PANORAMA WANDERUNGEN SCHWEIZ

40 LEICHTE HÖHENROUTEN IN DIVERSEN VARIANTEN UND MIT
ATEMBERAUBENDER AUSSICHT
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IMPRESSUM
Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wieder gabe.
© 2021 Werd & Weber Verlag AG, CH-3645 Thun / Gwatt
Redaktion
Werd & Weber Verlag AG, diverse Redaktoren
Gestaltung und Satz
Sonja Berger, Werd & Weber Verlag AG
Covergestaltung
Cornelia Wyssen, Werd & Weber Verlag AG
Korrektorat
Lars Wyss, Werd & Weber Verlag AG
ISBN 978-3-03922-133-2
www.werdverlag.ch www.weberverlag.ch
Das Val Sinestra im Unterengadin ist ein von der Zivilisation fast vergessenes Sackgassental – also ein ideales Wandergebiet. Zuerst kann sich das Auge an den Schönheiten des ungezähmten Wildbachs erfreuen, am Wendepunkt bei Zuort dann ziehen Erdpyramiden die Aufmerksamkeit auf sich. Im zweiten Teil der Tour schliesslich weitet sich der Blick auf Tal und Berge.
Einsam steht das Kurhaus in waldreicher Abgeschiedenheit des Val Sinestra.
Kleine Kappelle Mengelberg bei Zuort.
Auf dem Bahnhofplatz von Scuol (der deutsche Name Schuls gerät langsam in Vergessenheit) wartet das Post auto zur romantischen Reise ins Val Sinestra. Zuerst windet sich die Strasse nach Sent hinauf, dann folgt eine Schaukelfahrt auf schmalem Naturtrassee hinein in ein bewaldetes Seitental. Nach gut halbstündiger Fahrt sind die 16 Strassenkilometer zurückgelegt, und wir stehen vor dem massiven Kurhaus Val Sinestra. Das Etablissement in der Waldeinsamkeit konnte schon vor einer Weile nicht mehr mit den viel mondäneren Kurhäusern des Bäderzentrums von Scuol-Tarasp-Vulpera konkurren zieren und wurde zum Familienhotel. Bereits im Mittelalter war das Heilwasser im Val Sinestra der Bevölkerung bekannt. Kurz nach 1900 entstand dann das Kurhaus, in welchem bis in die Siebzigerjahre Bäder gegen Blutarmut, Bleichsucht, Schwächezustände und Nervosität verabreicht wurden. Mindestens so heilsam dürfte auch die Stille im weltabgeschiedenen Tal gewesen sein. Der Weg ist leicht zu finden. Zuerst führt eine Brücke über den Bach, dann geht es dem Ostufer entlang aufwärts Richtung Zuort. Dieser Wanderweg mündet weiter oben in einen alten Saumpfad, der früher das Unterengadin über den Fimberpass mit Österreich verband.
Nach einer Stunde erreichen wir den Hof Zuort (1711 m ü. M.), eine hübsche Gastwirtschaft in der Bergeinsamkeit. Früher war der Hof ein Zollhaus, heute ist er Raststätte für hungrige oder durstige Wandernde. Die milde, windgeschützte Lage ermöglicht hier oben noch den Gemüseanbau. Ehedem wurden auch Roggen und Flachs gezogen. Gleich hinter dem Hof Zuort öffnet sich der Blick auf eine Natursehenswürdigkeit, die Erdpyramiden des Val Sinestra. Sie sind zwar weniger bekannt als jene von Euseigne im Mittelwallis, doch nicht minder eindrücklich. «Chluchers» (Glockentürme) heissen sie ihrer Form wegen. Hier befindet sich der Wendepunkt unserer Wanderung.
Wir kehren einige Hundert Meter auf dem bereits bekannten Pfad zurück, steigen dann aber nicht mehr dem Bach entlang zum einstigen Kurhaus hinunter, sondern folgen dem Waldsträsschen, das an der östlichen Talflanke nach Vnà führt.
Hier fällt auf, wie die Landschaft mit Terrassen durchsetzt ist. Es sind Stufenraine, die dem Ackerbau dienten, bevor die Graswirtschaft überhand nahm. Nur noch da und dort setzt ein Roggenfeld einen Akzent in die grüne Landschaft. Das Unterengadin ist, wie das Wallis, ein inneralpines Trockental und erfüllt aus diesem Grund die klimatischen Voraussetzungen für Ackerbau bis in beträchtliche Höhen. Die hohen Sommertemperaturen und die verhältnismässig geringen Niederschläge lassen am Sonnenhang noch bis auf Höhen von 1700 Metern Getreide (Roggen und Gerste) sowie Kartoffeln oder Mais gedeihen. Während der «Anbauschlacht» im Zweiten Weltkrieg wurde diese Klimagunst nach Kräften genutzt. In jüngerer Zeit ging der Ackerbau stark zurück, auf den einstigen Terrassen wächst nun Gras fürs liebe Vieh. Die Gegend um Vnà gehört zu den aller ältesten Siedlungsgebieten im Alpen raum. Schon zur Bronzezeit um 1500 v. Chr. wohnten hier Bauern und bewirtschafteten Grundstücke, die sie zuvor gerodet hatten. Das Dorf Vnà selbst ist der Bauerntradition treu geblieben und erweckt noch ganz den Eindruck eines Stücks heiler Welt.
«Chluchers» (Glockentürme) heissen die Erdpyramiden auf Rätoromanisch.
«Allegra» heisst
Zu den Traditionen gehört auch das Festhalten an der rätoromanischen Sprache, was sich etwa darin äussert, dass auch Fremdenverkehrsorganisationen die deutsche Bezeichnung für Schuls konsequent durch Scuol ersetzt haben. Und wer Einheimischen
eine Freude bereiten will, grüsst sie mit «Allegra». Hier im Unterengadin spricht man das Idiom Vallader, das noch weniger durch Mobilität und Tourismus bedroht ist als das Oberengadiner Putèr um St. Moritz. Doch seit Eröffnung des Vereinatunnels ist das Unterengadin punkto Reisezeit näher an die Deutsch schweiz gerückt, was nicht ohne Auswirkungen auf die Volkskultur bleiben dürfte.
Interessanterweise befindet sich zehn Kilometer nördlich unseres Ausflugsgebietes, nur durch den 3294 Meter hohen Muttler von Vnà getrennt, eine deutsche Sprachinsel: das Schnaps- und Benzin-Shoppingparadies Samnaun.
Route
Anreise
Kurhaus Val Sinestra – Zuort – Pradè – Vnà.
Mit der Rhätischen Bahn von Landquart durch den Vereinatunnel oder von Chur – Samedan via Sagliains nach Scuol / Schuls im Unter engadin. Dort umsteigen auf das Postauto ins Val Sinestra (Saisonbetrieb Sommer–Herbst).
Rückreise Von Vnà mit dem Postauto hinunter nach Ramosch mit Anschluss an das Postauto zurück nach Scuol / Schuls.
Wanderzeit
Karten
3 Stunden mit 250 Meter Steigung und 150 Meter Gefälle.
Landeskarte 1:25 000, Blätter 1199 «Scuol», 1179 «Samnaun».
Gaststätte Kurhaus Val Sinestra, Zuort, Vnà.
Variante
Für den Abstieg zu Fuss von Vnà nach Ramosch ist eine weitere Stunde einzuberechnen. Am westlichen Dorfrand von Ramosch lohnt sich ein kurzer Abstecher zur Burgruine Tschanüff.
Zugegeben, die Anreise ins östlichste Tal der Schweiz ist etwas lang, doch lohnt sie sich wirklich. Zwischen Zernez und der Ofenpasshöhe auf 2149 m ü. M. durchquert das Postauto auf gut ausgebauter Strasse den Schweizerischen Nationalpark. Dieses grösste Naturreservat des Landes wurde 1914 geschaffen und umfasst heute eine Fläche von 170 Quad ratkilometern. Hier wurde 1904 der letzte frei lebende Bär geschossen. Den Steinbock, das stolze Bündner Wappentier, hatten die einheimischen Jäger schon zuvor ausgerottet.
Während man bisher auf eine Wiederansiedlung von Meister Petz verzichtete, konnte das Steinwild im Nationalpark von neuem Fuss fassen: Aus sei nerzeit 34 ausgesetzten Exemplaren sind inzwischen 300 geworden. Zuweilen überschreiten sie die Parkgrenzen, und da unser Höhenweg in unmittelbarer Nachbarschaft des Reservats verläuft, ist es gut möglich, dass auch wir unterwegs einige Exemplare sehen werden.
Man kann auch Gämsen und Hirsche beobachten – es lohnt sich, einen Feldstecher mitzunehmen. Die Hirsche, von denen im Gründungsjahr des Nationalparks 1914 nur noch neun Stück gezählt wurden, haben sich inzwischen allzu stark vermehrt. Da ihnen keine natürlichen Feinde Einhalt gebieten, richten die 2000 Exemplare im Park und in dessen Umgebung durch Verbiss am Jungwuchs schwere Schäden an. Zum Problem geworden ist aber auch ein weiteres Lebewesen, das in Massen auftritt: 150 000 Touristen tummeln sich jeden Sommer auf den 80 Kilometer Wanderwegen im Park. Da haben die Parkwächter alle Hände voll zu tun, um die strengen Naturschutzvorschriften durchzusetzen.
Auf unserer Wanderung vom Ofenpass aus ostwärts müssen wir uns nicht an die strengen Parkgesetze halten. Wir dürfen also den Weg verlassen und beim Picknick ein Feuer anzünden. Selbstverständlich schonen wir auch ausserhalb der Nationalparkgrenzen die Pflanzenwie die Tierwelt und lassen keine Abfälle liegen.
Berglandschaft mit Baum, ein typisches Bild im Umfeld des Nationalparks.
«Süsom Givè» heisst das Hotel auf der Ofenpasshöhe. Hier kann man übernachten – ideal für Wandernde, die die unberührte Natur am frühen Morgen lieben. Eine eigentliche Bergtour schlagen wir nicht vor, denn von unserem Ausgangsort aus steigt der Weg nur noch unwesentlich an. Auf 2149 m ü. M. liegt der Ofenpass, auf 2260 m ü. M. befindet sich der höchste Punkt unserer Wanderung zwischen Alp da Munt und Alp Champatsch.
Die gemächliche Steigung, verteilt auf vier Kilometer, führt zuerst durch lichtes Nadelgehölz und dann während längerer Zeit der Waldgrenze entlang. Hier, im recht trockenen Teil der Zentralalpen, wo sich bereits der klimatische Einfluss aus dem Süden bemerkbar macht, liegt die Waldgrenze einige Hundert Meter höher als auf der Alpennordseite.
Das Gelände über dem geschlossenen Baumbestand wird alpwirtschaftlich genutzt. Bei der Alp Champatsch zweigt Richtung Norden der Weg zum Pass da Costainas ab. Er führt hinüber zum berühmten Arvenwald von Tamangur und weiter durchs Val S-charl der Clemgia
Liebevoll geschmückte Hausfassade in Fuldera.
entlang nach Scuol. Wir aber wenden uns in entgegengesetzter Richtung dem Dörfchen Lü zu, das wir auf einem Waldsträsschen mit mässigem Gefälle etwa zwei Stunden nach dem Abmarsch auf dem Ofenpass erreichen.
Stolz nennt sich Lü auf 1920 m ü. M. die höchstgelegene Gemeinde Europas (im Übrigen eine Selbstzuschreibung). Die Etappe zwischen Ofenpass und Lü ist reich an erdgeschichtlichen Sehenswürdigkeiten. Seinen Namen hat der Passübergang von Schmelzöfen erhalten, in denen hier noch im 19. Jahrhundert das Erz der nahen Unterengadiner Dolomiten zu Metall verarbeitet wurde. Unterwegs stossen wir auch auf eine Ansammlung von Gipstrichtern. Das weiche Gipsgestein wird stellenweise vom Regenwasser ausgelaugt und neigt zur Bildung von Senken. Gips gehört zu den leichteren Steinen – ein Andenken im Rucksack dürfte uns nicht sehr belasten. Lü lohnt einen Aufenthalt, ob wir nun im heimeligen Gasthof einkehren oder nicht. Das Münstertal, das Val Müstair, hat auch eine geografische Besonderheit. Dieser «Wurmfortsatz» des Unterengadins in östlicher Richtung schickt nämlich als einziges Tal der Schweiz sein Wasser in die Etsch (italienisch Adige), den 415 Kilometer langen Hauptfluss des Südtirols. Kristallklar sprudelt das Wasser in dem auf weiten Strecken naturnah gebliebenen Bett des Rombachs; es wird bei Venedig in die etwas weniger kristallklare Adria münden.
Der Rombach – Il Rom – entspringt an der Ostseite des Ofenpasses und schlängelt sich als blaue Linie über 20 Kilometer durch das ganze Münstertal. Parallel dazu verläuft eine Zeit lang unser Höhenweg, von dem aus fast alle der längs des Bachlaufs aufgereihten Dörfer im Talgrund zu erkennen sind: Tschierv mit seinem Campingplatz, das lang gezogene Fuldera, Valchava und Sta. Maria. Einzig Müstair mit seinem Kloster hart an der Grenze zu Italien bleibt unserem Blick entzogen. Das Traditionsbewusstsein der Einwohnerschaft sowie strenge Baugesetze haben eine Zersiedlung der Landschaft zu verhindern vermocht. Noch immer prägt eine ans Engadin anklingende Architektur mit Bemalung der meterdicken Steinmauern die Ortschaften.
Das Dorf Fuldera; in die Höhe sticht der Kirchenturm der reformierten Dorfkirche.
Nachdem zwei Drittel unserer Höhenwanderung ohne nennenswerte Steigungen oder Gefälle verlaufen sind, heisst es nun, den Abstieg von Lü hinunter nach Fuldera in Angriff zu nehmen. Zuerst folgen wir dem wenig befahrenen Strässchen Richtung Lüsai, biegen dann aber nach rechts auf einen Fusspfad ab und streben durch den Wald dem Talboden zu. Bevor wir das Wanderziel erreichen, überqueren wir beim Weiler L’Aqua den Rombach. Ab Fuldera bringt uns das Postauto zurück zum Ofenpass und weiter durch den Nationalpark nach Zernez.
Wer noch weiter talauswärts durchs Val Müstair wandern möchte, gelangt über Valchava und Sta. Maria nach Müstair an der Grenze zum italienischen Südtirol. Die Landschaft unterwegs ist recht natur nah geblieben, mit Auenwald und Uferflora längs des munteren Rombachs.
Auf Geländeterrassen wächst noch auf 1400 m ü. M. Getreide, begünstigt vom Sommer im trockenen Klima hier auf der Alpensüdseite.
Das Benediktinerinnenkloster Müstair zählt zu den ältesten Klöstern der Schweiz. Es war ums Jahr 800 auf Weisung Kaiser Karls des Grossen gegründet worden, in der Absicht, das damals noch wilde Tal zu besiedeln. In der Folge entwickelte sich die fromme Stätte, deren romanische Kirche mit bemerkenswerten Wandmalereien geschmückt ist, zum kulturellen Mittelpunkt der Region. Der Klosterkomplex, latei nisch Monasterium, hat der ganzen Talschaft den Namen gegeben und wurde ins Unesco-Verzeichnis der Weltkulturgüter aufgenommen.
Route
Ofenpass /Süsom Givè – Alp da Munt – Alp Champatsch –Lü – Fuldera.
Anreise Mit der Rhätischen Bahn von Landquart via Sagliains oder von Chur via Samedan nach Zernez im Unterengadin. Dort umsteigen ins Postauto zum Ofenpass / Pass dal Fuorn.
Rückreise Von Fuldera im Münstertal / Val Müstair mit dem Postauto über den Ofenpass zurück nach Zernez.
Wanderzeit 4 Stunden fast ohne Steigung, am Schluss Abstieg Lü – Fuldera.
Karte
Landeskarte 1:25 000, Blatt 1239 «Sta. Maria».
Gaststätten Ofenpass / Süsom Givè, Lü, Fuldera.
Variante
Wer es mit dem ersten Teilstück (ohne Abstieg) bewenden lassen möchte, kann in Lü das Postauto hinunter nach Fuldera benützen.