ViaFrancigena_DE

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ViaFrancigena Pilgern und Wandern Richtung Rom

Die ViaFrancigena 70 durch die Westschweiz zum Grossen St. Bernhard

Daniel Stotz

ViaFrancigena Pilgern und Wandern Richtung Rom

Die ViaFrancigena 70 durch die West schweiz zum Grossen St. Bernhard

Daniel Stotz www.weberverlag.ch

 Umschlagbild Vorderseite: Die ViaFrancigena in Saint-Saphorin

 Umschlagbild Rückseite: Blick zurück von der Passhöhe zum Hospiz auf dem Grossen St. Bernhard

Via Francigena Pilgern und Wandern

Richtung Rom

Die ViaFrancigena 70 durch die West schweiz zum Grossen St. Bernhard

Daniel Stotz

Die Publikation dieses Buches wurde unterstützt von der Délégation valaisanne à la Loterie Romande, der Commission vaudoise de répartition de la Loterie Romande und vom ViaStoria Förderverein.

Impressum

Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für allfällige Unstimmigkeiten.

Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2025 Weber Verlag AG, CH-3645 Thun/Gwatt

Weber Verlag AG

Idee und Texte: Daniel Stotz

Fotos: siehe Bildnachweis, S. 190 –192

Fotos Umschlag: Daniel Stotz

Verlagsleitung: Annette Weber-Hadorn

Gestaltung Cover und Satz: Cornelia Wyssen

Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.

ISBN 978-3-03818-662-5 www.weberverlag.ch

Arc-et-Senans

Ausschnitt aus den digitalen Karten des IVS: Rot markiert sind Wegstücke mit sichtbarer historischer Substanz, die schwarzen Symbole stellen Mauern und Grenzsteine dar.

Pontarlier
Basel
Scha hausen
Zürich
Konstanz
Chur
Chiavenna
Genève
Lugano
Brig
Domodossola
Bern
Luzern
St. Gallen
Tirano
Schruns
Solothurn
Thusis
Leuk
Salins-les-Bains
Martigny
Chamonix
Interlaken
Biel/Bienne
Como
Rorschach
Kreuzlingen
Murten
Augst Avenches
Nyon
Neuchâtel
Yverdonles-Bains Estavayerle-Lac

Einführung

Auf den Spuren von Säumern und Pilgerinnen

Alle Wege führen nach Rom – und viele von ihnen durch die Schweiz. Die Abwandlung des Sprichworts trifft auf mindestens vier der zwölf Kulturwege der Schweiz zu, die von der Grenze aus oder vom Ausland her durch unser Land führen. Sowohl die ViaValtellina vom Veltlin ins Montafon als auch die ViaGottardo von Basel nach Chiasso sind Teil eines historisch gewachsenen Verkehrsnetzes für den Waren- und Personenverkehr in Europa. Die ViaJacobi und die ViaFrancigena sind dagegen uralte Pfade, auf denen sich Gläubige und Suchende mit dem Ziel eines bedeutenden Wallfahrtsortes bewegen. Diese geschichtsträchtigen nationalen Routen sind eingebunden in das Wegnetz, das seit Jahrhunderten den grenzüberschreitenden Verkehr zu allen möglichen Zwecken erleichtert. Aber auch die ViaSbrinz, die ViaStockalper und die beiden Salzstrassen, die ViaSalina und die ViaRhenana, sind mit Transit und weiträumigem Handel verbunden. Auf dem Wasserweg über Bodensee und Rhein gelangte Salz aus den Ostalpen in die Orte der Eidgenossenschaft, wo es bei der Käse- und Rindfleischherstellung unentbehrlich war; die entsprechenden Produkte wurden dann zum grossen Teil mit Saumtieren auf die Märkte südlich der Alpen gebracht. Der Handelsunternehmer Kaspar Stockalper (geboren 1609), der sich ein Salzmonopol sicherte, tauschte Söldner gegen Privilegien, Zölle und Rechte und sicherte so seine fast private Route über den Simplonpass. Die sorgfältig ausgearbeiteten Kulturwege der Schweiz, zu denen die ViaGottardo, die ViaStockalper und die ViaFrancigena gehören, bieten umfassende Perspektiven auf die Kultur-, Mobilitäts- und Identitätsgeschichte unseres Landes. Sie weisen aber darüber hinaus stets auch auf Strömungen und Bewegungen im Umkreis der Alpen und ihres Vorlandes hin. Die beiden weltbekannten Pilgerwege, der eine zum Grab des Apostels Jakob oder Santiago, der andere zum Sitz der römischen Kurie und dem Petersdom, zeugen vom Übergang des «Imperium Romanum»

zum Christentum als dominante Religion im mittelalterlichen Feudalwesen. Gegenüber den Handelswegen zeichnen sie sich durch eine gänzlich andere Motivationslage und einen unterschiedlichen Gefühlskontext ihrer Nutzerinnen und Nutzer aus. Die einfache Botschaft, aufgrund derer die Menschen den weiten und beschwerlichen Weg auf sich nahmen, bezog sich nicht auf Handelsmargen und Profit, sondern sie vermittelte ihnen die Aussicht auf geistliche Erleichterung, Erbauung oder gar Erlösung. Im Fall des Jakobswegs würde Christus durch die Fürsprache des Heiligen Jakobus versöhnend und heilend auf die Pilger wirken, auch wenn keineswegs erwiesen ist, dass das Grab des Apostels sich in Santiago de Compostela befindet. Entlang dieser weiten Wege wird auch heute noch gepilgert und gewandert (oder geradelt), doch mit unterschiedlichen Frequenzen. Während für den Jakobsweg im Jahr 2023 ca. 450 000 Pilgerausweise ausgestellt wurden, belief sich diese Zahl für die Via Francigena auf ca. 15 000. Angesichts der Überlastung vieler Herbergen und Wegstücke entlang des «Camino de Santiago» ist das für den etwa 1600 Kilometer langen «Frankenweg» durch Südengland, Frankreich, die Schweiz und Italien eine Chance. Die Revitalisierung der ViaFrancigena verdankt sich nicht zuletzt dem Boom des Jakobswegs in den 1990er-Jahren.

Abwechslungsreiche Querung zweier Westschweizer Kantone

Im Vergleich zu den anderen Durchgangsländern der ViaFrancigena beruht der Schweizer Abschnitt (fortan in der Schreibweise der ViaStoria-Stiftung als ViaFrancigena be zeichnet) auf besonders gründlichen Erhebungen der Verkehrshistorie. Der mittelalterliche Verlauf des Pilgerwegs kann anhand von zeitgenössischen Reiseberichten rekonstruiert werden (siehe nächstes Kapitel). Die Einzelheiten der in diesem Führer vorgezeichneten Route gehen jedoch auf die Forschungs- und Dokumentationsarbeiten im Rahmen des Inventars historischer Verkehrswege der Schweiz (IVS) zurück. Nach über zwanzigjährigen Entwicklungsarbeiten

5 Das Signet ViaFrancigena 70 weist bei Saint-Maurice den Weg. 5 Das Wetter am Pilgerweg kann überraschen – wie hier in Vevey.

setzte der Bundesrat 2010 das IVS als offizielles Bundesinventar nach Art. 5 des Bundesgesetzes über den Naturund Heimatschutz NHG in Kraft (www.ivs.admin.ch).

Das Inventar ist bis heute eine weltweit einzigartige Bestandesaufnahme von sichtbaren Zeugen der Verkehrsgeschichte. Zurzeit wird das IVS unter der Ägide des Bundesamts für Strassen (ASTRA) nachgeführt. In der kartographierten Dokumentation sind Wege und Strassen erfasst, die von nationaler, regionaler oder lokaler Bedeutung sind und teilweise noch sichtbare historische Wegsubstanz aufweisen; diese Wege stehen unter besonderem Schutz. Alle 3750 Wege und Strassenstücke lassen sich mittels des Geoinformationssystems (GIS) auf der einschlägigen Website map.geo.admin.ch entdecken (Sucheingabe: IVS National, IVS Regional und Lokal).

Das digitale Werkzeug erlaubt eine Darstellung in 3D und

bildet neben dem Gelände auch Stützmauern, Brücken und Markierungssteine ab (siehe Abbildung Seite 6). Wer die Möglichkeit hat, unterwegs auf dem Smartphone Kartendetails aufzurufen, kann so tiefer in die Geschichte der alten Pfade und Strassen eintauchen. Der vorliegende Kulturlandschaftsführer beruht neben dem Augenschein während der Wanderung des Autors von Ballaigues zum Grossen St. Bernhard und ausgedehnten Recherchen auch auf der Auseinandersetzung mit der Weghistorie. Für die eigentliche Wanderung oder die Velofahrt bieten sich die praktischen Werkzeuge von SchweizMobil an, dem nationalen Netzwerk für den Langsamverkehr. Die ViaFrancigena ist dort als Wanderroute 70 ausgewiesen.

Im Gelände ist der Wanderweg bestens markiert. Parallel

6 Die Karrenspuren einer alten Verbindungsstrasse bei Ballaigues sind ausserordentlich tief.

dazu verlaufen diverse Radwege, die man sich zu einer gehaltvollen vier- bis fünftägigen Reise zusammenstellen kann (siehe Praktische Hinwe ise ab S. 169).

Bis vor einigen Jahren wurde der Pilger- und Wanderweg von Pontarlier her über die Grenze bei Sainte-Croix geführt. Um eine Doppelung mit der ViaSalina zu vermeiden und um dem (historisch meistgenutzten) Verlauf über den Col de Jougne näherzukommen, wurde die Überquerung der Grenze nach Westen verlegt. Die erste Schweizer Etappe beginnt somit in Ballaigues im Waadtländer Jura. Die Passage über den kleinen Pass auf etwa 1000 Metern Höhe ist abwechslungsreicher als die alte Route; ein Abstecher ins Nachbarland lohnt sich durchaus, auch wenn Jougne etwas schwierig zu erreichen ist. Vom Grenzort Ballaigues aus wandert man in einem tief eingeschnittenen Juratal gegen Osten. Bei Orbe öffnet sich das Panorama auf das Gros de Vaud, die Kornkammer des Kantons; bei klarem Wetter entfaltet sich dort der ganze Alpenkranz mit dem über allen Gipfeln thronenden Mont Blanc vor unseren staunenden Augen. Die nächste Landschaftskammer ist ebenfalls unschweizerisch weit: Der majestätische Genfersee gibt den Blick frei auf die Savoyer Alpen. Lausanne, die Léman-Metropole, durchquert man idyllisch dem See entlang, wobei sich ein Ruhetag für den Besuch der verschiedenen Sehenswürdigkeiten lohnt. Das Lavaux mit seinen Weinbergen und wertvoller Dorfarchitektur bedarf keiner weiteren Werbung – und nirgends steht geschrieben, dass Pilgerinnen und Wanderer keine Weinproben genehmigen dürfen. Nach der Durchwanderung der eleganten Städte Vevey und Montreux bietet das Chablais am östlichen Ende des Léman willkommene Entspannung, weite Horizonte und – bedauerlicherweise – manche Asphaltmeile. Immerhin, für Abwechslung ist bald gesorgt, denn wieder schwingt man sich durch Rebberge und Haine, und ein Abstecher nach Bex verspricht ein kleines Abenteuer, den Besuch eines historischen und auch heute noch betriebenen Salzbergwerks. Saint-Maurice und Martigny sind Städte mit römischer

und mittelalterlich-klösterlicher Vorprägung, auch sie will man nicht eilends hinter sich lassen. Zur Krönung dürfte für manche naturverbundenen Wanderer und Radfahrerinnen der Aufstieg zu einem der ältesten Alpenpässe werden. Das Tal der Dranse d’Entremont knüpft wiederum an die erste Etappe an, mit seinem rauschenden Bach und den moosüberzogenen Felsblöcken. In zwei Tagesetappen erwandert man sich so den Grossen St. Bernhard, der wäh rend der Römerzeit wichtiger als die meisten anderen Übergänge war und auf dem noch im Juli Schneereste liegen können. Das gastfreundliche Hospiz empfängt seit Jahrhunderten Pilger, Rad- und Motorradfahrerinnen, und eine stärkende Mahlzeit schenkt Mut für das Weiterziehen hinunter ins Val d’Aosta. Bis Rom bleiben aber noch zig Etappen und Kilometer, für die wiederum andere Führer behilflich sein mögen.

Der Verlauf der Via Francigena nördlich der Schweiz Der Pilgerweg vom südenglischen Canterbury nach Rom wird seit über 1500 Jahren begangen. Oft wurde die Reise bis nach Jerusalem fortgesetzt. Anfangs konnten die Pilgernden die gut unterhaltenen Römerstrassen nutzen, im Mittelalter war das Fortkommen wegen schlechten Wegzustands, Raubüberfällen und Betrügereien erschwert. Die frühesten Reiseberichte stammen aus dem sechsten Jahrhundert, prägend waren jedoch die Aufzeichnungen des englischen Erzbischofs Sigerich aus dem Jahr 990 n. Chr. (siehe nächstes Kapitel). Auf seiner Rückreise legte er eine Liste der achtzig Stationen an, an denen er Halt gemacht hatte. Bis heute dient diese Quelle, zusammen mit einem Führer, den der isländische Bischof Nikulás im 12. Jahrhundert verfasste, als historisch zuverlässige Verlaufsangabe.

In England folgt die dreissig Kilometer kurze Strecke von der Kathedralen-Stadt Canterbury zur Küste bei Dover verschiedenen Pfaden durch die Hügel der

North Downs. In Frankreich stechen die Städte Arras, Laon, Reims und Besançon mit ihren kulturellen Glanz lichtern aus der sonst eher ländlichen Umgebung hervor. Pontarlier, die ehemalige Handels- und Militärdrehscheibe in der Franche-Comté, ist der letzte Haltepunkt, bevor Sigerich den Jura bei Jougne und die heutige Schweizer Grenze überquerte. Was die eintausend Kilometer durch Nordfrankreich betrifft, empfiehlt eine der modernen Anleitungen, diesen längsten Abschnitt des Frankenwegs wegen seiner Monotonie mit dem Fahrrad zu bewältigen. Seit dem Sommer 2024 können die zu Fuss Reisenden nun aber einem angenehmeren Weitwanderweg folgen, markiert als «Chemin GR 145». Wie es südlich der Alpen weitergeht, verrät ein Kasten auf den Seiten 162 und 163.

6 Blick gegen Süden von der Passhöhe des Grossen St. Bernhard mit dem markanten Pain de Sucre (2919 m ü. M.)

Pilgern auf der Via Francigena, gestern und heute

Neben

Jerusalem galt in der Geschichte des Christentums die Stadt Rom als Brennpunkt, nachdem um 311 n. Chr. die Verfolgung der Urchristen im Römischen Reich geendet und Kaiser Konstantin der Grosse es zur wichtigsten Religion gemacht hatte. Vermutlich setzten Pilgerreisen zu den Grabstätten von Petrus und Paulus schon wenige Jahre danach ein. Die Wanderer nutzten das gut ausgebaute römische Netz von Handels- und Militärstrassen, so zum Beispiel die Via Aurelia von Pisa nach Rom oder die Via Aemilia von Placentia (Piacenza) nach Ariminum (Rimini). Diese Strassen waren gut bestückt

5 Christliche Pilger im frühen 17. Jahrhundert

mit Herbergen («mansiones») und Hospitälern, Schutzräumen für verschiedene Gruppen von schwachen, bedürftigen und obdachlosen Menschen. Manche Pilgernde hatten Jerusalem zum Ziel, sie wanderten auf der Via Appia weiter nach Brundisium (Brindisi), von wo sie per Schiff nach Griechenland oder direkt ins Heilige Land gelangten.

Wie das Pilgergebet eines englischen Mönches im sechsten Jahrhundert belegt, verschlechterten sich die Bedingungen nach dem Zerfall des Römischen Reiches zusehends. Dieser Gildas erbittet sich darin Schutz «vor Feinden und Räubern, vor allen Piraten und Freibeutern dieser Welt». Auch Überschwemmungen, giftige Schlangen und menschliche Giftmischer scheinen die Pilger geschreckt zu haben. Einig ist man sich schon früh über Ziel und Nutzen der Pilgerreisen: Am Grab des Apostels Petrus würde es Ablass für begangene Sünden geben und die Möglichkeit, sich zumindest für ein paar Jahre vom Fegefeuer freizukaufen. Von den spirituellen Beweggründen profitierte nicht nur die römische Kirche, sondern auch rechtschaffene Herbergseltern, Souvenirverkäufer, professionelle Betrüger und die Tausenden von Prostituierten in Rom. Mit den Jahrhunderten führte das lukrative Geschäft mit der Angst der Menschen zu immer gröberen Auswüchsen. Das Gerücht im Jahr 1300, dass der Papst ein Heiliges Jahr ausrufen und den Rompilgern einen vollständigen Ablass der Sündenstrafen gewähren würde, wie es ihn bis dahin nur für Kreuzfahrer gegeben hatte, lockte Hunderttausende nach Rom. Der Ansturm von Pilgern im Jubeljahr 1450 erlaubte es dem Papst, mit dem Neubau des Petersdoms zu beginnen und in der ganzen Welt teure Manuskripte für die Vatikanische Apostolische Bibliothek zu erwerben. Das Nachsehen hatten jene Rompilger, die im Gedränge verletzt wurden oder gar ihr Leben lassen mussten. Im Zuge der Reformation gerieten neben anderen Übertreibungen von Klerikern und Mönchen auch die Pilgerfahrten in die Kritik. Martin Luther hatte kein Verständnis für die Rompilger, Calvin fand, eine Pilgerfahrt und das Überwinden all der Strapazen habe niemandem je das Heil gebracht, und sein Zürcher Glaubensbruder Zwingli

Pilgern auf der Via Francigena, gestern und heute

liess das Pilgern gar verbieten. Der Drang nach Erlösung, Wundern und Heilung schien den Reformatoren verfehlt, denn himmlische Gnade erreichte man nicht durch Streben und Taten, sie war vielmehr ein Geschenk Gottes. Natürlich konnten die Protestanten einen jahrhundertealten Brauch damit nicht abschaffen. Manche Historikerinnen vermuten gar, der Gegenwind zur Reformation habe viele Menschen erst recht veranlasst, im Pilgern für ihren katholischen Glauben einzustehen. Heute betont die römisch-katholische Kirche weniger die Möglichkeit des Ablasses, sondern sieht das Pilgern als eine fromme Übung und spirituelle Reise, bei der man sich auf einen inneren Weg zu Gott, zu sich selbst und zur Gemeinschaft begibt, obschon es ihr aber nach wie vor auch um Busse und Läuterung geht. Wer aus finanziellen oder familiären Gründen keine monatelange Pilgerreise unternehmen kann, hat immer noch die Möglichkeit einer Wallfahrt an eine heilige Stätte der näheren Umgebung, sei das nun Einsiedeln oder Mariastein (SO). Das Wort «wallfahren» stammt vom althochdeutschen «wallo–n» her und bedeutete ursprünglich «umherschweifen, unstet sein», während «Pilger» aus dem spätlateinischen Substantiv «pelegrinus» entlehnt wurde; «peregre» war ursprünglich alles, was über den eigenen Acker, speziell den «ager Romanus», hinausgeht.

Massgeblich für unsere genaue Kenntnis des Wegs nach Rom vom Frankenreich her, des Frankenwegs, wie die Via Francigena auch genannt wurde, ist eine Reisebeschreibung aus dem Jahr 994 n. Chr., deren Manuskript in der British Library zu London aufbewahrt wird. Vier Jahre zuvor reiste der Bischof Sigerich (auch: Sigeric), genannt «der Ernsthafte», von Canterbury nach Rom, um beim Papst sein «Pallium», eine Art Stola, abzuholen, die seine Ernennung zum Erzbischof bestätigte. Nachdem er nach der beschwerlichen Fussreise in der Stadt des Papsts angekommen war, besuchte er innerhalb weniger Tage zwei Dutzend Kirchen. Auf seinem Rückweg notierte er selbst oder einer seiner Begleiter die achtzig Stationen der weiten Reise, ohne zu den nummerierten Etappenorten

den kleinsten Hinweis zu geben. Immerhin kann man ableiten, dass Sigerichs Gruppe für die 1600 Kilometer einen täglichen Durchschnitt von zwanzig Kilometern hinlegte, kein Pappenstiel angesichts der Qualität der Strassen.

Die Schweizer Etappen sind in Sigerichs Beschreibung wie folgt festgehalten: XLIX. Petrecastel (Bourg-Saint-Pierre); L. Ursiores (Orsiéres); LI. Sce Maurici (Saint-Maurice); LII. Burbulei (Versvey/Yvorne); LIII. Vivaec (Vevey); LIV. Losanna (Lausanne); LV. Urba (Orbe); LVI. Antifern; LVII. Punterlin (Pontarlier). Es scheint, dass Sigerich zwar den Grossen St. Bernhard überschritten hat, aber nicht auf dem Pass nächtigte – das Hospiz wurde erst später gegründet. Wenn mit «Antifern» Yverdon gemeint sein sollte, wie manche Kenner des Frankenwegs annehmen, wäre der Erzbischof zumindest auf dem Rückweg der Route über Sainte-Croix gefolgt. Falls aber der Forscher Francis Geere recht hat, handelt es sich bei Antifern um die Bezeichnung 

An der Landesgrenze zwischen Jougne und Ballaigues steht dieser Stein.

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Pilgern auf der Via Francigena, gestern und heute

einer spätrömischen Villa bei Jougne, was einen direkteren Wegverlauf bedeuten würde, dem wir in diesem Buch folgen. Weitere Wegvarianten sind in einem Brevier des isländischen Abts Nikulás aus dem 12. Jahrhundert erhalten (siehe S. 146).

Die wiederbelebte ViaFrancigena wurde 1994 vom European Institute of Cultural Routes auf Antrag des italienischen Tourismusministeriums als Kulturroute des Europarats und 2004 als «Major Cultural Route of the Council of Europe» ausgezeichnet. Dafür, dass der Kulturund Pilger weg nach Rom in Wert gesetzt werden konnte und auch in Zukunft unterhalten und vermarktet wird, sorgen verschiedene länderspezifische Organisationen und lokale Körperschaften, von Gemeinden über Provinzen bis zu Vereinen, die in der «European Association of the

6 Saint-Maurice war seit je ein Muss als Etappenort auf der ViaFrancigena. Ansicht der Brücke und des Schlosses von Saint-Maurice von Niklaus Sprünglin

Via Francigena Ways» (EAVF, www.viefrancigene.org) zu sammengeschlossen sind. In der Schweiz kümmert sich ein gemeinnütziger Verein, die «Association Suisse de la ViaFrancigena», um die Wiederbelebung des Pilgerwegs, wobei man sich eng mit der ViaStoria – Stiftung für Verkehrsgeschichte koordinierte. Zum Heiligen Jahr 2025 erwartet Rom wieder wie beim letzten «annus sanctus» (2000) Millionen von Reisenden. Wie viele von ihnen Passagiere von Superschnellzügen oder Charterflugzeugen sind, sei dahingestellt. Zu Fuss Pilgernde machen sicher eine klitzekleine Minderheit aus, doch dürften sie besonders tiefschürfende Erfahrungen mitbringen.

Zu Fuss von Reims nach Rom

Obwohl Ihr Autor jeden Kilometer des Schweizer Teils der Via Francigena zu Fuss in Wanderschuhen hinter sich brachte, gibt er gerne zu, dass er zum Abschluss Rom mit der Eisenbahn aufsuchte. Eine Begegnung auf der Piazza San Pietro vor dem Petersdom hob ihn jedoch fast aus den Socken. Hinter einem riesigen Rucksack verbarg sich eine grossgewachsene, sportliche Frau, die, daraufhin angesprochen, lachend bestätigte, ja, sie sei gerade in diesem Moment nach einer mehrere Wochen langen Wanderung am Ziel angekommen. Der Ausgangspunkt für die Niederländerin José war die Kathedralenstadt Reims, und sie brachte ihre 1664 Kilometer in 68 Tagen hinter sich. Diese «Tour de force» entsprach einem lange gehegten Wunsch, den sie sich erfüllen konnte, nachdem sie sich hatte pensionieren lassen. Für die Planung wendete sie einige Wochen auf. Der Herausforderungen waren etliche, denn oft spielte das Wetter den Spielverderber, die Höhenmeter, die bis zum Alpenpass mit dem Rucksack auf dem Buckel zu überwinden waren, entpuppten sich als happig, und einzelne Etappen dehnten sich auf über dreissig Kilometer. Wie beim Pilgern im Mittelalter gab es überflutete Passagen an Bächen zu überwinden, und auch

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Pilgern auf der Via Francigena, gestern und heute

heutzutage kann man wilde Tiere antreffen, in diesem Fall einen Skorpion, Wildschweine und bissige Hunde. Für die Mühen entschädigten spektakuläre Landschaften, etwa der atemberaubende, märchenhafte Genfersee, und auch das Aostatal mit der genialen Regulierung des Bergwassers sei fantastisch gewesen. Unbekannte kleinere Städte in Italien wie Pontremoli, Sarzana und Colle di Val d’Elsa zeigten sich als Postkartenidylle. Die Ankunft in Rom nach einer absichtlich kurzen letzten Etappe muss bewegend gewesen sein: José fühlte riesige, überwältigende Freude, die grosse Wanderung geschafft zu haben. Dazu kam die Erleichterung, dass sie von freiwilligen Helfern in den Petersdom begleitet wurde, um den letzten Stempel für den Pilgerpass abzuholen.

Angekommen: José auf dem Petersplatz zu Rom

Doch was bewegte sie zu dieser Marathontour? Schon früher war sie Teile des Jakobswegs entlanggewandert, doch diesmal war die Strecke herausfordernder, und sie ging allein. In ihren eigenen Worten: Die Motivation sei gewesen herauszufinden, wie sich langes Gehen auf das Gehirn auswirkte. Am Herzen liegt ihr auch die Einheit Europas in all der Vielfalt. «Es ist eine komplexe Sache zu verstehen, warum eine kritische Atheistin wie ich im Rahmen einer Pilgerreise religiöse Begegnungsstätten nicht etwa meidet, sondern auch aufsucht. Mein existenzielles Bewusstsein, auf dieser Reise zu sein, dies erleben zu dürfen, ist eine der schönsten Erfahrungen in meinem Leben», schreibt José im Rückblick. Die idealistische, politische Motivation sei eher in den Hintergrund getreten. Bewegt haben sie dafür die Gedanken an weniger Privilegierte als sie selbst – «Kreditkartenpilgerin» nennt sie sich einmal; Flüchtlinge müssten Haus und Herd unter Zwang verlassen. Es sei ihr wie ein Luxus vorgekommen, über die körper lichen und geistigen Fähigkeiten zu verfügen, um eine Reise, die für viele in ihrem Alter schwierig sei, mit relativer Leichtigkeit absolvieren zu können.

Die Geschichte der Niederländerin José ist nicht untypisch für die verschiedenen Arten und Beweggründe des wiederauflebenden Pilgertums. Dass jemand auch ohne primär religiöse Motive den Weg nach Rom oder Santiago de Compostela unter die Füsse oder das Zweirad nimmt, hat oft mit biografischen Umwälzungen zu tun. Es ist eine von verschiedenen Möglichkeiten, eine Zäsur zu setzen, bewusst innezuhalten oder sich für eine gewisse Zeit aus dem Alltagstrott oder der Hektik von Berufs- und Familienleben auszuklinken. Im Gegensatz etwa zu einem Aufenthalt in einem Sanatorium oder einer Reha- oder Entzugsklinik gilt das Pilgern in manchen Kreisen als «cool», und das Motto «Der Weg ist das Ziel» ist so plausibel wie abgedroschen. Es geht nun nicht mehr um Ablass und Sündenvergebung,

Pilgern auf der Via Francigena, gestern und heute

sondern um die Suche nach dem wahren Selbst oder nach innigen Erfahrungen in der Natur. Die meisten Wandernden auf der ViaFrancigena haben in ihrem Rucksack auch ein gerüttelt Mass an Geschichtsbewusstsein und interessieren sich – wie unsere niederländische Pilgerin – für Kulturzeugnisse im weitesten Sinn, seien diese nun profaner Art oder verbunden mit der christlichen Religion. Haltepunkte wie das Hospiz auf dem Grossen St. Bernhard oder das Klosterdorf Romainmôtier berühren auch gestandene Agnostiker zutiefst mit ihren Geschichten der Hingabe an menschliche Bedürfnisse und des Willens, die geistigen und spirituellen Dimensionen des Lebens zu berücksichtigen, ja, zu feiern.

Zu diesem Geschichtsbewusstsein gehört auch, dass wir uns ohne schlechtes Gewissen an den Annehmlichkeiten des zeitgemässen Langsamverkehrs erfreuen dürfen: an der leichtgewichtigen Funktionskleidung etwa, den gut eingelaufenen Wanderschuhen, den praktischen Stöcken, die den schweren Pilgerstab ersetzen (ja, dieser hatte normalerweise unten eine Spitze aus Eisen, damit man sich gegen Raubtiere und Banditen wehren konnte), schliesslich auch an der Möglichkeit, zugunsten eines leichteren Rucksacks mal eben im Lebensmittelgeschäft ein spontanes Picknick einzukaufen oder zwischendurch mit dem Smartphone ein besseres Hotelzimmer zu reservieren, damit der Staub des Tages in den Ablauf der Regenwalddusche hinuntergespült werden kann. Dass man auf der Via Francigena immer wieder ein Stück Wegs mit Gleichgesinnten teilen und am Abend in der Herberge Erfahrungen austauschen kann, ist ein Vorzug gegenüber prosaischen Weitwanderungen wie der ViaGottardo. Anderseits muss die moderne Pilgerin zuweilen auch die Störungen der hyperventilierenden Zivilisation in Kauf nehmen, als da wären laute Autostrassen, meilenweite Plackerei durch Gewerbezonen, wildgewordene Mountainbike-Ritter und durch Staumauern verunstaltete Alptäler. Wer sich den Schweizer Abschnitt der Via Francigena vorgenommen hat, kann jedoch versichert sein, dass Strecken mit unverstellter Natur überwiegen, und dass, wie dieser Kultur-

Zum höchsten Punkt ist’s nicht mehr weit: am Grossen St. Bernhard

landschaftsführer zu zeigen sucht, auch die zivilisierende Hand des Menschen – des Bauern, der Wildhüterin, der Ar chitektin oder des Kartographen – Aufmerksamkeit verdient, solange nicht die Zu-viel-isation überhandnimmt.

Jura – grenzüberschreitend

Nach dem Mittelgebirge namens Jura ist eine ganze erdgeschichtliche Epoche getauft worden: Das geologi sche Zeitalter «Jura» spulte von rund 200 bis 145 Millionen Jahren vor unserer Zeitrechnung ab. Mit Höhenzügen von bis zu 1700 m ü. M. und Pässen von 1000 Metern Höhe errichtete die Kette erkleckliche Hindernisse für Verkehr, Industrie und reuevolle Pilger. Und so entstand der Jura: Die alten kristallinen Gebirge der Vogesen und des Schwarzwalds bildeten zwei Prellböcke, gegen die der Kontinent Afrika im Zusammenhang mit seiner Ver schiebung nach Norden drückte. Dabei bildeten sich die Alpen, und fast gleichzeitig, in der Zeit vor etwa 10 bis 2 Millionen Jahren, wurden auch die älteren Sediment-

5 Kalksteinformationen im Flüsschen Orbe bei Les Clées

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