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Wenn Lernende den Laden schmeissen
Der Coop-Supermarkt in Deisswil ist ganz in Händen von neun Lernenden. Bereits zum zweiten Mal hat Coop im August 2024 die Leitung des Geschäfts für ein ganzes Jahr an Auszubildende übertragen. Unter den neun Lernenden sind auch drei der Wirtschaftsschule Thun.
Was passiert, wenn Lernende die gesamte Verantwortung für einen Supermarkt übernehmen? Das hat Coop getestet, indem sie im August 2023 in Deisswil BE eine LernendenVerkaufsstelle lanciert haben. Der Supermarkt in der ehemaligen KartonFabrik Deisswil wird jedoch nicht etwa tage oder wochenweise von Lernenden geführt, sondern während eines ganzen Jahres. 2024 ist das Projekt in die zweite Runde gestartet: Neun Lernende Detailhandelsfachleute im zweiten und dritten Lehrjahr sind wiederum während zwölf Monaten für den Laden zuständig. Mit von der Partie sind diesmal auch drei angehende Detailhandelsfachleute der Wirtschaftsschule Thun (WST): Melanie Widmer (19), Brian Odiwuor (20) und Sandro Marković (19) haben vergangenen Sommer die Chance gepackt, und halten seither gemeinsam mit sechs weiteren Detailhandelslernenden aus dem Kanton Bern die Fäden der Filiale Deisswil in den Händen. Zur Unterstützung stehen den Lernenden vor Ort zwei Coaches zur Seite.
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Die Idee der ungewöhnlichen Talentförderungsmassnahme von Coop: «Die Lernenden sind vollumfänglich für die im Rahmen des Supermarktgeschäfts anfallenden Tätigkeiten wie Warenbestellungen, Bewirtschaftung der Regale, Personaleinsatzplanung und weitere administrative Aufgaben verantwortlich», erklärt Tatiana Fluri, die die Lernenden vor Ort coached. «So können die jungen Menschen die erlernten Kenntnisse mit direktem Praxisbezug vertiefen und sind bestens für die Abschlussprüfungen und den Berufsalltag nach der Lehre vorbereitet.» Die Handlungskompetenzen und das selbstorganisierte Lernen stehen dabei gemäss Fluri stets im Fokus.
Noch Mehr Selbstst Ndigkeit
Melanie Widmer, Brian Odiwuor und Sandro Marković haben sich ganz bewusst dafür entschieden, im letzten Lehrjahr noch mals etwas Neues zu wagen. «Und das, obwohl ich einen wirklich tollen Lehrbetrieb hatte», betont Sandro Marković, der im Coop-Megastore Heimberg seine Lehre gestartet und das zweite Jahr im CoopSupermarkt in Münsingen verbracht hat. «Aber ich wollte noch mehr lernen, noch mehr Selbstständigkeit haben und war überzeugt, dass die Lernenden Filiale eine einzigartige Chance ist.»
Gereizt hat alle drei Lernenden, dass sie im Rahmen des innovativen Projektes sehr viel mehr Verantwortung übernehmen können, als dies in einem normalen Lehrbetrieb der Fall wäre. Die beiden Coaches stehen bei Fragen zwar zur Verfügung, halten sich aber grundsätzlich im Hintergrund und greifen nur im Notfall proaktiv ein, wie Coach Tatiana Fluri erklärt. So zu arbeiten verlange von den Lernenden deshalb ein grosses Mass an Selbstständigkeit. Eine Herausforderung, die Melanie Widmer bewusst gesucht hat: «Ich wollte unbedingt einen tieferen Einblick in die Abläufe eines Supermarktes erhalten und mehr Verantwortung übernehmen», sagt die 19 Jährige, die ihr zweites Lehrjahr zusammen mit Brian Odiwuor im Coop Strättligen Thun absolvierte. «In einer kleineren Filiale, wie jener in Deisswil, kommt man automatisch mit allen Rayons in Kontakt und versteht die Zusammenhänge viel besser», so Widmer. Dadurch erhalte man nicht nur einen tieferen Einblick in die Prozesse, sagt Brian Odiwuor: «Wir haben hier auch weitaus mehr Kundenkontakt, was ich sehr schätze.»
Dadurch, dass sie tagtäglich mit allen Rayons zu tun haben, konnten die drei auch besser herausfinden, für welche Bereiche ihr berufliches Herz schlägt. Sandro Marković ist beispielsweise seit seiner Zeit in Deisswil klar geworden, dass ihm das Früchteund Gemüserayon am meisten zusagt. «Ich könnte mir sehr gut vorstellen, direkt nach Lehrabschluss als Rayonleiter einzusteigen», so der 19 Jährige. Dank den Erfahrungen, die die Lernenden in Deisswil bis im Sommer 2025 sammeln können, stehen die Chancen für solche Karriereschritte gemäss Coach Tatiana Fluri gut. Der Leistungsausweis aus der Zeit in der Lernenden Filiale mache die Lernenden zu gefragten Fachkräften.
HERAUSFORDERNDE ARBEIT
Eine ganze Filiale als Lernende alleine zu leiten ist zweifelsohne eine enorme Chance, aber für junge Menschen auch eine Herausforderung. «Es war für uns insbesondere zu Beginn nicht immer einfach, den Überblick zu behalten», sagt etwa Melanie Widmer. Beispielsweise zu schauen, dass immer genügend frisches Brot da ist, die richtige Menge an Bananen bestellt sind, dass jemand an der Kasse ist, wenn Kund:innen bezahlen möchten, oder Krankheitsausfälle abzufedern. «Zu Beginn war es wirklich eine Herausforderung Ordnung und Struktur zu halten», gibt Sandro Marković zu. Allerdings hätten sie in den letzten Monaten eine grosse Lernkurve hingelegt. «Wir haben uns alle enorm entwickelt – jeder für sich, aber auch wir gemeinsam als Team», sagt Brian Odiwuor. Keine Chefs zu haben und Probleme selber lösen zu müssen, habe ihnen schnell aufgezeigt, wie wichtig funktionierende Teamarbeit sei. «Wir haben im letzten halben Jahr gelernt, dass Pflichtbewusstsein, gute Kommunikation, aber auch Vertrauen zueinander entscheidend sind», sagt Marković. Gewachsen sei aber auch das Selbstvertrauen: «Heute getraue ich mich, mit neuen Ideen zu den Coaches zu gehen», sagt Brian Odiwuor.
FEHLERTOLERANZ IST WICHTIG
Und wie nehmen die Coaches die Lernenden wahr? «Es ist enorm spannend zu sehen, wie viel die Auszubildenden lernen, wenn ihnen echte Verantwortung übertragen wird», sagt Tatiana Fluri. Durch die grosse Eigenständigkeit würden zwar manchmal Fehler passieren. «Da kann es schon mal sein, dass von einem gewissen Produkt viel zu viel bestellt wird. Aber in einem solchen Projekt braucht es eine gewisse Fehlertoleranz», so die Berufsbildnerin. Denn genau aus solchen Erfahrungen könnten die Lernenden enorm viel lernen. Im Projekt Lernenden Filiale sieht Tatiana Fluri deshalb nur Vorteile. «Gerade auch, weil wir als Coaches mehr Zeit haben, auf die einzelnen Lernenden einzugehen.» Die drei Lernenden ziehen wenige Monate vor Lehrabschluss ebenfalls eine positive Bilanz. «Ich habe hier so viel gelernt, dass ich mich für den Einstieg in die Berufswelt mehr als bereit fühle», sagt Melanie Widmer.
LILLY TORIOLA
Kommunikationsverantwortliche