Weltkulturen News 02

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R E P O RTA G E / R E P O RTA G E

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chris grodotzki ist festes mitglied des medienteams von sea-watch. in seinem text schreibt er darüber, wie die zivile seenotrettung im mittelmeer von der humanitären intervention zur widerstandsbewegung wurde.

Chris Grodotzki fotografiert, schreibt und spricht. Er studierte Fotojournalismus in Hannover und Aarhus und wurde für seine journalistische Arbeit zu Umweltkonf likten und Migrationsbewegungen mehrfach ausgezeichnet. In den Berliner Kollektiven jib und Peng! beteiligte er sich an zahlreichen Reportage-Projekten und aktionskünstlerischen Interventionen. Dem Bundeskriminalamt ist Grodotzki „als Angehöriger der deutschen linksextremistischen Szene und Umweltaktivist bekannt“ und darf deshalb nicht über weltpolitische Gipfeltreffen berichten. Stattdessen unterstützt er Sea-Watch und war über die letzten Jahre festes Mitglied des Medienteams der Organisation. Info: Die sogenannte Libysche Küstenwache ist ein Verbund von Milizen, der bereits seit 2016 durch die EU ausgerüstet, finanziert und im Rahmen der EU-Marinemission SOPHIA trainiert wurde. Bereits im April 2016 hatte eine Besatzung dieser „Küstenwache“ die Sea-Watch 2 bedroht und geentert, bevor sie Schiff und Besatzung am 10. Mai 2017 durch ein halsbrecherisches Manöver vor dessen Bug erneut gefährdete. Im August beschossen sie die Bourbon Argos und enterten diese, im September entführten sie das Schnellboot Speedy inklusive Besatzung nach Libyen (die Crew kam kurz darauf wieder frei, das Boot nicht). Im November schließlich bedrängte das Patrouillenboot Taleel sogar versehentlich die deutsche Marine-Fregatte MecklenburgVorpommern. Allein im Jahr 2017 erhielt die international anerkannte „Regierung“ Libyens – die nur etwa ein Drittel des Landes kontrolliert – 156 Millionen Euro aus dem „Emergency Trust Fund for Africa“, um irreguläre Migration durch das Land und über das Meer zu unterbinden. AUSSTELLUNG: SW5Y: 5 JAHRE ZIVILE SEENOTRETTUNG. Eröffnung: Donnerstag, 4. Juni, 19 Uhr, 5. Juni – 30. August 2020, Weltkulturen Labor Bio:

„In Zivilisationen ohne Schiffe versiegen die Träume“

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Seit die MS Sea-Watch 2015 in See stach, um diese Idee zu vertreten und dem Sterben an der Außengrenze etwas entgegenzusetzen, hat sich jedenfalls einiges getan: 2015 und 2016 in der Zivilgesellschaft gefeiert und von den staatlichen Stellen in das offizielle Such- und Rettungsnetzwerk eingebunden, drehte der politische Wind im zentralen Mittelmeer schnell. Im ersten Halbjahr 2017 begannen Schlüsselpersonen der europäischen Politik die Behauptung zu etablieren, die zivilen Retter*innen arbeiteten auf die eine oder andere Weise mit den Menschenschmugglern in Libyen zusammen. Gestützt auf „Arbeitshypothesen“ des sizilianischen Staatsanwaltes Carmelo Zuccaro verkündete beispielsweise der damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz, der „NGO-Wahnsinn“ müsse beendet werden. Auch der damalige deutsche Innenminister Thomas de Maizière übernahm die unbelegten Behauptungen Zuccaros, „dass die Schiffe in libysche Gewässer fahren und vor dem Strand ihre Positionslichter einschalten“ würden. Was er nicht übernahm, war Zuccaros weitere (und in der konservativen politischen Mitte womöglich unpopulärere) Arbeitshypothese, „dass manche Hilfsorganisationen Migranten nach Italien bringen wollen, um die Wirtschaft zu schwächen“. Parallel zur öffentlichkeitswirksamen Kampagne an Land zogen sich die staatlichen Militär- und Polizeioperationen aus dem Suchgebiet vor der libyschen Küste zurück, um, wie Paolo Cuttitta im Border Criminologies Blog der Universität Oxford darlegt, „der libyschen Küstenwache Raum zu geben, Migrant*innen zurück zu verschleppen, sowie NGO-Schiffe zu vertreiben und einzuschüchtern.“3 Im Sommer 2017 wurde schließlich das Rettungsschiff Iuventa des Vereins Jugend Rettet in Italien beschlagnahmt. Mehrere humanitäre Organisationen stellten daraufhin ihr Engagement im Mittelmeer ein. Als ein knappes Jahr später, im Juni 2018, die Regierungskoalition aus 5-SterneBewegung und Lega in Italien an die Macht kam und der rechtsradikale Innenminister Matteo Salvini verkündete, die Häfen des Landes zu schließen, schien das Ende der zivilen Seenotrettung nahe. Auch das sozialdemokratisch regierte Malta, das den NGOs lange als Operationsbasis gedient hatte, schloss in

der Folge seinen Hafen, nur umgekehrt: Es ließ die Rettungsschiffe Lifeline, Seefuchs und Sea-Watch 3 über Monate nicht mehr auslaufen. Doch aus der humanitären Intervention wurde eine Widerstandsbewegung: Die verbleibenden aktiven Rettungsorganisationen – Sea-Watch (DE), Mediterranea (IT), Open Arms (ES) und Sea-Eye (DE) – ließen sich weder von wochenlangen Stand-Offs 4 noch von den regelmäßig danach blühenden Beschlagnahmungs-Perioden abschrecken. Auch auf ein Minimum an Schiffen dezimiert und jeglicher Effizienz im Einsatz beraubt, führte die von manchen Aktivist*innen „No Borders Navy“ getaufte zivile Rettungsflotte ihren Kampf gegen Windmühlen unbeirrt fort: Jedes Leben, das auf See in Gefahr ist, muss gerettet und an einem sicheren Ort an Land gebracht werden. „Punto!“, wie Matteo Salvini sagen würde. In seinem Essay „Of Other Spaces“ beschreibt Michel Foucault das Schiff als „die größte Reserve der Vorstellungskraft.“5 Die zivile Seenotrettung hat dieses geistige Potenzial des Schiffes nutzbar gemacht und gegen die tödliche Tristesse einer Festung Europa in Stellung gebracht. Sie hat ihre Schiffe als Vehikel nicht nur für Menschen, sondern für die Idee eines solidarischen, offenen Europas bereitgestellt – und das wurde dankbar angenommen. So schreiben die Politikwissenschaftler Beppe Caccia und Sandro Mezzadra der italienischen Seenotrettungsorganisation Mediterranea: „Unser Schiff wurde von einer Vielzahl von Standpunkten angeeignet und irgendwie neu erfunden. Sie reichen von besetzten sozialen Zentren bis hin zu Kirchengemeinden, Universitäten und Schulen, von Kleinstadtkreisen bis hin zu Großstadt-Versammlungen.“6 Die Schiffe, ihre Crews und Kapitän*innen zeichnen ein Bild, das die Probleme der Anderen zu unseren macht. Gleichzeitig werden damit aber auch die Lösungen zu Lösungen für uns. Matteo Salvinis wiederholte Forderung nach „Beschlagnahmung des Piratenschiffes“ unterstreicht daher nur die Foucaultsche Erkenntnis: „In Zivilisationen ohne Schiffe versiegen die Träume, Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Piraten“7.


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