagen: Ich habe da eine Idee, können wir darüber sprechen? In gut funktionierenden Teams macht es Spaß, sich genau so einzubringen, wie es nötig ist, beim Spielen oder beim Arbeiten. Dann kann ein kleiner Rausch auftreten: der Gruppen-Flow.
Kein Sportler wird als Sieger geboren. Es geht los mit Niederlagen. Dann wird man besser, erreicht die Top Ten, steht vielleicht mal ganz oben und wird irgendwann wieder schlechter. In einem Alter, in dem Büromenschen erst durchstarten, geben Spitzensportler ihren Rückzug bekannt.
Carolin Schäfer, Jahrgang 1991, ist eine der besten Siebenkämpferinnen Deutschlands. Bei den Olympischen Spielen in Rio 2016 wurde sie Fünfte, jetzt trainiert sie für Olympia in Paris. »Ich habe weniger aus den Erfolgen gelernt als aus den Niederlagen«, sagt sie in einem Telefonat in der Trainingspause. »Wenn man nach Niederlagen für sich resümiert, was man besser machen kann, ist das der Schlüssel, um wachsen zu können, sportlich wie persönlich.« Ihre wichtigste Lehre aus bald 20 Jahren Siebenkampf: »Im Hier und Jetzt sein. Loslassen! Nicht daran denken, was vor einer Stunde war. Nicht an die nächste Disziplin denken, sondern nur an die, die jetzt dran ist.« Abgerechnet wird zum Schluss.
Die Weitspringerin Malaika Mihambo, Olympia-Gold in Tokio 2021, hat viel Erfahrung mit Meditation und Coaching gesammelt. »Ich habe für mich gelernt, mein Selbstwertgefühl und meine Selbstidentifikation nicht von Erfolg und Misserfolg abhängig zu machen«, sagt sie. »Natürlich bin ich auch mal traurig. Das ist in Ordnung. Vielleicht hängt mir eine Niederlage auch mal drei Tage nach. Aber dann versuche ich, so schnell wie möglich einen konstruk-
tiven Umgang damit zu finden. Woran lag es, dass ich verloren habe? Was muss ich das nächste Mal besser machen? Dann wird aus einer Niederlage eine Lernerfahrung und damit etwas Positives.«
Was Malaika Mihambo und Carolin Schäfer praktizieren, ist vorbildliche Fehlerkultur. Gute Sportlerinnen speichern eine Niederlage nicht als unangenehmes Gefühl ab, sagt die Sportpsychologin Johanna Belz, »sondern sie überlegen: Was nehmen wir mit? Dieser Gedanke würde uns in der Normalbevölkerung auch ganz guttun.«
Sport ist ein Spiegel der Gesellschaft, schreibt das Internationale Fair-Play-Komitee. Das ist nicht nur positiv gemeint. Sport kann auch heißen: keine Rücksicht auf Verluste; Gegner niedermachen; schummeln. Das Gegenprogramm heißt Fair Play. William Shakespeare hat den Begriff in seinen Dramen im Zusammenhang mit Politik und Intrigen verwendet. Später wurde Fair Play zum Synonym für den moralischen Kompass im Sport. Die Athletinnen und Athleten sollten ehrlich sein, respektvoll,
Mache aus jeder Sportveranstaltung eine Art Fest, empfiehlt die Fair-Play-Charta. Hier feiern die Siebenkämpferinnen Carolin Schäfer und Vanessa Grimm in Tokio 2021
freundschaftlich, gleichberechtigt, integer, tolerant, solidarisch, vorbildlich. Heute bleibt Fair Play das Ideal, das man durch Chartas, Regeln und Preise in Erinnerung hält. Die Nichtregierungsorganisation Panathlon International, die sich für Ethik im Sport stark macht, hat dafür die Fair-PlayCharta verabschiedet. Auszug: Welche Rolle ich auch immer im Sport spiele, und sei es die eines Zuschauers, ich verpflichte mich
• unabhängig vom Einsatz und von der Härte des Wettkampfes aus jeder Sportveranstaltung einen besonderen Moment, eine Art Fest zu machen;
• mich den Regeln der ausgeübten Sportart anzupassen;
• meine Gegner zu respektieren wie mich selbst;
• die Entscheidungen der Wettkampfrichter zu akzeptieren, da ich weiß, dass sie wie ich das Recht haben, einen Irrtum zu begehen, aber ihr Möglichstes tun, um dies zu vermeiden;
• Bosheiten und Aggressionen in meinen Handlungen, meinen Worten und meinen Schriften zu vermeiden;
• keine Kunstgriffe oder betrügerische Handlungen zu verwenden, um zu siegen;
• sowohl beim Sieg als auch bei der Niederlage Würde zu bewahren;
• jedem Sportler mit meiner Gegenwart und meiner Erfahrung zu helfen;
• jedem Sportler zu helfen, der sich eine Verletzung zugezogen hat;
• ein wahrer Botschafter des Sports zu sein. Wenn Sport ein Spiegel der Gesellschaft ist, könnte die Charta ja ein bisschen Fairness zurückspiegeln. Man müsste nur den Begriff Sport durch »soziale Medien« ersetzen oder durch »Politik«, »Nachbarschaft«, »Beziehung« oder »Arbeit«.
Der Fair-Play-Sonderpreis des Deutschen Sportbunds geht in diesem Jahr an den Para-Sprinter Johannes Floors. Dessen Gegner saß vor dem 400-Meter-Finale der Leichtathletik-WM weinend auf seinem Startblock. Seine Prothese war gebrochen. Johannes Floors ging über drei Bahnen zu ihm und nahm ihn in den Arm.
Max Rauner hat vom Segeln etwas fürs Leben gelernt: das »Manöver des letzten Augenblicks«. Wenn ein Crash kurz bevorsteht, beharre nicht auf deiner Vorfahrt. Taugt für jede Lebenslage.
Der Mensch umgibt sich mit Unmengen an Zeug. Doch das Gefühl, über den Dingen zu stehen, ist fatal, sagt die Philosophie. Hör mal zu, was die Dinge zu sagen haben!
Fünfhunderttausend Dinge in fünftausend Bananenkisten: Das ist Karsten Botts Sammlung, eingelagert auf den dreihundert Quadratmetern einer alten Zigarrenfabrik in Hanau. Bott ist kein Messie, der heimlich aufstapelt. »Die Messies warten nur auf den Wasserrohrbruch«, sagt er. Kleiner Scherz. Seine Mission: sichtbar machen, was wir täglich gebrauchen, aber kaum wahrnehmen. Zahnbürsten, Milchtüten, Kochlöffel, Käsereiben. Stecknadeln, Wanduhren, Zigarettenschachteln, Preisschilder aus dem Supermarkt. Aber auch: ein überfahrener DVD-Player mit Reifenspuren, eine Sexpuppe, ein verrosteter, völlig durchlöcherter Nachttopf. »Den habe ich neulich irgendwo aus dem Busch gezogen«, sagt Bott, als er das Exponat präsentiert.
Bott ist Konzeptkünstler. Seit knapp 40 Jahren sammelt er Gegenstände des Alltags. Seine bisher größte Ausstellung, Von Jedem Eins, war 2011 in der Kunsthalle Mainz zu sehen. Dort breitete er seine Sammlung auf sechshundert Quadratmetern aus. An Dingen klebt er, seit er ein kleiner Junge ist. Bott erinnert sich, dass seine Tante sich immer geärgert hat, den Papierkorb
»Diese Uhr schenkte mir mein Vater bei einem Urlaub in Mailand. Es ist keine teure Uhr, aber ich erinnere mich gerne an den Moment, als er sie mir gab. Wir waren Pizza essen und er kam mit zwei Uhren für mich und meine Schwester an. Es war ein toller Familienurlaub. Ich denke jedes Mal an diesen Abend, wenn ich die Uhr anschaue.« Arnau, 33, Barcelona
nicht geleert zu haben, bevor er kam – denn er kippte ihn aus und sortierte die Dinge in kleine Boxen. Schon früh konnte er zu den Dingen Beziehungen aufbauen, die ihm bei anderen Menschen eher schwerfielen. Heute ist er 64 Jahre alt. Er wolle die Dinge aus der gewohnten Ordnung, aus ihrer »Hierarchisierung«, herauslösen,
sagt Bott. Wenn wir ein Schlafzimmer betreten, liegt der Teppich unter unseren Füßen, an der Wand hängt ein Bild, der Kronleuchter baumelt von der Decke. Bei Bott sollen alle Dinge auf einem Podest stehen. Von der Klobürste bis zum Parfum.
Die Sache hat Tradition. Der Künstler Andy Warhol hat Mitte der 1960er-Jahre damit begonnen, all das zu sammeln, was ihm aus seiner Alltagswelt bewahrenswert erschien. Rechnungen, Skizzen, Keksdosen, Kinderbücher, Relikte aus der New Yorker Partyszene. In 610 Pappkartons wurde sein dingliches Leben konserviert und verschlossen – bis zu seinem Lebensende. Erst nach seinem Tod hat ein Museum in Pittsburgh die Kisten geöffnet. Karsten Bott macht es ähnlich, er beginnt aber schon zu Lebzeiten mit dem Sortieren und Ausstellen. Seine Erben werden es ihm danken.
Die Sammelwut hat ein Pendant in der Wissenschaft: die Gegenwartsarchäologie. »Mir ist fast egal, ob ein Gegenstand 40.000 Jahre alt ist oder aus der Gegenwart stammt«, sagt der Hamburger Archäologe Michael Merkel. Die Archäologie stellt Sach-, Bild- und Textquellen in einen Kontext und erkundet, welche Geschichte sie erzählen. Wie alt sie sind, ist dabei egal. Merkel sagt: »Genauso, wie archäologische Fundstücke Aufschluss darüber geben können, dass es Völkerwanderungen der Goten nach Spanien gab, könnte ein Blick in den Schmuckkasten der Mutter Unbekanntes über die eigene Familie verraten.« Schmuck wird in vielen Familien über Generationen vererbt, manche Stücke sind graviert. »Dann bekommt das Stück einen Namen. Das ist der nächste Schritt. Dann schaut man nach der Geburtsurkunde, nach Fotos von der Uroma.« Dabei könnten sich Wahrheiten auftun, die in der Familie totgeschwiegen werden. Gegenstände erzählen oft ehrlichere Geschichten als Menschen – das ist die Grundannahme der Gegenwartsarchäologie.
Andererseits können die Dinge unsere Vorstellung einer historischen Realität verzerren. In Museen über das Mittelalter findet man zuhauf Folterwerkzeuge wie Daumenschrauben oder Streckbänke. Sie passen zum Mittelalterklischee, das uns Filme vermitteln: Hexenprozesse und Hinrichtungen, Kapuzengestalten, die durch nebelige Wälder huschen.
»Heute wissen wir: Immer wieder wurden Ausstellungsobjekte in Mittelaltermuseen später nachgebaut, die dann eine bestimmte Vorstellung über Folterpraktiken veranschaulichen sollten«, sagt Guido Fackler, Professor für Museologie an der Julius-MaximiliansUniversität Würzburg. »Der so genährte, immer noch vorherrschende Blick auf ein vermeintlich dunkles Mittelalter ist wenig realistisch. Nur anhand von Dingen eine vergangene Epoche in ihrer Gesamtheit und Komplexität zu rekonstruieren, ist unmöglich.«
Unsere Liebe zu den Dingen reicht weit zurück und ist kein westliches Phänomen. Auch vor dem
modernen kapitalistischen Zeitalter haben Menschen deutlich mehr konsumiert als nötig, schreibt der Historiker Frank Trentmann in seinem Buch Herrschaft der Dinge. Im 15. Jahrhundert erlebte das Kaiserreich China unter der Ming-Dynastie eine kommerzielle Revolution, die Moden schnell wechseln und den Konsum in die Höhe schnellen ließ. Und noch viel früher, knapp 500 Jahre vor Christus, warnte der chinesische Philosoph Konfuzius davor, dass dingliche Extravaganz den Menschen korrumpieren könne. Buddha hat zur selben Zeit festgestellt, es sei gefährlich, zu stark an den Dingen zu haften. Im antiken Griechenland erklärten die Stoiker, dass unser Besitz uns immer auch zurückbesitze. Stets war Konsum mit einem moralischen Argument verbunden, das einflussreiche Männer für den Rest der Bevölkerung formulierten.
Im Jahr 1922 entdeckte der Archäologe Howard Carter in Ägypten das über 3.000 Jahre alte, relativ unversehrte Grab des Tutanchamun. Obwohl dieser zu Lebzeiten ein recht unbedeutender Pharao war, quoll seine Grabkammer regelrecht über vor dinglichen Beigaben wie Götterfiguren, Schreinen, Schmuck und sogar Möbeln. Römische Legionäre trugen ein Leben lang besondere Amulette und Talismane mit sich herum, die für sie mehr waren als nur Dinge. Sie dienten als Verbindung zu den Göttern.
In unseren Breitengraden begann das Ansammeln und Ausstellen wertvoller Dinge im Mittelalter. Kirchliche und fürstliche Schatzkammern beherbergten religiöse und weltliche Besonderheiten. Diese Orte waren der Öffentlichkeit nicht zugänglich. In der Spätrenaissance entwickelten sich die weltlichen Schatzkammern zu sogenannten Wunderkammern, in denen oft auch Gegenstände aus fremden Ländern angesammelt wurden. Museen, wie wir sie heute kennen, etablierten sich erst im 18. Jahrhundert.
Auch im Louvre, dem Prototyp des modernen Museums, befand sich einst die Privatsammlung von Königen. Mit der Französischen Revolution 1789 bemächtigte sich das Volk des Gebäudes und öffnete die Türen für das Bürgertum. Es folgten die Aufklärung und die Rangeleien und Kriege der Nationalstaaten. Das Sammeln und Bewahren gewinnt an Bedeutung. Allerorten eröffnen Museen. Die Relikte aus vergangenen Zeiten helfen dabei, Epochenbrüche zu überstehen und sich mit vorangehenden Generationen verbunden zu fühlen. In der Museologie spricht man von der Kompensationstheorie: Um Vergänglichkeit erträglicher zu machen, hält man sich an den Dingen aus einer anderen Zeit fest. Das hilft der ganzen Gesellschaft, und es hilft den Individuen, die in ihr leben. Etwas, das nach objektiven Maßstäben keinen besonderen Wert hat, kann
für uns von unschätzbarem Wert sein, wenn es einer geliebten Person gehörte, die verstorben ist.
Der Louvre steht heute allen offen. Und obwohl wir uns viele Ausstellungsstücke auch im Internet anschauen können, pilgern Menschen aus aller Welt nach Paris, um die Exponate zu sehen. Der Philosoph Walter Benjamin behauptete in den 1930er-Jahren, zu einer Zeit, als Fotografie und Film als Massenmedien auf-
»Meine Oma und mein Opa väterlicherseits waren Antiquitätenhändler. Als meine Großmutter mit fast 100 Jahren ihr Haus verkaufte, um in eine betreute Wohnung zu ziehen, bekam ich dieses schöne Kinderbügeleisen.« Liana, 31, Pittsburgh
kommen und Kunst sich reproduzieren lässt, dass dem Original eine eigene Aura anhaftet. Er vergleicht dies mit einer Naturerfahrung: »An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.« Diese »einmalige Erscheinung einer Ferne«, obwohl sie so nah wirkt, ist die von Benjamin beschriebene Aura, die einem Kunstwerk innewohnt. Sie unterscheidet demnach das Gemälde, das an der Wand hängt, oder die Skulptur, die auf einem Sockel steht, fundamental vom Film, der auf einer Leinwand läuft.
Die Beziehung zwischen Mensch und Ding wurde lange Zeit durch die Kirche verkompliziert: Sie hat Gegenstände mit Aberglauben aufgeladen und ihnen Macht über die Menschen zugesprochen. Zugleich hat sie den Konsum weltlicher Dinge verteufelt. Die Aufklärung setzt dem ein Ende. Nun braucht der Mensch die Dinge für Autonomie und Selbstverwirklichung. Das weiß jeder, der einmal umgezogen ist und sein altes Bett in die neue Wohnung gestellt hat, die sich sogleich viel mehr nach dem eigenen Zuhause anfühlt. Siegfried
Kracauer beschrieb in den 1920er-Jahren im Feuilleton der Frankfurter Zeitung, wie ein Russe ihn in Berlin auf der Straße anspricht, in der Annahme, einen Landsmann getroffen zu haben, weil Kracauer eine Zigarette raucht, die einer russischen ähnelt. Der Anblick »dieses kleinen nichtssagenden Dings«, schreibt er, bewog den Mann dazu, »unter allen Menschen mich, den Wildfremden, aufzuhalten und anzusprechen (...). Die Zigarette, die niemals jenseits der Grenze gewesen war, beschwor das Bild Rußlands herauf.«
Ab dem 18. Jahrhundert bringt die Industrialisierung schließlich zunächst in England und etwas später in Deutschland die unendliche Welt der Waren hervor. Es folgt eine Neuaushandlung der Mensch-Ding-Beziehung, die bis heute andauert. Seit klar ist, dass die Ressourcen der Erde den Hyperkonsum auf Dauer nicht befriedigen können, wehren sich viele gegen die Anbiederung der Dinge: mit Secondhand-Läden, Flohmärkten und No-Waste-Aktivismus. Andere leben ihren Konsumrausch aus, wieder andere entwickeln Sammelleidenschaften. Was die Nachwelt in heutigen Wohnungen und Häusern finden wird, ist eine Materialschlacht – 10.000 Dinge besitzt der durchschnittliche Europäer heute.
In der Philosophie der Dinge hat Immanuel Kant mal wieder einen Wendepunkt eingeläutet. Er hat seine Erkenntnistheorie selbst als kopernikanische Wende in der Philosophie bezeichnet – eine kopernikanische Wende, die sich auf Mensch und Ding bezieht. So wie Kopernikus feststellte, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt, behauptete Kant: Unsere Erkenntnis kreist um die Dinge, die Dinge kreisen nicht um unsere Erkenntnis. Die Dinge werden von uns nur so begriffen, wie unser Verstand es zulässt. Unsere Erkenntnis des Dings wird also von unserem Verstand mitkonstruiert. Soll heißen: Wir erkennen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern immer nur eingefärbt von unserer individuellen Wahrnehmung. Nach dieser Zurückweisung des menschlichen Egos hat die Philosophie sich lange Zeit mit der Frage beschäftigt, wie wir das »Ding an sich« erkennen können. Kants Antwort war: gar nicht. Begriffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind, heißt es bei Kant – wir erkennen Dinge nicht nur mit unserem Verstand oder mit unserer Anschauung, sondern mit einer Kombination aus beidem. Im Louvre stehen Menschen heute
»Als ich ein Jahr alt war, fragte man mich, was ich mir zum Geburtstag wünschte, und ich sagte immer wieder:
›RAD!‹ Meine Mutter fand mich zu klein, aber mein Großonkel Allen kaufte mir dieses grüne Dreirad. Er schob mich durch das ganze Haus.« Lisa, 53, Pittsburgh
Schlange, um ein Selfie mit der Mona Lisa zu schießen. Das Gemälde aus der Renaissance erlangte Berühmtheit, nachdem es 1911 geklaut wurde. Der Name Mona Lisa löst wenig in jemandem aus, der nicht um das Gemälde weiß. Umgekehrt findet jemand, der vor dem Gemälde steht und dessen Geschichte nicht kennt, es vielleicht schön, wähnt sich aber nicht in einem erinnerungswürdigen kulturellen Moment seines Lebens.
Die amerikanische Fotokünstlerin
Kija Lucas setzt Dinge in Szene, die Menschen etwas bedeuten. So entstand im Laufe der Jahre die Serie »Objects to Remember You By«, aus der wir hier einige Fotos zeigen. Lucas stellt die Arbeit in Galerien aus, aber auch online im Museum of Sentimental Taxonomy (themst.org)
Am menschlichen Geist und seinen Fähigkeiten haben sich die Gelehrten über Jahrhunderte abgearbeitet. Es war eine Achterbahnfahrt der Erkenntnisse. Im 20. Jahrhundert durchfährt die Geisteswissenschaft wieder mal eine Haarnadelkurve: den linguistic turn. Poststrukturalismus und Postmodernismus versuchen nun, unser Erleben der Welt über die Sprache zu erklären. Hauptthese: Sprache ist mächtig, sie vermittelt Wissen – und sie hat großen Einfluss auf unsere Erfahrung.
Die Gegenbewegung zum linguistic turn ist der material turn. Der fordert: Weg von der Sprache, zurück zu den Dingen, in die der Mensch immer und überall eingebettet ist. In der Essaysammlung Der Stand der Dinge (2022) erklären Jan Beuerbach, Kathrin Sonntag und Amelie Stuart, wie das Ding in neuen geisteswissenschaftlichen Strömungen ins Zentrum rückt. Ausgangspunkt ist Heideggers Philosophie vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Anders als die bisherige philosophische Traditionslinie hielt Heidegger das Erkennen für nachrangig. Für ihn war zentral, dass wir immer
»Duplikat eines Rings, den ich seit 25 Jahren habe. Das Original zerbrach, als eine Autotür auf meine Hand knallte, aber es hat mich vor einem gebrochenen Finger gerettet.« Kevin, 42, Oakland
»Ich habe diesen Schal für mich selbst gekauft, bevor ich nach San Francisco kam. Ich habe lange danach gesucht. Er symbolisiert einen Lebensabschnitt nach einer schwierigen Zeit.« Chloe, 33, Paris
»Dieses Messer habe ich meinem Vater zu Weihnachten geschenkt. Er liebte es und sagte, es sei eines der besten Geschenke, die er jemals erhalten habe. Das war zwischen 2002 und 2005, ich erinnere mich nicht genau. Mein Vater starb 2009, und diese Habseligkeit bekam ich nach seinem Tod.« Samuel, 37, Oak Park
»Dieses Nudelholz gehörte meiner Oma. Sie gab es meiner Mutter, als die Finnland verließ und in die USA auswanderte. Meine Mutter schenkte es mir, als ich auszog, um aufs College zu gehen.« Minna, Oakland
»Halskette mit meinem Geburtsstein Aquamarin. Meine Oma hat sie in Alaska gekauft und mir geschenkt, als ich 16 wurde. Ich nehme sie nie ab.« Tess, 36, Oakland
schon bei den Dingen und gar nicht ohne sie denkbar sind. »Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen«, schrieb er. Wohnen? Ja, wohnen.
Der Mensch als unbedingt bedingtes Wesen – das ist eine Idee, die unserem modernen Selbstbild widerspricht. Der Schlamassel von Naturausbeutung und Anthropozän beruht nämlich auf einer strikten Trennung von Kultur und Natur: im Zentrum der Mensch als lebendiges Subjekt, um ihn herum die Welt toter Objekte. Diese Vorstellung geht auf den Philosophen Descartes zurück. Der zog eine Grenze zwischen der »denkenden Sache«, also dem menschlichen Geist, und der »ausgedehnten Sache«, also dem Körper, aber auch dem Planeten, über den wir laufen und – Update 21. Jahrhundert – dem Handy, auf das wir tippen. »Diese Unterscheidung ist der Inbegriff einer Selbstüberschätzung des Menschen«, sagt der Soziologe Dirk Baecker von der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Und sie greift zu kurz: »Sobald der Mensch den Menschen erforscht, also zum Beispiel in der Ökonomie, Psychologie oder Geschichtsschreibung, ist er Subjekt und Objekt seiner Forschung. Er formuliert die Gesetze der Statistik und der Natur, denen er selbst unterworfen ist.« Die Dinge sind also auch wir.
Der französische Soziologe Bruno Latour hat Dingen eine agency, Handlungsmacht, zugeschrieben. In seiner Akteur-Netzwerk-Theorie postuliert er, dass unser Verhalten selten rein intrinsisch motiviert ist. Vielmehr sind unsere Handlungen vielfach verwickelt, sodass sie letztlich aus einem Netzwerk unterschiedlichster
»Diese Caffettiera – wohl der häufigste Gegenstand in jedem italienischen Haushalt – erinnert mich daran, wo ich herkomme.« Francesco, 40, San Francisco
ein Weitergehen aus«, sagt Baecker. »Insofern ›handelt‹ die Ampel also auch selbst.«
Nicht eine Frau selbst begeht einen Mord, noch macht sich eine Pistole von selbst zur Mordwaffe. Das Zusammenspiel zwischen den beiden ist ausschlaggebend. Demnach ist unser Bewusstsein eben nicht isoliert in unserem Gehirn, sondern viele unserer Gedanken sind eine Folge externer Impulse. Baecker sagt: »Die Bereitschaft, unser Bewusstsein in unserem Gehirn zu
»Diese kleine Truhe hat meine Freundin bemalt und mit liebevollen Notizen gefüllt. Die lese ich, wenn es mir nicht gut geht.« H., 28, San Francisco
lokalisieren, kann den Soziologen nur überraschen. Der Mensch sollte sich fragen, wie groß seine Autonomie gegenüber all dem, was ihn umgibt, tatsächlich ist.«
Entmündigt es den Menschen, sich selbst auch als Objekt der Dinge zu sehen? Ganz im Gegenteil, findet Baecker. »Die eigene Hybris zu korrigieren und seine Rolle im planetarischen Ganzen zu begreifen, gibt dem Menschen eine andere Vollmacht. Denn wenn er versteht, was die Dinge von ihm wollen, dann hat er auch die Freiheit, sich dagegen zu entscheiden.«
Was wollen die Dinge von mir? Ganz einfach: Der Tee auf dem Tisch wünscht sich, ausgetrunken zu werden. Die Hose im Kleiderschrank möchte getragen werden. Das Auto will gefahren werden. »Natürlich bleibt immer ein Risiko, dass die Dinge unserem Willen nicht folgen«, sagt Baecker. Das Atomkraftwerk wird weiterstrahlen, auch nachdem es abgeschaltet wurde. Sicher ist, dass viele unserer Dinge länger leben werden als wir selbst – und dass sie eine Geschichte über uns erzählen werden. Ob sie stimmt, ist eine andere Frage, aber korrigieren können wir sie dann eh nicht mehr. Bis es so weit ist, sollten wir die Zeit nutzen, um den Dingen mehr auf Augenhöhe zu begegnen und genauer hinzuhören, was sie uns sagen wollen.
Elemente hervorgehen – Menschen, Praktiken und Dingen. »Indem ich an einer Ampel vorbeigehe, löst sie in mir entweder ein Stehenbleiben und Abwarten oder
Lenja Stratmann zieht so oft um, dass sie am liebsten nicht mehr als einen Koffer voller Dinge besäße. Leider gelingt ihr das nicht. Die Dinge vermehren sich. Die Koffer auch.
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Bosch investiert in KI. Ein Elektronikmeister bildet Geflüchtete aus. Maja Göpel hat einen guten Rat. Und ein Philosoph beantwortet die Demokratiefrage
Text Tobias Bachmann Illustrationen Timo MüllerDer Konzern Tesla sieht sich als Vorreiter für die Welt von morgen. Solarpanels auf den Fabrikdächern, gläserne Fassaden, künstliche Intelligenz (KI) in der Produktion und den Büros. Ist Tesla deshalb ein modernes Unternehmen?
Der Philosoph Jürgen Habermas beschrieb die Moderne einmal als »unvollendetes Projekt«. Die Philosophen der Aufklärung hatten im 18. Jahrhundert als Ziel die gesellschaftliche Modernisierung vorgegeben. Sie wollten die kognitiven Potenziale von Kunst, Wissenschaft, Moral und Recht heben und »für eine vernünftige Gestaltung der Lebensverhältnisse« nutzen, schreibt Habermas. Dampfmaschine und Bürgerrechte sollten nicht bloß ein neues, sondern auch ein freieres und gerechteres Zeitalter einläuten. Das hat nur zum Teil geklappt.
Beispiel Tesla: Das Unternehmen hat in der Automobilbranche viel bewegt, ihre Elektrifizierung vorangetrieben und Lade
säulen in aller Welt verteilt. Doch ist es alles andere als ökologisch sinnvoll, alle eineinhalb Milliarden Verbrenner weltweit durch EAutos zu ersetzen. Außerdem missachtet Tesla immer wieder Umweltauflagen und Arbeitsrechte und erschwert in seinen Werken die Gewerkschaftsarbeit. Von einer »vernünftigen Gestaltung der Lebensverhältnisse« ist die Firma weit entfernt.
Ein Unternehmen muss sich halt lohnen, könnte man denken. Doch ein zu enger Blick auf den Profit ist gefährlich, zeigt die Geschichte. Wer soziale und ökologische Folgen ignoriert, konnte auch im Kolonialismus erfolgreich wirtschaften und kann dies heute noch in Diktaturen, Autokratien und im fossilen Weiterso. »Vom Optimismus der Aufklärung hat das 20. Jahrhundert nicht viel übrig gelassen«, schrieb Habermas. Und im 21. Jahrhundert?
Wie könnte der unternehmerische Weg in eine bessere Zukunft aussehen: Wie umgehen mit KI? Wie schafft man eine zufriedene Belegschaft? Woher soll die Energie
kommen? In Deutschland produzieren oder anderswo? Wie kann die Wirtschaft die Demokratie stärken? Fünf Fragen an das moderne Unternehmen.
1. Lohnen sich Investitionen in künstliche Intelligenz?
Die Robert Bosch GmbH hat seit 2018 mehr als 1.000 KIPatente angemeldet. Die Firma beschäftigt allein 4.500 KIExpertinnen und Experten, darunter etwa 300 Forschende. Das kostet viel Geld. Für die Geschäftsführerin und Chief Digital Officer Tanja Rückert ist dennoch klar: »Die Vorteile überwiegen bei Weitem. Eine Investition lohnt sich in jedem Fall, denn KI wird eine der treibenden Entwicklungen der Zukunft.« Deshalb sei künstliche Intelligenz für Bosch eine Schlüsseltechnologie. Besonders durch sogenannte generative KI würden sich heute ganz neue Möglichkeiten ergeben, sagt Rückert. Das sind Programme wie ChatGPT, MidJourney und
Gemini, die Texte und Bilder künstlich erzeugen können. Bei Bosch wird generative KI auch dafür genutzt, bestehende Algorithmen zu verbessern. Software als Lehrmeisterin von Software. Im Hildesheimer Werk werden schon länger Komponenten für Elektromotoren mittels KI optisch auf Schäden geprüft. Um der KI beizubringen, wonach sie suchen soll, wurden Bilder von beschädigten Bauteilen genutzt. Genügend Fotos zu sammeln, habe manchmal bis zu 18 Monate gedauert, sagt Rückert.
Mithilfe von generativer KI sei es nun gelungen, innerhalb von nur drei Stunden 15.000 Vergleichsbilder künstlich zu erstellen. »Das ist ein riesiger Wissenssprung innerhalb kürzester Zeit«, sagt Rückert. In der Produktion entlaste das nicht nur die Beschäftigten, die früher kleinste Strukturen optisch prüfen mussten und nun andere Tätigkeiten übernehmen können. Auch die Zeitspanne bis zur Marktreife wurde deutlich verkürzt. Das spart Geld.
Die Vorteile von KI sind offensichtlich. Kann die Technologie auch zur Sackgasse werden? Fragen wir mal ChatGPT selbst. Die KI antwortet: Ja, nämlich dann, »wenn spezifische Fehler oder Missmanagement bei der Einführung und Nutzung von KI gemacht werden«. Das Tool listet prompt auf, was Unternehmen vermeiden sollten: »unklare Ziele und Strategien« sowie »unzureichende Fachkenntnisse«. Auch »Ethik und Datenschutzprobleme« könnten verhindern, dass Unternehmen mit KI erfolgreich sind, so ChatGPT weiter. Wichtig sei deshalb, ethische Richtlinien für den Einsatz von KI zu entwickeln.
Bosch hat sich 2020 einen »KI-Kodex« gegeben und prüft nach dem Prinzip »Technik fürs Leben« zum Beispiel, ob innovative KI-Ideen den Menschen tatsächlich etwas bringen, also ob sie deren Alltag komfortabler, sicherer und nachhaltiger machen können oder nicht. Die KI-Verordnung, die die EU in diesem Frühjahr verabschiedet
hat, sieht Bosch-Geschäftsführerin Rückert positiv. Sie sagt: »EU-harmonisierte Regelungen sind etwas sehr Gutes. Wir sollten uns aber vor übertriebener Bürokratie hüten. Gesetze sollten nicht die Technologie an sich, sondern ihre Anwendung und den geordneten Umgang mit ihr definieren.« Ein Beispiel dafür wäre »eine Pflicht, KI-erstellte Inhalte als solche zu kennzeichnen. Zumal sich neue Technologien vor allem dann durchsetzen werden, wenn sie für die Nutzer nachvollziehbar sind.«
2. Wie besteht mein Unternehmen am Arbeitsmarkt?
Etwas mehr als ein Drittel der Unternehmen in Deutschland leiden laut einer Umfrage des ifo Instituts unter Personalmangel. Der aktuelle Berufsbildungsbericht der Bundesregierung verspricht wenig Entlastung. Insgesamt 73.400 Ausbildungsplätze blieben im vergangenen Jahr unbesetzt. Die
Ein Unternehmer ohne Nachwuchssorgen ist Marko König. »Im letzten Jahr haben wir zehn Facharbeiter eingestellt, davon acht selbst ausgebildet«, sagt er. Der Elektronikmeister und studierte Betriebswirt ist Vorstandsvorsitzender des Elektro Zentrum Großenhain (EZG), einer sächsischen Genossenschaft mit etwas mehr als 100 Mitarbeitenden, die bundesweit die Elektrik von Logistikzentren, Baumärkten und Bürogebäuden installiert. Auch für dieses Jahr habe die Firma bereits so viele Lehrlinge unter Vertrag genommen wie geplant, sagt König. Wie macht das EZG das?
»Viele kommen zuerst für ein Praktikum zu uns«, sagt König. Das sei aber nur wenige Wochen kurz und nicht dafür gedacht, billige Arbeitskräfte zu bekommen, sondern, um sich gegenseitig kennenzulernen. Bringen die jungen Leute technisches Verständnis mit? Haben sie Lust auf das Elektrohandwerk? Sind sie freundlich und teamorientiert, sprechen sie ausreichend deutsch, um die Berufsschule zu schaffen? Wenn alles passt, sei der Weg zum Ausbildungsvertrag nicht weit, sagt König.
Wer den unterschreibt, bekommt im EZG eine Perspektive. »Wir bilden nicht aus, damit die jungen Leute nach drei Jahren woandershin gehen«, sagt König. Um das sicherzustellen und den Azubis den Berufsstart zu erleichtern, gibt es ein ausgeklügeltes Patenschaftssystem. Ältere Kolleginnen und Kollegen, die eine Patenschaft übernehmen, bekommen jeden Monat einen Geldbetrag vom EZG hinterlegt. Die Höhe hängt von den Noten der Azubis in der Berufsschule ab. Für einen Zweierschnitt sind es 70 Euro. Wenn der Azubi nach Abschluss der Ausbildung bleibt, bekommt der Pate das angesparte Geld auf sein Konto überwiesen. Bis zu 2.400 Euro sind möglich.
Dank einer Kooperation mit der örtlichen Diakonie sind zudem immer wieder geflüchtete Menschen unter den Azubis. Aktuell sind es drei. Weitere acht haben bereits ausgelernt und arbeiten nun fest im Unternehmen. Insgesamt sind es etwas mehr als zehn Prozent der Belegschaft. König hielt das für selbstverständlich, bis seine Firma dafür mit dem Sächsischen Integrationspreis 2023 ausgezeichnet wurde: »Ich war stolz, aber auch überrascht. Wir machen eigentlich gar nichts Besonderes, die Menschen sind bei uns normale Mitarbeiter.«
Ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem Menschen sich wohlfühlen, lernen können, eine Perspektive haben: Das ist für Unternehmen nicht nur wichtig, um attraktiv am Arbeitsmarkt zu sein, sondern auch aus psychologischer Sicht, sagt Dörthe Beurer. Sie arbeitet seit gut 30 Jahren in der Arbeitsund Berufspsychologie und ist im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) engagiert.
»Zu hohe Belastungen, zu wenig Zeit zur Erholung, das Gefühl, im Hamsterrad zu sein und keine Zeit mehr für Freunde und Familie zu haben; vielen gerät außerdem der Sinn ihrer Arbeit aus dem Blick.« All das wirke negativ auf die mentale Gesundheit und könne psychische Erkrankungen wie Burn-out oder schwerwiegendere Störungen auslösen, sagt Beurer. Im Unternehmen könne dadurch ein negativer Strudel entstehen. »Psychische Erkrankungen bedeuten oft lange Ausfallzeiten. Das kann den Druck im Team weiter erhöhen.«
Die Firmenkultur zu verbessern, brauche dabei nicht immer viel. Manchmal sind es kleine Kniffe – zum Beispiel, wenn Führungskräfte Verantwortung abgeben und Mitarbeitenden mehr Gestaltungsspielräume einräumen. Auch Teilzeitmodelle oder die 4-Tage-Woche können eine bessere Work-Life-Balance ermöglichen und psychischen Erkrankungen vorbeugen. Wer nicht wisse, welche Maßnahmen im eigenen Unternehmen umsetzbar sind, solle sich beraten lassen, rät Beurer. »Aber Vorsicht, es gibt auf dem Beratungsmarkt viele selbst ernannte Coaches, die schlecht ausgebildet sind, sich aber fürstlich bezahlen lassen.« Einen Qualitätscheck für psychologische Dienstleistungen bietet der BDP unter psychologenportal.de.
3. Die Energiewende: Fluch oder Segen?
Maja Göpel ist eine der bekanntesten Politökonominnen Deutschlands. Sie war Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung, hat Bestseller wie »Unsere Welt neu denken« geschrieben, lehrt als Honorarprofessorin an der Leuphana Universität in Lüneburg und hat 2023 das Science-Society-Netzwerk »Mission Wertvoll« gegründet.
ZEIT WISSEN: Frau Göpel, wie meistern Unternehmen die Energiewende?
Maja Göpel: Zunächst, indem sie sich fragen: Möchte ich eines der Vorreiterunternehmen sein, das Lösungen für das 21. Jahrhundert entwickelt? Dann bleibt nur die Dekarbonisierung. Und es wird immer wichtiger, Energie- und Ressourceneffizienz zu steigern und in Kreisläufen zu denken. Auf eine Formel gebracht: Beste Performanz bei geringstem ökologischem Fußabdruck. Das wäre auch ein neues Leitmotiv für Qualität made in Germany. Daraus kann sich eine Exportführerschaft entwickeln. Und ein Weg zu mehr Resilienz. Warum Resilienz?
Wir leben in einer ressourcenarmen Volkswirtschaft und sind sehr abhängig von anderen. Deshalb ist es schlau, Prozesse zu entwickeln, mit denen wir Materialien wiederverwerten und weiterverwenden können. Die unternehmerische Frage lautet dann: Wie kann ich aus den Ressourcenströmen, die mein Unternehmen durchfließen, das Maximale herausholen? Zum Beispiel, indem ich nicht mehr alles wegschmeiße, sondern im Design neuer Produkte mitdenke, wie wichtige Rohstoffe zurückgeholt und recycelt werden können. Dabei kann künstliche Intelligenz helfen, aber auch das Recht-auf-Reparatur-Gesetz der EU. Und durch ein Denken in Kreisläufen wird auch die regionale Kooperation zwischen Unternehmen gestärkt: Mein Überschuss oder Abfall ist dein Rohstoff. Das sehen wir an so einigen Industriestandorten, zum Beispiel rund um die Initiative CircularOWL in Ostwestfalen-Lippe.
Einige Unternehmen sehen die Energiewende eher als Bedrohung, beispielsweise das Verbrennerverbot.
Diese Verbotsdebatte nervt wahnsinnig. In anderen Ländern ist das längst passiert und einfach eine klare Ansage, dass eine bestimmte Technologie für den Privatverkehr zu ineffizient geworden ist. Und es ist eine mittelfristige Ankündigung, die Planungssicherheit und Umbauzeit garantiert. In Japan heißt das »Top-Runner-Prinzip«: Die ineffizientesten Dinge verlieren jeweils ihre Zulassung. In Deutschland schreien wir: »Oh Gott, dies und jenes wird verboten!« Aber irgendwie wird es das ja doch. Was verboten wird, sind CO₂-Emissionen und die Verschwendung anderer Energieträger, die nur mit großem ökologischem Rucksack oder schlechter Energieeffizienz
Beste Performanz, niedrigster ökologischer Fußabdruck: das neue »made in Germany«?
herzustellen sind – also beispielsweise Wasserprobleme antreiben oder selbst viel Energie in der Herstellung brauchen wie etwa die E-Fuels. Es geht darum zu sagen: »Best in Class« muss irgendwann zum Standard werden, sonst kommen wir überhaupt nicht schnell genug in die Innovationsspirale rein. Das Wuppertal Institut hat viel dazu geforscht. Der Moment, in dem Effizienzsprünge passieren, ist immer der, wenn der Staat durch Förderprogramme unterstützt oder durch Gesetze nachschärft. Unter Selbstverpflichtungserklärungen der Industrie lehnen sich viele bequem zurück und denken, das kontrolliert ja eh keiner. Das wird dann gerade für diejenigen Unternehmen ein Problem, die aus Überzeugung verantwortungsbewusst und zukunftsorientiert vorausgelaufen sind. Warum?
Diese Unternehmen kommen aus der Testphase oder der Nische nicht heraus, solange die Rahmenbedingungen aus der Politik nicht zulassen, dass nachhaltigere Angebote zum Standard werden. Es gibt so viele klar benannte umweltschädliche Subventionen, so viele Rahmenbedingungen, die es Unternehmen schwer machen, nachhaltiger zu wirtschaften. Wir brauchen stattdessen ehrliche Preissignale, auch durch den CO₂Preis, und Bürokratieabbau mit Richtungs-
sicherheit, also klarer sozial-ökologischer Lenkungswirkung.
Was schwebt Ihnen konkret vor? Wir können bei der Mehrwertsteuer anfangen. Wieso liegt die für Fleisch und Milchprodukte bei sieben und für pflanzliche Alternativen bei 19 Prozent? Wieso gibt es keine vergünstigte Mehrwertsteuer auf reparierte Produkte, und warum ist To-Go billiger, als vor Ort zu speisen? Wieso sind die Förderprogramme für Start-ups in vielen Branchen immer noch blind für den sozialökologischen Nutzen? Das muss sich ändern. Wir brauchen mehr Anerkennung und bessere Wettbewerbsbedingungen für die ehrbaren Kaufleute, die an privatwirtschaftlichen Lösungen für die Welt von morgen arbeiten. Schließlich macht das die Social License, die gesellschaftliche Akzeptanz von Unternehmen, aus.
4. Gehen oder bleiben?
Die Standort-Deutschland-Frage
In einer 2023 veröffentlichten Umfrage der Unternehmensberatung Deloitte gab mehr als ein Drittel von 108 überwiegend großen Unternehmen an, der Wirtschaftsstandort Deutschland müsse attraktiver werden, damit er wettbewerbsfähig bleiben kann. Sie forderten mehr Investitionen in Bildung,
Infrastruktur und Digitalisierung, eine staatliche Förderung von Schlüsseltechnologien sowie eine Senkung der Strompreise. Auch eine vereinfachte Einwanderung von Fachkräften aus dem Ausland hielten die Unternehmen für wichtig, um genügend qualifiziertes Personal zu finden. Wie sehr es dabei hakt, zeigt eine aktuelle OECDStudie. Von rund 1.500 hoch qualifizierten Fachkräften gab etwa jede dritte an, das Verfahren bis zum Visum sei kompliziert gewesen und habe lange gedauert. Immerhin: Seither wurde das Fachkräfteeinwanderungsgesetz nachgebessert, auch um Menschen, die bereits hier leben, den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern.
In einem Punkt ist Deutschland allerdings Spitze: Clean Tech. Die Bundesrepublik sei »eine zentrale Drehscheibe für saubere Technologien und beherbergt die meisten Produktionsstätten für saubere Technologien insgesamt«, schreibt der Brüsseler Thinktank Bruegel in seinem »Clean Tech Tracker« In fast allen Bereichen erneuerbarer Technologien – Wärmepumpen, Batterien, Windkraft, Fotovoltaik – hat Deutschland die meisten Fertigungskapazitäten und stellt damit auch die meisten »Clean Energy Jobs«.
Das spiegelt sich in der Energieversorgung. Bei den erneuerbaren Energien liegt
Moderne Unternehmen fördern nicht nur ihre Gewinne, sondern auch die Demokratie und das Selbstwertgefühl
Deutschland im europäischen Vergleich vorn: mit mehr als 60 Gigawatt installierter Solarkraft und 240 Gigawatt Windleistung. Spanien ist Zweiter mit jeweils 30 Gigawatt.
Außerdem kann Deutschland mit seiner Forschungslandschaft punkten, mit einer Vielzahl von Hochschulinstituten, Fraunhofer-, Leibniz- und Max-Planck-Instituten. Im Global Innovation Index, der Liste der weltweit innovativsten Volkswirtschaften, lag Deutschland 2023 auf dem achten Platz (Top drei: Schweiz, Schweden, USA). Bis 2025 will die Bundesregierung die Ausgaben für Forschung und Entwicklung von 3 auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen. Ob das gelingt, hängt auch davon ab, ob die Schuldenbremse angezogen bleibt oder reformiert wird.
In der Standortfrage kommt es am Ende jedoch nicht nur auf Gesetze und Gigawatt an, nicht nur auf die Unternehmen und Parteien, Gewerkschaften und Betriebsräte, sondern auf jede und jeden: Die Erhebung der OECD weist nämlich zudem darauf hin, dass die Bevölkerung mehr tun muss, damit sich Fachkräfte aus dem Ausland hierzulande wohlfühlen. Viele haben Schwierigkeiten, wirklich anzukommen, erfahren Diskriminierungen bei der Wohnungssuche, in der Bahn, im Supermarkt und werden auch nach Jahren immer noch als »Ausländer« markiert.
5. Wie können Unternehmen die Demokratie stärken?
»Die Bahn streikt wieder!« Ein Satz, bei dem es manchen Bahnreisenden in den Ohren klingelt. Doch so nervig die ausgefallenen Züge und die Debatte um den jüngsten Tarifstreit zwischen GDL und Bahn für viele waren: Die Streiks waren bedeutsam – und zwar für die Demokratie. Denn wenn Menschen bei der Arbeit mitreden dürfen, sind sie weniger anfällig für rechtsextreme, antidemokratische und auch fremdenfeindliche Positionen. Das haben Forschende aus Psychologie und Soziologie in einer von der Otto-Brenner-Stiftung 2023 veröffentlichten Studie nachgewiesen.
Wenn Unternehmen demnach aktiv die Teilhabe in ihren Betrieben fördern und mit Betriebsräten und Gewerkschaften zusammenarbeiten, dann ermöglicht das ihren Angestellten, praktisch zu lernen, was demokratisches Miteinander bedeutet. Ein weiteres Mittel, mit dem Betriebe die Demokratie fördern können, sind innerbetriebliche Weiterbildungen gegen Hass und Verschwörungserzählungen. Dafür bietet der von Unternehmen und gemeinnützigen Stiftungen getragene Business Council for Democracy (BC4D) ein Schulungsprogramm. Wird Mitbestimmung dagegen wie beim Autobauer Tesla immer wieder
ist die Arbeit der zentrale Ort, an dem die meisten regelmäßig zusammenkommen, Zeit miteinander verbringen und Aufgaben lösen. Damit diese Umgebung überhaupt ermögliche, an demokratischen Praktiken teilzuhaben, komme es nicht nur auf die Mitbestimmung an, schreibt Honneth. Menschen müssen auch wirtschaftlich unabhängig sein, also genug Geld verdienen. Und sie müssen über ausreichend arbeitsfreie Zeit verfügen, um an der demokratischen Willensbildung teilzunehmen. Außerdem sollte die Arbeit abwechslungsreich sein. Monotonie sei kontraproduktiv, so Honneth. Moderne Unternehmen steigern mit ihren Produkten nicht nur das Bruttoinlandsprodukt. Sie bringen ein Produkt hervor, das für die Demokratie unbezahlbar ist: Selbstachtung und Selbstwertgefühl.
Tobias Bachmann hat vor Jahren ein Start-up gegründet, in einer Bank und einer Unternehmensberatung gearbeitet. Heute ist er froh, dass sich in der Wirtschaft so einiges zum Besseren wandelt
nicht auch noch verholzen«
Gespräch mit einer Weltbürgerin. Die Hortensie verrät uns ihr Geheimnis
Kein anständiger Bauernhof in Deutschland kommt ohne einen anständigen Hortensienbusch aus. Wer in den opulenten Blüten den Inbegriff des Bodenständigen sieht, liegt nicht ganz falsch, denn die Familiengeschichte der Hortensie reicht weit zurück, bis zum Ende der Kreidezeit. Aber man liegt eben auch nicht ganz richtig. Ein Gespräch darüber, wie man Beständigkeit im Wandel und Wandel in der Beständigkeit findet – und was das mit Alchemie zu tun hat.
Liebe Hortensie, die Herkunft Ihres deutschen Namens erschließt sich einem sofort, »hortus« bedeutet schlicht Garten. Das lateinische Wort »Hydrangea« ist dagegen weniger offensichtlich. Haben Sie irgendetwas mit dem griechischen Wasser-
gott Hydros zu tun? Oder mögen Sie einfach gerne Wasser?
Diese üppigen Blüten kommen nicht von ungefähr, Kindchen! Die Landluft macht einen gesunden Appetit auf Wasser und Nährstoffe, und ich lange gut zu, damit ich nicht vom Fleische falle. Ich sag immer: Schlank macht krank. Für das Leben fernab von all dem städtischen Komfort braucht man genug Kraft, da muss ich mich ordentlich ernähren. Aber Sie fühlen sich offensichtlich wohl in der Landluft – zu jedem prächtigen Bauernhof gehört ein Hortensienbusch. Wie kommt es, dass Sie eine so enge Freundschaft zu deutschen Bauern pflegen?
Die Leute auf dem Land haben keine Angst vor meiner Opulenz. Den Großstädtern sind meine großen Schaublüten oft nicht subtil genug, um noch als geschmackvoll zu gelten. Dieses Getue ist nicht meine Sache
und auch nicht die der Bauern. Wir sind da einfach auf einer Wellenlänge. Was meinen Sie mit Schaublüten? Ist Ihre Blütenpracht etwa nur eine Show?
Die Schätze, die Sie hier sehen, sind nur colorandi causa, also Schmuck. Die nutze ich, um Insekten um den Finger zu wickeln. Für die kann es nicht groß und bunt genug sein. Aber in der Mitte dieser Dekoration sitzen etwas unauffälligere, blasse, dafür fruchtbare Blüten. Sie sind übrigens auch ganz blass um die Nase. Gießt man Sie vielleicht mit zu kalkigem Wasser?
Das Wasser bei uns zu Hause ist tatsächlich ziemlich kalkig. Aber warum sollte mich das blass machen?
Ich weiß nicht, wie das bei euch Menschen funktioniert, aber wenn mein Trinkwasser kalkig ist, werden selbst meine schönen Schaublüten blassgrün und unscheinbar wie Ihre Nasenspitze.
Ich glaube, bei mir kommt das eher von der Sonnencreme, die ich benutze, damit ich keine Falten bekomme.
Ach Kindchen, Sie haben ja Sorgen. Veränderungen machen Ihnen wohl Angst? Ich vertrage allerdings die pralle Sonne auch nicht, die Hitze tut mir nicht gut. Sie mögen also gerne viel Wasser, aber bei Sonnenlicht hört Ihr großer Appetit auf?
Ich bin kein Freund von falscher Bescheidenheit, ja, aber eine lichthungrige Luxusgöre wie die Rose, die immer die große Bühne sucht, bin ich auch nicht. An einem halbschattigen Plätzchen vertrockne ich nicht so schnell, und meine flachen Wurzeln können sich schön breitmachen. Dann habe ich auch meine Ruhe vor dem ganzen Trubel in der Sonne und kann mich gemütlich einrichten. Ich ziehe nicht gerne um. Das klingt jetzt aber so, als hätten Sie selber Angst vor Veränderungen.
Da sind Sie völlig auf dem falschen Dampfer. Ich komme sehr gut mit Veränderungen zurecht, auch wenn ich fest verwurzelt bin. Meine Blüten reagieren zum Beispiel ganz fein darauf, wenn sich der Säuregrad im Boden ändert. Bei basischem Boden mit pH-Werten über 6,5 kriege ich zartrosa Bäckchen wie Sie mit Ihrer Sonnencreme. Gießt man mich mit kalkigem Wasser, ist daher nix mit opulenter Farbpracht. Und wie bringt man Sie dann so zum Strahlen, dass sogar die Luxusgören ohne Lichtschutzfaktor 50 vor Neid erblassen? Ganz einfach: Je saurer der Boden, desto mehr Blautöne mischen sich bei mir hinein. Erst blühe ich dann in dezentem Lavendel und Taubenblau, und wenn der pH-Wert unter 5,5 sinkt, stehle ich mit meinem satten Bordeaux und Violett aus dem Halbschatten heraus allen die Schau. Was genau bewirkt diesen Farbwechsel? In meinen Blüten sitzt der Pflanzenfarbstoff Delphinidin, benannt nach den lustigen blauen Tümmlern im Meer. Heidelbeeren haben zum Beispiel viel davon. Er kann – in Abhängigkeit vom pH-Wert – gewisse Metall-Ionen wie die von Kupfer oder Eisen binden und reagiert darauf mit der Farbe. In saurem Boden lösen sich die Metalle besser aus der Erde, und ich kann sie durch meine Wurzeln in die Blüten pumpen. Würden Sie auch anfangen zu schillern, wenn ich ein paar rostige Nägel vergrabe? Der Gedanke ist nicht verkehrt – der Nagel
muss aber aus Aluminium sein. Oder Sie düngen mich einfach mit Kaliumaluminiumsulfat. Dann holt sich wenigstens niemand Tetanus beim Umgraben. Dieses Sulfat kenne ich doch aus der Alchemie – als Alaun! Im »Buch der Alaune und Salze« aus dem 11. Jahrhundert dreht sich alles um die Suche nach dessen Geheimformel für die Herstellung von Gold. Wenn das funktionieren würde, wäre ich reicher als Elon Musk und Jeff Bezos zusammen. Mit Alaun werden meine Schätze zwar nicht zu Gold, aber ihr leuchtendes Königsblau ist auch nicht ohne. Langsam verstehe ich, warum Sie in Japan ein Symbol für den ewigen Wandel sind. Japan ist meine ursprüngliche Heimat. Und die Menschen dort haben ein ganz anderes Bild von mir als hier, man könnte sagen: ein aparteres. Es heißt, dass es zu Buddhas Geburt Amacha, einen süßen Tee aus fermentierten Hortensienblüten, geregnet haben soll. Er ist allerdings leicht giftig – verträgt man wohl nur, wenn man erleuchtet ist. Kommen Sie nicht ursprünglich aus Nordamerika? Dort fand man 66 Millionen Jahre alte Fossilien der Hydrangea-Familie. Ja, auch das ist eine Heimat von mir. Aber in Japan und China kultivieren mich Menschen schon so lange, dass ich fester Bestandteil der Kultur geworden bin. Mit meiner Blüte im Juni feiern sie dort Jahr für Jahr den Sommeranfang. Auch die Jahreszeiten zeigen doch, dass Veränderungen etwas Schönes sind.
So ganz verstehe ich Sie noch nicht: auf der einen Seite die Bauernhortensie, die sich beschwert, wenn sie mal umziehen muss. Auf der anderen changieren Ihre Blüten fröhlich von Blassrosa zu Königsblau, als wären Sie ein flinkes Chamäleon. Wie stehen Sie zu Veränderungen? Sie gehen das mit dem Wandel und der Beständigkeit ganz falsch an, Kindchen. Ich bin beides gleichzeitig! Bodenständig zu sein, bedeutet ja nicht, dass man starrköpfig an seinen Gewohnheiten festhält, während die Welt an einem vorbeizieht. Um einen festen Stand zu behalten, muss man mit seiner Umgebung im Dialog bleiben. Sonst wirft es einen schneller aus der Bahn, als man Kaliumaluminiumsulfat sagen kann. Ich sag Ihnen was: Das Leben selbst ist schon so rau wie Bauernhände – da sollten wir nicht auch noch verholzen.
»Bodenständig zu sein, bedeutet ja nicht, dass man starrköpfig an seinen Gewohnheiten festhält, während die Welt an einem vorbeizieht.«
Arbeit kostet uns nicht nur Zeit und Nerven, sie prägt auch unsere Persönlichkeit – mehr als Sie glauben
Text Jana Mack Illustrationen Jean Jullien
Kind, sechs Wochen alt, mit akuter Atemnot.« Es ist eine Nacht im Sommer 2015, als Luis Teichmann diese Meldung liest. Danach wird vieles anders sein. Er ist 19 Jahre alt, seit gut einem Jahr beim Rettungsdienst und mitten in einem Höhenflug. Als er am Einsatzort eintrifft, kommt ihm schon der Fahrer des Notarztes entgegen: »Ist Ex.« Luis Teichmann kennt die Abkürzung für Exitus letalis, tödlicher Ausgang. »Ich weiß, dass ich in der Sekunde gespürt habe, (...) das wird jetzt irgendwie einiges verändern«, sagt er heute. Es habe Jahre gedauert, bis er von dem Einsatz erzählen konnte. Mein schlimmster Einsatz heißt das YouTubeVideo, das er darüber anfertigte.
Er spreche nicht gern darüber, sagt er in dem Video, manchmal stockt er auch, aber er sehe sich in der Verantwortung dazu. Mittlerweile hat er Bücher über den Rettungsdienst geschrieben, ihm folgen rund zwei Millionen Menschen auf Social Media. Oft berichtet er dort von seinem Job mit Humor. Immer wieder schrieben ihm Menschen, dass sie seinetwegen im Rettungsdienst arbeiten wollen. Er wolle das niemandem ausreden, sagt er, er wolle aber auch nicht nur die schönen Seiten zeigen. Denn: »Ich glaube, dass es mich charakterlich nachhaltig geprägt und verändert hat. Dass ich ein etwas anderer Mensch dadurch geworden bin und sicherlich auch nicht mehr so diese grundsätzlich sprühende Lebensfreude habe, wie ich sie, glaube ich, früher hatte.«
Auch Ute hat sich verändert. Sie ist in ihrem Denken offener geworden und kann mehr Umwege zulassen. Jonas ist penibler als früher, wenn er einen Raum betritt. Lilly kann besser Kritik annehmen und äußern. Samira blickt ganz anders auf Männer. Mark denkt globaler und weltoffener. Edda ist geduldiger geworden.
Sie alle arbeiten in verschiedenen Berufen – und führen auch sonst unterschiedliche Leben, doch eines haben diese Menschen gemein: Sie haben sich von ihren Tätigkeiten prägen lassen, ihre Verhaltensweisen, Ansichten und Charaktereigenschaften. Und sie sind nicht die Einzigen.
Eine Überblicksstudie von 2023 hat untersucht, welche Lebensereignisse am stärksten auf unsere Persönlichkeit wirken,
und herausgefunden, dass das Arbeiten uns mehr verändert als die Liebe.
Es können einzelne Erlebnisse sein, wie bei dem Sanitäter Luis Teichmann. Vor allem sind es aber die Routinen, die uns über die Zeit prägen und verändern.
Ute, die sagt, dass ihr Denken offener geworden ist, koordiniert seit 30 Jahren Autorenkollektive bei einem Verlag. »Schwierige Autorenkollektive«, fügt die 64-Jährige hinzu. »Während des Studiums war ich noch sehr stur, aber ich habe im Laufe des Berufslebens gelernt, mich von besseren Ideen leicht überzeugen zu lassen.«
Edda hat die Geduld in 50 Jahren als Goldschmiedin gelernt. Jeder ihrer Arbeitsschritte müsse ordentlich gemacht werden: »Gut gesägt, gut gefeilt, gut geschmirgelt, gut poliert. Da kann nichts übersprungen werden.« Jonas bewegt sich als Schreiner anders in möblierten Räumen, Samiras Blick auf Männer hat sich durch ihre Tätigkeit als Sexarbeiterin geändert, und Mark lernte als Reiseverkehrskaufmann Weltoffenheit.
Studien zeigen: Der Beruf verändert uns stärker als die Liebe.
Sogar stärker als die Geburt eines Kindes
Dass Menschen Sicht- und Verhaltensweisen, die sie tagtäglich im Job praktizieren, auch in ihrer Familie, auf dem Sportplatz oder anderswo im Privaten zeigen, ist ein so verbreitetes Phänomen, dass es dafür sogar eine eigene Bezeichnung gibt: déformation professionnelle, zu Deutsch »berufliche Verformung« – oder auch »Entstellung«.
Jeder kennt das: Wo der gewöhnlichen Touristin eine besonders schöne Hausfassade auffällt, hat die Architektin vielleicht die Epoche, die Bausubstanz oder die Isolierung im Kopf. Und einer Richterin, die den ganzen Tag menschliches Leid rein nach Beweislage betrachten muss, um zu einem Urteil zu kommen, der ist diese Haltung eventuell auch im Privaten anzumerken.
Andrea Seiferth weiß das sehr genau. Und darum sucht sie nach der Arbeit Ruhe. Auf keinen Fall möchte sie dann reden. Sie braucht Abstand von allem, was mit Ge-
sprächen, Schicksalen und Emotionen zu tun hat. Erst mal Pause. Pause von ihrer Rolle als Paartherapeutin. Pause nach einem Tag in ihrer Praxis im Hamburger Norden. Der Moment zwischen Arbeit und Feierabend sei einer, den man achtsam begehen sollte, sagt sie. »Wie bin ich im Beruf? Und wie möchte ich zu Hause sein?« Für diese Unterscheidung, so rät sie, sollte man schon den Heimweg nutzen. Für sie selbst war das lange nicht einfach – Job und Privates waren nur durch ein paar Treppenstufen getrennt. Heute liegt mehr Distanz zwischen der Praxis und ihrer Wohnung, auf dem Rad verfliegen ihre Gedanken an ihre Beratungen fast automatisch.
»Wenn ein Paar zu mir kommt, frage ich immer nach den Berufen«, sagt Andrea Seiferth. Und auch: Was bedeutet das für die Partnerschaft? Gibt es Konflikte?
Viele Menschen würden im Job lernen, keine Gefühle zu zeigen, sagt sie. Zu Hause nehme ihr Partner dann den Stress und die schlechte Laune, die sie aus der Arbeit mit heimgebracht haben, aber deutlich wahr. »Berufe sind immer auch Kommunikationssozialisation. Wir lernen darin, auf eine gewisse Art zu kommunizieren und mit anderen umzugehen. Damit kommen wir auch nach Hause«, sagt Andrea Seiferth. Die Therapeutin erinnert sich an einen Manager, der sehr stark auf das Suchen von Lösungen fokussiert war. Bei seiner Partnerin, einer Heilpädagogin, kam das nicht gut an. »Lösungsvorschläge werden in der Partnerschaft schnell als Kritik verstanden«, sagt Seiferth. »Wir versuchen in vielen Berufen ständig, uns zu optimieren. Das kann für die Partnerschaft geradezu Gift sein.«
Auch Chia-Huei Wu hat sich durch seine Arbeit verändert – und er hat einen professionellen Blick darauf. Er ist Professor für organisatorisches Verhalten am King’s College London und forscht zu Persönlichkeitsveränderungen bei der Arbeit. Früher, sagt er, habe er wenig gesprochen, er sei in sich gekehrt gewesen und zögerlich, wenn er andere um Rat bat. Introvertiertheit ist als Ausprägung der Extraversion in der Persönlichkeitspsychologie eine der »Big Five«: eine von fünf Ausprägungen des menschlichen Charakters. Außerdem gehören dazu auch noch Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, Offenheit für neue Erfahrungen und Neurotizismus.
Lange hieß es, dass sich ein Mensch in diesen Punkten ab einem Alter von 30 Jahren nicht mehr groß verändert. Inzwischen belegen Studien Gegenteiliges: Selbst mit Mitte 60 kann man sich noch ändern. Unter bestimmten Voraussetzungen.
»Für meine Ausbildung und den ersten Job war ich auf drei verschiedenen Kontinenten«, sagt Chia-Huei Wu. In dieser Zeit habe er die Menschen in seinem Umfeld und deren Verhalten genau beobachtet und kopiert. Wie sie sich zum Beispiel meldeten, wenn sie etwas brauchten. Einfach so. »Nach anfänglichem Drucksen fühlte sich das Fragen nach Ratschlägen auch für mich ganz natürlich an«, sagt er. Heute bittet dieser ehemals introvertierte junge Mann nicht nur andere um Rat, sondern gibt ihn auch an seine Studierenden weiter – und hält Vorlesungen vor Hunderten von Personen. Dabei achte er sehr genau auf das, was er sagt: bloß keine falschen Botschaften weitergeben, zuverlässig sein, immer korrekt und
genau zitieren. Er sagt, er sei dadurch noch gewissenhafter geworden. »Vor allem, wenn wir über längere Zeit bestimmte Anforderungen in einem Job erfüllen, festigen sich bestimmte Gedanken-, Gefühls- und Verhaltensmuster und übertragen sich dann auch auf andere Lebensbereiche.« Bei sich selbst beobachtet er da zum Beispiel diese große Detailverliebtheit, wenn er Aktionen mit seiner Familie plant: »Ich behalte dabei jede Eventualität im Blick.«
Aber nicht nur das Immergleiche prägt uns – auch wer plötzlich mit neuen Erwartungen konfrontiert wird, kann sich dadurch verändern. Das zeigt eine Langzeitanalyse, an der Chia-Huei Wu beteiligt war. Besonders deutlich werden solche Veränderungen entlang der großen Übergänge im Berufsleben: vom Studium zum ersten Job. Vom Arbeitsleben in den Ruhestand. Auch eine Führungsposition kann uns verändern. Die Studie von 2021 zeigt unter anderem: Chefwerden macht gewissenhaft. Vielleicht
sei es die größere Verantwortung, vermutet Chia-Huei Wu, vielleicht seien es die vielen Dinge, auf die man achtet, um die Rolle gut zu erfüllen. Noch sei das nicht bewiesen, aber »es könnte eine positive Verstärkung zwischen dem Führungsstil und der Persönlichkeit geben«, sagt er. Denn: »Führungspersonen wählen den Stil und die Art von Führungsperson, die sie sein wollen.«
Korrespondenzprinzip nennen Fachleute diesen sich selbst verstärkenden Mechanismus – und der wirkt auch außerhalb von Führungspositionen: Eine Neigung veranlasst jemanden, einen bestimmten Karriereweg einzuschlagen. Und auf dem Weg kommt diese Neigung immer stärker zum Vorschein – bis sie irgendwann eine sehr präsente Charaktereigenschaft geworden ist. Wohin die Veränderungen also gehen und wie stark sie sind, ist von Mensch zu Mensch verschieden – und hängt von vielen Faktoren ab: Sind die Arbeitsbedingungen mies? Und die Mitarbeiter dadurch labil?
Wie sehr identifiziert sich jemand mit seiner Tätigkeit? Wie sehr lässt er sich von seinem professionellen Umfeld anstecken? Zum Beispiel von den Gesprächen und Einstellungen auf einer Floristenparty?
»Manchmal merken wir gar nicht, dass wir uns verändern«, sagt Eva Asselmann. »Häufig neigen wir dazu, uns selbst als stabiler und kontinuierlicher wahrzunehmen, als wir es tatsächlich sind.« Sie ist Professorin für Psychologie an der Health and Medical University Potsdam. Gemeinsam mit einer Kollegin hat sie die Daten einer in Deutschland seit 1984 regelmäßig geführten repräsentativen Umfrage analysiert, des Soziooekonomischen Panels. Die beiden wollten herausfinden, wie sich Eltern durch die Geburt eines Kindes verändern – im Vergleich zu anderen Umbrüchen aus dem Arbeitsleben. Ihre erstaunliche Erkenntnis: »Tatsächlich scheint uns der Beruf mehr zu verändern als die Geburt eines Kindes.« Asselmann vermutet, dass das daran liegen könnte, dass
wir im Job klarere Rollenanforderungen haben. Es gibt Vorgaben, was wir wie zu tun haben. Feste Zeiten, zu denen wir an vorgegebenen Orten sein müssen. Und Feedbackgespräche. »Zu Hause sind ja keine Vorgesetzten, die mir sagen, wie ich mit meinem Kind umzugehen habe.« Der Berufseinstieg hatte die Befragten gewissenhafter und verträglicher gemacht, ergab ihre Studie. Nach dem Ausstieg aus dem Berufsleben nahm die Gewisenhaftigkeit wieder ab. Zumindest im ersten Jahr. Das Phänomen hat auch einen Namen, Forscher nennen es den La-dolce-vita-Effekt. Das süße Leben. Süß findet Ehefrau Renate den Ruhestand ihres Mannes Heinrich Lohse in Loriots Klassiker Pappa ante portas von 1991 ganz und gar nicht. Sie beginnt lieber selbst, zu arbeiten, um nicht die ganze Zeit mit ihm zu Hause sein zu müssen, wo er alles durcheinanderbringt. »Ich habe mir deinen Ruhestand anders vorgestellt«, sagt sie. »Entschuldige, das ist mein erster Ruhestand«, sagt er.
Es sind Situationen wie diese, in denen die Therapeutin Andrea Seiferth versucht, den Paaren beizustehen. Wenn sich das Berufsleben oder die Anforderungen darin verändern, sagt sie, müsse auch zu Hause neu verhandelt werden. Wie passt die neue Rolle zur Partnerschaft? Was wird von der Person im Privaten erwartet? Denn das, sagt Andrea Seiferth, stimme selten mit den Erwartungen im Beruf überein.
Für die restliche Zeit, also all die Tage und Feierabende zwischen den großen Umbrüchen im Job, empfiehlt sie ein tägliches »Wie war dein Tag?«. Und dann: zuhören, trösten, unterstützen, da sein. Das erleichtere es der anderen Person, sich zu öffnen, und erzeuge Nähe. Als ihre Kinder noch klein waren, hatte sie dafür ein Ritual: ein kleiner Spaziergang am Abend, zusammen mit ihrem Ehemann. Inzwischen ist es das gemeinsame Kochen oder ein schlichtes Gespräch am Tisch. Geblieben sei der tägliche gemeinsame Blick auf den Beruf.
Deutschland war schon immer ein Land des Kommens und Gehens. Warum tun wir uns so schwer mit einer guten Willkommenskultur?
Text Niels Boeing Infografiken Carsten Raffel
Ankunft von Einwanderern auf Ellis Island, New York (links): Die USA und auch Kanada verstanden sich immer als Einwanderungsländer. Eine echte Willkommenskultur blitzte in Deutschland nur einmal kurz 2015 auf
Es ist eine unruhige Zeit. Viele Tausend Menschen packen ihr Hab und Gut und machen sich auf den Weg nach Berlin, Magdeburg oder Halle, nach Frankfurt, Köln oder Hamburg. Man hat ihnen in ihrem Land die Bürgerrechte entzogen, und nun folgen sie dem Ruf in ein anderes Land. »Sobald sie sich in einer Stadt niedergelassen haben, sollen ihnen die Rechte eingeräumt werden, die andere Bürger dort genießen«, hat der Landesherr verfügt. Er stellt auch unmissverständlich klar, dass ihnen nicht »das geringste Übel, Unrecht oder Verdruss zugefügt« werden dürfe, sondern vielmehr im Gegenteil ihnen »Hilfe, Freundschaft, Liebes und Gutes erwiesen werden« solle. Die da kommen, sind nicht einfach nur Gäste, sie sollen sich als neue Bürger willkommen fühlen – mit vollen Bürgerrechten.
Ein Blick in eine Zukunft, in der Deutschland endlich seinen Frieden mit sich als Einwanderungsland geschlossen hat? Nein. Der Landesherr ist nicht der Bundeskanzler, sondern Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg. In seinem Edikt von Potsdam hat er 1685 die im katholischen Frankreich verfolgten protestantischen Hugenotten eingeladen, sich in seinem Land niederzulassen. Nicht nur aus Barmherzigkeit für seine Glaubensgenossen, denn sie bringen ein beträchtliches wirtschaftliches Know-how mit.
Friedrich Wilhelm setzt alle Hebel in Bewegung, den künftigen Bürgern die Einwanderung leicht zu machen. Seine Gesandten in Hamburg, Köln und Frankfurt sind angewiesen, durchreisenden Hugenotten auf dem Weg in die brandenburgischen Lande behilflich zu sein. Man muss leider feststellen: Eine so umfassende
Willkommenskultur wie damals, vor über drei Jahrhunderten, hat es in Deutschland seitens des Staates bis heute nicht wieder gegeben.
Dieses große Land in der Mitte Europas, zwischen Alpen und Nord- und Ostsee, ist immer, darin sind sich Historiker einig, ein Land des Kommens und Gehens gewesen. Menschen zogen aus anderen Teilen Europas hier hin, andere wanderten von hier aus, nach Südosteuropa oder nach Amerika. Es dauerte vom Edikt von Potsdam fast 200 Jahre, bis ein deutscher Nationalstaat gegründet wurde. Doch als der 1871 im Schloss von Versailles von Bismarck ausgerufen wurde, hatte sich etwas geändert. »Deutsch« bezeichnete da nicht länger deutschsprachige Menschen in zahlreichen souveränen Fürstentümern und Königreichen, sondern die Zugehörigkeit zu einer imaginären Gemeinschaft. Auf wundersame Weise schien die gemeinsame Sprache zum Beweis gemeinsamen Blutes geworden zu sein. So falsch diese Vorstellung genetisch, geografisch und historisch ist, sollte sie noch Millionen Menschen in Europa das Leben schwer machen – wenn sie die Konsequenzen überhaupt überlebten. Ein früher Vordenker dieses neuen Verständnisses von »deutsch« war der preußische Dichter Johann Gottfried Herder, nach dem noch heute Straßen und Schulen benannt sind.
»Das Zeitalter fremder Wunschwanderungen und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Fülle, Ahndung des Todes«, befand Herder bereits 1774. Zwanzig Jahre später schrieb er: »Völker sollten neben einander, nicht durch- und übereinander drückend wohnen.« Andere Literaten und Philosophen stießen fortan ins selbe Horn, darunter sogar Berühmtheiten wie Friedrich Schiller, der die »deutsche Würde« als eine »sittliche Größe« sah, die »in der Kultur und im Charakter der Nation« wohne.
Während in Frankreich das Volk als Staatsvolk, als demos mit Bürgerrechten, gedacht wurde, wurde es in den deutschsprachigen Ländern zum Abstammungsvolk, zum ethnos. Volk und Staat wurden nicht wie in Frankreich zusammen, sondern getrennt gedacht. »Diese kategoriale Unterscheidung von Staat und Volk wurde in die deutsche politische Theorie übernommen«, schreiben die Historiker Christian Jansen und Henning Borggräfe. Es gab noch keinen deutschen Nationalstaat, nur die heute belächelte »Kleinstaaterei« aus Fürstentümern, in denen zwar Deutsch die Amtssprache war, deren Bürger aber 50 Kilometer weiter schon wieder Ausländer sein konnten. Jansen und Borggräfe stellen unmissverständlich fest: »Um 1800 entstand eine deutsche nationalistische Ideologie, die sich von der in Westund Nordeuropa grundsätzlich unterschied und teilweise bewusst abgrenzte.« Eine Sprache, ein Volk, ein Blut – so könnte man den Kern dieser Ideologie zusammenfassen. Sie prägt bis heute den Umgang Deutschlands mit Einwanderung – und tat es erstmals im Kaiserreich. Dem
59 Mio. ohne Migrationshintergrund
12,5 Mio. Ausländer
12,4 Mio Deutsche mit Migrationshintergrund
Türkei
Ex-Jugoslawien
Polen
Rest-Europa
Afrika
Amerika
Asien
Rest
Knapp ein Drittel der in Deutschland Lebenden haben Wurzeln in anderen Teilen der Welt – die meisten in Europa, vor allem in Polen, Ex-Jugoslawien und der Türkei
ersten deutschen Nationalstaat gelang die industrielle Aufholjagd gegenüber Großbritannien nämlich nur mithilfe von Arbeitskräften, die aus anderen Ländern kamen oder andere Sprachen hatten. Auf bis zu 1,2 Millionen wird ihre damalige Anzahl geschätzt. Vor allem Polen – von denen etliche als deutsche Staatsangehörige in Westpreußen und Schlesien lebten – galten als Vorboten einer »slawischen Flut«, die im Osten Deutschlands drohe. Selbst der berühmte Soziologe Max Weber warnte vor dieser Flut.
Zwischen 1885 und 1887 wurden mehr als 30.000 Polen mit russischer oder österreichischer Staatsangehörigkeit ausgewiesen. Der Tonfall der Debatte wurde aber noch schriller. Ab 1909 mussten ausländische Arbeiter jederzeit farbige Legitimationskarten bei sich tragen. Polen bekamen rote Karten, Italiener grüne, Belgier und Niederländer blaue. Wer bei einer Polizeikontrolle die Karte nicht bei sich hatte, konnte ausgewiesen werden. 1913 wurde ein neues Staatsangehörigkeitsrecht verabschiedet, nachdem nur Deutscher sein konnte, wer von Deutschen abstammte. Die deutsche Ideologie, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, war nun offiziell geltendes Recht. Sie führte in den folgenden drei Jahrzehnten in die Katastrophe von zwei Weltkriegen und dem Holocaust mit vielen Millionen Toten. Das Ende des Nationalsozialismus 1945 ist oft als »Stunde
null« bezeichnet worden. Tatsächlich gab es die nicht. Nicht nur, weil die Entnazifizierung durch die Alliierten wenige Jahre später abgebrochen wurde und etliche NSDAP-Mitglieder in Verwaltung und Industrie geholt wurden. Auch die Frage »Wer ist deutsch?« – und damit: »Wer gehört zu Deutschland?« – wurde nicht neu beantwortet. Zwar gab sich die neue Bundesrepublik mit dem Grundgesetz eine in Teilen radikal moderne Verfassung. Aber das alte Denken war nicht beseitigt.
Artikel 3 des Grundgesetzes betont, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien und niemand benachteiligt werden darf aufgrund von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöser oder politischer Anschauungen und Behinderung. Doch in Artikel 116 ist der »Volksdeutsche« immer noch da: Deutscher im Sinne des Grundgesetzes sei auch, wer »als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit« in die Bundesrepublik gekommen sei. »Das ist höchst problematisch«, sagt Maria Alexopoulou, Historikerin am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt an der TU Berlin. »Der Volksdeutsche blieb sehr lange noch die Kontrastfolie, an der bestimmt wird, wer dazugehört und wer kommen und bleiben darf. Das wirkt bis heute nach.«
Als im »Wirtschaftswunder« nach 1955 in mehreren Anwerbeabkommen »Gastarbeiter« ins Land geholt werden, ist für die Deutschen klar: Sie kommen nicht, um zu bleiben. Denn sie gehören ja nicht dazu. Sie arbeiten hier, verdienen gutes Geld und gehen dann zurück in ihre Heimat. Das aber tun sie nicht, und in der westdeutschen Gesellschaft macht sich Nervosität breit. Sogar der Spiegel schreibt im Juli 1973: »Die Türken kommen – rette sich, wer kann.« Die Anwerbung wird noch im selben Jahr gestoppt, doch die neuen hart arbeitenden Mitglieder der westdeutschen Gesellschaft holen Familienangehörige nach. Helmut Kohl wird 1982 zum Bundeskanzler gewählt, im Koalitionsvertrag von Union und Liberalen heißt es: »Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland.« Diese Haltung ist breiter Konsens – auch der vorherige sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt hat ein Jahr zuvor bekundet: »Die Bundesrepublik soll und will kein Einwanderungsland werden.«
1983 Jahr legt Kohls Regierung ein RückkehrProgramm auf: 10.500 D-Mark und die in die Rentenversicherung eingezahlten Beiträge erhält jeder »Gastarbeiter«, der die Bundesrepublik verlässt. Und doch bleiben viele in ihrer neuen Heimat. Zählt die Bundesrepublik 1980 4,6 Millionen, sind es 1985 – ein Jahr nach dem Rückkehr-Programm – nur 100.000 weniger. Beim Mauerfall vier Jahre später leben bereits fünf Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit im Westen der Republik (siehe Grafik).
Die Globalisierung bringt Menschen in aller Welt dazu, sich in der Ferne einen guten Job zu suchen.
Gleichzeitig treiben Kriege Millionen Menschen in die Flucht. So sind bis heute immer mehr Menschen aus anderen Ländern auch in die Bundesrepublik gekommen. Inzwischen sind es rund 12,5 Millionen ohne deutschen Pass und weitere 12,4 Millionen mit einem deutschen Pass, die selbst oder deren Elternteile im Ausland geboren sind. 24,9 Millionen Menschen mit einer sogenannten Migrationsgeschichte (siehe Grafik). Was erleben sie in Deutschland?
Die Eltern der Hamburger Kulturmanagerin Ana Amil kamen Anfang der 1970er-Jahre als »Gastarbeiter« aus Spanien und aus Portugal nach Deutschland. Amil ist hier geboren. »Meine Familie kommt aus dem ›guten‹ Ausland«, sagt sie. Deshalb sei sie zwar nicht offen diskriminiert worden. »Aber ich kam mir lange wie eine Diversitätsfüllmasse vor. Ich war willkommen, wurde aber nicht ernst genommen.« Wenn sie in früheren Jahren etwa bei politischen Aktivitäten Vorschläge machte, wurden die oft ignoriert. »Ohne die Förderung durch meinen sehr politischen Vater und einige Einzelpersonen, die meinen Willen und mein Potenzial gesehen haben, hätte mich das irgendwann frustriert«, sagt Amil.
Die Hamburger Künstlerin Monty wurde mit 15 Jahren von ihren Eltern aus der Islamischen Republik Iran nach Deutschland geschickt. Sie habe die kleinen Spitzen des Alltagsrassismus anfangs gar nicht richtig
Die Einwanderung hat seit 1960 stetig zugenommen. Den »Gastarbeitern« folgten deren Familien, später Jobsuchende und Kriegsflüchtlinge
wahrgenommen. Etwa von einem Hochschul-Professor, der ihre künstlerische Arbeit als »kitschigen Ausdruck ihrer orientalischen Herkunft« abkanzelte. Oder eine Behördenmitarbeiterin, die für die Einbürgerung trotz ihres akzentfreien Deutschs einen Deutschtest verlangt. Monty sagt: »Ich habe mich lange als Gast gefühlt. Erst mit der Geburt meiner Tochter hat sich das geändert.« Und doch musste sie sich in der Corona-Zeit beim JobCenter anhören: »Sie können doch nicht einfach hierherkommen und Geld beantragen.« Im Alltag benutzt sie immer wieder den Nachnamen ihrer Tochter, der klinge weniger »verdächtig«. Drittes Beispiel: eine junge Juristin, deren Familie aus Westafrika stammt. In Frank-
Malta
Zypern
Schweden
Luxemburg
Österreich
Irland
Deutschland
Belgien
Niederlande
Spanien
Estland
Frankreich
Lettland
Italien
Slowenien
Kroatien
Finnland
Dänemark
Portugal
Griechenland
Litauen
Tschechien
Ungarn
Slowakei
Polen
Rumänien
Bulgarien
Der Vergleich zeigt, wie groß in einem EU-Land der Anteil der Menschen ist, die dorthin selbst eingewandert sind. Ihre in dem Land geborenen Kinder werden in dieser Betrachtung von Eurostat nicht mitgezählt (Stand 2021)
reich hat sie ihren Jura-Abschluss gemacht. Seit Kurzem ist sie Compliance Officer in einem Hamburger Unternehmen mit 2.000 Mitarbeitern. Als sie das erste Meeting mit verschiedenen Abteilungsleitern betrat, sagten einige, man müsse noch auf den neuen Compliance Officer warten. »Ich wurde für die Assistentin oder eine Praktikantin gehalten.« Sie ließ die Kollegen 20 Minuten schmoren und klärte die Situation erst dann auf. »Da haben einige Entschuldigungen gestammelt.«
Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte können solche Geschichten erzählen. Es sind diese vielen kleinen Begebenheiten im Alltag und in Institutionen, in denen sich immer noch das überkommene ethnische Selbstbild der deutschen Mehrheitsgesellschaft zeigt. Oft ohne böse Absicht. »Deutschland kommt immer noch nicht damit zurecht, dass das ›deutsche‹ Volk als Souverän des Staates nicht ein Volk homogener Herkunft ist«, sagt Maria Alexopoulou. Dies zeigt die seit einiger Zeit immer schriller geführte Debatte um Migration deutlich. Die Beschwörung einer »islamischen Gefahr« ist im Grunde nur die Neuauflage der Beschwörung einer »slawischen Flut« vor 140 Jahren.
Hat sich also nichts geändert? Doch. Die jüngeren Generationen mit Migrationsgeschichte nehmen die Zumutungen nicht länger hin. Sie erzählen ihre Geschichten. Sie fordern, in Institutionen und in Gremien angemessen repräsentiert zu sein, wie die aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Willkommenskultur in Krisenzeiten zeigt. »Menschen mit Migrationsgeschichte nehmen stärker wahr, dass die Gleichbehandlung, dass eine Inklusion in der deutschen Gesellschaft, etwa im Hinblick auf die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, noch nicht richtig verwirklicht ist«, sagt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Wieland, die die Studie geleitet hat.
Die Mahnungen in Politik und Wirtschaft, Deutschland müsse seine Willkommenskultur verbessern, gehen indes an der Sache vorbei. Wer willkommen geheißen wird, ist üblicherweise Gast. Viele Menschen mit Migrationsgeschichte sehen sich jedoch nicht als Gäste, sondern als Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Sie wollen ankommen und dazugehören, nicht nur willkommen geheißen werden.
Es gibt aber durchaus Grund zur Hoffnung, dass das noch gelingen könnte. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 1999 durch die rot-grüne Koalition brach erstmals mit dem Verständnis von »Deutschsein«, wie es seit 1913 galt. Seitdem können in Deutschland geborene Kinder von Eingewanderten mit 18 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen – allerdings unter Verzicht auf diejenige der Eltern. Anfang dieses Jahres verabschiedeten Bundestag und Bundesrat das Staatsangehörigkeitsmodernisierungsgesetz. Es erleichtert nicht nur die Einbürgerung, sondern beseitigt auch die Auflage, die alte Staatsangehörigkeit aufgeben zu müssen. Damit schließt sich Deutschland dem Standard
von Einwanderungsstaaten an. Allein in der EU erlauben 22 Länder die doppelte Staatsbürgerschaft.
Für Tarik Tabbara, Professor für Staatsangehörigkeitsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, geht dies in die richtige Richtung. »Die Einbürgerung sollte nicht Ziel der ›Integration‹ sein, sondern ein Mittel, um sie zu erreichen.« Für ihn ist Kanada ein Vorbild. Wer im Regelfall dort drei Jahre gelebt hat, kann die kanadische Staatsangehörigkeit beantragen. »Die Grundannahme ist: Jeder kann ein Citizen werden, und der kanadische Staat hat ein aktives Interesse daran, Eingewanderte zu Citizens zu machen«, so Tabbara.
Citizen bedeutet: vollwertiger Staatsbürger mit allen Rechten, auch dem Wahlrecht. Denn es ist für eine Demokratie nicht gut, wenn ein erheblicher Teil der Gesellschaft nicht aktiv an ihr teilnehmen kann. Bei der Bundestagswahl 2021 konnten 16,7 Prozent der in Deutschland Lebenden über 18 Jahre aufgrund ihres Ausländerstatus nicht mitwählen – obwohl sie Steuern zahlen und den Sozialstaat mitfinanzieren. Tabbara schlägt deshalb vor, langfristig den Begriff des Staatsbürgers von der Staatsangehörigkeit zu trennen. Wer dauerhaft im Land lebt, darf wählen. Neuseeland ist diesen Schritt vor einigen Jahren schon gegangen.
Bis dahin bleibt in Deutschland viel zu tun: Migrationsämter müssten besser ausgestattet, die Mehrsprachigkeit ihrer Mitarbeiter und der notwendigen Formulare vorangetrieben werden – und die Möglichkeiten, rasch die deutsche Sprache zu erlernen, müssten massiv ausgeweitet werden. Denn die deutsche Sprache zu beherrschen, ist für fast alle der in Deutschland Lebenden mit Migrationsgeschichte das entscheidende Merkmal, eine Person als deutsch anzusehen. Zu diesem Ergebnis kam 2016 die Studie Deutschland Postmigrantisch III von Coşkun Canan und Naika Foroutan von der Humboldt-Universität zu Berlin. Sprache aber hat nichts mit Abstammung zu tun.
Um dies zu erreichen, ist allerdings noch etwas nötig. »In Deutschland gab es in der Vergangenheit allerhöchstens ein ›Wir wollen das‹«, ... aber nie ein ›Wir wollen das‹‹‹, schreibt die Journalistin Gilda Sahebi in ihrem eindrucksvollen Buch Wie wir Rassismus produzieren. Es sind inzwischen viele Menschen in dieser Republik, die das wollen, mehr als je zuvor in eineinhalb Jahrhunderten deutscher Nationalstaatsgeschichte. Hier ist eine historische Chance, den deutschen Sonderweg zu verlassen und auf den Weg des Kurfürsten Friedrich Wilhelm zurückzukehren: nämlich allen, die hier angekommen sind, »Hilfe, Freundschaft, Liebes und Gutes« zu erweisen – und sie zu gleichberechtigten Citizens ohne Wenn und Aber zu machen.
Niels Boeing ist St. Paulianer, Westfale, Europäer. Die Bundesrepublik könnte für ihn auch genauso gut Bundesrepublik Zentraleuropa oder Bundesrepublik Rhein-Oder heißen.
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Prof Dr Shoma Barbara Berkemeyer lehrt an der HS Osnabrück.Tinnituspatienten ohne Hörschaden waren der Medizin ein Rätsel. Nun könnten sie der Schlüssel zur Heilung sein
Text Insa Schiffmann
Ein Flüstern ist lauter, das Ticken einer Uhr auch, selbst manche Fliegen machen mehr Wirbel.
Trotzdem kann ein fünf Dezibel leises Ohrgeräusch, ein Tinnitus, manche Menschen bis in die Arbeitsunfähigkeit treiben. Zwölf Prozent aller Deutschen haben ein Piepsen, Rauschen oder Rumpeln im Ohr. Depressionen, Angst und Schlafstörungen treten bei Betroffenen deutlich häufiger auf als im Durchschnitt.
Meistens wird ein Tinnitus durch einen Lärmschaden verursacht, der zu einer Hörminderung führt. Bisher glaubte man, dass zu laute Geräusche stets die Haarzellen zerstören. Das sind die Sinneszellen, die den Ton im Innenohr aufnehmen und in elektrische Impulse umwandeln, die das Gehirn dann als Geräusche registriert. Wenn Haarzellen durch Lärm absterben, entsteht eine Schwerhörigkeit für eine be-
Phantomgeräusche entstehen wohl durch Schäden an den Nervenfasern. In diesem Fall ist das ausnahmsweise eine gute Nachricht
stimmte Frequenz. Der Central Gain Theory zufolge versucht das Gehirn, den fehlenden Input auszugleichen und füllt die akustische Leerstelle selbst. Ähnlich wie beim Phantomschmerz in amputierten Gliedmaßen entsteht eine Art Phantomgeräusch. Allerdings scheiterte die Theorie bislang an jenen Tinnituspatienten, die in Hörtests normal abschneiden – bis Forschende einen »unsichtbaren Hörverlust« entdeckten.
Versuche an Mäusen zeigten, dass unter bestimmten Bedingungen nicht die Haarzellen selbst geschädigt werden, sondern die Nervenfasern, die die Signale weiterleiten. Leise, mittellaute und laute Töne werden von jeweils eigenen Nervenfasern verarbeitet – die Nerven für laute Geräusche sind am empfindlichsten. Es gibt Menschen, die nur laute Geräusche einer bestimmten Frequenz schlechter hören. In einem Hörtest fällt das nicht auf, da dieser nur die leisesten
wahrnehmbaren Töne prüft. Sie haben keinen messbaren Hörschaden, aber trotzdem einen Tinnitus. Die These des Hidden Hearing Loss besagt, dass diese normal hörenden Tinnituspatienten eine geringere Aktivität in den Nerven aufweisen. Dazu passt die Beobachtung, dass es vielen von ihnen schwerfällt, eine Unterhaltung in lauter Umgebung zu verstehen.
Ausnahmsweise ist es eine gute Nachricht, dass geschädigte Nerven die Ursache für das Leiden sein sollen: Denn während es kaum möglich ist, Haarzellen wiederzubeleben, erscheint die Aussicht, Nervenfasern zu reparieren, realistischer. Die Medizin hofft auf Neurotrophin-3, ein Protein, das die Entwicklung der Hörnerven im Embryo steuert und bereits in Tierversuchen Erfolge zeigt. Es könnte Tinnituspatienten in einigen Jahren zu neuen Nervenverbindungen verhelfen. Und endlich zur Ruhe.
Weiterlesen: Die Deutsche Tinnitus-Liga bietet Informationen zur Entstehung der Hörstörung und zu aktuell verfügbaren Therapien gegen den Tinnitus (tinnitus-liga.de)
Manches Wissen wächst in verdammt hohen Gebieten. Trotzdem sollte man sich hin und wieder dorthin aufmachen, auch wenn es richtig anstrengend wird. Willkommen auf dem Pfad der Hedonismus-Forschung
Das Leben genießen: Darf man dafür Kaviar essen und auf die Seychellen fliegen? Oder ist das gewissenlos? 2.500 Jahre Philosophie haben schon mal Argumente gesammelt
Text Tobias HürterGehen Sie erst los, wenn Sie die folgenden Grundlagen in Ihren Rucksack gepackt haben
in Bier, aber bitte alkoholfrei. Ein Stück Schokolade, aber nur eins, sonst droht
Gefahr für den Beach-Body. Fernweh –und Flugscham. In den Augen mancher Menschen haben Genüsse, die einmal harmlos erschienen, ihre Unschuld verloren. Als müsse jemand, der sich gut fühlen will, sich für sie schlecht fühlen.
Genuss gegen Gewissen, dieser Gegensatz ist viel älter als Klimakrise und Fitnesskult. Schon die Denker der Antike stritten über Genuss. Da waren einerseits die Anhänger des Philosophen Epikur, die Lebenslust als höchstes Ziel ausgaben. Da waren andererseits die Kyniker, allen voran Diogenes, die allem Vergnügen entsagten. Diogenes soll ohne Wohnsitz gewesen sein, sich von Brot und Linsenbrei ernährt und seinen Sexualtrieb durch Masturbation gestillt haben.
Im Christentum setzte sich die ambivalente Haltung zum Genuss fort. Die katholische Kirche ist manchen Formen von Genuss und Luxus durchaus zugetan. Andere christliche Strömungen sahen darin Sünde, setzten sich davon ab und lehrten Askese, Fleiß, Zucht und Genügsamkeit.
Jemand genießt, wenn sie oder er Freude oder Wohlbehagen verspürt: ein angenehmes Gefühl. Was soll daran schlecht sein? »Am Genuss gibt es immer ein ungutes Element«, sagt der österreichische Philosoph Robert Pfaller: etwas Schädliches, Exzessives. »Genussmensch« ist eine Bezeichnung mit einer Prise Gift. In ihr klingt mit: Der ist faul oder dekadent, Klima und Moral sind ihm egal.
Geht es nach manchen Philosophen und Ökonomen der Moderne, sollte sich niemand für seine Genüsse schämen müssen. Den Utilitaristen zufolge
Jeremy Bentham (1748–1832) war Jurist, Philosoph und politischer Aktivist. Er begründete den Utilitarismus.
ist das Streben nach Genuss Priorität Nummer eins. Im späten 18. Jahrhundert nannte Jeremy Bentham, der Begründer des Utilitarismus, Genuss oder Wohlergehen »das einzige Gut«, Schmerz »ausnahmslos das einzige Übel«. Diese »zwei Souveräne« beherrschen laut Bentham das menschliche Leben. Das Streben nach Genuss und die Vermeidung von Schmerz seien letztlich die Motive allen Handelns.
Genuss bedeutet jegliche Art eines angenehmen Gefühls, jede Empfindung, die positiv kribbelt. Es gibt bedeutungsverwandte Wörter, die das Gleiche bezeichnen können: Freude, Behaglichkeit, allgemein eben: sich gut fühlen. Daher ist Genuss offensichtlich gut: Es ist gut, sich gut zu fühlen.
Allerdings muss man den Begriff »Genuss« vom Klischee befreien, um Benthams Prinzip richtig zu verstehen. Es geht nicht nur um »guilty pleasures«, nicht nur Fressen, Saufen und Prassen. Menschen können alles Mögliche genießen. Schokolade und Fasten. Champagner und Wasser. Lieben und geliebt werden. Den Sommer. Eine wissenschaftliche Theorie. Ein Lachen. Manchmal sogar Schmerz. Oder schlicht, lebendig zu sein. Was immer ein Mensch genießt, es geht darum, sich damit gut zu fühlen, es zu mögen und wieder anzustreben, wenn es fehlt.
Oft sind es große Dinge, von denen Menschen Genuss erwarten. Die seltene Flasche Wein, das tolle neue Auto, die Luxusreise. Aber größer bedeutet nicht automatisch mehr Genuss. Wenn jemand von seiner Reise auf die Seychellen schwärmt, hatte er nicht unbedingt eine bessere Zeit als jemand, der zum Baggersee geradelt ist. Hummer muss nicht besser schmecken als ein Käsebrot.
Unsere Bergführer
Thomas Hurka ist ein kanadischer Philosoph. Er hat viel darüber nachgedacht, was zu einem guten Leben gehört.
Wolfram Schultz ist Neurowissenschaftler und einer der führenden Experten für das Dopaminsystem. Fotos (v. l.): mauritius images; privat;
Los geht’s! Auf leichten Anhöhen begegnen Sie Erkenntnissen, die Sie ins Schwitzen bringen können
Genuss kann man nicht kaufen, auch wenn die Werbung es manchmal behauptet. Man kann allenfalls Dinge kaufen, die genießen helfen – ohne Garantie. Menschen neigen zum Glauben, dass etwas, das großen Genuss verschafft, außergewöhnlich sein muss. Das Gewöhnliche sei dröge, billig, ordinär. Das Seltene, Erlesene, Teure sei Genuss. Kaviar, sprich Fischeier, üben einen Reiz aus, der Hühnereiern fehlt. Könnte es den Genuss beim Verzehr von Hühnereiern fördern, wenn sie so rar wären wie Kaviar?
Gut möglich, zeigt ein anderes Beispiel: Im 18. Jahrhundert war die Ananas ein Statussymbol und begehrtes Genussmittel des britischen Adels. Wer es sich leisten konnte, verzehrte mehrere der Tropenfrüchte täglich. Dann wurde die Ananas weithin verfügbar. Die Exotik verflog, und mit ihr die Begierde.
In einem Experiment stellte sich der Starviolinist Joshua Bell eines Januarmorgens in einer U-BahnStation der US-Bundeshauptstadt Washington neben einen Mülleimer, klappte den Geigenkoffer auf und spielte sechs Stücke. Normalerweise tritt er fein gekleidet in den bedeutendsten Konzertsälen der Welt auf, nun trug er Jeans, T-Shirt und eine Baseballkappe. Während der 43 Minuten dauernden Performance liefen 1.097 Menschen vorbei, fast alle achtlos, obwohl sie gratis serviert bekamen, was Menschen anderswo teuer bezahlen und begeistert beklatschen.
Genuss ist offenbar Kopfsache, subjektives Erleben, bemerkenswert empfindlich gegenüber Sorgen und schlechter Laune. Ein verzanktes Paar wird auch in einem Fünfsternehotel keine Freude haben. Ein glückliches Paar dagegen kann auch in einem Zelt die gemeinsame Zeit genießen. In der richtigen Stimmung braucht es wenig für viel Genuss.
Klassische Utilitaristen wie Jeremy Bentham betrachteten Genuss wie einen Regler, der sich hoch- und runterdrehen lässt. Das ist zu einfach. Es gibt nicht nur mehr oder weniger Genuss, sondern verschiedene Typen von Genuss, die sich nicht gegeneinander aufrechnen lassen. Der kanadische Philosoph Thomas Hurka, der an der University of Toronto über Ethik forscht, hat etwas System in die Sache gebracht. Er unterscheidet »einfache« Genüsse, die keinen tieferen Gehalt haben, von komplizierteren Genüssen mit Bedeutungsgehalt. Ein einfacher Genuss ist etwa ein
Stück Schokolade: diese reiche, süße, cremige Empfindung im Mund. Fühlt sich einfach gut an. Ähnlich wie der Genuss, am Strand zu liegen: Sand auf der Haut, wärmende Sonne, Meeresrauschen. Nicht wie Schokolade, aber auch auf seine Art einfach.
Komplizierter sind Genüsse, die damit verbunden sind, dass etwas der Fall ist – also mit einer Tatsache: zum Beispiel die Freude über die Tatsache, dass die deutschen Fußballerinnen ein Tor geschossen haben. Oder darüber, dass die Tochter gerade ihr erstes Wort gesprochen hat. In diesem Typ von Genuss steckt mehr als eine einfache sinnliche Empfindung. Man muss denken können: den Gedanken, dass das Nationalteam getroffen hat. Genüsse »über« etwas nennt Hurka diesen Typ.
Tiere haben sinnliche Empfindungen und vermutlich einfache Genüsse. Eine Katze kann eine Streicheleinheit oder ein Leckerli genießen. Sie wird jedoch nicht genießen können, dass ein Fußballteam ein Tor geschossen hat. Sie verfügt nicht über diesen Gedanken. Genüsse über Tatsachen sind weitgehend Menschen vorbehalten.
Die zweite Unterscheidung in Hurkas Ordnungssystem der Genüsse ist die zwischen »spezifischen« und »allgemeinen« Genüssen. Der Genuss eines Sonnenbads oder eines Stücks Schokolade ist in einer bestimmten Körperregion lokalisiert. Man schmeckt die Schokolade im Mund, man spürt die Sonnenstrahlen am Rücken – wie auch Schmerzen lokalisiert sind. Man kann angenehm die Sonne auf dem Rücken spüren und gleichzeitig Zahnschmerzen haben. Es ist Platz für beides im Bewusstsein.
Gute Laune dagegen ist, was Hurka einen allgemeinen Genuss nennt. Man fühlt sich allgemein gut. Gute Laune durchdringt das Bewusstsein. Solch ein Wohlgefühl kann zum Beispiel von einer schönen Erinnerung kommen – oder einfach so. Man kann es »Glück« nennen. Es ist ein ganz anderer Genuss als ein Stück Schokolade. Doch egal welchen Typs: Genuss ist wertvoll. Ohne ihn wäre das Leben unvollständig. Aber ist Genuss wirklich das einzige Gut im Leben, wie manche Utilitaristen behaupten? Das beste Leben ist nicht unbedingt das genussvollste. Menschen wollen nicht einfach nur genießen. Sie wollen auch Ziele erreichen, sie wollen wissen und verstehen. Manchmal müssen sie dafür auf Genüsse verzichten.
Atmen Sie tief durch: Es ist alles ganz anders, als Sie dachten –aber Sie schaffen das
Der Philosoph Robert Nozick brütete in den 1970er-Jahren das Gedankenexperiment einer »Erlebnismaschine« aus, die einem Menschen auf Knopfdruck jedes angenehme Gefühl verschaffen kann – ohne Unterschied zwischen echten und künstlichen Erlebnissen. Der exakt gleiche Genuss könnte von einem Schokocroissant herrühren oder von Elektroden am Gehirn. Nozick fragte: Was würdest du wählen, die Maschine oder die Wirklichkeit? Er selbst war sicher: die Wirklichkeit. Mit diesem Szenario wollte er zeigen, dass nicht nur das bloße Gefühl zählt, sondern auch das, was man genießt. Sicher ist aber auch: Genuss findet im Kopf statt. Wie ein Mensch sich fühlt, wie er sich verhält, hängt von Prozessen im Gehirn ab. Ein Cocktail von Botenstoffen erzeugt das Wohlgefühl. Dopamin spielt dabei eine Schlüsselrolle. In den 1980er-Jahren stimulierte der Neurowissenschaftler Roy Wise mit elektrischen Reizen die Dopamin-Neuronen im Gehirn von Ratten. Wenn er diese Stimulation an eine bestimmte Handlung koppelte, zum Beispiel das Betätigen eines Hebels, dann wiederholten die Tiere diese Handlung. Ähnlich steuert Dopamin das menschliche Verhalten. »Wenn wir in eine Kneipe gehen und glauben, wir täten es, um mit Freunden Bier zu trinken, dann irren wir uns«, sagt der Neurowissenschaftler Wolfram Schultz, der an der University of Cambridge lehrt. »Wir tun es, um eine Dopaminreaktion auszulösen.« Schon die Erwartung der netten Atmosphäre, der guten Getränke, der Gespräche, des gemeinsamen Lachens, setzt Dopamin frei. Das Gehirn lernt solche Zusammenhänge rasch. Es verbindet die Kneipe mit Genuss. Oder den Kühlschrank, oder die Couch. Genuss als Lernhilfe, dieser Mechanismus hat uralte evolutionäre Wurzeln. Schon Fruchtfliegen lernen mittels Dopamin, bestimmte Reize aufzusuchen und andere zu meiden. Im Lauf der Evolution bekam das Dopaminsystem neue Aufgaben. »Affen und Ratten lernen damit viel mehr, als nur Sex und Kalorien nachzurennen«, sagt Schultz. Menschliche Kultur ist eine raffinierte Neunutzung des Dopaminsystems. Ein Mensch macht eine
Genuss hat Wurzeln in der Evolution. Der Mensch kann das System überlisten.
Würden Sie das tun?
Ausbildung, statt herumzuhängen. Er investiert Geld und Mühe mit der Aussicht auf ein annehmliches Leben für sich und seine Familie. Man könnte diese Entscheidung deuten als Sieg der Kultur über das primitive Belohnungssystem: Verstand über Bauch. Menschen können ihre archaischen Impulse im Zaum halten. Fasten statt essen, schuften statt chillen. Man kann Kultur aber auch als Konkurrenz zwischen Belohnungen betrachten. Immanuel Kant gibt in seiner Kritik der praktischen Vernunft ein Beispiel. Er stellt sich jemanden vor, der »von seiner wollüstigen Neigung vorgibt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich«. Kant stellt sich also vor, an einem Bordell vorbeizugehen. Es reizt ihn, hineinzugehen. Aber dann denkt er an die sozialen Sanktionen. Sein Ruf ist ihm wichtiger als die Lust. Er geht lieber nicht hinein. Schultz interpretiert dieses Beispiel so: Kultur verändert den Belohnungswert von Erlebnissen und damit, was wir positiv erleben und was negativ. Es gibt keinen strikten Gegensatz zwischen den klugen kognitiven Systemen oben in der Großhirnrinde und dem dummen Dopaminsystem tief unten – zwischen Gewissen und Genuss. Sie handeln miteinander den Belohnungswert aus. Bei allem, was Menschen als lohnend erleben, spielt demnach das Dopaminsystem mit. Nicht nur Sex kann ein Genuss sein, auch das Erfolgserlebnis, am Freudenhaus vorbeigekommen zu sein, kann sich gut anfühlen. Eine Fernreise und das gute Gewissen, auf einen Flug verzichtet zu haben: beide können ein Dopaminsignal erzeugen.
Wenn alles nur eine Frage der Botenstoffe ist, warum hängen wir dann nicht an Erlebnismaschinen, statt in die Kneipe zu gehen? Technisch wäre es möglich. Die Stimulation des Dopaminsystems ist etablierte Praxis. Auch Drogen wirken direkt auf das Dopaminsystem. Was fehlt da noch?
»Die Vielfalt«, antwortet Schultz. »Genuss ist kein Monolith.« Ein genussreiches Leben besteht nicht nur darin, viel zu genießen, sondern auch darin, vielfältig zu genießen. Schon ein Kneipenbesuch bietet eine Vielfalt von Erlebnissen, die kein dopamingeflutetes Gehirn aus sich selbst schöpfen kann.
Jetzt wird es zugig: Diese Theorie müssen Sie meistern, um auf der Höhe der Zeit anzukommen
Ein gutes Leben ist ein genussreiches: Das ist die Botschaft der Utilitaristen. Aber diese Botschaft ist komplizierter, als sie klingt. Stellen wir uns auf der einen Seite eine Lebefrau vor, die ihre Tage vor allem mit gutem Essen, Reisen und wunderbaren erotischen Abenteuern verbringt. Ein Leben voller einfacher Genüsse. Was könnte schöner sein? Der Lebefrau gegenüber steht eine Asketin. Sie trinkt nur Wasser, duscht kalt, geht früh ins Bett, schweigt und meditiert viel. Vielleicht ist sie Nonne, hilft ihren Mitmenschen.
Oberflächlich betrachtet hat die Lebefrau es besser. Doch das kann täuschen. Bei allen Genüssen ist sie nicht überzeugt davon, das bestmögliche Leben zu führen. In all dem Luxus, all den intensiven Genüssen, verspürt sie manchmal Unzufriedenheit mit dem Leben insgesamt. Das Gewissen meldet sich. Die Asketin erlebt kaum sinnlichen Genuss. Manchmal vermisst sie ihn vielleicht. Dafür begleitet sie ein stilles Gefühl von Zufriedenheit durchs Leben. Kein intensives Gefühl, aber eine überspannende, beständige gute Stimmung, die ihr Bewusstsein durchdringt. Sie macht keine Luftsprünge. Aber sie genießt durchaus, nur auf andere Weise.
Wer von beiden genießt mehr, die Lebefrau oder die Asketin? Unmöglich zu sagen. Letztlich erleben beide ähnlich viel Genuss – auf ganz verschiedenen Wegen. Das Motto des Utilitarismus, »Maximiere deinen Genuss!«, hilft wenig dabei, sich für den einen oder den anderen Weg zu entscheiden.
Jeremy Bentham, der Vordenker des Utilitarismus, sagte einmal, was den Genuss angehe, sei »Push-pin so wertvoll wie Poesie«. Push-pin war ein im 18. Jahrhundert beliebtes Gesellschaftsspiel, ähnlich dem Flohspiel, bei dem zwei Spielende versuchen, ihre Nadel (englisch: pin) über die Nadel des anderen zu schieben. Hauptsache, Genuss, meinte Bentham damit, Hauptsache, viel davon, egal wie. Push-pin oder Poesie, das sei pure Geschmackssache. Das ging sogar manchen Utilitaristen zu weit. John Stuart Mill widersprach Bentham. Es gebe guten und schlechten Geschmack. Woran ein Mensch Freude habe, zeige, »ob er klug ist oder ein Narr, wohlwollend oder selbstsüchtig, gewissenhaft oder verkommen«.
Wenn jemand es genießt, Menschen oder Tiere zu quälen, dann ist er bestimmt kein guter Mensch,
sondern ein Sadist und Arschloch. Der Genuss am Schmerz eines anderen Menschen oder eines Tiers mag für diese Person rein genusstechnisch einen Wert haben, aber er bleibt eine Sauerei. Auf der anderen Seite der Genuss-Bilanz steht Schmerz, also etwas Schlechtes, was die ganze Sache unter dem Strich schlecht macht – viel schlechter als alle Genüsse, die nicht auf Kosten anderer gehen.
Weniger drastisch, aber im Prinzip ähnlich sahen Benthams Kritiker dessen Vergleich zwischen Pushpin und Poesie. Ja, Push-pin macht Spaß. Aber das Lesen von Gedichten macht auch Spaß, und es kommt einiges hinzu, was dem Push-pin-Spiel fehlt: die Ausübung des Verstands, der Fantasie, der Empathie. Poesie sei also wertvoller als Push-pin, fand John Stuart Mill. Andererseits spricht für Push-pin die Freude an manueller Geschicklichkeit und an der Gesellschaft anderer Menschen.
Wenn Genuss einfach wie ein Regler wäre, der sich hoch- und runterdrehen lässt, dann wären Drogen oder Erlebnismaschinen der direkte Weg zum Glück. Doch die meisten Menschen würden das bestreiten und ein Leben vorziehen, in dem sie statt Sinnestäuschung wirklich etwas verstehen, in dem sie etwas zustande bringen und ihren Platz in der Welt finden. Auch wenn sie dabei eine Art von Genuss verpassen, gewinnen sie andere, wertvollere Genüsse.
Für eine Fruchtfliege mag die simple Regel von der Genussmaximierung noch gelten. Menschen sind zu kompliziert, um nach ihr zu leben. Sie sind denkende, moralische Wesen. Sie wollen wissen und verstehen, tiefe Beziehungen führen, gute Menschen sein, ihren Weg finden. John Stuart Mill formulierte es in seinem Essay Über die Freiheit so: »So unterschiedlich sind die Quellen des Vergnügens der Menschen, ihre Empfänglichkeit für Schmerz, die Einwirkung verschiedener körperlicher und moralischer Tätigkeiten auf sie, dass sie ohne einen entsprechenden Unterschied in der Lebensführung weder ihren gerechten Anteil am Glück erhalten, noch zu der geistigen, moralischen und ästhetischen Haltung gelangen, zu der sie nach ihren Anlagen fähig sind.«
Wer diese Vielfalt auskostet und lernt, die Dinge zu genießen, die ihm wirklich liegen, seiner Haltung und seinen Fähigkeiten entsprechen, der hat es auf den Gipfel der Genüsse geschafft.
Eine gute Kraftquelle ist man nie nur allein. Damit das Haltgeben gelingt, braucht es ein
Gegenüber, das mitmacht. Wie diese
Kunst glückt - im Alltag, in der Beziehung und in der Pflege
Im Tango unterliegt das Haltgeben klaren Regeln. Die erste greift schon, bevor die Musik beginnt und betrifft die Entscheidung, wer überhaupt wen hält. Die Aufforderung geschieht wortlos – und im sicheren Abstand: Mirada heißt der Blick, den die suchende Person durch den Raum schickt, zwischen den anderen hindurch, zu demjenigen, mit dem sie tanzen möchte. Treffen sich zwei Blicke und bestätigen sich beide ihr Einverständnis mit einem kleinen Nicken, dem Cabeceo, dann – und erst dann – kommt die Person, die führen wird, näher, bietet ihre Hand, ihren Arm, die Schultern, die Brust, sie bietet ihren Körper an, für die Umarmung.
Es wäre ein Trugschluss zu denken, dass der Führende beim Tango den Halt gibt und der Folgende ihn empfängt. Dass die eine Rolle aktiv sei und die andere eher passiv. Und doch – vielleicht auch gerade deswegen – verrät dieser Tanz die wichtigsten Grundlagen über das Halten und das Gehaltenwerden. Eine davon: Es gehören immer beide dazu.
»Beide Tanzpartner, egal ob führend oder folgend, müssen zu jedem Moment präsent sein und aktiv auf den anderen achten –sonst stolpern sie«, sagt Tamara Juhan. Tango – seit 2009 immaterielles Kulturerbe der Menschheit – wird ohne Worte getanzt und ohne festgelegte Schrittfolge. Im besten Fall auch ohne eine bestimmte Bewegung zu erwarten oder diese gewohnheitsmäßig auszuführen. Allein am Körper des anderen ist abzulesen, welcher Schritt aus dem Moment heraus als Nächstes kommt.
Tamara Juhan betreibt ein Tango-Studio in Hamburg, der Name: el abrazo, auf Deutsch »die Umarmung«. Wer diese kerzengerade Person auf der Suche nach den Regeln des Haltens für eine Einzelstunde aufsucht, stellt schnell fest: Alles, was Tamara Juhan über Tango erzählt, sollte auch für das restliche Leben gelten.
Um gut miteinander zu tanzen, sagt sie, sei es besonders wichtig, dass jeder darauf achtet, eine eigene stabile Achse zu haben. »Ob der Energieaustausch gut ist, hängt davon ab, ob wir
Mit dem Kraftgeben ist es im besten Fall so wie mit der Liebe: Je mehr man verteilt, desto mehr bekommt man zurück. Die Kunst ist, dabei nicht selbst schwach und kraftlos zurückzubleiben
beide uns jeweils – in uns selbst – gut halten können.« Wenn einer dagegen meint, sich hinzugeben bedeute, sich fallen zu lassen, und am anderen dranhängt – dann wird es anstrengend. Beherrschten die Tanzenden es, bei sich und gleichzeitig beim anderen zu sein, sagt Tamara Juhan, »dann kann die Kraft, die dabei entsteht, so groß werden, dass sie einen regelrecht berauscht«.
Sich gegenseitig Halt zu geben, ist eine Kunst. Eine Kunst, die nicht abgeschottet stattfindet, sondern im Tumult des Lebens, eingewoben in soziale Geflechte. Beim Tango sind die anderen Tanzenden, was im Alltag die kleinen und großen Hürden sind, zwischen denen man miteinander hindurchnavigiert. Meist stützen sich dabei Freunde und Familienmitglieder gegenseitig, verbunden in einem mehr oder weniger ausgeglichenen Geben und Nehmen. Manchmal aber gerät etwas in Unwucht: durch einen Verlust, einen unerfüllten, aber wichtigen Wunsch, aus Ungerechtigkeit. Dann braucht eine Person oder eine Gruppe mehr Unterstützung, mehr Kraft, mehr Mut, Pflege, Zuversicht als die anderen. Dann stellt sich die Frage: Wie wird man zu einer guten Kraftquelle?
Mit dem Kraftgeben kann es mit Glück so sein wie mit der Liebe: Je mehr man verteilt, desto mehr bekommt man zurück. Manchmal aber ist es auch so aufreibend, dass man am Ende selbst kraftlos und schwach zurückbleibt. Wie schafft man es, andere zu halten, ohne zu stolpern oder sich auf die Füße zu treten? Was muss man tun, damit die Kraft, die man gibt, auch ankommt? Und wie gelingt es, am Ende nicht selbst geschwächt zu sein?
Es gibt Menschen, die weltberühmt wurden, indem sie anderen Kraft gaben. Sie widmeten dieser Aufgabe ihr Leben, oder sie zeigten in einem einzigen Moment so viel Stärke, dass sich weitere davon anstecken ließen. Mutter Teresa zum Beispiel kümmerte sich als Ordensschwester in Kalkutta in Indien um die Armen, Kranken und Ausgestoßenen. Ohne Angst, selbst krank zu werden, gab sie ihnen Liebe und emotionalen Halt. Oder Rosa Parks. Sie weigerte sich in Montgomery, im US-Bundesstaat Alabama, am 1. Dezember 1955 in einem öffentlichen Bus aufzustehen, um eine ganze Sitzreihe für einen einzelnen weißen Fahrgast freizumachen. Das hatten sich vor ihr noch nicht viele getraut.
Kraftgeben setzt zuallererst voraus, dass man Kraft hat und bereit ist, sie aufzuwenden. Sonst geht es nicht. Und dann, es mag banal klingen, gilt noch etwas: Kraftgeben kann man nicht allein. Es klappt nur, wenn andere mitmachen. Wenn jemand reagiert, die Kraft annimmt, etwas Eigenes daraus macht.
Rosa Parks wurde im Bus wegen Störung öffentlicher Ruhe festgenommen und vier Tage später vor ein Gericht gestellt. Doch eine Gruppe afroamerikanischer Frauen, organisiert im Women’s Political Council, rief die schwarze Bevölkerung von Montgomery dazu auf, am Gerichtstag die Busse zu boykottieren – und alle machten mit. Als das Gericht Rosa Parks verurteilte, machten sie weiter, über ein Jahr lang, bis der Oberste Gerichtshof bestätigte,
dass die Benachteiligung von Schwarzen in Bussen verfassungswidrig ist und beendet werden muss. Rosa Parks’ Mut gilt als eine der Initialzündungen der Bürgerrechtsbewegung in den USA.
Mutter Teresas Kraft wirkte ebenfalls weiter, wenn auch ganz anders. Als sie 1979 den Friedensnobelpreis erhielt, erzählte sie in ihrer Dankesrede die Anekdote von einem Sterbenden, den sie auf der Straße aufgelesen hatte. Er war übersät von Maden, allein das Gesicht war sauber. Vor seinem Tod soll er ihr nur diesen einen Satz gesagt haben: Ich habe wie ein Tier auf der Straße gelebt, aber ich werde wie ein Engel sterben, in Liebe und Fürsorge.
Kräfte rufen immer andere Kräfte hervor. Es geht nicht anders. In der Physik gilt das Prinzip von Aktion und Reaktion, dieses dritte Gesetz von Newton besagt: Zwei Körper üben immer gleich viel Kraft aufeinander aus. Egal ob gebend oder nehmend, ob anregend, aufbauend oder Widerstand weckend. Ob auf der Tanzfläche, in einer Liebesbeziehung oder beim politischen Kampf: Kräfte können nur Teil eines Wechselspiels sein.
Da, wo Boris Zernikow arbeitet, hat das Leben aufgehört, ein Tanz zu sein, und das Wechselspiel der Kräfte ist massiv aus der Balance geraten. Zumindest auf den ersten Blick. Er leitet das Kinderpalliativzentrum an der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln der Universität Witten-Herdecke. Zu ihm kommen Familien mit Kindern, die nicht nur sterben werden, sondern auch noch schwere Schmerzen haben. Kraft wird hier an allen Ecken und Enden gebraucht: für Menschen, denen sie zu einem so großen Maß geraubt wurde, dass sie ihre Achse nicht mehr selbst stabil halten können. Sie schwanken von der Schwere der Krankheit, vom vielen Pflegen und Kümmern, von der Angst, dem Schmerz, der Verzweiflung. Zernikow sagt: »Wenn so eine Diagnose kommt, erleben viele Familien, dass die Freunde sagen, ja, klar, wir unterstützen euch. Sie backen Kuchen und bringen Essen vorbei. Aber nach ein paar Wochen gibt es keine Kuchen und kein Essen mehr, und noch etwas später wird man zu Festen nicht mehr eingeladen, weil man so traurig ist und dieses Thema hat.« Und auch Arbeitgeber sind oft nur zu Beginn entgegenkommend, wenn das Schicksal zuschlägt. »Die Familien, die wir betreuen, haben in der Regel ein schwer krankes Kind, das nicht ein halbes Jahr krank ist oder ein Jahr, sondern viele Jahre«, sagt Zernikow. Irgendwann, das zeige die Erfahrung, sagen die Freunde und Kollegen, jetzt müsse es aber auch mal wieder gut sein. Und noch etwas später hat man keine Freunde mehr. Und oft auch keinen Job.
Bei Keno und seiner Mutter begann dieser Weg damit, dass er schielte und in der Schule plötzlich schlechter wurde. Nach einer Weile kam die Diagnose: Adrenoleukodystrophie, eine extrem seltene Erbkrankheit, die dazu führt, dass das Kind nach und nach nicht mehr sehen, hören und sprechen kann. Stück für Stück verliert es sein Leben. »Das ist keine Mittelstrecke und keine Kurzstrecke«, sagt Boris Zernikow. »Das ist ein Marathon«. Zehn Jahre lang begleitete
er zusammen mit seinem Team die Familie, es gibt darüber eine WDR-Dokumentation, sie heißt Kenos kurzes Leben.
Man kann dort mitverfolgen, wie Keno blind wird, wie es ihm plötzlich schwerfällt, vom letzten Urlaub zu erzählen, wie ihn Ängste quälen, Bewegungen mehr und mehr herausfordern. Wenn er stirbt, so stellt er es sich vor, wird er ein Adler. Nach einer Weile kann Keno kaum noch schlucken und sprechen. Es ist, als baue sich die Krankheit wie eine Mauer um ihn.
Seine Mutter gibt ihren Beruf auf, um sich um ihn zu kümmern. Sie will so lange wie möglich den Kontakt zu ihm halten, sie will, dass er sie spürt, will ihm nahe sein. Nur: Wie verteilt man seine Energie auf eine Zeit, von der niemand weiß, wie lange sie dauert? Sie bekommt psychologische Hilfe, um Keno eine Stütze sein zu können, aber nach ein paar Jahren sind auch ihre Kräfte aufgebraucht. Rückblickend sagt sie in dem Film: »Ich war nervlich am Ende. Ich habe es nicht mehr ausgehalten, mit dem Bewusstsein in den Tag zu gehen, dass ich hier mehrere Stunden gefesselt bin. Ich hätte schreiend aus dem Fenster springen können.«
Boris Zernikow sagt: »Leider sehen ganz viele Eltern, dass sie das nur schaffen, indem sie selber psychisch krank werden. Indem ihre Beziehung kaputtgeht. Indem sie vielleicht alkoholsüchtig oder medikamentenabhängig werden. Und das sind Verläufe, die vor allen Dingen dann passieren, wenn Eltern keine oder keine ausreichende Unterstützung erfahren.«
Sein Team besucht die Familien zu Hause, betreut die Kinder palliativ, lindert deren Schmerzen, Atemnot oder Krampfanfälle, berät die Eltern. Die Ärztinnen, Pfleger, Physiotherapeutinnen und Psychologen sind bei Geburtstagsfeiern ebenso dabei wie bei der Beerdigung. Ihre Rufbereitschaft gilt rund um die Uhr, auch an Heiligabend oder Sylvester. Ohne Warteschleife und Anrufbeantworter. »Das ist anstrengend für uns, aber sehr wichtig für die Familien«, sagt Zernikow. »Sie wissen: Ganz egal, was passiert, wir sind da. Wir kümmern uns.« Die Familien finden dort Menschen, die sie belasten dürfen, mit ihrer eigenen Trauer, den schrecklichen Erlebnissen, ihren Ängsten. So lange, wie sie das benötigen. Als sie nicht mehr kann, entscheidet sich Kenos Mutter, ihren Sohn in eine betreute Wohngruppe zu geben. Damit in ihrem eigenen Leben wieder ein wenig Normalität einkehre, etwas Privatsphäre, ohne all die Physiotherapeuten, Krankenschwestern und Psychologinnen in ihrer Wohnung. Sie beginnt wieder zu arbeiten, vier Tage pro Woche – um einen Tag für die Pflege von Keno und für sich selbst zu haben. Sie baut sich mit all ihrer Kraft ein Gerüst, in
dem sie funktionieren kann. Doch der Arbeitgeber entzieht ihr nach einer Weile »die Privilegien wegen der privaten Situation« – den einen freien Tag in der Woche –, sie wirke ja so fröhlich, soll der Chef gesagt haben. Kenos Mutter gibt den Job wieder auf. Als Keno stirbt, ist seine Familie bei ihm. Die letzten Wochen seien wie ein Geschenk von ihm gewesen, sagt seine Mutter in dem Film: eine ruhige schöne Zeit mit ganz viel Nähe. Sie übergibt die Asche dem Meer vor Norderney, der Insel, auf der Keno geboren wurde. Die Sonne strahlt, genau wie damals. Die Möwen fliegen. Seine Mutter sagt, jetzt sei Keno frei. Wie ein Adler.
»Wenn man ein Kind verliert, dann ist das nicht ›irgendwann mal fertig‹. Das begleitet einen für immer«, sagt Boris Zernikow. Bei ihm in der Klinik finden Gottesdienste statt, für Kinder, die vor 20 Jahren gestorben sind – weil die Eltern sich das wünschen. »Um Kraftquelle zu sein, darf man nicht geizig sein. Weder mit der eigenen Kraft, noch mit Zeit oder Bereitschaft«, sagt er, »und auch nicht mit Geld.« Man müsse verlässlich sein. Nicht nur sporadisch, wenn ein Mitarbeiter mal einen Tag Urlaub braucht. Sondern richtig, auch wenn es wehtut: Ein Mitarbeiter braucht plötzlich Zeit, weil er sich um seine krebskranke Frau kümmern möchte. Und der Arbeitgeber macht es möglich, dass er so viel Zeit bekommt, wie er benötigt. Auch wenn es Jahre werden. »Ich meine Verlässlichkeit also ganz real und faktisch«, sagt Zernikow. »Wenn man wirklich Halt geben möchte, dann muss man sich selbst zu einem gewissen Grad zurücknehmen, nicht sagen: Ja, aber.«
Die wohl extremste Form des Haltgebens ist das »Halten« eines Babys im Mutterleib. Mehr Geben, weniger Wenn und Aber geht nicht. Der berühmte Psychoanalytiker und Kinderarzt Donald Winnicott hat den Begriff des »Haltens« als zentrale Metapher verwendet. Mit der »haltenden Umgebung« meint er nicht nur den Bauch der Mutter oder einen Arm, der das Kind hält und nicht fallenlässt. Es geht ihm auch um das emotionale Halten, das buchstäbliche Aus-halten des anderen – gerade dann, wenn es schwierig wird. Denn nur aus einer solchen Geborgenheit heraus könne sich ein Selbst ohne Angst entdecken und entwickeln.
Winnicott kam auf diese Gedanken in einer Zeit, in der die Nazis von Müttern wünschten, Mitläufer und Soldaten heranzuziehen, und es daher gerne sahen, wenn die Bedürfnisse eines Kindes auch schon zu Hause möglichst ignoriert wurden. In ihrem Buch
Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind schreibt die Lungenärztin und glühende Nationalsozialistin Johanna Haarer 1934: »Auch das schreiende und widerstrebende Kind muss tun, was die Mutter für
DIE SERIE IN ZEIT WISSEN
1. Teil: Wie man die eigenen Kraftquellen aufspürt und nutzt (nachbestellbar unter zeit.de/zw-archiv)
2. Teil: Wie man selbst zur Kraftquelle wird und anderen dadurch hilft ( in dieser Ausgabe)
3. Teil: Wie man erkennt, ob eine Gemeinschaft Kraftquelle oder Krafträuber ist (erscheint am 30. August)
Kräfte rufen stets andere
Kräfte hervor. Egal ob gebend oder nehmend, ob anregend oder Widerstand weckend, sie sind
Teil eines Wechselspiels
nötig hält, und wird, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt, gewissermaßen ›kaltgestellt‹, in einen Raum gebracht, wo es allein sein kann, und so lange nicht beachtet, bis es sein Verhalten ändert. Man glaubt gar nicht, wie früh und wie rasch ein Kind solches Vorgehen begreift.« Das Buch wurde ein Bestseller.
Winnicott, der in London in einer Kinderklinik als Arzt arbeitete, wusste wohl um die Not der Mütter mit ihren schreienden und widerstrebenden Kindern. Ihm war die Aggression bewusst, die sich in solch engen Verbindungen manchmal entlädt. Und auch die gemischten Gefühle derer, die für diese schreienden Kinder (oder andere Hilfsbedürftige) zuständig sind, kannte er.
Sein Vorschlag für den Umgang damit war dem von Johanna Harrer entgegengesetzt. Nicht »kaltstellen« solle man diese Gefühle. Weder beim Kind noch bei sich selbst. Sondern: wahrnehmen. Und aus-halten. Drüberstehen über den aggressiven Momenten und sie somit nicht überbewerten. Keiner, weder das Kind noch die Mutter, sei schlecht wegen der Gefühle. Sie gehörten dazu. Nur eines dürfe die Mutter – oder eine andere Bezugsperson – nicht: der Aggression nachgeben. Sich rächen.
Man kommt nicht umhin: Wenn man Kraft geben möchte –oder muss –, braucht man selbst ausreichend davon. Eine Kraftquelle sollte also darauf achten, selbst bei Kräften zu bleiben. Nicht zu viele Zipperlein zu haben. »Es ist schon so, dass glückliche Menschen hilfreicher sind für Menschen, denen es schlecht geht«, sagt Boris Zernikow. Man habe da also eine gewisse Verantwortung: »Glücklichsein ist quasi eine Win-win-Situation.«
Gibt es eigentlich auch ganz leichte Kraftquellen? Nicht die tief verbundenen, durch Verwandtschaft, Freundschaft oder Profession.
Sondern einfach Menschen, die einem, quasi im Vorbeigehen, ein bisschen was von der ihren abgeben?
Boris Zernikow erinnert sich an eine Frau in Florenz auf dem Marktplatz. Sie war uralt und trank ein Glas Rotwein. Er saß hinter ihr. Sie war schwarz gekleidet und las in einem Buch, von dem er vermutete, dass es ihr Tagebuch war. »Ich stellte mir vor, dass sie las, was sie vor vielen Jahren geschrieben hat. Und dieses Ganz-bei-sichSein und das Leben-Genießen in diesem Moment, das hat mich unglaublich angerührt. Das ist Lebensgenuss, den man in Wellnesshotels nicht findet. Ein Genuss, der beim Betrachten in einen übergeht.« Es kann das Lächeln im Vorbeigehen sein oder ein aufmerksamer Gruß. Das freundliche Räumen eines Sitzplatzes im Bus: Man spürt, wenn eine Kraft auf eigenen festen Füßen steht. Ohne Angst. Ohne Ziel. Ohne Erwartung. Um Halt zu geben, darf man nicht selbst nach Halt suchen. Sonst wird es klebrig.
Im Tango ist auch das Sich-voneinander-Lösen genau geregelt. Vier Lieder tanzt man miteinander, dann »fällt« die Cortina, ein musikalischer Vorhang, tangofremde Musik, der die Paare auseinandertreibt – ohne dass es einer Begründung für die Trennung bedarf. In diesem Moment gilt es wieder, präsent zu sein und ein gutes Maß für das Ende zu finden: Weder sollte man sich aus dem Arm fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, noch aneinander kleben bleiben. Ein Dank noch, dann führt der eine den anderen zu seinem Platz. Und das Suchen nach der nächsten Umarmung beginnt von Neuem.
Katrin Zeug ist für diese Recherche zu einem Tangokurs gegangen und war überrascht, wie sehr man sich konzentrieren muss, um gut geführt werden zu können. Und welch ein Genuss es ist, wenn es klappt.
Alte Bäume verpflanzt man nicht, heißt es. Stimmt aber nicht immer. Wer lange genug die Baumschule besucht, schafft es am Ende um die halbe Welt
Fotos Zhang KechunDer Fotograf Zhang Kechun, geboren 1980, zog vor ein paar Jahren nach Wenjiang in der chinesischen Provinz Sichuan. Dort beobachtete er, wie Bäume von mobilen Kränen über die Häuser gehoben wurden. Sie stammten aus einer benachbarten Baumschule und wurden in neu angelegte Parks, Gärten und an Straßenränder umgezogen. Zhang Kechun dokumentierte die Bäume in der Serie »The Sky Garden«, aus der wir auf diesen Seiten einige Arbeiten zeigen. Es ziehen um (ab Seite 86): Kreppmyrte, Palme, Ahorn, Kiefer, Schwarzkiefer, Pfirsich und Federahorn.
Dieses Transportgut ist sehr empfindlich und so zerbrechlich wie Porzellan
Als mein Vater starb, öffnete der Birnbaum seine Blüten. Seine Nachbarin, die Zwetschge, hatte es eiliger, sie war schon dabei, ihre weißen Blütenblätter abzuwerfen. Der kleine Apfelbaum duckte sich schüchtern zwischen den beiden weg.
Mein Vater starb mit einem Blick über die Felder der westfälischen Börde, um deren fruchtbare Erde die Bauern oft beneidet werden. Die drei winzigen Obstbäume hatte er im Winter zuvor in den Garten meines Elternhauses gepflanzt. Da war er 83.
Ein paar Monate nach seinem Tod, das Haus war schon verkauft, bat ich eine Jugendfreundin, die drei Bäume auszugraben. Heimlich, sie waren ja mitverkauft worden.
Die Freundin umsorgte die Jungbäume, bis ein Orgelbauer sie in seinem Volvo zu mir nach Hamburg brachte. Die dünnen Stämme streckten sich im Kombi aus, ein paar Zweige legten sich über die Handbremse, die Wurzeln stießen an die Heckklappe. Die drei waren ohne Erdballen unterwegs. Das hätte ihr Schicksal besiegeln können, aber davon hatten wir keine Ahnung. Birne, Apfel und Zwetschge haben überlebt. Im kleinen Garten vor meiner Wohnung feiern sie dieses Jahr ihren zwölften Geburtstag. Der Apfelbaum produziert zuverlässig dicke Äpfel, Birnen gibt es auch jedes Jahr. Nur die Zwetschge hält es nach wie vor für ihre einzige Bestimmung, prachtvoll zu blühen. So könnte es noch viele
Jahre weitergehen. Aber was geschieht mit dem Trio, wenn ich irgendwann einmal umziehe? Kann ich meine drei Freunde, die mich nicht nur an meinen Vater erinnern, sondern auch daran, dass die Zeit vergeht, dann mitnehmen? Können Bäume so einfach den Wohnort wechseln wie wir Menschen? Oder stimmt der Spruch, dass man zumindest alte Bäume nicht verpflanzt?
Die Kronen der Wildkirschen leuchten maiengrün. Jan Jaspers wird gerade vom Frühling überholt – nach der winterlichen Vegetationsruhe powern die Bäume los. Aber Jaspers muss noch sechs von ihnen aus der Erde holen. Sie ziehen um – in ein neues Zuhause. Und Jaspers darf nicht ausgraben, was grün ist.
Text Hella KemperIm Mai kämpfen die Baumschulen, so paradox es klingt, gegen das Grünwerden, also das Wachstum an. Je grüner, desto empfindlicher sind Rinde und Stamm; weich wie ein Babypopo. Mit 50 Jutetüchern hat Jaspers einmal den Stamm einer Zeder wie in Watte gepackt, sodass sie heil nach England kam – ein XXL-Baum, zwölf Tonnen schwer. Ein Bagger musste den Wurzelballen ausgraben, denn selbst die größte Stechmaschine schafft nur Ballen von maximal drei Meter Durchmesser.
Für Jaspers ist ein kühler Frühling ein guter Frühling. Dann falten sich die Blätter später auf, und er kann länger Ballen stechen. Aber zu kalt, also Frost, ist auch schlecht, sagt sein Chef, Herr über 300.000 Bäume, die auf 600 Hektar im Süden von Hamburg und in Bad Zwischenahn stehen. Der Chef heißt Bernhard von Ehren – und wenn der Name von Ehren fällt, geht sogar das spanische Königshaus in die Knie. Beiläufig erwähnt der Mann die lichten Sumpfeichen, die aus Hamburg-Marmstorf nach Madrid gezogen sind sowie in andere königliche Gärten und Parks. Nach Aserbeidschan, England, Norwegen, Kasachstan. Sein Ururgroßvater hat die Baumschule 1865 gegründet und den Hamburger Stadtpark begrünt, jetzt ist der Hochbunker im Stadtteil St. Pauli dran. Tausend Bäume sind auf das 50 Meter hohe Dach und die Balkone des gigantischen Betonwürfels gezogen, Bergkiefer, Stechpalmen und sogar Apfelbäume.
Jan Jaspers tastet sich mit dem Radlader an die nächste Wildkirsche heran, fast zwölf Meter groß. Er versenkt die vier spitz zulaufenden Spaten im gleichen Radius um den Stamm herum in der Erde. In einem Meter Tiefe schließen sich die Spatenviertel zu einer Halbkugel zusammen und heben den zwei Tonnen schweren Ballen samt Baum an, als wäre er ein kleiner Blumentopf. 50 Meter weiter warten vier Männer. Jaspers legt den Baum wie einen Patienten behutsam vor ihnen auf den Boden, die Männer treten an den liegenden Riesen heran und bändigen seine grüne Krone mit nichts als einer Sisalkordel. Am Ende darf sie nicht breiter als zweieinhalb Meter sein, sonst passt der Baum nicht auf den Umzugswagen, einen Sattelschlepper, das ist Straßenverkehrsmaß. Zweig für Zweig binden die Männer die Krone auf Straßenbreite. Die Kirsche lässt sich das gefallen, ihre Zweige
sind biegsam und geben nach, statt zu brechen. Ist es kälter, wird das Holz spröder. Nach der Krone wird der Wurzelballen verpackt: wie kostbares Porzellan in grobes Jutetuch geschlagen, dann mit unverzinktem Maschendraht überzogen. Wer alte Bäume kauft, kauft Zeit. Denn es dauert länger als ein Menschenleben, bis die Linde Schatten spendet, eine Reihe Eichen die Sichtachse führt. Bäume lassen sich bewegen, aber ob sie am Umziehen Gefallen finden? Um die Bäume gnädig zu stimmen, hat der Mensch ein paar Tricks. Einer der Ersten, der alte Bäume umzog, war im 19. Jahrhundert Hermann Fürst von Pückler-Muskau. Der Landschaftsgestalter war bekannt für seine gärtnerische Ungeduld. Die Verpflanzung großer Bäume wurde sein Markenzeichen – auch wenn deren Äste
Nach einer Phase des betreuten Wohnens lernt der Baum, selbstständig zu leben
beim Transport schon mal Fensterscheiben einschlugen. Pückler-Muskau nutzte wie Jaspers eine Verpflanzmaschine, die – damals ohne Motor – nach demselben Prinzip arbeitete. Vier Pferde zogen im Muskauer Park die 40 Jahre alte Blutbuche zum Schloss. Heute geht ein 16-jähriger Feldahorn durch eine harte Schule, um umzugsfit zu werden. Viermal wird er verschult, das heißt alle vier bis fünf Jahre umgepflanzt, damit er kleine Faserwurzeln bildet, die ihn mit Wasser und Nährstoffen versorgen. Hat ein Baum viele Faserwurzeln, wächst er auch im hohen Alter am neuen Standort an. Ein gleich alter Waldbaum, der sein Leben lang an einem Ort gestanden hat, würde jämmerlich zugrunde gehen.
Die Baumschullehrer trimmen Bäume darauf, sich neuen Lebensbedingungen schnell anzupassen – sie sollen mobil bleiben, was dem Pflanzenwesen an sich widerspricht. »Aber hier herrscht keine Anarchie«, sagt Bernhard von Ehren, »die Bäume wachsen nicht einfach lustig vor sich hin. Sie werden kultiviert.« Und stehen wie Soldaten auf dem Feld. Keine Individualisten, sondern nach deutscher Industrienorm produziert, jederzeit umzugsbereit. Der Katalog
der Baumschule von Ehren hat 1.200 Seiten. »Natur von der Stange«, nennt das Jürgen Bouillon, Professor für Gehölzverwendung und Vegetationstechniken an der Uni Osnabrück. Er beobachtet einen Trend zum Instant-Garten. »Uns fehlt die Geduld für die Langsamkeit der Natur. Ein Garten soll sofort nach etwas aussehen.«
Herbert Porlein mag die Krummen und Schiefen, die Charakterbäume – seit 20 Jahren zieht er Bäume um, als Bauleiter bei Opitz, dem vielleicht größten BaumUmzugsunternehmen Europas. Porlein hat Tausende Groß- und Größtbäume verpflanzt. Ein Größtbaum beginnt bei einem Stammumfang von anderthalb Metern und muss aufrecht in einer riesigen Stahlkiste von einem Kran umgezogen werden. In Göteborg hat Porlein eine Rotbuche mit einem Stamm von drei Meter Umfang versetzt; sie musste einer U-Bahn-Trasse weichen und ein paar Meter weiterziehen.
Ob ein Meter oder Kilometer, erwachsene Bäume bekommen von Porlein eine Luxus-Reha-Zone: einen Ringgraben für den Dünger, einen Gießrand fürs Wässern, Anker im Boden für Drahtseile, Stammschutz gegen Sonne. Und dann Wasser, viel Wasser. Am Ende des betreuten Wohnens steht die Entwöhnung: Der Baum muss lernen, wieder selbstständig zu leben. Jahr für Jahr würden es mehr Bäume, die umziehen, sagt Porlein. »Ein Baum ist mehr wert als früher.« Der Baum ist vom Problemfall zum Wertgegenstand geworden. Aber mit dem Alter eines Baumes steigt das Umzugsrisiko exponentiell an. Also stimmt der Spruch von den alten Bäumen. Und meine drei kleinen Obstbäume – Birne, Apfel und Zwetschge?
Ich frage Andreas Roloff, Baumbiologe an der Universität Dresden. Seine Arbeitsanweisung fällt knapp aus: Drei Jahre vor dem Umzug soll ich die Kronen stutzen und um den Stamm herum einen Graben stechen. »In einem Radius von 40 bis 50 Zentimetern. Nicht größer, die Bäume sollen ja transportabel bleiben.« Etwa 30 Zentimeter tief. Das sei anstrengend genug. Geht es nicht ohne Ballen?, erkundige ich mich bei Bernhard von Ehren unter den Wildkirschen. Wurzelnackt? Er guckt mich an, als ob ich etwas Obszönes gefragt hätte. »Ohne den schützenden Ballen können die Wurzeln austrocknen und brechen!«
Fisch stinkt vom Kopf her? Das Sprichwort stimmt. Das tut er wirklich! Der Grund: Die Tiere haben am Kopf ihre größten Körperöffnungen. Über Maul und Kiemen dringen Bakterien als Erstes ein, deshalb setzen hier die Faulprozesse ein – was man riechen kann. Zum Glück! Denn dieser Umstand hilft den Menschen, frischen von verdorbenem Fisch zu unterscheiden. Der Riechtest ist das beste Mittel, um die Frische eines Fischs festzustellen. Das Problem: Heutzutage gilt ein Fisch als nicht mehr frisch, wenn er nach verdorbenem Fisch riecht. Und wenn er überhaupt nach Fisch riecht. Denn wirklich frischer Fisch, sagen Experten, riecht nach nichts – vielleicht wässrig oder salzig, nach Meer oder Fluss. Der spezifische Fischgeruch hingegen entsteht erst später. Also Finger weg von Fisch, der nach Fisch riecht?
Nicht unbedingt. Der Gesamteindruck zählt. Zum Beispiel die Augen: Sind sie prall, nach außen gewölbt und klar? Dann ist das ein gutes Zeichen. Genauso wie die Röte der Kiemen. Je knalliger dort die Farbe, desto besser! Die Flossen sollten nicht trocken oder verklebt sein, die Schuppen glänzen und mit einer dünnen Schleimschicht überzogen sein. Vor allem müssen die Schuppen fest sitzen! Machen Sie nach dem Nasen also den Fingertest: Drückt man kurz in die Fischhaut, sollte sich die Delle sofort zurückbilden. Denn ein frischer Fisch ist fest bis steif. Fühlt er sich labberig oder gar matschig an, ist etwas nicht in Ordnung.
Nur: So nah kommt man dem Fisch oft gar nicht mehr. Und ob er vom Kopf her stinkt, kann man gar
nicht wissen, weil er keinen mehr hat. Haut und Schuppen hat er auch nicht mehr, er ist schon gehäutet und filetiert. Jeder zweite Fisch, der in den Handel kommt, befindet sich fertig zubereitet im Glas, in der Dose oder ist tiefgekühlt. Bei diesen Fischen kann man sich auf die Qualität blind verlassen – dank aufwendiger Lebensmittelkontrollen und lückenloser Kühlketten.
Bei Frischfisch sind Ladentheke und Kühlregal die Schwachstellen. Wird der Fisch nicht schnell genug verkauft, kann es sein, dass er zu lange im Geschäft liegen bleibt. Im Kühlregal erkennt man das manchmal daran, dass sich in der Schale, in der der Fisch liegt, eine Lache gebildet hat. Das ist Gewebeflüssigkeit, die erst entsteht, wenn der Fisch schon vor einer gewissen Zeit verpackt wurde – das ist kein gutes Zeichen!
Natürlich schwankt je nach Jahreszeit oder Fangsaison die Qualität. Auch die Fischart spielt eine Rolle: Ein Karpfen schmeckt anders als eine Seezunge. Irischen von schottischem Lachs zu unterscheiden, ist nicht so einfach. Da helfen Herkunftsbezeichnungen und Markennamen, zum Beispiel das Label Rouge für schottischen Lachs oder Ikarimi für norwegischen – die zählen aber zum oberen Preissegment.
Dass auf den Verpackungen oftmals Herkunftsangaben zu finden sind, hat einen anderen Grund: Vielen Kunden ist die Nachhaltigkeit inzwischen genauso wichtig wie Frische und Geschmack. Berichte über leer gefischte Meere und die Ausrottung bedrohter Arten lassen den Appetit auf Fisch seit Jahren schwinden. Mit einer gewissen Transparenz versucht die Branche dagegenzuhalten – weshalb man heute nachschauen
Fisch ist gesund: Er enthält Jod, Selen, Protein und Omega-3. Aber wie weiß man, ob er frisch ist? Wer Forelle, Hering und Lachs mag, sollte den Nasen- und Fingertest kennen. Und die Bedeutung geheimnisvoller Abkürzungen
kann, woher zum Beispiel die Käpt’n-iglo-Fischstäbchen kommen (aus dem nördlichen Pazifik nämlich). Steht das Fanggebiet nicht auf der Packung, gibt es einen Code, der mit FAO beginnt und aus sechs Ziffern besteht; mit ihrer Hilfe kann man das Fanggebiet herausfinden oder unter fischbestaende-online.de mehr erfahren. Was die Herkunft für die Nachhaltigkeit bedeutet, erschließt sich – wenn überhaupt – erst nach einer weiteren Recherche. Während sich an manchen Orten Bestände erholen, gehen sie woanders zurück. Die von der Verbraucherzentrale herausgegebene Liste »Guter Fisch« (verbraucherzentrale.de/guter-fisch) wird deswegen jährlich aktualisiert. Wie der Online-Fischratgeber der Umweltschutzorganisation WWF. Unter fischratgeber.wwf.de werden die wichtigsten Fischarten farblich markiert. Man lernt: Karpfen geht immer. Aal auf keinen Fall. Hering lieber nicht. Bis auf Weiteres. Und wie ist es mit Fisch aus Aquakulturen? Helfen Zuchtfarmen, die Bestände im Meer zu schonen? Nicht wirklich: Zuchtfisch wird oft mit Mehl aus Wildfisch gefüttert. Außerdem verunreinigt der Kot der eingesperrten Tiere die Meere, die Farmen gelten als Brutstätten für Krankheiten und Parasiten, die von ausbrechenden Fischen verbreitet werden. Außerdem werden in großen Mengen Medikamente verabreicht, deren Rückstände ebenfalls ins Meerwasser gelangen.
Um Mindeststandards bei Nachhaltigkeit und Umweltschutz auf Zuchtfarmen transparenter zu machen, wird das Qualitätssiegel ASC vergeben. Überprüft wird dabei, ob sich der Standort der Zuchtanlage eignet, ob die Wasserqualität gut ist, wie hoch die Sterblichkeits-
rate in der Zucht ist und ob das Futter aus überfischten Beständen kommt. Ein ähnliches Siegel gibt es auch für Wildfisch. Es heißt MSC, wurde einst von dem Konzern Unilever und der Umweltorganisation WWF ins Leben gerufen, ist inzwischen aber unabhängig, und in den letzten Jahren wurde seine Vergabe strenger geregelt. Doch sowohl ASC als auch MSC sind umstritten. Der Vorwurf: Ihre Bedingungen und Kontrollen seien zu lasch. Wer anspruchsvoller ist, kann auf die Siegel Bioland und Naturland achten, sie sind strenger geregelt, aber im Handel selten zu finden.
Ein zweifelhaftes Qualitätssiegel ist besser als keins: Steht MSC oder ASC auf der Packung, bürgt das für einen Mindeststandard an Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Verlässlicher sind die Siegel von Bioland und Naturland.
Am 8. Februar 1729
knackte der französische Philosoph Voltaire zusammen mit einem Freund den Jackpot der Staatslotterie. War es reine Fortune? Oder hatte der Vordenker der Aufklärung das Glücksspiel gehackt?
Text Tobias Hürter
Lotto spielen und schon vor der Ziehung wissen, dass man den Jackpot knackt, ohne zu schummeln: Wer möchte das nicht? Zu den wenigen Menschen, die es erlebt haben, gehört ein Franzose, der als François-Marie Arouet geboren wurde. Später gab er sich das Pseudonym Voltaire, kreativ zusammengesetzt aus den Buchstaben von Französisch »Arouet, der Jüngere«. Am Morgen des 8. Februar 1729 wusste der 34-Jährige, dessen Leben bis dahin von Geldmangel geprägt war, dass er abends ein reicher Mann sein würde, und er verstand es, diesen Reichtum zu nutzen. Er wurde der bedeutendste Philosoph der Aufklärung. »Le siècle de Voltaire«, das Jahrhundert Voltaires, heißt in Frankreich das 18. Jahrhundert, das Jahrhundert der Revolution.
»Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« Den Mut hatte Voltaire bereits, bevor dieser Spruch zum Motto der Aufklärung wurde. Er lebte von Jugend an gegen die Normen und Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden. Sein Vater, Hoher Richter am Finanzgericht in Paris und Gebühreneinnehmer, wollte, dass sein Sohn wie er Jurist wird. François-Marie schrieb aber lieber Gedichte. Widerwillig immatrikulierte er sich an der juristischen Hochschule. Um ihm den Schöngeist auszutreiben, schickte sein Vater ihn in die Provinz auf eine Stelle als Notargehilfe, dann nach Den Haag in den Dienst des französischen Gesandten. Dort fing der Sohn eine Liebschaft mit einer siebzehnjährigen Protestantin an, worauf der Gesandte Voltaire zurück nach Paris schickte. Der Vater drohte, ihn zu enterben. Daraufhin verdächtigte der Sohn wiederum seinen Vater, gar nicht sein leiblicher Vater zu sein, und die Mutter mehrerer außerehelicher Affären. Der Vater raste und wollte den Sohn ins Gefängnis stecken lassen, ließ sich jedoch von ihm besänftigen.
Keine leichte Zeit für Voltaire. Zwar war seine Begabung in literarischen Kreisen bekannt. Er trug seine Werke in den Salons der Aristokratie vor. Besonders gut kamen dort seine satirischen Verse und Prosastücke an. Doch dieses Genre war riskant. Die Autoritäten sahen nicht gern, wenn man sich über sie lustig machte. Wer damals etwas veröffentlichten wollte, brauchte das
Siegel der königlichen Zensurbehörde. So gut wie kein Werk Voltaires bekam dieses. Voltaire ließ sie illegal drucken, ein noch größeres Risiko. Darauf stand Gefängnis. Illegal gedruckte Werke erschienen meist anonym, nicht selten wurden solche Werke vermeintlichen Urhebern zugeschrieben, die sie gar nicht verfasst hatten, nicht selten kamen so Unschuldige hinter Gitter. Auch Voltaire wurde wegen fremder Schriften angeklagt. Richtig in die Bredouille aber geriet er für ein Werk, das er tatsächlich verfasst, sogar vor Publikum rezitiert hatte: ein Spottgedicht auf den Regenten. Der verbannte Voltaire zunächst nur aus Paris. Auf dem Landgut eines Freundes verbrachte Voltaire einen geruhsamen Sommer, dann kehrte er nach Paris zurück – und lästerte munter weiter. Diesmal ging es weniger glimpflich
Voltaire rechnete alles genau durch: Sein Plan ging auf –die Mathematik versprach ein sicheres Geschäft
aus. Voltaire wurde in der Bastille, dem Spezialgefängnis für Staatsfeinde, eingesperrt. Er blieb noch immer guter Dinge, rechnete damit, in einem kurzen Gerichtsverfahren entlastet zu werden. Eine bloße Formalie, glaubte er, eine Woche in der Bastille – schlimmstenfalls. Doch er hatte den Unmut der Obrigkeit unterschätzt. Er saß elf Monate hinter Gittern, und als er freikam, stockte seine ohnehin holprige Karriere. Wer die Gunst des Königs suchte, mied Voltaire. Das Geld wurde ihm knapp. 1722 starb Voltaires Vater. Der hatte Voltaire zwar nicht enterbt, ihm aber eine Lektion mitgegeben. Voltaire sollte sein Erbteil erst ausbezahlt bekommen, wenn er 35 Jahre alt war, verfügte der Vater – fast acht Jahre nach seinem Tod. Bis dahin sollte der Sohn beweisen, dass er Manieren hat. In diesen acht Jahren Probezeit bekam Voltaire nur die Dividenden seines Erbteils ausbezahlt, was auch nicht ganz wenig war. Aber zu wenig für ihn. Voltaire war ein Dandy und Spieler, großspurig, selbstgefällig. Er
gab das Geld mit vollen Händen aus. Dazu kam neuer Ärger. Im Jahr 1726 brüskierte der Chevalier Guy-Auguste de Rohan, Spross eines alten herzoglichen Geschlechts, Voltaire mit der Frage, wie der zu seinem neuen Namen gekommen sei. Voltaire spottete zurück: »Je commence mon nom, monsieur, vous finissez le vôtre«, antwortete er, »Ich bin der Erste meines Namens, mein Herr, Sie der Letzte des Ihren.«
Das überstieg den Witz des Chevaliers. Er wies seine Diener an, Voltaire zu verprügeln: »Nicht auf den Kopf schlagen, es könnte noch etwas Gutes daraus hervorgehen.« Der empörte Voltaire suchte den Beistand seiner Freunde, unter denen auch Adlige waren – und sah, wie einer nach dem anderen ihn im Stich ließ und Partei für den Chevalier ergriff. Sie waren Adlige wie der Chevalier. Voltaire war Bürgerlicher. Voltaire beschloss, den Chevalier zum Duell zu fordern. Er nahm Fechtunterricht. Doch nach dem Komment der besseren Gesellschaft galten Bürgerliche nicht als »satisfaktionsfähig«, nicht als berechtigt, ihre Ehre im Duell wiederherzustellen. Der Chevalier erwirkte einen Haftbefehl gegen Voltaire. Der bat darum, nach England ausreisen zu dürfen.
Am 5. Mai 1726 überquerte Voltaire den Ärmelkanal. Die Stimmung in England gefiel ihm. »In diesem Land denkt man frei und vornehm, ohne durch knechtische Furcht gehemmt zu sein«, schwärmte er. Es war die große Zeit der Naturwissenschaft, Isaac Newtons, der Royal Society, der Vernunft. Der Geist der Aufklärung, der prägend für sein weiteres Werk wurde, steckte Voltaire an. Es gelang ihm, ein Werk zu veröffentlichen, das in Frankreich bis dahin ungedruckt geblieben war: die Henriade, ein episches Gedicht im Stil Vergils über König Heinrich IV., über religiösen Eifer und zivilen Ungehorsam. Allerdings eckte Voltaire auch in England an. Aus nicht überlieferten Gründen musste er das Land wieder verlassen. 1728 kehrte er zurück nach Frankreich – er hatte sich einen Namen gemacht, aber steckte nach wie vor in Geldnot. Bei einem Souper machte er eine Bekanntschaft, die seine Geschicke und den Lauf der Geistesgeschichte verändern würde. Mit dem jungen, brillanten Mathematiker Charles Marie de La Condamine, 27, kam er ins Gespräch über Lotterien.
Lotterien waren damals eine große Sache. Stadtregierungen, Fürsten- und Königshöfe nutzten sie, um ihre Budgets aufzubessern. Diesen Zweck hatten staatliche Lotterien seit dem Mittelalter. Urformen der Lotterie gab es schon in der Antike, in Rom, Athen und China. Zu Beginn gab es meist Sachpreise zu gewinnen, später auch Geld. Es gab mehrere Formen, bei manchen warfen die Spieler Zettel mit ihrem Namen darauf in eine Urne und hofften, für einen Gewinn gezogen zu werden. Bei anderen schlugen sie ein Buch auf, in dem die meisten Seiten leer waren, auf anderen Seiten Gewinne vermerkt waren.
Die italienische Form der Lotterie, genannt »Lotto«, wurde im Jahr 1610 von einem Diplomaten namens Benedetto Gentile entwickelt. Ein Kind zog aus einem Gefäß mit durchnummerierten Kugeln, zum Beispiel 1 bis 99, fünf dieser Kugeln. Spieler wetteten auf bestimmte Kombinationen oder auf einzelne gezogene Zahlen. Der Vorteil des Lotto war, dass die Ziehung schneller ging. Das Losverfahren hatte manchmal Monate gedauert.
Im späten 17. Jahrhundert wurden, ausgehend von England, Lotterien immer beliebter. Das englische Parlament führte im Jahr 1694 eine Lotterie ein, um eine Million Pfund für die Staatskasse einzunehmen. Das klappte so gut, dass die Schatzmeister und Finanzminister anderer Länder dem Londoner Beispiel folgten. In Frankreich kam der Trend zur Lotterie nur zögerlich an. Die Kirche, die stets mitregierte, prangerte sie an: Glücksspiel, Teufelszeug!
König Ludwig XIV. verbot Lotterien. Nach seinem Tod waren die Staatsfinanzen, belastet durch viele Kriege, in einem miserablen Zustand. Sein Nachfolger Ludwig XV. setzte den Kardinal André-Hercule de Fleury als Chefdirektor ein, um die Staatsschulden abzubauen. Der Kardinal berief wiederum einen Finanzminister, Generalkontrolleur Michel Robert Le Peletier des Forts. Der beschloss, zur Refinanzierung der ausgegebenen Staatsanleihen eine dauerhafte Staatslotterie einzurichten. Jeder, der Anleihen besaß, durfte ein Los kaufen.
Diese Lotterie war es, die Voltaire und La Condamine beim Souper analysierten. Der Modus, den Le Peletier ihr gegeben hatte, war kurios. Die Besitzer von Staatsanleihen konnten ein Los erwerben zu einem
Vielleicht wäre
Voltaire (1694–1778) ohne seinen genialen Lotterie-Coup nicht zum weltberühmten Philosophen geworden. Er hinterließ ein gewaltiges Werk.
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Preis, der im Verhältnis eins zu tausend zum Volumens ihrer Staatsanleihen stand. Wer also für tausend Livre Staatsanleihen besaß, konnte sich ein Los für eine Livre kaufen. Wenn ein Los gezogen wurde, bekamen die Gewinner 85 Prozent des Nennwerts ihrer Anleihen ausbezahlt. Das lohnte sich, weil die Anleihen inzwischen Ramsch waren: Sie waren tatsächlich viel weniger wert als ihr Nennwert. Dazu spendierte der Staat pro Ziehung noch einen Jackpot von 500.000 Livre – ein Vermögen.
Voltaire und La Condamine entwickelten einen verwegenen Plan: Was, wenn wir alle Lose zu günstigen Preisen aufkaufen oder zumindest so viele, dass so gut wie sicher eines davon gezogen wird? Es wäre eine beträchtliche Investition und einiger Aufwand. Voltaire und La Condamine rechneten es durch. Die Mathematik versprach ein sicheres Geschäft. Der Generalkontrolleur Le Peletier hatte schlecht kalkuliert. Da war noch ein Haken: Der Verkauf der Lose lag in den Händen weniger autorisierter Notare. Aber Notare waren käuflich, befanden Voltaire und La Condamine. Wie genau sie es anstellten, ist nicht überliefert. Mit dem einen oder anderen Notar müssen sie ins Geschäft gekommen sein.
Sie fackelten nicht lange. Anfang des Jahres 1729 legten sie los. Sie besorgten die Lose beim Notar, blanko. Sie mussten nur noch die Namen eintragen und dazu einen Glücksspruch, wie damals üblich. Sie bildeten ein Syndikat mit ein paar Komplizen, damit etwas Abwechslung in die Gewinnerlisten kam. Die Aufzeichnungen der Ziehungen sind erhalten. Sie zeugen vom Coup der beiden Aufklärer: davon, wie sich bei der Ziehung am 8. Februar 1729 die Namen in der Gewinnerliste merkwürdig oft wiederholten. Einer davon lautete La Condamine. Voltaires Geldsorgen begannen sich in Wohlgefallen aufzulösen.
Das Spiel ging noch weiter. Hätte der Generalkontrolleur die Listen der Lotterie in den folgenden Monaten studiert, wäre ihm wohl aufgefallen, dass da etwas nicht stimmte. Fast alle Gewinner gehörten zum Syndikat um Voltaire und La Condamine. Die beiden waren sich ihrer Sache so sicher, dass sie Insiderwitze in die Glückssprüche schrieben, zum Beispiel: »Es lebe Monsieur Desforts« – »Es lebe der Kardinal de Fleury« – oder »Societas pauperum felix« (die Gesell-
schaft der glücklichen Armen). Irgendwann muss doch ein Finanzbeamter hingeschaut haben. Im Januar 1730 schloss Le Peletier des Forts seine missglückte Lotterie. Spät genug für Voltaire, der dank ihrer inzwischen eine halbe Million Livre reicher war. Le Peletier wütete. Er reichte Klage gegen Voltaire und seine Komplizen ein. Das Gericht wies die Klage ab. Das Syndikat hatte nicht gegen die Regeln der Lotterie verstoßen. La Condamine steckte sein Geld in die Forschung. Er reiste nach Südamerika, vermaß mit der Expédition géodésique française en Équateur die Längengrade, um Isaac Newtons Theorie zu bestätigen, dass die Erde keine perfekte Kugel ist.
Voltaire verwendete sein Geld, um noch mehr Geld zu machen. Er investierte es ertragreich in Rüstungsgeschäfte und den Überseehandel, vergab Kredite an klamme Fürstenhäuser. Sein Reichtum gab ihm den Rückhalt, das zu tun, was er am liebsten und am besten tat: schreiben und mit Worten
Einfluss nehmen. Er gastierte an den großen Königshöfen, in Versailles und Berlin. Er wurde Kammerherr von König Ludwig XV., fiel aber in Ungnade, als er am Spieltisch hohe Adlige des Schummelns verdächtigte. Auch Friedrich II. von Preußen, der sich gern mit Geistesgrößen umgab, ernannte Voltaire zu seinem Kammerherrn, verlieh ihm sogar den seltenen Orden Pour le Mérite, die höchste Tapferkeitsauszeichnung. Doch dann verlor Voltaire das Vertrauen des Königs, als der dahinterkam, dass Voltaire sich mit illegalen Finanzgeschäften bereichert hatte.
Schließlich ließ Voltaire sich auf dem Landsitz Château de Ferney nahe der Grenze zur Schweiz nieder. Wenn die französische Autorität hinter ihm her war, konnte er sich ein paar Kilometer südlich ins sichere Genf absetzen. Allerdings war er auch dort nicht allseits gern gesehen. Er hatte dafür gesorgt, dass der Eintrag über Genf in der Encyclopédie, der berühmten Wissenssammlung der
französischen Aufklärer, einen kritischen Ton erhielt.
Aber auf seinem Landsitz konnte er »seinen Garten bebauen«, wie er es in seiner Novelle Candide oder der Optimismus als Lebensziel ausgegeben hatte: »arbeiten, ohne sich zu zergrübeln, das einzige Mittel, das Dasein erträglich zu gestalten«. Im Dorf Ferney setzte er den Geist der Aufklärung in Taten um. Er förderte das lokale Handwerk, finanzierte ein Spital und eine Schule, unterstützte sogar die ungeliebte Kirche, wetterte in seinen späten Werken weiter gegen den Despotismus, schickte die Kunde von den Idealen der Aufklärung in die Welt.
Sein Reichtum, dessen Grundstock aus dem Lotterie-Hack kam, erlaubte ihm, vom Lebemann, der stets mit einem Bein im Gefängnis gestanden hatte, zum Helden der Aufklärung zu werden. Wäre er es auch ohne den genialen Los-Trick geworden?
Hätte er nicht den Verstand dazu gehabt, dann hätte er Glück gebraucht.
Der Mensch hat alles Mögliche erfunden, um seinen Bewegungsdrang zu stillen. Fahrzeuge auf Rädern, auf Schienen, auf See. Steigen Sie ein, und fahren Sie mit!
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Ein Schiff segelt los, aber kommt nicht zurück. Das gibt Ärger! Meutereien auf Schiffen waren die Bahnstreiks des 18. Jahrhunderts: nervig für alle Beteiligten, aber gleichwohl an der Tagesordnung. Meistens wollten die Besatzungen bessere Löhne und Arbeitsbedingungen erstreiten. Die Meuterei am 28. April 1789 auf dem Handelssegler Bounty jedoch war in ihrer Brutalität beispiellos. Das Schiff sollte Setzlinge des Brotfruchtbaums aus Tahiti in die Karibik bringen, um damit billige Nahrung für die Sklaven auf den Zuckerrohrplantagen zu produzieren. Dazu kommt es nicht. Der Kapitän der Bounty und 18 Besatzungsmitglieder werden von den Meuterern in einem Beiboot mitten in der Südsee ausgesetzt. Der Historiker Simon Füchtenschnieder schildert das nun folgende Martyrium anhand von Logbuchaufzeichnungen und historischen Quellen und rekonstruiert auch die Verfolgung der Bounty durch die Royal Navy, den Prozess gegen die Meuterer und die folgende, diesmal erfolgreiche Brotfrucht-Mission. Im Kielwasser dieser Geschichte taucht man tief in die Welt des Kolonialismus, der Sklaverei und der Handelspolitik um 1800 ein. Simon Füchtenschnieder: Meuterei im Paradies, Sachbuch, Klett-Cotta, 2024, 294 S.
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»Er hatte Vorfahrt, insofern keinerlei Schuld. Der Lastwagen mit Anhänger kam von links in die Allee kurz vor Montpellier. Es war Mittag, sonnig, wenig Verkehr« (Max Frisch, Skizze eines Unglücks). Ein Zitat aus der grandiosen Kulturgeschichte Unfall von Clemens Niedenthal, ASW, 2007, 144 S.
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Mann über Bord
1. Odyssee von Homer (Penguin Verlag).
2. Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway (Rowohlt) 3. Moby-Dick von Herman Melville (Diogenes). 4. Schiffbruch mit Tiger von Yann Martel (Fischer)
Eine Atempause auf den Straßen fern Europas 1939/40 fahren Annemarie Schwarzenbach und Ella Meillart »ohne Boy und Chauffeur, ja, sogar ohne Gentleman« eisgekühltes Bier und Schusswaffen in einem Ford Roadster Deluxe von Genf bis nach Indien – Texte, Fotos und Briefe geben Zeugnis dieser außergewöhnlichen Autoreise mit 18 PS. Annemarie Schwarzenbach: Alle Wege sind offen, Reportagen, Lenos, 2021, 344 S.
Eine Bewegung, die in der Natur kein Vorbild kennt
Als der inzwischen verstorbene Historiker Wolfgang Schivelbusch im Sommer 1970 eine Reise durch Amerika unternimmt, lernt er eine spezielle Axtform kennen, die den Zusammenhang von Waldwirtschaft und Eisenbahnära aufzeigt. In seiner Bahnhistorie geht es unterschwellig stets um Technologie als Treiber von Zivilisationsprozessen. Geschichte der Eisenbahnreise, Sachbuch, Fischer Taschenbuch, 2015, 257 S.
Vier Räder für ein Halleluja
Mörderische Automobile bei Stephen King: In Christine ergreift ein blutrünstiger Wagen
Besitz von einem Teenager. In Mr. Mercedes rast ein Attentäter mit seinem Auto in eine Menschenmenge. Christine, 1983, 896 S.; Mr. Mercedes, 2014, 608 S., beide Heyne
Ausflüge in persönliche Randgebiete: Nozomi
»Jede:r sollte das Recht haben, ein Leben ohne eigenes Auto führen zu können«Katja Diehl
Mit einem Taxi nach Paris, ähm, Hamburg-Wandsbek
Als eines Nachts der kleinwüchsige Marco in Alexas Taxi Platz nimmt, wird bald nichts mehr sein wie zuvor. Duve fasst in ihrem Roman 13 Jahre als »Taxifahrerin Zwodoppelvier vom Wandsbek-Funk« zusammen. Buch und Verfilmung spielen auf den Straßen Hamburgs, und am Ende genügt ein Blick durch ein geöffnetes Seitenfenster, um sein Glück im nächstbesten Taxi zu vermuten. Karen Duve: Taxi, Roman, Kiwi Taschenbuch, 338 S.
Von A nach B ohne SUV
Wer am Schneckentempo der Verkehrswende verzweifelt, kann mit dieser Streitschrift Zuversicht tanken. Die Podcasterin Katja Diehl hat knapp 100 Menschen interviewt, die Deutschlands Mobilität neu erfinden. Von Bürgermeistern über Stadtplanerinnen und Forschende bis hin zu einem Start-up, das Fahrgemeinschaften per App organisiert (goFlux). Katja Diehl: Raus aus der AUTOkratie, Sachbuch, S. Fischer, 2024, 350 S.
Der hat an der Uhr gedreht
Transportmittel Zeitmaschine! Diese auf 56 Seiten konzentrierte Graphic-Novel-Umsetzung des Klassikers von H. G. Wells ist ein ästhetischer Genuss. Dobbs & Mathieu Moreau: Die Zeitmaschine, Splitter, 2017
Zweiräder I
Wenige Dinge haben die Gesellschaft so mobilisiert wie das Fahrrad. Diese Kulturgeschichte beschreibt die Euphorie, die vor 200 Jahren vom muskelgetriebenen Fahrzeug ausging und es zum meistgebauten der Welt machte. Hans-Erhard Lessing: Das Fahrrad, Sachbuch, Klett-Cotta, 2017, 255 S.
Zweiräder II
Das Fahrrad hat so viel zur Emanzipation der Frau beigetragen wie die Abschaffung des Damenreitsattels. Ein Lob der feministischen Freiheitsmaschine. Hannah Ross: Revolutions, Sachbuch, Mairisch, 2022, 320 S.
Zweiräder III
1.120 Kilometer mit dem Fahrrad rund um Berlin: Nozomi Horibes Graphic Novel Der Trip ist ein Ausflug in persönliche Randgebiete. Die Zeichnerin wagt sich aus der Komfortzone – rein in die Grenzlandschaft zwischen »da war ich noch nie« und »da wollte ich nie hin«. Jaja Verlag, 2021, 112 S.
Zweiräder IV
Kein Motorrad war in den Achtzigerjahren berühmter als das von Werner. Die Comicfigur kümmerte sich äußerst wenig um die Straßenverkehrsordnung (»Wer bremst, hat Angst!«), was ihr viele Fans bescherte. Rötger Feldmann: Werner, 1981+, u. a. Heyne
Das klamme Leben
Für immer mehr Menschen ist ein wackeliges Boot die letzte Hoffnung auf ein besseres Leben – und oft eine trügerische. Adrian Pourviseh war als Seenotretter unterwegs und hat dabei mit Helfenden und Flüchtenden geredet. Das Ergebnis: seine innige und in ihrer kühlen Klarheit beeindruckende Comic-Dokumentation Das Schimmern der See, Avant Verlag, 2023, 224 S.
Bonusmeilen
Ein Ticket für Zwei heißt im Original Planes, Trains and Automobiles: Ein Geschäftsmann (Steve Martin) muss mit dem Flugzeug nach Chicago, wird aber nach Wichita umgeleitet und schlägt sich nun durch die Provinz, per Zug, Auto, egal wie. Mit dabei: ein nerviger Duschvorhangringe-Verkäufer. Unter der Haube ist die Komödie eine Ode an moderne Infrastruktur. 1987, 93 Min.
Tod auf Ketten
1982: Israelische Truppen dringen in den Libanon vor. In einem Panzer sitzt der junge Soldat Schmulik. Mit ihm: die Zuschauer. Denn Lebanon spielt nur in diesem Panzer, die Außenwelt sieht man allein durch das Zielfernrohr. Erdrückend. 2009, 93 Min.
Haltet den Zug!
Fahrzeuge, die in falsche Hände geraten, faszinieren Regisseure seit Anbeginn des Kinos – vor allem Züge. Buster Keaton muss in dem Stummfilm Der General (1926, 78 Min.) die gleichnamige Lokomotive von Entführeren zurückerobern, in Panik im Tokio-Express (1975, 94. Min) hat ein Verbrecher eine Bombe in einem Shinkansen-Zug versteckt. Die Entführung der U-Bahn Pelham 123 (2009, 106 Min.) ist ein Remake: Diese U-Bahn wurde bereits 1974 entführt – und befreit vom großen Walter Matthau.
Schneller, bitte!
»Wer bremst, explodiert«: In Speed sagt ein Erpresser: Dieser Bus darf nicht langsamer fahren als 50 Meilen in der Stunde, sonst gehen meine Sprengsätze hoch. Böse. Mit an Bord: Sandra Bullock. 1994, 116 Min.
Überall nur All!
Eine Raumkapsel treibt durch die endlose Leere – erreicht sie die Erde? Allein an Bord: Sandra Bullock. Gravity, 2013, 90 Min.
Zu Hilfe!
Nun geht es abwärts – und zwar von weit oben. Die unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug ist eine Persiflage an die Katastrophenfilme der Siebzigerjahre. Wen wundert es: Natürlich haben beide Piloten verdorbenen Fisch gegessen. 1980, 88 Min.
Vom sicheren Sofa aus exotische Gegenden besuchen – diese Sehnsucht befriedigen in der Bundesrepublik zwei große Fernsehserien: Im ZDF schippert Das Traumschiff durch die Karibik, und in der ARD-Serie Auf Achse sitzt Manfred Krug am Steuer eines Lkw und fährt Terminfracht in fernste Länder. Das Traumschiff, 1981+, >100 Episoden & Auf Achse, 1978+, 86 Episoden
Liebe in luftiger Höhe
In den georgischen Bergen begegnen sich zwei Gondeln – und die zwei Menschen darin verlieben sich. Gondola, 2023, 82 Min.
Durch die Zeit mit:
Autos in Film und Fernsehen
Tschitti Tschitti Bäng Bäng (1968), Ein Käfer geht aufs Ganze (1971), Convoy (1978), Blues Brothers (1980), Knight Rider (1982+), The Fast and the Furious (2001+), Cars (2006), Transformers (2007+), Drive (2011), Mad Max: Fury Road (2015), Le Mans 66 (2019)
Gerade stand es noch da
Wenn man ohne Fahrrad arbeitslos ist und es gestohlen wird: Was nimmt man auf sich, um den Dieb zu finden? Und was wird, wenn man merkt: Er gibt es nicht mehr her?
Der italienische Klassiker Fahrraddiebe erzählt ehrlich und nüchtern diese Geschichte. Ein Meisterwerk, 1948, 90 Min.
Der Miezebus
In Hayao Miyazakis Trickfilm Mein Nachbar Totoro gibt es etwas Wundervolles: eine Katze, die gleichzeitig ein Bus ist. In Japan gehört sie zum Kulturerbe. 1988, 86 Min.
Allzeit freie Fahrt
In der Videospielserie Grand Theft Auto kann man in fast alle Transportmittel einsteigen und losdüsen, von U-Bahnen über Autos bis zu Helikoptern. Auch der Verkehr ist eine Simulation, die Passanten auf den Straßen reagieren auf die Aktionen der Spieler. GTA bringt Freiheit und Realismus perfekt zusammen – ein Meilenstein. Rockstar, 1997+, div. Plattformen
Junons Mutter liegt im Krankenhaus, sie muss entscheiden: operieren oder nicht? Sie grübelt. Sie redet mit ihrer Schwester, auch nicht leicht. Und immer wenn sie überfordert ist, setzt sie sich ins Auto, rast los – und hat einen schlimmen Unfall. Dann heißt es nicht game over, sondern: Spiel’s noch einmal, und mach’s besser. Das preisgekrönte Spiel The Wreck ist eine Zeitschleife, die sich mit jeder Umdrehung tiefer in Junons Geschichte und Trauer hineindreht. Einzigartig. The Pixel Hunt, 2023, div. Plattformen
Das Videospiel für alle Fahrzeugtypen. Und Sandra Bullock in »Gravity«
Fährt irgendjemand nicht Rad?
Ob mit Gravel- oder Trekkingbike, nach Neapel, Japan oder ans Nordkap, ob Rahmenbau oder Pflege – hört man Johanna Jahnkes Bike-Podcast, will man sofort die Fahrradtaschen packen und losfahren. die-wundersame-fahrradwelt.de, Podcast
So ticken Ruderer und Skuller
Boote waren die ersten Fortbewegungsmittel der Menschheit, ein ausgehöhlter Baumstamm reichte, um auf dem Fluss voranzukommen. Schubschlag berichtet aus der Welt des Rudersports, von Weltmeisterinnen, Deutschland-Achtern und dem härtesten Ruderrennen der Welt. schubschlag, Podcast
So funktioniert die Bahn Gregor Börner arbeitet als Lokführer und spricht als Podcaster mit Experten über die Bahn. Wer das nächste Mal im Zug festhängt, kann knapp zwei Stunden mit dem Grundkurs Bremsen überbrücken (Folge 58) oder hört in Folge 62, wie die Leitstelle arbeitet. langsamfahrt.de, Podcast
Geschichten aus Autoland
Hier reden Männer (Rennfahrer, Designer, Entwickler, Manager, Professoren) liebevoll über Automarken, Autorennen, Autohersteller, Autogeschichte. Viel Vergangenheit, wenig Zukunft, ganz viel Deutschland. Alte Schule, alteschule.tv/podcast
Der mit der Bahn fährt
Der Deutsch-Brite Jon Worth hat seinen Frust über Europas Schienenverkehr in politisches Engagement umgeleitet. Er bloggt unter crossborderrail.trainsforeurope.eu über sein Abenteuer, die Schienen-Grenzübergänge in Europa abzuklappern, und analysiert die Bahnpolitik in europäischen Ländern unter jonworth.eu
Die mit dem Kranich fliegt
Die Hamburgerin Martina Gercke ist Flugbegleiterin einer bekannten Airline und schreibt Kitschromane. Auf Instagram berichtet sie darüber und versprüht ansteckend viel gute Laune. @frau-autorin-fliegt
Die im Rollstuhl unterwegs sind
Noch einmal Bahnverkehr: Bei der Planung einer Reise haben gerade Menschen mit einem Handicap viele Fragen zum Ort der Ankunft: Ist der Bahnhof barrierefrei, und wo sind die Aufzüge? Wann fährt dort der nächste Zug ab? Und wo der Ersatzverkehr? Zum Glück gibt es bahnhof.de – mit allen Antworten für alle deutschen Bahnhöfe.
Wer mal muss
Besonders nützlich, wenn man in fremden Gefilden unterwegs ist: Die App Toilet Finder kennt 150.000 öffentliche Toiletten weltweit. Wer mag, kann im Anschluss das Klo bewerten. App für iOS und Android
»Seit Jahren hören wir von der Bahn: in zehn Jahren wird es besser. Sollen wir das diesmal glauben?«
Fortbewegung ist nicht alles: Weitere lesenswerte Neuerscheinungen
Der Zoologe Heinz-Dieter Franke öffnet mit Kleine rote Fische, die rückwärts gehen eine Schatzkiste des Meeres, in der Garnelen, Hummer und Krabben schwimmen. Mare, 333 S.
Kerstin Wichmann sucht in der Graphic Novel Auf schwankendem Boden nach den Spuren ihrer Vorfahren –in Bildern, so verschleiert wie manche Erinnerungen. Edition Moderne, 168 S.
Kein anderes Jahr als dieses ist besser geeignet für die Lektüre von Ilija Trojanows und Klaus Zeyringers Buch Fans. Fast so schön wie selbst Fußball oder Tennis zu spielen ist es, auf den Rängen mitzufiebern. S. Fischer, 271 S.
Wie die Sprache des Kapitalismus darüber bestimmt, wie wir sprechen und denken, beschreiben Daniel Stähr und Simon Sahner in ihrem hervorragenden Buch. S. Fischer, 304 S.
Nastassja Martin wurde durch ihren Kampf mit einem Bären berühmt. In Im Osten der Träume reist die Anthropologin zu den Even nach Kamtschatka, einem nomadischen Volk. Matthes & Seitz, 326 S.
Der Philosoph Martin Hägglund wirbt für den demokratischen Sozialismus in Dieses eine Leben. C. H. Beck, 416 S.
Der Soziologe Zygmunt Baumann hat nie eine Autobiografie geschrieben, aber zum Glück Fragmente meines Lebens hinterlassen. Suhrkamp, 304 S.
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Bildredaktion Sebi Berens Layout Christoph Lehner Autoren Niels Boeing, Sven Stillich Mitarbeiter dieser Ausgabe Dr. Sibylle Anderl, Tobias Bachmann, Tobias Hürter, Anne-Lena Leidenberger, Jana Mack, Johanna Michaels, Dr. Insa Schiffmann, Ulf Schönert, Lenja Stratmann, Silke Weber Onlineredaktion Jochen Wegner (verantw.) Korrektorat Thomas Worthmann (verantw.), Oliver Voß (stellv.) CPO Magazines & New Business Sandra Kreft Director Magazines Malte Winter Marketing Elke Deleker Vertrieb Sarah Reinbacher Unternehmenskommunikation und Veranstaltungen Silvie Rundel Anzeigen ZEIT Media, Lars Niemann (CSO), www.media.zeit.de Herstellung Torsten Bastian (verantw.), Oliver Nagel (stellv.) Repro Mohn Media Mohndruck GmbH Druck Firmengruppe APPL, appl Druck, Wemding Anzeigenpreise ZEIT Wissen-Preisliste Nr. 20 vom 1. Januar 2024 Abonnement Jahresabonnement (6 Hefte) 49,80 Euro, Lieferung frei Haus, Auslandsabonnementpreise auf Anfrage; Abonnentenservice: Telefon 040/42 23 70 70, Fax 040/42 23 70 90, E-Mail abo@zeit.de, www.zeit.de/zw-abo Anschrift ZEIT WISSEN, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg, Telefon 040/32 80-0 Diese Ausgabe enthält in einer Teilauflage Publikationen folgender Unternehmen: DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH, 20459 Hamburg; Haufe-Lexware GmbH & Co. KG, 79111 Freiburg
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Die Wettervorhersage kündigt Sonne an, und dann wird man nass. Der Zug soll nachmittags ankommen, und es wird Mitternacht. Unsere Umwelt ist ziemlich unzuverlässig – das ist oft zum Verzweifeln. Kleiner Trost: Es könnte noch schlimmer sein. Wäre unsere Welt vollständig unvorhersehbar, hätten wir ein Problem. Dann müssten vor der Zukunft kapitulieren. Dass das nicht der Fall ist, verdanken wir der Tatsache, dass die Welt letztendlich festen Regeln folgt: Naturgesetzen wie E = mc2 oder dem Gravitationsgesetz. Im Alltag verlassen wir uns blind auf sie – ob bewusst oder unbewusst. Wenn jemand eine fünf Kilogramm schwere Kugel auf seinen Fuß fallen lässt, hält sich die Überraschung angesichts der Schmerzen in Grenzen. Die Gravitation ist gnadenlos, das weiß jeder. Aber ist das Urvertrauen in die Naturgesetze gerechtfertigt? Schließlich sollen sie ja überall im Universum und zu allen Zeiten gelten. Gesetze eben.
Da mag es wie ein Widerspruch klingen, dass Menschen in der Vergangenheit andere Naturgesetze für wahr hielten als wir heute. Das Fallgesetz von Galilei wurde durch Newtons Gravitationsgesetz abgelöst und dieses von Einsteins Relativitätstheorie. Einsteins Theorie wiederum wird auch nicht die letzte sein, weil sie nicht mit der Quantentheorie zusammenpasst. So gesehen ändern sich Naturgesetze mit der Zeit, denn sie sind Beschreibungen der Welt, die von uns Menschen stammen.
Physiker wenden hier gern ein, dass sich unsere verschiedenen Formulierungen der Naturgesetze gar nicht widersprechen, sondern dass Newton die Gesetze Galileis verallgemeinert hat und Einstein die Theorien Newtons. Die dahintersteckende Annahme ist, dass unsere Theorien sich dem Ideal einer wahren Naturbeschreibung immer weiter annähern. Die Naturgesetze werden demnach immer allgemeingültiger und damit immer verlässlicher. Das ist allerdings eine optimistische Sichtweise, die viele Philosophen nicht teilen würden. Schon allein deshalb nicht, weil wir nach wie vor nicht wissen, wo die Naturgesetze überhaupt herkommen und warum sie so sind, wie sie sind. Solange wir das nicht wissen, würde der Skeptiker sagen, müssen wir im Prinzip mit allem rechnen. Die Physik hat aber ein wichtiges pragmatisches Argument auf ihrer Seite: Die Technologien, die wir auf Grundlage der Naturgesetze entwickeln, funktionieren sehr zuverlässig, vom Laser bis zum Elektromotor. Diese Zuverlässigkeit können sie nur von den Naturgesetzen geerbt haben, auf denen sie basieren. Wenn wir Astronauten in engen Metallkapseln erfolgreich zum Mond schießen können, wird an den dabei genutzten wissenschaftlichen Theorien schon etwas dran sein. An der Rätselhaftigkeit der Naturgesetze ändert das allerdings wenig. Wie so oft, hat Albert Einstein die Sache meisterhaft auf den Punkt gebracht: »Das Unverständlichste am Universum ist im Grunde, dass wir es verstehen.«
Junge Störche gehen in den ersten drei Lebensjahren auf die Grand Tour. Also auf jene Reise, die seit der Renaissance das Ende der elterlichen Erziehung einläutet – und fit macht für ein selbstständiges Leben als Erwachsener. Jungen Menschen fällt es immer schwerer, eigene Wege zu gehen. 57 Prozent der 18- bis 24-Jährigen wohnen in Deutschland noch zu Hause. Jeder Zweite in diesem Alter ist zudem auf das Einkommen der Eltern angewiesen. Ein Großteil von ihnen beschreibt die Beziehung zu Vater und Mutter trotzdem als ausgezeichnet – Psychologen sprechen von der Helikopter-Generation.
Die Kehrseite der ElternKind-Symbiose: Die erwachsenen Söhne und Töchter heiraten im Durchschnitt später und kriegen später Kinder als ihre Eltern. Außerdem verlassen sich die nicht mehr jungen Jungen auch emotional stark auf ihre Eltern. Als erstrebenswert werden gute Freunde und Spaß genannt, »immer neue Erfahrungen machen« hat dagegen einen viel kleineren Stellenwert.
zusammen mit Kollegen vom Max-PlanckInstitut in Radolfzell und der Universität Konstanz 250 Weißstörche aus Süddeutschland und Österreich mit Sendern ausgestattet und zehn Jahre lang ihre Flugrouten beobachtet. Das Forschungsteam fand heraus: Die Jungstörche lassen sich Zeit, erst mit zunehmendem Alter werden die Strecken kürzer und schneller absolviert: Die erwachsenen Störche begradigen ihre Zugrouten. Mit den Eltern haben die Jungen auf den Flügen keinen Kontakt, aber als soziale Zugvögel fliegen sie in Schwärmen und lernen mit anderen Jungtieren, sich von den warmen Aufwinden hochtragen zu lassen und zu gleiten. Sie haben es nicht eilig. Ihre Eltern dagegen schon. Die wollen keine Zeit verplempern und verlassen sich nicht auf die Thermik, sondern schlagen zielstrebig mit den Flügeln, um möglichst schnell den Horst aus dem Vorjahr zu erreichen und Eier zu legen.
Störche starten mit mehr Mut zum Abenteuer ins Leben. Die Jungvögel verlassen Anfang August noch vor den Eltern Nest und Heimat, um den Zug in den warmen Süden anzutreten. Fünf bis zehn Tage früher als Mama und Papa brechen sie auf. Unterwegs erkunden sie die Umgebung und legen öfter mal eine Pause ein. Auch auf dem Weg aus dem Überwinterungsgebiet zurück in den Norden probieren sie neue Wege aus, um die Landschaft kennenzulernen. »Die Jungen nehmen Geschwindigkeit raus«, sagt Andrea Flack. Die Verhaltensbiologin hat
Der Mensch hat damit so seine Probleme.
Der Weißstorch nicht
Text Hella KemperBeim Direktflug in die Heimat profitieren sie von ihren Erkundungstouren in jungen Jahren. »Unsere Studie zeigt, dass die Tiere mithilfe der Informationen, die sie sammeln, ihr Verhalten schrittweise verfeinern«, sagt Andrea Flack. Die Erfahrungen machen sie außerdem unabhängig von sozialen Informationen – die Alten fliegen in kleineren Schwärmen, die schneller reisen können als größere Gruppen.
Eine buddhistische Weisheit besagt: Wer seinen eigenen Weg geht, dem wachsen Flügel. Die Weisheit der Störche lautet: Wer den Um- und Abwegen traut, kommt später schneller ans Ziel. Dafür muss man aber rechtzeitig im Hotel Mama auschecken. Foto: Hans Kuczka/imageBROKER
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