W E LT K U LT U R E N M U S E U M
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Die Rückkehr der Rettungsschiffe 12.
„Piraterie im frühen achtzehnten Jahrhundert war im Grunde ein Kampf für das Leben, gegen den sozial organisierten Tod.“1 Diese Definition der Piraterie aus Markus Redikers „Villains of all Nations“ wird dem damaligen italienischen Innenminister Matteo Salvini wohl kaum durch den Kopf gegangen sein, als er im Juni 2019, angesichts der Rettung von 52 Menschen durch die Crew der Sea-Watch 3, proklamierte: „ein weiterer Akt der Piraterie durch eine geächtete Organisation“. Und doch tobt auf dem Mittelmeer seit mittlerweile fünf Jahren ein ebensolcher Kampf: Die Staaten Europas haben an ihrer gemeinsamen Außengrenze eine Zone erschaffen, in der alle durch die EU proklamierten Werte, ihre Bürger*innen- und Menschenrechte suspendiert sind. Ein Ausnahmezustand, der das Meer zur Waffe degradiert, Menschen zur Verhandlungs-
masse – und die fluide Südgrenze des europäischen Kontinents zur tödlichsten Migrationsroute der Welt macht.2 Die europäischen Aktivist*innen von Sea-Watch und anderen Rettungsorganisationen, die sich dem widersetzen, sind keine Pirat*innen im historischen, legalen oder ideellen Sinne: Die historische Piraterie war, nach Rediker, ein (Klassen-)Kampf um das eigene Leben, der blanken Trotz dem Tode gegenüber voraussetzte. Die zivile Seenotrettung im Mittelmeer ist in erster Linie ein solidarischer Kampf, aus der privilegierten Position heraus, dass es eben nicht das eigene Leben ist, welches zur Disposition steht. Es sind die Leben der Anderen – also derer, die durch nationalstaatliche Logik aus dem europäischen Wir ausgeschlossen sind –, die zehntausendfach in der Sahara und auf dem Mittelmeer verloren gehen, die in libyschen Inter-
nierungslagern vor sich hin vegetieren und für deren Rückverschleppung von hoher See die EU eine sogenannte Libysche Küstenwache mit Millionenbeträgen bezahlt. „Ich brauche mir fremde Probleme, Sorgen und Unterdrückung nicht anzueignen“, erklärte Pia Klemp, eine der Kapitäninnen der zivilen Seenotrettungsflotte, der in Italien ein Prozess wegen Beihilfe zur illegalen Einreise droht: „Solidarität bedeutet zu erkennen, dass diese Probleme schon von Anfang an meine eigenen sind. Egal, ob sie Auswirkungen auf mein tägliches Leben haben oder nicht.“ Vielleicht ist es genau diese Idee, die eine Konstruktion des Anderen und damit die Ignoranz gegenüber dessen Leid ausschließt und damit in der momentanen Mentalität der EU einen Akt gedanklicher Piraterie darstellt.