Prolog April 2020 | Wiener Staatsoper

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KUNST IN DER KRISE D

u holde Kunst, in wieviel grauen Stunden / Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt / Hast du mein Herz zu warmer Lieb’ entzunden / Hast mich in eine bess’re Welt entrückt! So wird die Kraft der Musik, der Kunst in Schuberts An die Musik besungen. Was gibt aber tatsächlich Halt in schwierigen Zeiten? Eine Arie, ein Gedicht, ein Text, ein Bild? Was entrückt in eine „bess’re Welt“? Auf den folgenden Seiten übermitteln dem Haus am Ring verbundene Persönlichkeiten, allen voran Künstlerinnen und Künstler, ihrem Publikum Werke und Kunst-­Momente, die ihnen in Ausnahmesituationen Trost schenken.

BEETHOVEN OP. 132 ICH NEHME wieder Russisch-Unterricht, mein Mann lernt Italienisch. Abends schauen wir alte Filme – wir haben eine riesige Sammlung, in verschiedenen Sprachen – und neue Rezepte werden ausprobiert. Ich musste neulich eine Reihe von Interviews für Composer of the week auf BBC radio3 machen, und das Thema war Beethoven. In diesem Zusammenhang bin ich dem Streichquartett op. 132 nach vielen Jahren wieder begegnet und es begleitet mich jetzt fast jeden Tag. Das kann ich wärmstens empfehlen. Simone Young

MOZART KV 421 SEIT ANFANG der Corona-Krise wohne ich mit meiner Frau und meinem Schwager in seinem Wochenendhaus in einer freiwilligen Quarantäne. Wir haben viel Zeit. Wir haben gestern Nachmittag alte CDs gehört, darunter das d-Moll Streichquartett von Mozart KV 421. Und den letzten Satz habe ich mir dann gleich dreimal wieder aufgelegt. Die Musik geht mir, wieder einmal, seit gestern nicht aus dem Sinn, Ich höre sie im Kopf immer

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wieder, und sie versetzt mich in einen anderen, verklärten Seelenzustand. Mozart hat viele Wunder geschaffen, die anderen Sätze sind sicher auch schön, und ganz sicher auch das g-Moll Streichquintett, das ich mir für morgen vorgenommen habe. Aber im Augenblick habe ich das Gefühl, wenn ich nur ein einziges kurzes Musikstück auf eine unbewohnte Insel, oder in die Quarantäne mitnehmen darf, dann soll das der letzte Satz des KV 421 sein. Meine Gefühle sind zwar, wie immer, ohne Gewähr – morgen wird es vielleicht das Streichquintett sein, oder die Arie Scherza infida von Händel, oder … aber heute komme ich von dieser Musik nicht los. Will ich auch nicht. Sie vermittelt Glück, Traurigkeit, Versöhnung, Abgeklärtheit, Freude, Melancholie – wenn ich an sie denke, mache ich meinen Frieden mit der Welt. Und natürlich kann man dieses Gefühl mit Worten nicht beschreiben. Musik ist eine andere Dimension. Ich kann jeder und jedem empfehlen, in der Quarantäne KV 421 zu hören, und hoffen, dass sie alle durch sie glücklich werden. Lange war ich traurig darüber, dass ich als ausübender Musiker nichts direkt mit Streichquartetten zu tun habe. Ich spiele kein Streichinstrument. Aber mittlerweile denke ich, dass das auch etwas Schönes sein kann. Bei Symphonien oder Opernaufführungen ertappe ich mich immer wieder, dass ich unwillkürlich auch auf die technische Verwirklichung achte. Auch dann, wenn ich nicht dirigiere, sondern nur zuhöre. Ob Oboe und Kontrabass genau zusammen sind oder ob ein Fagott genau mit dem Sänger gleich atmet, und ähnliches. Beim Streichquartett kann ich Musik pur besser genießen, weil ich das Gefühl habe, fürs Praktische nicht zuständig sein zu müssen. Je älter ich werde, desto wichtiger werden für mich Streichquartette. Diese Erkenntnis ähnelt einer anderen, die ich auch erst im Alter gemacht habe: dass Kinder zu haben zwar das Schönste auf der Welt ist, doch es noch schöner ist, Enkelkinder zu haben. Bei Enkeln hat man keine Verantwortung, keine Sorgen, sie liebt man pur. Wie den letzten Satz des KV 421. Adam Fischer


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