

Marco Ackermann
Marco Ackermann
Der Beginn eines Sommermärchens
Auch der Siegermuni Arnold ist ein TV-Sternchen
Sturz eines Titanen
Eigentlich wollte die Mutter doch den Schulbus fahren
Erlösung für einen ganzen Kanton
Fünf Jahre zuvor war im Diemtigtal «alles kaputt»
Rockstar oder Romantiker?
«Olympiawürdiges» ESAF – aber wie gross darf das Volksfest noch werden?
Ein Versuchskaninchen der Schwingerszene
Einziger Luxus: ein neues Handy
Ein Knecht – und kein Fremder aus Zürich
Fotoshootings mit der Miss Schweiz und Box-Weltmeister Wladimir Klitschko
Rambazamba verunmöglicht gemütliches Beisammensein
Nervende Fragen
Flug in einem Kampfjet:
Ein weiterer Bubentraum geht in Erfüllung
Keine Schwingerfamilie im Rücken –aber einen Seitenwagen-Europameister
Mit o!enem Hemd in den Dünen von Gran Canaria
Kurz vor dem Königstitel deckt er das Dach des Pfarrhauses
In der RS mit Amir Abrashi und Alex Wilson
LKW-Chau !eur – wie der Vater
Wiedersehen mit Abderhalden
«Was für Basel der FCB ist, ist für uns im Tal das Schwingen»
Ab ins Mentaltraining



Im Schlagertempel die Liebe gefunden
Mit einem Motorrad in den Sonnenuntergang
Der Rücktritt – eine Erleichterung
Versuch als Verkäufer
Sehnsucht nach Sibirien
Die Könige und ihre «Boboli»
Die neue Rolle am ESAF: auf dem Thron von Schloss Frauenfeld
Und zum Schluss noch ein paar Fragen an Kilian …
Kilian Wengers Karriere in Zahlen
Danksagung
Nachwort des Autors Marco Ackermann
Bildnachweise
Der Autor

Am frühen Morgen des 21. August 2010 liegt geheimnisvoller Nebel über der Allmend der Stadt Frauenfeld. Als wolle die mystische Atmosphäre ankünden, dass Grosses bevorsteht. Und tatsächlich: Es sollte ein denkwürdiges Eidgenössisches Schwing- und Älplerfest (ESAF) werden, ein Anlass der Superlative, ein Sommermärchen.
Die Feststellung, dass an diesem Wochenende eine neue Ära im Schwingen eingeläutet wurde, ist angemessen. Weil dieser Sport an dieser Veranstaltung so viele Bevölkerungsschichten berührt wie nie zuvor. Es ist augenfällig, wie viele junge Frauen die Kämpfe verfolgen, nachdem lange das Klischee vorherrschte, dass nur ältere Stumpenraucher am Sägemehlrand hockten.
Auf dem fast 80 Hektaren grossen Festgelände auf dem Wa !enplatz Frauenfeld herrscht rund um die Uhr Jubel, Trubel, Heiterkeit. Als Besucher wähnt man sich bei Kaiserwetter an einem Jahrmarkt oder Oktoberfest. Es schlafen mindestens so viele Leute in der Zeltstadt wie an einem grossen Open-Air-Konzert. Nun muss auch dem hinterletzten Traditionalisten unter den Schwingerfreunden klar sein, dass dieser Sport die breite Masse erreicht hat.
Die Organisatoren in Frauenfeld wirtschaften mit einem Budget von rund 21 Millionen Franken, nur sechs Jahre zuvor am ESAF in Luzern betrug dieses noch knapp ein Drittel. Die Zweikämpfe finden in der temporär errichteten «Thurgau Arena» statt. Dieses Hexagon wird für ein paar Wochen zum grössten Stadion der Schweiz; 47 500 Zuschauer haben Platz. Die Stahlrohrtribüne wurde mit 70 Lastwagen aus Valencia herangekarrt, wo sie zuvor für den Formel-1-Grand-Prix von Europa benötigt worden war. Für die sieben Sägemehlringe

braucht es 250 Kubikmeter Tannen- und Fichtensägemehl («gesiebt und entstaubt»).
Aber längst nicht jeder Festbesucher hat ein Ticket ergattern können. Für jene, die es nicht in die Arena scha !en, sind draussen Grossleinwände montiert.
In die Arena marschieren am Samstagmorgen 280 Schwinger ein, um ihren König zu küren. Unter ihnen: Kilian Wenger, ein 20 Jahre alter Zimmermann-Lehrling aus dem Diemtigtal, Kanton Bern. Wenger fühlt sich gut, körperlich ist er in einer Top-Verfassung, die Saison ist bis hierhin für ihn prima verlaufen. Er hat zum Auftakt drei Kranzfeste gewonnen; im Kanton Bern das Oberländische sowie das Oberaargauische und das Walliser. Auch wenn er in den letzten Wochen vor dem ESAF in eine kleine Baisse gerät: Wenn in nationalen Medien von den fünf, sechs grössten Favoriten die Rede ist, wird Wenger häufig genannt.
Und Wenger legt so richtig los – und einen Gegner nach dem anderen auf den Rücken. Der Sieg im ersten Gang gegen Bruno Gisler ist eine Befreiung. Wenger, der Oberarme wie Baumstämme hat, wirkt sehr selbstbewusst, angri ffi g. Der austrainierte Jungspund scheint unter der aufkommenden Hitze weniger zu leiden als jene, welche mehr Kilos auf den Rippen haben.
Der «Kurz» ist der beliebteste Schwung, und Wenger beherrscht diesen in Perfektion. Nach dem ersten Tag hat nur einer aus dem gesamten Teilnehmerfeld eine makellose Zwischenbilanz mit vier Siegen aus vier Kämpfen: Kilian Wenger.
Dabei hat es die eine oder andere Schrecksekunde gegeben. Am ESAF wurde ein neues System angewandt, das den Schwingern in der Wartezone bedeutete, wann sie sich auf den Weg zu ihrem nächsten Kampf machen mussten. Auf einem Monitor erschienen entsprechende Hin-


weise. Aber im Fall von Wenger gab es ein Missverständnis und er wäre beinahe zu spät zu seinem ersten Kampf gekommen – plötzlich musste er sich beeilen. «Im Nachhinein war das ein Glücksfall», sagt Wenger heute, «so hatte ich gar keine Zeit, allzu gross an irgendwelchen Sachen herumzustudieren, die mich hätten belasten können. Ich war sogleich in meinem Wettkampf-Film.»
Am Samstagabend des ESAF in Frauenfeld liegt der Fokus des Interesses auf dem Halbzeitführenden Wenger. Aber dieser zieht sich zurück. Er erinnert sich, dass er in jener Nacht in der Kaserne Auenfeld, wo die Schwinger untergebracht waren, gut geschlafen habe.
Andere Mitfavoriten mischen sich nach getaner Arbeit noch unters Volk. Christian Stucki macht Selfies mit Fans, schüttelt unzählige Hände – und isst zum Znacht eine Bratwurst. Er hat eine Kamera des Schweizer Fernsehens im Nacken, weil er einer der Protagonisten der TV-Dokumentation SF bi de Lüt – Die Bösen ist. Die Reporter begleiteten ihn schon bei den Vorbereitungen aufs ESAF und zeigten ihn zum Beispiel beim Surfen an der französischen Atlantikküste.
Ein anderer Protagonist der Serie ist Arnold Forrer, ebenfalls ein Anwärter auf die Königskrone. Von ihm gibt es Aufnahmen, wie er mit dem Mountainbike über eine Wiese hinunterdonnert und böse stürzt. Oder aus Rio de Janeiro, wie er auf dem Zuckerhut steht und an der Copacabana flaniert. Während andere im Rampenlicht stehen, macht Kilian Wenger besonnen in deren Windschatten sein Ding.
Als Wenger in Frauenfeld zur Ruhe kommt, mutiert das Festgelände zur «grössten Festhütte der Schweiz». Das Schweizer Fernsehen inszeniert nebendran auf dem Wa !enplatz eine grosse SamstagabendKiste. Die Königsgala heisst die Live-Sendung, in der Schwingerkönige aus früheren Jahren auftreten.
Weil es immer noch um 30 Grad warm ist, rinnt den Gästen, viele davon in Sandalen, der Schweiss zu den Ärmeln raus. Für Unterhaltung sorgen ein Showorchester und der Zürcher Musiker Bligg, der seine Hymne «Legendä & Heldä» urau ! ührt. Der Song, der auch bei urbanem Publikum beliebt ist, wird später in der Schweizer Hitparade bis auf Rang 1 in den Single-Charts aufsteigen.
Es ist die Zeit, in der Schwinger zu Stars hochstilisiert werden. Im Anschluss ans Eidgenössische davor, 2007 in Aarau, wurde Jörg Abderhalden, der zum dritten Mal den Königstitel errungen hatte, von den Schweizer Fernsehzuschauern sogar zum «Schweizer des Jahres» gekürt. Abderhalden war es auch, der sich an vorderster Front gegen das restriktive Werbereglement des Eidgenössischen Schwingerverbands (ESV) wehrte und damit den Weg dafür ebnete, dass die Schwinger heute etwas mit ihrem Sport verdienen dürfen. Damit sie eine Entschädigung für den Aufwand haben, der immer immenser wird.
Mehr Aufmerksamkeit fürs Schwingen bringt auch mit sich, dass nun jedes Detail ausgeleuchtet und ausgeschlachtet wird. Sogar zu den Lebendpreisen werden Geschichten gestrickt: In Frauenfeld ist auch der dreijährige Siegermuni Arnold ein TV-Sternchen. Er wiegt eine Tonne,

hat einen Wert von 12 000 Franken und heisst so, wie der Nachname seines Besitzers lautet.
Als die Fernsehsendung aufs Ende zugeht, lautet die grosse Frage: Wer wird Arnold am Sonntagabend mit nach Hause nehmen dürfen?
Als eine Ehrendame gefragt wird, wen sie sich als König wünsche, antwortet sie, dass sie auf einen «jungen und athletischen» König ho!e. Eine Beschreibung, die auf Kilian Wenger passen würde.
Dann werden im TV zur Prime Time auch noch die Duelle für den anstehenden 5. Gang vom Sonntagmorgen bekanntgegeben – und als Spitzenpaarung wird ausgerufen: Abderhalden Jörg – Wenger Kilian.
Ein Raunen geht durch die Menge. Da kann noch niemand wissen, dass Wenger in diesem Kampf seine Meisterprüfung im Sägemehl ablegen wird.