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Kunst in der Krise
Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden /
Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt / Hast du mein Herz zu warmer Liebâ entzunden / Hast mich in eine bessâre Welt entrĂŒckt!
So wird die Kraft der Musik, der Kunst in Schuberts An die Musik besungen. Was gibt aber tatsĂ€chlich Halt in schwierigen Zeiten? Eine Arie, ein Gedicht, ein Text, ein Bild? Was entrĂŒckt in eine âbessâre Weltâ? Auf den folgenden Seiten ĂŒbermitteln dem Haus am Ring verbundene Persönlichkeiten, allen voran KĂŒnstlerinnen und KĂŒnstler, ihrem Publikum Werke und Kunst-Momente, die ihnen in Ausnahmesituationen Trost schenken.
BEETHOVEN OP. 132
ICH NEHME wieder Russisch-Unterricht, mein Mann lernt Italienisch. Abends schauen wir alte Filme â wir haben eine riesige Sammlung, in verschiedenen Sprachen â und neue Rezepte werden ausprobiert. Ich musste neulich eine Reihe von Interviews fĂŒr Composer of the week auf BBC radio3 machen, und das Thema war Beethoven. In diesem Zusammenhang bin ich dem Streichquartett op. 132 nach vielen Jahren wieder begegnet und es begleitet mich jetzt fast jeden Tag. Das kann ich wĂ€rmstens empfehlen.
Simone Young
MOZART KV 421
SEIT ANFANG der Corona-Krise wohne ich mit meiner Frau und meinem Schwager in seinem Wochenendhaus in einer freiwilligen QuarantĂ€ne. Wir haben viel Zeit. Wir haben gestern Nachmittag alte CDs gehört, darunter das d-Moll Streichquartett von Mozart KV 421. Und den letzten Satz habe ich mir dann gleich dreimal wieder aufgelegt. wieder, und sie versetzt mich in einen anderen, verklĂ€rten Seelenzustand. Mozart hat viele Wunder geschaffen, die anderen SĂ€tze sind sicher auch schön, und ganz sicher auch das g-Moll Streichquintett, das ich mir fĂŒr morgen vorgenommen habe. Aber im Augenblick habe ich das GefĂŒhl, wenn ich nur ein einziges kurzes MusikstĂŒck auf eine unbewohnte Insel, oder in die QuarantĂ€ne mitnehmen darf, dann soll das der letzte Satz des KV 421 sein. Meine GefĂŒhle sind zwar, wie immer, ohne GewĂ€hr â morgen wird es vielleicht das Streichquintett sein, oder die Arie Scherza infida von HĂ€ndel, oder ⊠aber heute komme ich von dieser Musik nicht los. Will ich auch nicht. Sie vermittelt GlĂŒck, Traurigkeit, Versöhnung, AbgeklĂ€rtheit, Freude, Melancholie â wenn ich an sie denke, mache ich meinen Frieden mit der Welt. Und natĂŒrlich kann man dieses GefĂŒhl mit Worten nicht beschreiben. Musik ist eine andere Dimension. Ich kann jeder und jedem empfehlen, in der QuarantĂ€ne KV 421 zu hören, und hoffen, dass sie alle durch sie glĂŒcklich werden.
Lange war ich traurig darĂŒber, dass ich als ausĂŒbender Musiker nichts direkt mit Streichquartetten zu tun habe. Ich spiele kein Streichinstrument. Aber mittlerweile denke ich, dass das auch etwas Schönes sein kann. Bei Symphonien oder OpernauffĂŒhrungen ertappe ich mich immer wieder, dass ich unwillkĂŒrlich auch auf die technische Verwirklichung achte. Auch dann, wenn ich nicht dirigiere, sondern nur zuhöre. Ob Oboe und Kontrabass genau zusammen sind oder ob ein Fagott genau mit dem SĂ€nger gleich atmet, und Ă€hnliches. Beim Streichquartett kann ich Musik pur besser genieĂen, weil ich das GefĂŒhl habe, fĂŒrs Praktische nicht zustĂ€ndig sein zu mĂŒssen.
Je Ă€lter ich werde, desto wichtiger werden fĂŒr mich Streichquartette. Diese Erkenntnis Ă€hnelt einer anderen, die ich auch erst im Alter gemacht habe: dass Kinder zu haben zwar das Schönste auf der Welt ist, doch es noch schöner ist, Enkelkinder zu haben. Bei Enkeln hat man keine Verantwortung, keine Sorgen, sie liebt man pur. Wie den letzten Satz des KV 421.
IM ABENDROT
Wir sind durch Not und Freude gegangen Hand in Hand; vom Wandern ruhen wir nun ĂŒberm stillen Land.
Rings sich die TÀler neigen, Es dunkelt schon die Luft. Zwei Lerchen nur noch steigen nachtrÀumend in den Duft.
Tritt her und lass sie schwirren bald ist es Schlafenszeit. Dass wir uns nicht verirren in dieser Einsamkeit.
O weiter, stiller Friede! So tief im Abendrot. Wie sind wir wandermĂŒde âist dies etwa der Tod?
DAS IST mein liebstes Lied aus den Vier letzten Liedern von Richard Strauss. Der Text â von Joseph von Eichendorff â strahlt groĂen Frieden aus und obgleich am Ende des Gedichts vom Tod die Rede ist, wirkt es nicht verstörend oder unheilvoll. In dieser aktuellen Krise, die jeden von uns betrifft, kann die Natur einen groĂen Trost spenden. Ich liebe es, in Toronto alleine durch die WĂ€lder zu spazieren, dem Vogelgesang und dem Laut der Wipfel im Wind zu lauschen. Diese kleinen Dinge schenken mir ein WohlgefĂŒhl und den Eindruck, mit dem Universum verbunden zu sein. Und wenn ich dieses Gedicht lese, stellt sich groĂe Ruhe ein⊠Ich wĂŒnsche allen in Wien das Beste und sehne mir den Tag herbei, an dem die Wiener Staatsoper wieder ihre wunderbare Musik erklingen lĂ€sst! KS Adrianne Pieczonka
TROST DER SCHALLPLATTE
DIE AKTUELLE ISOLATION, bedingt durch ein bislang unbeherrschbares Virus, zwingt uns, alle AktivitĂ€ten in den digitalen Raum zu verlagern. Doch an den ruhig gewordenen Abenden möchte man dem auch entgehen. Wie froh bin ich, dass ich meinen Plattenspieler und die Schallplattensammlung, mit der die Geschichte meiner Beziehung zur Musik untrennbar verknĂŒpft ist, nie dem technischen Fortschritt geopfert habe. Nun ist die Zeit gekommen, in von Sorgen umwölkten MuĂestunden zum Plattenschrank zu gehen, die schwarzen Vinyl-Scheiben aus ihren verschlissenen und doch so eindrucksvoll gestalteten groĂen UmhĂŒllungen zu holen, auf den Plattenteller zu legen, lange zu sĂ€ubern, vorsichtig die Nadel aufzusetzen und dann mit nostalgischem Knistern und Rauschen ein ganz privates, von Erinnerungen durchsetztes Beethoven-Jahr zu feiern: Die Symphonien in der legendĂ€ren Einspielung des Royal Philharmonic Orchestra unter RenĂ© Leibowitz, ĂŒber die ich bei Theodor W. Adorno las, als diese Aufnahme schon lĂ€ngst vergriffen war und der ich dann durch halb Europa nachreiste, um in Paris endlich fĂŒndig zu werden; der unglaubliche âungarischeâ Fidelio, den Otto Klemperer 1948 aufgenommen hatte, knacksend und krachend, eine alte Hungaroton-Produktion, die ich lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in Budapest entdeckt hatte; die Streichquartette in der unfassbar differenzierten und prĂ€senten, klangtechnisch unerreichten, noch bei CBS erschienen Schallplattenaufnahme des Juilliard-Quartetts; und die schwere LP-Box mit 11 kostbaren Scheiben: Friedrich Gulda, den ich gewagt hatte, als Gymnasiast beim Musikforum Ossiach um ein Interview fĂŒr unsere SchĂŒlerzeitung zu bitten, was einfach gewĂ€hrt wurde, exekutiert die Klaviersonaten. Keine digitale Datei, auch keine CD kann den Assoziationsreichtum dieser Schallplatten ersetzen: Welch eine FĂŒlle an Klang in dieser nun so karg gewordenen Welt!
GORETSCH!
WĂHREND der Proben zur Premiere meiner Tschechow-Oper Tri Sestri in russischer Sprache an der Wiener Staatsoper bat mich die SĂ€ngerin der Mascha, Margarita Gritskova, um ein kurzes StĂŒck fĂŒr ihre ĂŒber drei Oktaven hinausreichende dramatische Stimme. Sie gab mir das tiefgrĂŒndige Gedicht Goretsch! Goretsch! von Marina Zwetajewa, eine der neben Anna Achmatowa wichtigsten russischen Dichterinnen vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Als ich meinen russischen Freunden erzĂ€hlt habe, dass ich Goretsch! Goretsch! vertonen werde, habe ich in ihren Augen gesehen, dass dieses Gedicht von Marina Zwetajewa wirklich in das Herz aller Russen eingeschrieben ist. Das StĂŒck fĂŒr Margarita Gritskova konnte deshalb nur ein unbegleitetes Solo werden, das man ĂŒberall singen kann: im Konzert, als Zugabe, oder bei anderen Gelegenheiten.
Péter Eötvös
GLEICHES MIT GLEICHEM
GLEICHES mit Gleichem heilen â eine Weisheit, die mir dieser Tage oft in den Sinn gekommen ist, wenn sich Blödeleien und Zerstreuung zwar als BetĂ€ubungsmittel fĂŒr den Augenblick bewĂ€hrten, die tieferen Winkel der von Berichten aus Bergamo, SĂŁo Paulo, Zagreb oder sonstwo verdĂŒsterten Seele aber schon im nĂ€chsten Moment noch dĂŒsterer erscheinen lieĂen. Ist das Höchste nicht aus dem Tiefsten geschöpft? Trost fand ich nie bei den Leichtlachern und SpaĂvögeln, aber in Gesellschaft derer, die sich auf die Finsternis verstehen â bei Nick Cave zum Beispiel, seinen beispiellosen Murder Ballads, oder bei Leonard Cohen: Ein Lied wie The Partisan springt mir rettend an die Gurgel, wenn mich die Sehnsucht wĂŒrgt oder ein Selbstmitleid. Anna Baar
LITERATUR
DIE ZEITEN sind wirklich nicht rosig, am besten haben es noch die schaffenden KĂŒnstler, sie können schreiben, malen, Skulpturen aus dem Stein hauen, von mir aus auch Bananen an die Wand kleben. Wir als Interpreten haben es echt schwer, ohne direkten Kontakt mit Publikum fĂŒhle ich mich wie ein halber Mensch, habe keine Lust zum Singen und Ăben. Ich betrachte es wie einen seit langem schon fĂ€lligen Urlaub, keine sechs Tage zwischen Vorstellungen an denen man sowieso permanent ĂŒber das Singen nachdenkt, sondern ein echtes Abschalten, Herunterfahren. Ein GefĂŒhl, das ich seit mehr als 20 Jahren kaum kenne. Meine Kompensation heiĂt lesen. Ich hole nach, was ich in den letzten Jahren vernachlĂ€ssigt habe, stehe gerade bei Olga Tokarczuk, aber mein Plan ist, in den nĂ€chsten Wochen alles zu lesen, was hier zu Hause â wir sind in SĂŒdpolen in unserem Landhaus â steht. Das Haus braucht ĂŒbrigens viel Pflege, auch das wird uns beschĂ€ftigen. Und wenn es noch lĂ€nger dauert, dann baue ich im Garten einen Pizza/Brot-Ofen ...
KS Piotr BeczaĆa
FINLANDIA
IN SCHWIERIGEN Zeiten, und ich glaube diese Zeit ist eine der schwierigsten, die ich bisher durchlebte, habe ich immer Sehnsucht nach Finnland, nach meiner Heimat. Ich denke dann an Finlandia von Jean Sibelius. Die Musik und der Text haben schon vielen Generationen Trost gespendet.
KS Camilla Nylund
DIE GRĂSSE FREIHEIT: LIEBE
Come again! Sweet Love doth now invite, thy graces that refrain, to do me due delight. To see, to hear, to touch, to kiss, to die, with thee again in sweetest sympathy.
ES IST ALLES wirklich sehr surreal, was wir gerade durchleben mĂŒssen, und ich gestehe, als sehr aktiver Singvogel fĂŒhlt es sich ein bisserl so an, als seien meine FlĂŒgel gestutzt. Wenn ich im Wetterbericht die Insel Island sehe, denke ich mit Wehmut an die vielen Reisen von Nordamerika nach Europa (oder retour), denn da ist Island immer der âhalf way pointâ â man ist also bald wieder zuhause. Ich denke an die Seefahrten, die ich als Leiter der Stella Maris Vocal Competition machen durfte, an die schier unbegrenzte Freiheit, die wir verloren haben, und an das, was sie nun wirklich bedeutet. Mir fallen die Florestan-Arie oder Mozarts Konzertarie Misero! o sogno, o son desto ein. Die Kerker-Szenen verstehen wir nun anders. Wobei, es ist fĂŒr mich, Gott sei Dank, so, dass ich mit meiner Frau zusammen sein darf, die ich nicht nur liebe, sondern auch mag! Ich denke also dankbar daran, dass ich atmen und leben darf und wie gut es mir geht, wĂ€hrend andere wirklich leiden ... ich bete fĂŒr Sie und entdecke, dass doch die wahre Liebe die gröĂte Freiheit ist, die wir haben ... und so singe ich oft beim tĂ€glichen Ăben auch das schönste Lied von allen, John Dowlands Love doth now invite. Und ich denke daran, dass, wenn alles vorbei ist, vieles, wie etwa bei unseren Barocktage in Melk, doch am Ende nur aufgeschoben und nicht aufgehoben ist ... Und ich weiĂ: Es wird wieder alles gut!
KS Michael Schade
GEDULD UND ERMUTIGUNG
WIE OFT musste ich meiner Familie, meinen Freunden an AuffĂŒhrungstagen den Lebensstil eines SĂ€ngers erklĂ€ren: ruhig zu Hause sein, lesen, Musik hören (eher wenig), verantwortungsbewusst essen ⊠Und heute? Heute befindet sich die halbe Welt zwangslĂ€ufig und aus SolidaritĂ€tsgrĂŒnden genau in derselben Situation. In solchen Momenten nĂ€hren die KĂŒnste die Seele und erinnern uns an die Platonischen Gedanken zu den wesentlichen Werten der Menschheit: Schönheit, GĂŒte und Wahrheit. Sie trösten uns und ermöglichen uns zu reflektieren; sie helfen uns, die Zeit zu vertreiben, die wir jetzt wie nie zuvor zu besitzen scheinen. Insbesondere Musik wird zum Mittel, um den Sinnen Freude, Energie und VergnĂŒgen zu bereiten. Ich lese derzeit Zweigs Sternstunden der Menschheit noch einmal, wĂ€hrend ich BartĂłks Konzert fĂŒr Orchester lausche: unerwartete Wendepunkte in der historischen Entwicklung vereint mit einer Musik, die die derzeitigen Empfindungen auszudrĂŒcken scheint! Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass unsere Arbeit so aufhören könnte. Ein Theater ist aufgrund seiner akustischen und visuellen Grundbedingungen der beste Ort fĂŒr eine Opernvorstellung, allerdings auch der Ort des persönlichen Kontakts, der mit der drohenden Gefahr der Ansteckung durch COVID-19 unvereinbar ist. Aber wir werden zurĂŒckkehren und uns um die groĂen Meisterwerke versammeln, um zu feiern, dass wir in der Lage waren, diese Krise gemeinsam zu ĂŒberwinden. Geduld und Ermutigung. Bis bald!
KS Carlos Ălvarez
NICHT MĂDE WERDEN | Hilde Domin
Nicht mĂŒde werden. Sondern dem Wunder wie einem Vogel leise die Hand hinhalten.
DER STOTTERNDE MOTOR
WELCHE MUSIK beschĂ€ftigt mich gerade und was scheint mir wesentlich? ZunĂ€chst: Ich habe derzeit die Gnade, mich mitten in der Wildnis von Westwales aufhalten zu dĂŒrfen. Es ist niemand um mich herum und die Natur und der FrĂŒhling trösten und stĂ€rken mich. Die aus Afrika neu angekommenen Vögel wissen nichts von dieser Pandemie, die der Menschheit zu schaffen macht â sie ĂŒberqueren, ohne aufgehalten zu werden, einfach alle europĂ€ischen Grenzen. Die Blumen heben wie gewohnt ihre Köpfe. Die Glockenblumen legen ihre HĂ€nde in die HĂŒften und schĂŒtteln ihre schönen Locken in der kalten FrĂŒhlingsluft. Ein Versprechen von Sommer und baldigen helleren Zeiten â wie ich hoffe. Das MusikstĂŒck, das mir in den Sinn kommt, ist Strawinskis Le Sacre du printemps. Die eindringlichen Rhythmen der Monate April und Mai: die zwingende Ordnung der Natur. FĂŒhren Sie diese mit den aufreibenden Frustrationen der modernen Welt, der industriellen Welt zusammen und spĂŒren Sie die unbequemen Reibungen mit den alten pastoralen Traditionen und Ăberzeugungen ⊠die allerdings rasch verschwinden âŠVorboten der bevorstehenden und katastrophalen europĂ€ischen Konflikte ⊠das alles steckt in der Musik von Le Sacre du printemps. Mehr noch, wenn man an die schreckliche spanische Grippepandemie denkt ⊠ein VorlĂ€ufer dessen, was wir derzeit durchleben: Sie hören die stotternden Motoren der Anstrengung: Der Mensch kĂ€mpft ums physische und wirtschaftliche Ăberleben. Hier, tief in der Wildnis von Wales, fĂŒhle ich etwas Ăhnliches. Unsere Welt der Musik ⊠der groĂe prĂ€chtige Motor von Oper, Ballett und klassischer Musik ist schaudernd zum Stillstand gekommen. Wir mĂŒssen diesen Motor neu starten und antreiben wenn die Pandemie vorbei ist. Um fĂŒr die RĂŒckkehr von Werten zu kĂ€mpfen, die uns am Herzen liegen und die wir frĂŒher hochgehalten haben. Ich gehe davon aus, dass der Kampf hart sein wird, da es fĂŒr uns alle schwer ist ⊠aber wenn wir solche Schönheit, wenn wir die Musik als Teil unserer Welt sehen wollen, mĂŒssen wir darum kĂ€mpfen
FRĂHLING
ICH BEOBACHTE jeden Tag, wie der FrĂŒhling erwacht â das ist fĂŒr mich eine groĂe Hilfe in dieser schwierigen Zeit! Sonst koche ich gerne (Desserts wie le âmerveilleuxâ), schaue Theaterfilme von MoliĂšre und Shakespeare und lerne die nĂ€chste Partien wie Marie in Wozzeck, Herodias in Salome oder Sieglinde in der WalkĂŒre.
KS Sophie Koch
DIE SANDUHR | JosĂ© MĂșjica
Der Mensch kontrolliert heute nicht die KrĂ€fte, die er selbst geschaffen hat, aber die KrĂ€fte, die er geschaffen hat, kontrollieren ihn âŠ
ES GIBT einen Haufen an Ăberlegungen ĂŒber das âWarum, Wer, Wann und Wieâ des COVID-19-Virus. Wir können solchen Gedanken nichts Neues hinzufĂŒgen, ohne in die gefĂ€hrlichen und trĂŒben GewĂ€sser der Verschwörungstheorien zu geraten: Das Spektrum reicht von âdas ist die Schuld eines kleinen Tieresâ bis zu âman hat eine virale Waffe eingesetzt, um damit einen verdeckten internationalen Finanzkrieg zu beeinflussenâ (und Ă€hnliche Spekulationen innerhalb dieses Spektrums mehr). Die Ursache der Tendenz zu solchen Konzeptualisierungen ist verstĂ€ndlich, da wir in einem Klima stĂ€ndiger Unsicherheiten verzweifelt nach Antworten suchen â aber sie sind unverantwortlich, wenn wir uns bemĂŒhen, an sachlichen Informationen festzuhalten. Jeder scheint heutzutage zu lĂŒgen oder zumindest nicht die Wahrheit zu sagen. Und gerade deshalb sollte jeder sorgfĂ€ltig ĂŒberlegen, ehe er zu skurrilen â und zugleich ziemlich attraktiven â Schlussfolgerungen gelangt.
hin tun â vorsichtig sein, aufeinander aufpassen, uns gegenseitig so gut es geht unterstĂŒtzen, aber meistens zu Hause bleiben â sollte der nĂ€chste Schritt, den wir unternehmen, der Versuch sein, diese erzwungene Pause vom tĂ€glichen Wahnsinn dafĂŒr zu nutzen, darĂŒber nachzudenken, was wir anders oder besser machen könnten. Ich werde mich selbst als Beispiel anfĂŒhren, um zu erklĂ€ren, was ich meine: Jeder, der in den letzten 30 Jahren direkt oder indirekt mit klassischer Musik zu tun hatte, wird wissen, wer â JosĂ© Curaâ ist. Aber nur wenige kennen den Preis, den ich fĂŒr eine so lange und privilegierte Karriere gezahlt habe. So dankbar ich fĂŒr die groĂen Erfolge in meinem Leben bin, so fern liegt es mir, mich beklagen zu wollen. Aber wenn ich zurĂŒckblicke und feststelle, wie viel ich von der Entwicklung meiner Kinder im Laufe ihres Aufwachsens verpassen musste, bin ich gezwungen, in mich zu gehen. Ich erinnere mich, dass ich einmal meine Kinder bei einem Familientreffen mit eben diesem Gedanken konfrontiert habe und ich erinnere mich an ihre Antwort: âDu warst immer da, wenn wir dich wirklich gebraucht haben und du hast uns durch deine Erfolge die bestmögliche Kindheit ermöglicht. Entspann dich und sei glĂŒcklich, wir lieben dichâ. Und wenn ich dann mein GlĂŒck mit denen vergleiche, deren Arbeit unendlich schwieriger ist, kann ich nur dankbar sein. Trotzdem gehört es zu dieser âZeit der Meditationâ in der unerwarteten Pause unserer kollektiven Routinen dazu, ĂŒber solche Dinge nachzudenken, die vergangenen Jahre zu analysieren, um Ă€hnliche Fehler zu vermeiden.
Zu den vielen Dingen, die ich in diesen vielen Jahren im MusikgeschĂ€ft zurĂŒckstellen musste, gehörte das Komponieren. Nachdem ich vor etlichen Jahren meine Karriere als Dirigent wieder aufgenommen habe â mit all den Klippen, die sich all jenen in diesem Metier stellen, die die etablierte Ordnung in Frage zu stellen wagen â finde ich nun Zeit, um wieder mit dem Komponieren zu beginnen: dieser eigentliche Hauptgrund fĂŒr mein Werden vor 40 Jahren ist stets auĂerhalb des Möglichen gestanden. In den letzten Jahren hatte ich zwar das groĂe GlĂŒck, mein Oratorium Ecce Homo mehrmals aufzufĂŒhren â doch stammt dieses StĂŒck noch aus der Zeit um 1988/1989! Daher war es fĂŒr mich ein Muss, gerade jetzt Zeit zum Komponieren zu finden. Seit dem Beginn der Ausgangssperre konnte ich endlich das Gitarrenkonzert schreiben, das ich immer schon geplant hatte â indem ich die Idee fĂŒr ein âConcierto para un Resurgirâ (Auferstehungskonzert) fĂŒr Gitarre und Orchester entwickelte, das ich der âim Jahr 2020 wiedergeborenen menschlichen SolidaritĂ€tâ widmete. AuĂerdem beendete ich auch mein Te Deum, das ich vor einiger Zeit entworfen, aber nie fertiggestellt habe; korrigierte die Orchestrierung meiner vor kurzem uraufgefĂŒhrten komischen Oper Montezuma und der rote Priester, wĂ€hrend ich die Veröffentlichung der Aufnahme von Ecce Homo vorbereitete. Von all dem abgesehen kann ich endlich Zeit investieren, um mein Archiv und meine Bibliothek aufzurĂ€umen, meine Webseite zu aktualisieren und viele andere Dinge in meinem Haus in Ordnung zu bringen. All das, was mich jetzt in meinem An-mein zu-Hause-Gefesseltes Dasein beschĂ€ftigt, vereinige ich mit Momenten â nachdem ich endlich den nötigen inneren Frieden gefunden habe â in denen ich mich hinsetze, um der Musik Bachs konzentriert lauschen zu können ⊠Was ich hier beschreibe, wĂ€re im Grunde ein paradiesischer Zustand, wenn es nicht die Ursache gĂ€be, die mich mit einem Mal in diese Situation geworfen hat und die tĂ€glich Leid und menschliche Tragödien hervorruft. WĂ€hrend jeder von uns einen Weg sucht, um mit diesen Gegebenheiten fertig zu werden, dĂŒrfen wir jene nicht vergessen, die viel weniger GlĂŒck haben: Ganz oben auf der Liste stehen diejenigen, die einen ihrer Lieben verloren haben.
Jeder muss diese uns auferlegte Lektion nutzen, damit der lang erwartete Neustart unseres Alltags mit jener Weisheit angegangen wird, die wir in der wÀhrend der Pandemie geschuldeten Pause gewonnen haben. KS José Cura