Expedition ins Morgenland

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Hinrich Bentzien

Expedition ins Morgenland


Was als Minijob für Zwischendurch gedacht war, wurde zu einer mehr als zehn Jahre währenden morgendlichen Gewohnheit. Der Rostocker Mediengestalter Hinrich Bentzien hat dabei Entdeckungen in seiner Vorstadt gemacht, die er teilen möchte. Er betrachtet die vertraute Umgebung aus dem besonderen Blickwinkel eines radelnden Zeitungszustellers. Dabei kommt es zu interessanten Begegnungen und ganz nebenbei werden Alltagsmysterien gelüftet. Wo wird einem sonst schon das geheime Leben der Pilze oder das verborgene Wesen eines Sperrmüllhaufens erklärt? Es gibt sie noch, die DDR-Zeitungen „Neues Deutschland“ und „Junge Welt“ und ihre Leser wohnen gleich in der Nachbarschaft. Beim Zustellen schweifen die Gedanken oft ab in andere geschichtliche Epochen und Erinnerungen stellen sich ein an ein Berufsleben in der Druckerei- und Zeitungsbranche.

Herstellung: Hinrich Bentzien · Tel. 0381 - 200 69 87 · hinrichbentzien@web.de


Hinrich Bentzien

Expedition ins Morgenland

Rostock 2022


Mögliche Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Charaktere wurden stark verfremdet, sodass ein Erkennen ausgeschlossen ist.


DIE ERWACHENDE STADT

Auf dem Dach gegenüber verkündet eine Möwe den ­Tagesanbruch. Ihr helles „ii-jaahhh“ wird mit viel­stimmiger, gellender Heiterkeit erwidert. Sie hat mit ihrer Sippschaft erst vor ein paar Wochen das Dach des Neubaus bezogen und führt jeden Morgen ein geschwätziges Palaver mit i­hren Möwen-Nachbarn, einer Krähenkolonie und der restlichen Vogelwelt. Sie sind ganz klar das kleinere Übel und den krächzenden Krähenhorden eindeutig vorzuziehen. Wer in deren Nachbarschaft gerät, wird jeden Tag in eine akustische Dauerbelagerung versetzt. Später höre ich andere Morgengeräusche durch die geschlossenen Fenster hindurch: Da ist das Grundrauschen der nahen Haupt­ straße, das gelegentliche Quietschen der S-Bahnen, die fast die ganze Nacht hindurch fahren und das langanhaltende Rumpeln von Güterzügen auf dem Weg zum Fischereihafen. Es folgen polternde Geräusche von der gegenüberliegenden Klinik-Rampe. LKW’s grummeln und geben ihr Einpark-Piepen von sich. Die Größeren von Ihnen bringen Gläser in meiner Vitrine zum klingen. Container rollen von Ladeklappen, Hubwagen schnarren. Irgendwo im Stadtteil ertönt die Sirene einer Ambulanz. Gelegentlich höre ich ­ einen Rettungshubschrauber aus der Nachbarschaft der Kliniken auffliegen oder landen. In zwanzig Minuten werde ich da draußen auf der Straße sein, um meine


­morgendliche Zustellrunde zu drehen. Ich erlebe dann die erwachende Stadt als distanzierter Beobachter. Alle Stimmungen des morgendlichen Ausnahmezustandes kann ich in mich aufsaugen und bin doch nicht Teil dieses Morgenvolkes. Ich kenne aber diese Art der Hast und des Stresses von den eigenen Arbeitswegen früherer Jahre. Heute dagegen ist mein Kopf wenig beansprucht vom typischen werktäglichen Gedankensalat, in dem Befürchtungen und Erwartungen enthalten sind oder schon Begonnenes vom Vortag fortgesetzt wird. Mein Blick ist frei für das, was gerade jetzt passiert und nur eine gewisse Konzentration für das korrekte Verteilen der Zeitungen ist ­vonnöten. Dieser morgendliche Ausflug endet nicht an einem ­Arbeitsplatz in einem anderen Stadtteil, sondern an meinem eigenen Frühstückstisch. Das Geschehen entschleunigt sich wieder, das heißt, es folgt eine halbstündige Schaffenspause auf meiner Schlafcouch und auch danach will mein Tageslauf nie wirklich Fahrt aufnehmen. Ich würde meinen eigenen Status als „­geringfügig unterbeschäftigte Freiberuflichkeit“ bezeichnen. Es ist mir tatsächlich gelungen, einen alten Lebenstraum zu verwirklichen und mich jeglichem Stress zu entziehen (manchmal habe ich allerdings das Gefühl, dass mir das etwas zu gut gelungen ist). Woher kannte ich diese eigentümliche morgendliche Stimmung da draußen auf der Straße nur? Am Beginn meiner Zusteller-Tätigkeit an einem Hochsommermorgen vor über


10 Jahren war da ein ungenaues Gefühl und dann ein Erinnern an längst vergangene, sommerliche Urlaubsreisen. Als obdachloser Rucksack-Tourist in einer fremden Stadt befand ich mich in einer ähnlichen Beobachterposition wie ein Zeitungsverteiler, der sich quer zu allen Strömungen durch den Morgen bewegt. Ein Vergleich beider Situationen mag auf den ersten Blick etwas weit hergeholt erscheinen, dennoch enthalten beide einen ähnlichen Kern. Gemeinsam ist ihnen der distanzierte Blick auf das Geschehen. Hier wie da entdeckte ich bald Ähnlichkeiten und heimliche Strukturen in dem morgendlichen Trubel. Hier ist es das Verborgene im Vertrauten, das sich mir allmählich erschließt. Das Vertraute im Fremden zu ent­decken, war eine interessante Reiseerfahrung. Erinnerungen an frühmorgendliche ­Urlaubs­­städte stellen sich ein wie an das geräuschvoll e ­ rwachende Budapest der 80er Jahre, das einen ­jugendli­chen Reisen­den unter freiem Himmel geweckt hat. Ein fröstelnder Blick auf die Donaubrücken, der immer in Erinnerung bleibt, auf den Fluss und den donnernden Verkehr, unten auf der Kettenbrücke. Dazu die sich öffnenden Geschäfte und Marktstände mit ihrem reichhaltigen Angebot, ihren Jalousien, den Überresten des Vortages und einem Supermarkt-Frühstück auf dem Bürgersteig, während die Bewohner der Stadt zur Arbeit ­hasten. Oder eine Ankunft nach durchfahrener Nacht in Süd­ italien - Reggio di Calabria vor Sonnenaufgang an einem


kühlen Morgen im März. Schon vor der Einfahrt in den Bahnhof enthüllte die Dämmerung das erwachende ­Leben an der Straße von Messina. Gegenüber lag Sizilien, ein allmählich ansteigendes, hohes Gebirges, ein diffuser düsterer Schatten mit flackernden, vom Nebel verhangenen Lichtern über dem Wasser. Erst allmählich belebte sich die Stadt. Ein Lokal öffnete sich für uns Reisende für ein Frühstück, einen Kaffee und die Gelegenheit, das Treiben auf der Straße zu beobachten. Breite Flüsse, Seen oder Meerengen sind schöne Bei­ gaben zu Sonnenaufgängen. Oft liegen sie selbst noch in dieser windstillen spiegelglatten Ruhe, die sich zu Beginn der Nacht über sie gelegt hatte und erwachen erst gemeinsam mit der morgendlichen Welt zu neuem Leben. Manchmal schwimmt noch Nebel nach einer klaren und kühlen Nacht über ihnen. Auch bei meinem allmorgendlichen Ausflug begegne ich unweit meiner Haustür einem Fluss, welcher allerdings mehr einem See oder einer Meerenge ähnelt. Um ihn herum ordnet sich das Gefüge der Stadt.


DER FRÜHE SOMMERMORGEN

Überhaupt ist der frühe Sommermorgen die beste ­Tageszeit und man muss schon da sein - auf der Straße sein - wenn er gerade beginnt. Was danach kommt, kann nur schlechter werden. Mein eigener Tag beginnt nicht mit einem Wecker­ klingeln oder mit Möwengeschrei - ich wache von selbst auf. Das ist eine innere Schutzfunktion, die sich je nach Zeitpunkt des Aufstehens von selbst neu justiert und mich davor bewahrt, unvorbereitet den Eindrücken und Anforderungen des Tages zu begegnen. Es ist ein Überbleibsel der Jahre, in denen ich wie die Allermeisten jeden Morgen in einen Betrieb musste. Bei allen Vorzügen, die das meinem Leben brachte, kostete es mich doch immer starke Überwindung und bereitete mir Unbehagen. 5.30 Uhr ist es, wenn ich mich im Sommer aus dem Bett wälze. Zuvor habe ich in den Gedanken ans Aufstehen gründlich abgewogen, bin noch zwei mal kurz eingeschlafen und wieder aufgewacht. Falls die Aufwach-Routine mal komplett ­versagen sollte: Das Möwenvolk von nebenan hat strikte Anweisung, mich zu wecken. Wenn ich 30 Minuten später auf die Straße trete, unge­ frühstückt und ungeduscht zwar, aber von einer ordentliche Ladung Kaffee ermuntert, werde ich Teil meines


­Morgen-Films. Dieser beginnt ganz früh an vielerlei Orten. Ich selbst trete erst spät in die Handlung ein, wenn die Geschichte schon stundenlang im Gange ist. Darin öffnen sich Türen, werden die immer gleichen werktäglichen Wege beschritten, begegnen sich Menschen an Hausecken, pinkeln Hunde gegen die selben Laternenpfähle. Es funktioniert ­alles wie nach einem genau einstudierten Plan, der eine Menge örtliche und zeitliche Varianten zulässt. Im Winter, wenn ich meinen Weg mit einem Bündel Zeitungen in der Umhängetasche zu Fuß absolviere, brauche ich 80 Minuten. Im Sommer steige ich auf mein Fahrrad um und schaffe es in der halben Zeit. Während der Übergangs-Jahreszeiten wird bei Sonnenaufgang auf das Rad gewechselt, das unterwegs an meiner Haustür wartet. So erlebe ich die Geschichte meiner Morgenrunden übers Jahr gesehen in unterschiedlichem Tempo, verschiedenen Anfangszeiten und mit wechselnden Akteuren. Mein eigenes Zeit- und Handlungsfenster schiebt sich über einen bestimmten Teil des großen Morgenfilmes, dessen Szenen vor meinen Augen je nach Fortbewegungsart langsam oder gerafft ablaufen. Gleich bleibt nur das Ende meiner ­Runde um 7.00 Uhr und ein Teil der Darsteller. Eine Vielzahl an Varianten sind abhängig von der Bewegungsrichtung möglich. Auch unterwegs können Richtungsänderungen eingelegt werden, was wiederum einen Perspektiv­ wechsel bewirkt und zum Wegfall einzelner Szenen bzw. ihrem Neuentstehen führt. Natürlich wechseln die Dar-


steller von Zeit zu Zeit - wie in jeder durchschnittlichen Vorabend­serie. Ich selbst bin eine Art männliche Mutter Beimer, die das Schicksal auf ewig zum Verweilen in der Serie verdammt hat. Im Hochsommer ist es längst hell, wenn ich im Hausflur mein Paket aufnehme. Durch das Flurfenster kann ich bei gutem Wetter einen attraktiven Sonnenaufgang mit ­Altstadt-Silhouette sehen. Während ich die Tür aufschließe, rumort der Bewohner des Erdgeschosses schon hinter seiner Tür und wird vielleicht als erste handelnde Person auftreten. Meistens schaffe ich es aber ihm zuvorzukommen. Da ich von Natur aus extrem maulfaul bin, ist schon ein „Guten Morgen“ um diese frühe Zeit zu viel verlangt. Fast immer passt das Bündel in meine Tasche, nur am Samstag lasten mir die Zeitungsverlage ihre umfangreiche Wochenendausgaben auf. Dazu kommen zusätzliche Samstags-Abos. Begonnen hatte ich vor 10 Jahren mit einer Kuriertasche, die ich mir an einem Riemen quer über gehängt hatte. Orthopädische Probleme ließen nicht lange auf sich warten, sodass ich mir eine Satteltasche zulegen musste. Das Gelenk zwischen Schlüsselbein und Schulter gibt seit dieser Zeit verdächtige Geräusche von sich und ist sehr druckempfindlich. Während der Jahre hat die Anzahl meiner Abonnenten stark abgenommen, sodass ich ab und zu wieder zur bequemen Umhängetasche überwechseln konnte.


NEUGIERDE GEGEN NEUGIERDE

Beim Verpacken der Zeitungen vor meiner Haustür werde ich regelmäßig vom Nachbarhaus aus einem kleinen Toilettenfenster vom e ­ twas sonderbaren Hausbesitzer beobachtet. Er verfolgt intensiv jede meiner Bewegungen und hat mich wahrscheinlich schon erwartet. Auch tagsüber begegnet er mir mit deutlichem Misstrauen. Erst später erfahre ich, dass der alte Mann von gegenüber, ­dessen Verhalten mir in den letzten Monaten so merkwürdig vorkam, unter Demenz leidet und in ein Heim umgezogen ist. Noch in meiner früheren Wohnung fühlte ich mich völlig unbemerkt von der Welt: „Wenn mich die Menschen nicht interessieren, bin auch ich ihnen egal“ – so glaubte ich. Aber natürlich wurde ich gesehen, wenn ich mehrmals täglich ein paar Meter um den Block zu meinem gegenüber liegenden Betrieb lief oder, wie auf dem Präsentierteller, auf meiner Terrasse herum lümmelte. Viele meiner Schritte wurden registriert von einem Rentnerinnen-Club, welcher einen ehrenamtlichen Spionagering um meinen kleinen Vorstadt-Kiez gelegt hatte. Das wurde mir von einer Bekannten offenbart. Sie war nach mir in die Wohnung eingezogen und sogleich bezüglich meines Verbleibens ausgefragt worden. Zuvor waren Vermutungen angestellt und Schlussfolgerungen gezogen worden, von Menschen,


mit denen ich nie auch nur ein Wort gewechselt hatte. Nun waren diese Vermutungen gar nicht böswillig oder unfreundlich, aber ganz einfach sehr neugierig. So wusste die Rentnerin von nebenan zum Beispiel genau, was auf meiner Terrasse vor sich ging, obwohl sie im Nachbarhaus und zwei Etagen tiefer wohnte. Auch über den traurigen Zustand meiner Terrassenpflanzen war sie genau informiert. Nebenbei hatten sie Theorien über meine Lebens­ verhältnisse aufgestellt und ganze Vermutungsketten konstruiert, die zum Teil e ­ igentlich sogar recht schmeichelhaft waren. Anzumerken ist, dass auch ich selbst ganz automatisch vertraut wurde mit dem Alltag der ­Menschen in meinen kleinen Kiez. Ich arbeitete in Rufweite meiner Wohnung im Erdgeschoss mit Blick auf Bürgersteig und Straße und registrierte ganz automatisch regelmäßige Vorgänge, die sich jeden Tag vor meiner Nase abspielten. Nach den täglichen Auftritten einiger Nachbarn konnte ich meine Uhr stellen. Jedenfalls hatte damals mein unschuldiges Weltvertrauen Schaden genommen. So mancher wird nun fragen, wieso ich hier als Autor so ausführlich Notiz nehme von der Welt, von der ich mich zuvor angeblich beobachtet fühlte? Tja, liebe Menschheit - das hast Du Dir selbst eingebrockt. Du hast den Frieden gebrochen. Jetzt musst Du mit meiner ­Neugierde leben.


DIE GENOSSEN WARTEN SCHON

Auf den ersten Metern meiner Morgenrunde geschieht wenig Bemerkenswertes und auch nur wenige Zeitungen müssen in Briefkästen geworfen werden. Die jeweiligen Straßen und Stadtviertel besitzen offenbar eigene Charaktere, die wiederum spezielle Presseerzeugnisse bedingen. So gibt es studentische Gebiete mit hoher WG-Dichte in nicht allzu feinen Wohnlagen, in denen die TAZ, eine linke, westdeutsche Tageszeitung gefragt ist. Die unerwartete Anhäufung der „Jungen Welt“, ­eines linksextremistischen Blattes mit DDR-Vergangenheit ist in einem Villenviertel festzustellen. Hier wohnen Ärzte, ­Medienschaffende und die junge Intelligenz. An Haupt­straßen treten dagegen Abo-Häufungen des ehemaligen „Neues Deutschland“, dem Zentralorgans der SED auf, welches den weitaus größten Anteil der zu verteilenden Zeitungen einnimmt. Das deutet auf eine gezielte Ansiedlung von Mitgliedern dieser ehemals staatstragenden Organisation in wichtigen Straßenzügen hin. Bestimmte ideologisch belastete Berufszweige und Großbetriebe besaßen geschlossene Wohnungskontingente. Wollten Partei und Staat etwa durch gezieltes „Einrahmen“ mit treuen Anhängern ganze Stadtviertel kontrollieren? Die starke Häufung an strategisch wichtigen Straßen könnte dafür sprechen. Eine ganz neue Sicht auf meinen Stadtteil tut sich mir auf. In meiner Vorstellung sehe ich sie


vor ihre Türen treten, die „Schläfer“, gut getarnte, scheinbar harmlose Rentner. Wie ferngesteuert (schlurfend, mit hölzernen ­Bewegungen) nehmen sie um meinen Stadtteil Aufstellung - bereit, wieder die Macht zu übernehmen. Sie stehen noch immer in Bereitschaft, die treuen Genossen und warten auf ein Z ­ eichen. Ich bitte um Verständnis für diese sonderbaren Vorstellungen. Schuld daran sind vielleicht die allmorgendliche Eintönigkeit und der ungünstige Einfluss schlechter ­Science-Fiction-Literatur in der Jugendzeit. Meine Kunden entwickeln nun mal in meinem Geist ein sonderbares Eigenleben. Ganz automatisch formt sich in mir ein Bild, mangels Begegnung zu früher Stunde. Vielleicht trägt auch die morgendliche Finsternis eine Mitschuld an dieser düsteren Vision. Ab und zu muss ich mich korrigieren, wenn mal ein real existierender Abonnent aus der Tür tritt. Tatsächlich sind die Leser des Neuen Deutschland allesamt sehr freundliche, ältere Mitbürger, die mir vereinzelt sogar im Advent ein Präsent zukommen lassen. Nach und nach, still und leise, lösche ich ihre Namen von meiner Liste. Manchmal dauert es Monate, bis ich die ­jahrelang eingeübten Wege gänzlich aus meinem gewohnten morgendlichen Tour streichen kann. Es ist wie eine Art ­Ehrerweisung - einige Schritte, ein Stutzen und Umkehren. Vielleicht kommt noch bei meinen - bisher ungeborenen - Nachkommen beim Passieren mancher Haustüren ein sonderbares Gefühl auf, denn die tausendfach besuchten Hauseingänge haben Spuren in meiner DNA hinterlassen.


EIN MAGISCHER SATZ

Die Gedanken schweifen unterwegs so manches Mal ab. Oft reicht ein flüchtiger Blick auf die Schlagzeilen der ­Zeitungen, um kurz auf gedankliche Abwege zu geraten. Hausnummern, Abonnenten und die zugehörige Zeitung sind so in Fleisch und Blut übergangen, dass ich mit verbundenen Augen meinen Weg finden würde. Zum Teil habe ich bereits Hausnummer und Name vergessen und werfe wie blind Zeitungen in die richtigen Briefkästen. Andererseits sind bei gut beleuchteten Hauseingängen die Namen an den umliegenden Briefkästen schon so vertraut, dass ich schon versehentlich einen Falschen bedacht habe. Was mögen die Abonnenten der ehemals wichtigsten Partei-Zeitung gefühlt oder gedacht haben, als sich das ­ Blatt der Geschichte gegen sie wandte? Warum sind gerade sie ihrem „Zentralorgan“ treu geblieben? Eigene Erinnerungen werden wach an das Verschwinden meines früheren Heimatlandes im Zuge der unblutigsten und langweiligsten Revolution der Weltgeschichte. Schon viel früher hatte die DDR klammheimlich aufgehört, eine ernstzunehmende Schreckensherrschaft zu sein. Alle dazu nötigen Zutaten waren Stück für Stück nach dem Tod des Genossen Stalins und im anschließenden Zeitalter der „friedlichen Koexistenz“


der Systeme abhanden gekommen. Eine ständig über den Menschen schwebende Todesdrohung wäre genauso unverzichtbar gewesen für eine ordentliche Diktatur, wie ein allzeit zum Eingreifen bereit stehender „großer Bruder“. Die Mauer samt Schießbefehl waren zwar ein Ärgernis, aber man konnte ihre Existenz ganz gut verdrängen, wenn man nicht durch allzu große Unternehmungslust geplagt war oder nahe Verwandtschaft jenseits der Grenze hatte. Sie war nur eine passive Bedrohung. An anderen Stellen, an denen man seinen Spielraum vorsichtig austestete, traf man zuletzt dagegen auf überraschend wenig Widerstand seitens des Staates. Die Genossen waren alt und bequem geworden und verwoben in ein internationales System von Verträgen und Abhängigkeiten. Dieses gemütlich-autoritär regierte Ländchen war lieb gewordenes Lebenswerk von ein paar Greisen, die tatsächlich an die Phrasen glaubten, welche sie auf ihren Parteitagen vom Podium nuschelten. Im Grunde wollten sie aber, wie alle älteren Menschen draußen im Lande, nur ihre Ruhe haben und dass alles so bliebe, wie es war. Zudem war eines Tages der „große Bruder“ im Osten nicht länger Schreckgespenst, sondern mit seinem Anführer Michail „Gorbi“ Gorbatschow sogar Ermutiger und Vorbild für die Aufmüpfigen und Unzufriedenen geworden. Aus Sicht der DDR-Genossen muss damit der Bock zum Generalsekretär gemacht worden sein. Am Ende verhielt es sich dann wie in dem Märchen, in dem eine öffentlich


ausgesprochene Wahrheit ein Lügengebilde zum Einsturz brachte und die Mächtigen der Lächerlichkeit preis gab. Das herrschende System wartete nur darauf, angestoßen zu werden und in sich zusammenzufallen. „Wir sind das Volk“ lautete die befreiende Losung. Von DDR-Bürgern in so großer Zahl und so lautstark ausgerufen, bestürzte sie die Mächtigen und brach den Bann der Angst. Sie hatten sich bis dahin tatsächlich als Vollstrecker des Volkswillens und wichtigen Teil des Volkes gesehen. So fanden sie sich fast über Nacht bloßgestellt und beiseite geschoben und nicht nur mitten in einer politischen-, sondern auch einer Sinnkrise. „Das Volk“ mit seinem untrüglichen Spürsinn hatte einen magischen Satz gefunden und wollte sich endlich nehmen, was ihm so lange versprochen worden war. Zu gleich war er eine trotzige Selbstermutigung und gegenseitige Vergewisserung: „Wir sind es - Euer Volk, auf das Ihr Euch ständig beruft. Wir werden von nun an für uns selbst sprechen, wir wissen selbst, was gut für uns ist“. Das „Sprechen“ übernahmen nach 1990 leider die ­gesamtdeutschen Medien, deren unqualifizierte Versuche der Vergangenheits-Aufbereitung in ihrem erzieherischen Eifer oder Gewinnstreben eine ständige Ursache des Ärgers für mich sind. Ganz besonders schlimm ist es zu runden Jubiläen von Wende und Mauerfall. Dann heißt es nur „Augen zu und durch“ – nach ein paar Tagen ist es überstanden. Das hat meine alte Heimat nun wirklich nicht verdient. Ich erwarte immer noch auf eine zufriedenstellende litera-


rische oder filmische Aufarbeitung der Ereignisse, welche nicht entscheidende Triebkräfte ausspart. Einige Versuche in dieser Richtung sind zum Teil gut gemacht, treffen aber nicht den Kern der Sache. Ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl verbindet mich offenbar auch mit den Abonnenten des Neuen Deutschland, auch wenn ich ihnen und ihren Presserzeugnissen gegenüber früher Abneigung empfand. Auch die menschlichen Abgründe von Stasi-Überwachung und alltäglichem Verrat, die sich für jeden gut sichtbar nach 1989 auftaten, lohnen ab und zu einer kleinen privaten Erinnerung. Das Bemerkenswerte bleibt aber, dass dieser so umfassend ausgebaute Machtapparat so nutzlos war und ohne Widerstand in sich zusammenbrach. So, nun ist es passiert! Wenn ich meine Gedanken intensiv abschweifen lasse, leiste ich mir einen Aussetzer in der Realität. Ich habe einige Zeitungen in der Hand, stehe vor einem Briefkasten und hatte eben noch intensiv in meiner Tasche herum gewühlt. Dabei ist mir völlig entfallen, ob ich die Zeitung nun schon eingeworfen habe oder nicht. Manchmal lässt sich das durch einen Blick nachprüfen oder durch ein Ertasten des Briefkasteninhaltes. Ich kann mittlerweile fast jede in den Briefkasten geworfene Zeitung unbeschädigt wieder herauszuholen. Mit meinem Kurzzeitgedächtnis ist es jedenfalls nicht zum Besten bestellt. Ich schaffe es, ganze Straßenzüge gedankenverloren abzuarbeiten und jegliche Erinnerungen daran sofort auszulöschen.


STOFFBEUTELMANN

Hinter der ersten Biegung begegne ich dem geheimnisvollen kleinen Mann mit dem leerem Stoffbeutel. Irgendetwas unterschied ihn von den normalen stoffbeuteltragenden Brötchenholern und irritierte mich zu Beginn meiner morgendlichen Tätigkeit. Er ist wirklich von Montag bis Samstag unterwegs und dreht, wie ich festgestellt habe, Runden um einen Häuserblock. Dabei passiert er auch zwei Bäckereien, ohne seinen Beutel mit frischen Brötchen zu füllen. Schon lange vor 6.00 Uhr ist er da und läuft mit etwas schuldbewusstem Gesicht um den Kiez. Unterwegs telefoniert er ab und an recht laut und lässt durch seinen ausgeprägten Dialekt seine Herkunft erkennen. Ihn setzt die allmorgendliche Begegnung offenbar etwas in Verlegenheit, als ob er sich bei etwas ertappt fühlte. Es brauchte eine Weile, bevor ich sah, wie er auf seiner Runde einen kleinen Kellerkiosk betrat, welcher jeden Morgen um 6.00 Uhr öffnet. Während ich durch andere Straßen rolle, füllt er offenbar seinen Beutel in dem Laden und läuft zu einer 500 Meter entfernten Straßenbahnhaltestelle. Da sehe ich ihn 20 Minuten später stehen und mache mir Gedanken über ihn. Mich verwundern die absolute Zuverlässigkeit und Regelmäßigkeit, zu der ihn offenbar der Erwerb des Beutelinhaltes zwingt und auch der Anfahrtsweg und seine morgendliche Wanderungen. Vielleicht plagt ihn nicht


nur ein Suchtproblem, sondern auch Schlaflosigkeit? Müssen drückende Stunden mit Aktivität gefüllt werden, wohin fährt er mit seinem Einkauf und mit wem telefoniert er so früh am Morgen? Leidet der Telefonpartner auch unter dieser besonderen Art der Schlaflosigkeit oder sind die Telefonate etwa gespielt? Der Mann ist äußerlich nicht gezeichnet und etwa in meinem Alter. Insgeheim habe ich schon für ihn einen Plan ausgearbeitet, der ihm die Rückkehr in ein normales Leben ermöglicht. Wie wäre es zum Beispiel mit einem kleinen morgendlichen Zustell-Job für den Anfang? Wichtige Voraussetzungen scheinen vorhanden. Oder interpretiere ich die wenigen morgendlichen Eindrücke völlig falsch? Nur die kurzen Momente einer regelmäßigen kurzen Begegnung haben mir eine Geschichte eingegeben. Vielleicht geht er ja doch einer geregelten Tätigkeit nach - warum nicht in Jogginghosen, warum nicht auch am Samstag? Vielleicht treffe ich ihn ja sogar am Sonntag an der selben Stelle zur gleichen Zeit? Leider bin ich zu faul, das nachzuprüfen und so stark ist Neugierde nun auch wieder nicht. Mittlerweile hat auch der kleine Kellerkiosk dicht gemacht und meine Mutmaßungen bezüglich einer möglicherweise bestehenden Suchtproblematik sind ins Wanken geraten.


VORSTADTTREIBEN

Hinter den Bahngleisen, herrscht eine ganz andere Stimmung als am wohlsituierten Stadtrand. Es ist die lebendige Vorstadt mit ihren vielen kleinen Läden, bekritzelten Wänden und den manchmal recht schönen Fassadenmalereien. Ursprünglich ist es eine etwas ärmliche Werftarbeiter-Gegend der Jahrhundertwende, bestehend aus eher niedrigen Häusern mit kleinen schlauchartigen Alkoven-Wohnungen. Nur an markanten Ecken und an Hauptstraßen ändert die Bebauung ihren kleinstädtischen Charakter etwas. Hier wohnen nicht nur Menschen, hierher kommen sie auch, um sich in Kneipen oder Cafés zu treffen, einzukaufen oder nur so im Stadtteil „abzuhängen“. Hier habe ich lange selbst gelebt. Es ist ein typisches Studentenviertel. Schon vor mehr als 40 Jahren, während meiner Schulzeit, bin ich ein mal wöchentlich von der S-Bahn quer durch diesen Stadtteil zum Stadthafen gelaufen. Mit fast jedem Haus verbindet sich irgendeine Erinnerung. Eine völlig unbeaufsichtigte Schülerhorde freute sich auf diesen Miniwandertag, bevor sie die rauchige alte Werkstatt des Hafengebäudes gefangen nahm. Ein halber Arbeitstag am Schraubstock war ein guter Vorgeschmack auf ein zukünftiges Berufsleben oder auch Anstoß, sich um einen besseren Schulabschluss zu bemühen. ­­ Die


­Pausen spielten sich direkt an der Kaikante ab und hatten ihr besonderes Flair, da das Hafengelände ansonsten als „Grenzgebiet“ galt und nicht zu betreten war. Natürlich waren auch schon die mittelgroßen Küstenschiffe Attraktion genug. Sie waren mit dicken Tauen an Pollern festgezurrt und lagen direkt vor dem Fenstern der Unterrichtsräume. Auf dem Heimweg zum S-Bahnhof ließ man es sich nicht nehmen, auf der Brücke die riesige Dampflok abzupassen. Tosend und stampfend jagte sie stoßweise gewaltige weißgraue Dampfschwaden hinauf zur S-Bahn-Brücke und zu den dort wartenden jungen Eisenbahnfreunden. Auch die öligen Spritzkuchen einer kleinen Privatbäckerei waren berühmt. Das hochsubventionierte Backwerk endete häufig im Fluss, weil es besonders beeindruckende Fettringe im Wasser erzeugen konnte. Sie waren wie ein Sinnbild für die ehrlichen aber ungeschickten Bemühungen des DDR-Staates, seinen Bürgern ein Leben in materieller Zufriedenheit zu ermöglichen. Experimente brisanter Art wurden hinter der Mauer des Matrosendenkmals durchgeführt: Am hellen Tag zündete die „AG Junge Pyrotechniker“, nur einen Schritt vom ­Flussufer entfernt, ihre neuesten Entwicklungen. Es ist erstaunlich, dass alle experimentierfreudigen Klassenkameraden unverletzt geblieben sind.


SONNENAUFGANG MIT FLUSSMÜNDUNG

Lieferanten-Fahrzeuge drängeln morgens durch engen Straßen der Vorstadt. Es geht flusswärts überall leicht bergab. Nur fünfzehn Meter Höhenunterschied hat schließlich der Rand des eiszeitlichen Urstromtales, von dem aus ich schon die spiegelnde Wasserfläche überblicken kann. Gerade erst, erdgeschichtlich betrachtet, hat sich der Fluss breit gemacht in seinem Bett, welches er sich als eiszeitlicher Gletscher-Schmelzfluss ausgespült hatte. Auf den letzten Kilometern vor dem Meer bildet er eine „Flussmündung an einer gezeitenfreien Senkungsküste“, wie ich kürzlich gelernt habe. Flussaufwärts scheint er bemüht zu sein, das eigene Tal zu vernässen und unbewohnbar zu halten, anstatt seine Wasser zügig der See zu übergeben. Hier in der Stadt ist der Fluss eher ein kleines „Haff“ oder Stausee, denn die ewige Wanderbewegung des Küstensandes hatte einen Riegel vor seine Mündung geschoben, welcher über die Jahrhunderte immer mal wieder für die Schifffahrt durchbrochen und erweitert werden musste. Einige von den sehr fortschrittlichen Zeitungen in meiner Umhängetasche sollen erstaunlicherweise in ein paar Briefkästen der Luxusbebauung auf dem Gelände der früheren Werft wandern. Bevor ich mit meinem Rad den erwähnten 15-Meter-Höhenunterschied herunter rausche,


nehme ich die Aussicht auf die glänzende Wasserfläche in mich auf. Sie ist bei klarem Himmel morgendlich spiegelglatt und bietet einen Anblick, für den es sich schon lohnt, ganz früh aufzustehen. An so einem klaren, warmen Hochsommermorgen könnte ich meine Morgenrunde glatt zwei mal absolvieren. Manchmal liegt meine Kamera schon in meiner Satteltasche und vielleicht gelingen mir ja gerade heute ein paar schöne Fotos im morgendlichen Dämmerlicht. Gelegentlich hole ich meine Kamera von zu Hause und fahre noch mal los. Dann kaufe ich mir in einer Bäckerei ein Frühstück und setze mich irgendwo an das Wasser. Hier am Fluss riecht es schon etwas nach Tang und Salz und es weht ein leichter Wind. Dort, hinter dem monströsen Matrosendenkmal, vor den Türmen der Altstadt, sollte im Gegenlicht eigentlich der hohe Bug eines Veterans der heimischen Hochseeschifffahrt zu sehen sein. Seit einigen Jahren liegt er allerdings nicht mehr hier, sondern ruht am Grunde der Ostsee. Niemand weiß, dass ich doppelt leide, denn schon mal verlor ich einen geliebten Stahlkoloss, der zuvor exakt an der gleichen Stelle vor Anker lag. Es war mein hoch geschätztes „PORTCENTER“, ein großes, schwimmendes Einkaufszentrum und zweites Zuhause, das sich ab 1990 für etwa 10 Jahre unweit meiner früheren Haustür befand. Ein wichtiger Teil meiner lokalen Identität wurde brutal verschleppt und fristet nun ein unwürdiges Dasein als schwimmender Schnäppchenmarkt in einem anderen Hafenort.


GASTSTARS UND SONDERFÄLLE

Sie kommt auf ihrem Rad quer über die Straße gerollt, wenn ich mich in der Gegend mit der höchsten Abo-Dichte befinde. An Tagen, die mich zu einem früheren Beginn zwingen, wie etwa bei Urlaubsvertretungen, treffe ich Sie. Mit der Andeutung eines gleichbleibenden, versonnenen Lächelns steuert sie ihr Haus an und schiebt ihr Rad zwischen den parkenden Autos hinter mir durch den schmalen Vorgarten. Während ich weitergehe und mich umdrehe, tritt sie noch ein mal hinter einem Busch hervor, um ihr Rad in die offene Haustür zu schieben. Sie kommt vielleicht gerade von der Nachtschicht aus einer der ­Uni-Kliniken und ist wohl eine junge Ärztin oder Schwester. Da kümmert sie sich möglicherweise um hilfsbedürftige und kranke Menschen, die ihre Aufmerksamkeit wohl nötiger haben, als ausgerechnet ich. Ach ja - eine große, weiß umrandete Brille trägt sie - wohl als bewusst gewählten Makel, um zu verhindern, dass sich die Welt schon am frühen Morgen die Augen verblitzt an ihrer Schönheit. In einer Seitenstraße steuere ich gleich darauf ein ungewöhnliches Haus an. Es ist das einzige unrenovierte Gebäude weit und breit. Die Bausubstanz befindet sich etwa auf dem Stand von 1930 und neben dem Hauseingang prangt das Wort „Selbstschutztrupp“. Einige Fenster wurden allerdings schon modernisiert. Bei meinem ersten


Zustellversuch gelang es mir zunächst nicht, meine Zeitung loszuwerden, da draußen keine Briefkästen existierten. Ich steckte sie damals unter die Türklinke und bemerkte erst am folgenden Morgen, dass die Tür offen war. Ich trat ein und erlebte einen merkwürdigen Flashback. Es war dieser spezielle vertraute Altbaugeruch von etwas feuchtem Holz mit einem Hauch Kohlenheizungsmief und einer Priese Kanalisation, der mich schlagartig an den Beginn meines selbstständigen Lebens zurück beförderte. Ein paar faulige Zersetzungsprozesse waren sicher auch beteiligt an diesem Geruchserlebnis. Die Briefkästen stammten aus verschiedenen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. An ihnen klebte ein buntes Durcheinander von handgeschriebenen, aktuellen und fast abgefetzten alten Namensschildern, die sich mit halb abgerissenen und auch neuen Mitteilungen an die Hausgemeinschaft mischten. Es wurde zu Geburtstagen und Spieleabenden eingeladen und um Verständnis für partybedingten Krach gebeten. Der Hausflur sah schwer abgeschabt aus und war stellenweise beschrieben oder verziert. Draußen gab es abenteuerliche Klingelinstallationen, die mittels einer über dem Putz liegenden Kabelage betrieben wurden. Ich weiß, dass diese Häuser Refugien für Lebenskünstler und Studenten sind. Sie sind zum aussterben verurteilte Biotope und werden von einer bestimmten Klientel hoch geschätzt. Für mich verbindet sich mit diesen Eindrücken ein Gefühl der Wehmut, Vertrautheit, der verlorenen Freiheit und Sorglosigkeit. Andererseits sind da aber


auch der eigene Wandel und die Anpassung an eine neue Zeit. Eine Änderung der Sehgewohnheiten und das zunehmende Bedürfnis nach Wohnkomfort kamen mit den Jahren hinzu. Aber wie schön ist es doch, diese Idylle für einen ­Augenblick zu erleben, ohne sie Tag für Tag bewohnen zu müssen. Mach’s gut, alte Hütte! Schon morgen endet hier ein Schnupper-Abo und wer weiß, ob ich je wieder durch deine Tür treten werde.

DER SPERRMÜLLHAUFEN MEINER TRÄUME

Es geht hierbei nicht um gescheiterte Lebenspläne oder schmerzhafte Enttäuschungen, sondern um real existierendes Gerümpel vom Straßenrand. Es sind die mehr oder weniger großen Berge von Hausrat und Möbeln, welche mir ­allmorgendlich auf meiner Tour begegnen. Mittwoch ist Entsorgungstag in meinem Stadtteil und besondere Aufmerksamkeit gefordert. Ein gut sortierter, wohlproportionierter Sperrmüllhaufen sollte vor allem frisch errichtet, weitgehend ungeplündert und unberegnet sein. Eine interessante, nicht durchnässte Bücherkiste darf dabei sein und vielleicht ein praktisches Kleinmöbel oder Regal, um mich zu stoppen. Wenn mir am Abend zuvor keine ost­


europäischen Kleintransporter-Betreiber zuvor gekommen sind, kann ich auf meinen morgendlichen Rundtouren einen zeitlichen Vorsprung ausspielen. Mit diesen hauptberuflichen Sammlern ist manchmal nicht zu spaßen. Sie machen einem schon mal unmissverständlich klar, was sie von solchen Hobby-Trödlern wie mir halten. Dann heiß es, schnell Abstand gewinnen, um keine Faust unter der Nase zu riechen. Vor ein paar Tagen sah ich früh morgens im Vorüberfahren ein traumhaftes Bücherregal - sehr leicht gebaut, alt und sicher ein Tischler-Einzelstück. Wie so manches Mal dachte ich mir: „Da gehst Du gleich nach dem Frühstück hin und schaffst das gute Stück nach Hause“. Fast immer bin ich zu faul, doch dieses Mal fiel es mir doch wieder ein. ­Irgendwie spürte ich beim Frühstück, dass ich jetzt los marschieren müsste, wenn ich es mir noch sichern wollte. Mir war, als hörte ich es rufen: „Hol‘ mich! Erlöse mich jetzt - rette mich vor der grausamen Sperrmüllpresse!“. Ich ließ eine angebissene Leberwurststulle fallen, schnappte meinen Hackenporsche und stürzte aus dem Haus. Nach einem viertelstündigen Fußweg hörte ich an der Ecke hinter der sich mein Ziel verbarg schon das typische Container-Rumpeln. Tatsächlich - es stand nur noch mein Regal unversehrt auf dem Rasen. Als der grobschlächtige, neonfarbene Sperrmüll-Scherge es packte, machte ich lautstark auf mich aufmerksam, indem ich ihn anrief und weithin sichtbar mit meinem zusammengefalteten Transportgerät wedelte. Ich


lief los und wollte zeigen, dass ich gekommen war, um gerade dieses Objekt zu bergen. Als ich vor ihm stand, legte er mein Regal gerade wie geistesabwesend in die Presse, nahm mir den Hackenporsche aus der erhobenen Hand und warf ihn hinterher. Ich war völlig baff, erklärte aber gleich mein Anliegen. Er warf mir nur einen leeren Blick zu und langte beides wortlos wieder heraus. Ich zog froh davon. Vielleicht haben ja auch die neonfarbenen Grobmotoriker vom Entsorgungstrupp noch über dieses Erlebnis während ihrer Frühstückspause gelacht. Offiziell genehmigte- und illegale Sperrmüllhaufen halten sich etwa die Waage. Die „Offiziellen“ verschwinden wie beschrieben - noch am Vormittag mit etwas Gepolter in einem Müllwagen, die „Inoffiziellen“ haben dagegen einen längeren Leidensweg vor sich. Der Prozess ihrer Verwilderung spielt sich jeden Morgen wie eine Fortsetzungs­ geschichte vor meinen Augen ab. Ein paar begehrte Einzelstücke verschwinden schnell, der übrige Kram aber wird verschmutzt, durchnässt, breit getragen und zertrampelt. Oft bleibt am Boden nichts weiter als ein schauriger Mulch zurück. Eine traurige Lebenserwartung von zwei Wochen hat so ein unangemeldeter Sperrmüllhaufen im Durchschnitt, bis sich jemand seiner erbarmt. Auch komplette Haushalte mit allem nur vorstellbaren Kleinkram begegnen mir. So endet manchmal der Nachlass eines Menschen in ­Würdelosigkeit. Ich kann nur jedem raten, in den letzten Willen Kontaktdaten und Öffnungszeiten des örtli-


chen Entsorgungsbetriebes aufzunehmen. Mehrfach meinte ich auch einen Zusammenhang zwischen dem Ende eines Abonnements und dem Entstehen eines Sperrmüllhaufens zu erkennen. So sollte ich also nicht den Menschen kennenlernen, dem ich über Jahre allmorgendlich die Zeitung brachte, sondern nur noch auf seine lieblos aufgetürmten Hinterlassenschaften stoßen? Vielleicht bedeutete dies aber auch nur den Umzug in ein Seniorenheim und nicht das Ende eines Lebens. Es ist also nicht ganz auszuschließen, dass ein treuer Abonnent sein Zentralorgan auch weiterhin bezieht. Meine eigene Wohnung ist so eine Art „Sperrmüll-Durchlauf-Veredler“. Regelmäßig g ­ liede­re ich Möbelstücke und Gebrauchsgegenstände in meinen Haushalt ein und ­stoße auch wieder physisch oder moralisch abgenutzte Teile ab. Manche seelenlose Fundstücke schaffen es einfach nicht, meine Sympathie zu gewinnen oder erweisen sich als nutzlos. Ein mal im Jahr bestelle ich mir deshalb eine eigene Sperrmüllabfuhr. Am Abend zuvor stapele ich auf dem Bürgersteig unter meinem Wohnzimmerfenster die ausgesonderten Teile auf und höre oft schon wenig später das geräuschvolle Wühlen der Sammler. Nicht selten sind schon am Morgen der Abfuhr fast alle Teile wieder in dem geheimnisvollen, ewigen Sperrmüll-Kreislauf ­verschwunden. Dem geübten Sammler ist es möglich, den Sperrmüll schon von weitem und ganz grob verschiedenen geschichtlichen Epochen zuzuordnen. Da gibt es die immer seltener


werdenden Vertreter der Vorkriegszeit, in denen man neben Möbeln auch mal ein wertvolles Buch finden kann oder das Gerümpel der frühen DDR-Jahre mit seinen ganz typischen Produkten. Im Gegensatz zu den Haufen der DDR-Endzeit zeichneten sich deren Konsumgüter noch durch eine gewisse Solidität aus. Typisch für die letzten DDR-Jahre sind hässliche Spanplatten-Möbel mit aufgeklebtem Foto-Furnier. Bei einem Blick auf das Preisschild an der Rückwand stockt einem der Atem. Nicht selten kostete so ein unschönes Möbelteil einen halben Monatslohn. Sehr häufig treffe ich auf die typischen, studentischen IKEA-Sperrmüllhaufen der dritten oder vierten Nachwende-Wegwerf-Generation. Deren Angebotspalette ist recht gleichförmig, sodass ich manche Teile mit ihrem IKEA-Namen ansprechen kann. Die Möbel sehen oftmals fast unbenutzt aus. Ein Kapitel für sich sind die Bücherkisten. Sie stehen vor Hauseingängen, in Bushaltestellen und in irgendwelchen regengeschützten Nischen. Sie gehören einerseits zum Thema „illegale Müllentsorgung“, sind andererseits aber auch wichtiger Zulieferer von Literatur. Wie auf Flohmärkten ist das Angebot völlig dem Zufall überlassen. Diese Kisten lassen oft Rückschlüsse zu auf Geschlecht, Bildung, Beruf und persönliche Probleme der früheren Besitzer. So finden sich Ratgeber-Titel wie „Dein Mann, das unbekannte Wesen“ neben „Anleitung zum Entlieben“; ganze Esotherik-Sammlungen und brisante Ladungen an Erziehungs-Ratgebern stehen neben einem Kilo Konsalik-Werken.


DAS GEHEIME LEBEN DER PILZE

Als Pilzfreund kennt man den arroganten Blick des entgegenkommenden Sammlers, der einen mit Steinpilzen gefüllten Eimer direkt an einem vorbei aus dem Wald trägt. Gerade eben hatte man selbst noch klammheimlich zwei unansehnliche Röhrlinge zurück ins Gebüsch geschmissen. „Na, nichts gefunden?“ scheint der stumme Blick des Gegenübers zu fragen. „Ach, ich l­aufe hier nur so zufällig durch die Gegend“ antworte ich genauso stumm. „Wissen ist Pilzfund“ - so drückte es ein berühmter Denker einst sinngemäß aus. Und ohne Pilzwissen nutzen einem die aufgefundenen Exemplare auch nichts. So manch Kundiger kann berichten von Bodenbeschaffenheit, Mondphase, Baumbewuchs und Witterung, die ein Pilzwachstum beeinflussen können, aber trotzdem bleibt die ganze Sache eine unberechenbare Angelegenheit. Es ist eben von Geheimnissen umgeben, das Leben der Pilze. Den größeren Teil davon verbringen sie unter Laub und Unterholz, noch dazu versteckt in schwer zugänglichen Forsten. Auch ist nur der oberirdische Teil dieser geheimnisvollen Lebensform zu erkennen. Oft breitet sie sich auch unter der Oberfläche als ein weit verzweigtes Wurzelsystem oder „Myzel“ aus. Der Sammler kann in der Regel nur einen sehr kurzen Moment des oberflächlichen Pilzlebens


mitverfolgen. Nur selten kennt er geheime vielversprechende Stellen, an denen in jedem Jahr aufs Neue die gleichen Sorten zu finden sind. Auch entziehen sich merkwürdigerweise die besonders begehrten Sorten wie Steinpilze oder Pfifferlinge einem gewerblichen Anbau. Alljährlich, im Hochsommer und Herbst begegne ich ganz besonders mysteriösen Exemplaren während meiner morgendlichen Zustell-Runden. Mit großer Zuverlässigkeit wachsen sie an den gleichen Stellen - auch dann, wenn anderswo pilzmäßig überhaupt nichts los ist. Sie gehören einer sehr seltenen und nur schwer bestimmbaren Art an und hatten es mal fast bis in meine Bratpfanne geschafft. Dann habe ich gezögert, da ich mir, trotz Einholung von Expertenmeinungen, nicht sicher war bezüglich ihrer Essbarkeit. Es sind sehr schöne und große Pilze, die zur Familie der Hexenröhrlinge gehören, jedoch nicht die häufiger vorkommenden „Netz­stieligen“ oder „Flockenstieligen“. Sie treten nur in Gesellschaft auf, das heißt, es sich findet an einer Fundstelle ein Überblick auf verschiedene Entwicklungsphasen. Durch mein allmorgendliches Eintreffen am lebendigen Versuchsaufbau ergibt sich die perfekte Beobachtungssituation für die Erforschung eines kurzen Pilzlebens. Wie lange währt dieses, wie sieht eine bestimmte Sorte in den verschiedenen Phasen der Alterung aus? In welcher Jahreszeit wachsen welche Pilze, wie wirkt sich die Witterung auf Wachstum und Erscheinung aus? Meine in ehrenamtlicher Forschungstätigkeit gewonnenen Erkenntnisse über das


geheime Leben werde ich erst mal für mich behalten. Sie würden hier zu weit führen. Offensichtlich scheint aber ein städtisches Milieu mit seinem größeren Licht- und Wärmeangebot das Pilzwachstum zu begünstigen. So manches Mal habe ich schon vergeblich meinen Pilzwald aufgesucht, während in der Stadt die Saison schon begonnen hatte. Sehr auffällig ist auch die unterschiedliche Lebensdauer des sichtbaren Pilzkörpers bei verschiedenen Arten. Während die großen und schönen Hexenröhrlinge - je nach Witterung - innerhalb einer Woche auswachsen und unansehnlich werden, hält sich ein unscheinbarer Reizker sehr viel länger in nahezu unverändertem Zustand. Im Herbst besuche ich die alljährliche Pilzausstellung im Botanischen Garten, welchen ich auf meinen morgendlichen Runden streife. Sie zeigt eine riesige Anzahl verschiedener frisch gesammelter Pilze und ist eine der größten Veranstaltungen ihrer Art in ganz Deutschland. Ich bin jedes mal voller Bewunderung für die Leistung der ­Organisatoren. Untrennbar verbunden mit dieser ganz eigenen herbstlichen Stimmung sind auch die Krähenvölker, welche Parkanlagen wie den Botanischen Garten und Alleen meines Stadtteils bewohnen. Ich werde jeden Morgen an einer bestimmten Ecken mit großer Zuverlässigkeit aus den kahlen Bäumen begrüßt. Zunächst höre ich die diensthabende Krähe, welche mein Kommen ankündigt. Gleich darauf stimmt die ganze Sippschaft ein und krächzt ihren vielstim-


migen Morgenruf: ­„Da kommt einer, da kommt einer“ und „Was will er hier, was will er hier?“ und schließlich: „Das sind unsere Bäume, das sind unsere Bäume“. OK, denke ich - ihr könnt sie behalten, eure Bäume. Gott sei Dank wohne ich nicht in eurer Nachbarschaft. Dann würde ich vielleicht täglich, wie die verzweifelte Rentnerin da oben, am offenen Fenster stehen und versuchen, euch durch lautes Klatschen und Rufen zu vertreiben. Gelegentlich setzt die ganze Krähen-Kommune zu einem Rundflug an, was wiederum Unruhe bei der Krähen-Nachbarschaft und anderen Vogelarten erzeugt. Zu bestimmten Zeiten mischt sich unter das dunkle und rauhe Krächzen ein vielstimmiges, helles Rufen. Das scheinen die Junior-Krähen der Kolonie zu sein.

DER SAMSTAGMORGEN ...

…ist auch ein Sonderfall. Schon wenn ich auf die Straße trete, scheint die Stimmung verändert. Es fehlen die gewohnten Motorengeräusche von der benachbarten Hauptstraße. Auch viel weniger Menschen begegnen mir. Diejenigen, die man dennoch sieht, bewegen sich zumeist in gemächlichem Tempo, da sie nicht zur Arbeit müssen, sondern nur Brötchen holen oder den Hund vor die Tür lassen. Die


Geräuschkulisse wird mehr von den Möwen, Krähen oder Elstern beherrscht. Da hinten steht ein Mensch scheinbar unmotiviert in Gegend herum und schaut gelangweilt in den Morgen. Sein Herumstehen an diesem Ort, zu dieser Zeit, ergibt zunächst keinen Sinn. Oft sieht man nicht das tierische Anhängsel, was durch Autos verdeckt wird oder anderswo, außerhalb des Sichtbereiches herumschnüffelt. Gleich darauf gesellt sich der Hund wieder zum Herrchen und das Rätsel löst sich. Natürlich „müssen“ Hunde auch werktags - am Samstagmorgen fallen Hundebesitzer und auch die Brötchenholer aber mehr auf, da es keinen normalen Berufsverkehr gibt. Insgesamt herrscht die friedvolle Wochenendstimmung, die ich liebe. Der Beginn des Wochenendes belebt aber auch die Clubszene in meinem Stadtteil spürbar. Die jungen Menschen suchen oft erst nach Mitternacht den Club auf und verlassen ihn nicht selten erst, wenn es längst hell ist. Irgendeine geheimnisvolle Macht zwingt sie, spät loszugehen und erst heimzukehren „…wenn die Sonne blendet und die Vögel brüllen“. Manche wollen auch jetzt noch nicht nach Hause, sondern suchen nur einen Ort, wo sie die kommenden trockenen Stunden überstehen können. Bei einem Kaffee in der Bäckerei lässt sich gut die Zeit bis zur Öffnung irgendeines Supermarktes oder Lokals totschlagen. Wenn ich unterwegs bin, driften mir jeden Samstagmorgen aus verschiedenen Richtungen die Party-Überreste der Nacht entgegen. Sie treffen sich an einem S-Bahnhof,


wo es manchmal zu fröhlichen und fast immer rechten lauten Begegnungen kommt. Oft sind es Gruppen lärmender Studenten oder singender Umlandbewohner, die mit unterschiedlichem Alkoholisierungsgrad und auch in Splittergruppen über die S-Bahnbrücke schwanken und manchmal stehen bleiben. Zwischen diesen Grüppchen gibt es über große D ­ istanzen rege Kommunikation, die durch Grölen und Kreischen gewährleistet wird. Darunter mischen sich auch Fußball-FanGesänge, die man aus Mangel an anderem Liedgut auch für den Heimweg am Samstagmorgen nutzt. Auch dicht beieinander gehende oder stehende Party-Heimkehrer ­ reden in übermäßiger Lautstärke miteinander, sodass man sie auch in einiger Entfernung noch gut verstehen kann. Schuld daran sind möglicherweise das überlaute ­Party-Milieu, in dem sie Stunden zugebracht haben und der Alkohol. Manche haben sich trotz der vorgerückten Stunde noch jede Menge Energie, Lebenslust oder Frust bewahrt, um noch ein paar Spuren im Stadtteil zu hinterlassen. Nicht selten werden so alle Mülltonnen am Wege umgestürzt. Dabei ist es verwunderlich, mit welcher Gründlichkeit, ja Genauigkeit die jugendlichen Randalierer vorgehen. Ich nenne sie für mich „Jugendneuererbrigaden“ - ein Begriff aus meiner eigenen Jugendzeit. Sie wollen ihr Umfeld möglichst vollständig und nachhaltig verändern. Auch gläserne Haltestellen müssen manchmal dran glauben. Manche von diesen Heimkehrern mögen etwas „eingeworfen“ haben


und sind deshalb vielleicht etwas übermotiviert. Ab und an wandern auch gut erzogene Angehörige geistes­ wissenschaftlicher Fakultäten in Gruppen oder Paaren durch den hellen Morgen und diskutieren scheinbar stocknüchtern aber engagiert gesellschaftliche Probleme. „Ach Du, ich würde noch ein Stück weit ... unsere Agenda hinterfragen ... sozio­­kultureller Kontext .... Migrant:innen ... spannendes Projekt ... “ schnappe ich im Vorüberfahren auf. Manchmal finden auch kleinere zwischenmenschliche Dramen statt: Ein gekränkter Angetrunkener läuft schimpfend hinter seiner Freundin her, die weinend und verzweifelt davon stapft. Ein Pärchen steht bewegungslos und eng umschlungen am Straßenrand, während ich diskret vorbei rolle. Minuten später stehen sie, während ich den Block umrundet habe, immer noch dort - stumm und völlig bewegungslos. Im letzten Frühjahr sah ich morgens um 6.30 Uhr einen nur halb bekleideten jungen Mann bei nicht viel mehr als 5° C mit nacktem Oberkörper am Straßenrand. In Sichtweite des Studenten-Clubs wartete er seelenruhig auf die erste Straßenbahn. Vielleicht war es ein versprengter Fußballfan, den es nach einer halbbekleideten Siegesfeier des Vortags direkt in die Disko verschlagen hatte. Kürzlich schaute mir ein junger Mensch von einer Haustür aus irgendwie erwartungsvoll entgegen. Ich sah in ihm den Abonnenten, der die günstige Gelegenheit nutzen wollte, seine Zeitung zu bekommen. Also hielt ich ihm


das Druckerzeugnis, welches in einen der Briefkästen des Hauses gehörte, unter die Nase und fragte: „Die TAZ gefällig?“. Doch er - halb überrascht, halb enttäuscht - lallte nur vorwurfsvoll. Ich hörte mit Mühe heraus, dass er zu seiner Freundin wolle und nicht in das Haus käme. Ich drehte mich weg, warf die Zeitung ein und ließ ihn sein Unglück verarbeiten. Er dachte wohl, ich sei ein Bewohner des Hauses und würde gleich die Tür aufschließen. Während ich mich wieder aufs Fahrrad schwang, war er, weit vorn über gebeugt, mit Trockenkotzen beschäftigt. Das klang wirklich sehr unschön. Es ist auch fraglich, ob sich die Freundin über einen Besuch gefreut hätte. Natürlich benehmen sich auch viele morgendliche Heimkehrer ganz unauffällig oder wirken manchmal erschöpft und bedrückt. Einmal wurde die Sache allerdings lebensgefährlich. An einem Samstagmorgen im Spätherbst bemerkte ich auf der baumbestandenen, schlecht beleuchteten Auffahrt zur Eisenbahnbrücke, mitten auf der Fahrbahn, den großen, dunklen Schatten eines schlafenden Partygängers. Ich wechselte die Straßenseite, rüttelte an der Schulter des Mannes und sprach ihn laut an. Auch ein Kraftfahrer, der gerade an ihm vorbei gefahren sein musste, kam zu Fuß zurück gelaufen. Ohne größere Probleme erhob sich der ruhebedürftige Mensch und trottete etwas schwankend hinter mir her. Während wir gleich darauf gemeinsam an einer Ampel warteten, führte er halblaute Selbstgespräche und bearbeite intensiv sein Mobiltelefon.


Manchmal versucht das Partyvolk, Kontakt mit mir aufzunehmen, was immer sehr viel harmloser ist, als zuvor befürchtet. Einmal gab es den Versuch, mir bei strömendem Regen den Schirm abzukaufen - es kam allerdings kein Geschäft zustande. In einem anderem Fall sollte ich spontan zu einem verzwickten aktuellpolitischen Problem Stellung beziehen, wobei ich mit Sachkenntnis überzeugen konnte. An einem Samstag morgen traf ich einen Partyheimkehrer und ND-Abonnenten (eine sehr seltene Kombination) vor seiner Haustür an. Er erkannte in mir den Zusteller des Neuen Deutschlands und schmetterte mir den ersten Satz einer revolutionären Losung entgegen. Ich konnte aufgrund meiner DDR-Vergangenheit mit dem zweiten Teil der Losung antworten. Wir freuten und beide und ich erhielt ein anerkennendes Schulterklopfen. Möglicherweise problematische Begegnungen machen sich oft schon lange vorher durch Radau bemerkbar. Ganz selten beobachte ich von Weitem Szenen, bei ­denen irgendein Eifersuchtsdrama vor der Party-Location lautstark mit viel Geschrei auf der Straße ausgetragen wird. Mehrfach geschah es auch, dass sich Party-­ ­­ Heimkehrer durch mich bedroht fühlten. Ich steuerte kurz vor ihnen ihren Hauseingang an oder trat überraschend aus ihrem Vorgarten. Sie ahnten nicht, dass sie selbst die Eindringlinge waren, welche meine bewährte Morgen-Routine störten.


ABCHILLEN AM MAG-PLATZ ODER GLEICH BEKOMMT OPA SEINE JUNGE WELT

Das Epizentrum des frohen Jugendlebens im Kiez befindet sich in lauen Sommernächten am „Wasserklops“, einem Brunnen am Rande eines gemütlichen Vorstadtplatzes mit einigen Sitzgelegenheiten. Eine große Granitkugel speit einen etwas müden Wasserstrahl im Bogen in eine Granitumfassung, was offensichtlich hier ansässige Biertrinker zur Nachahmung animiert. In diesem Umfeld verteile ich ausschließlich die ­ l inksextremistische Jugendzeitschrift Junge Welt (dieses Prädikat hat sie vom Bundesverfassungsschutz erhalten). Besonders in den Pandemie-Sommern traf man sich auf dem Platz, da Kneipen und Klubs geschlossen hatten. Auch andere zentrale Orte des Stadtteils sind beliebte Treffpunkte an denen es besonders an Wochenenden hoch her geht, doch am Mag-Platz mit dem Brunnen, nahe der Kirche, ist die politisch fortschrittliche Schluckspecht-Fraktion b ­ eheimatet. Dort passiert es auch, dass ich für die Verteilung der Jungen Welt angesprochen und gelobt werde. Morgens um 6.30 Uhr sitzt da noch gutgelauntes Volk in einer ziemlich vermüllten Ecke. „Gute Zeitung!“ heißt es und Daumen nach oben. Ich mache ein neutrales Gesicht und erinnere mich an Zeiten, in denen ich das


Blatt selbst abonnierte hatte. Der einzige Grund dafür war, dass man vor über 40 Jahren in jenem totalitären Staat mit realexistierender Mangelwirtschaft praktisch nichts anderes bekommen konnte. Ich erinnere mich auch an ausgeschnittene Zeitungsartikel an meiner Jugendzimmer-Wand, versehen mit roten Unterstreichungen und jeder Menge wütender Ausrufezeichen. Die meisten Artikel stammten vom damaligen Chefredakteur, den ich als persönlichen Feind und einen der Totengräber meiner DDR betrachtete. Die jungen Menschen am Brunnen wissen wenig von Indoktrination, Demagogie und Bevormundung durch eine Diktatur. Sie diskutieren ganze Nächte hindurch lautstark Fragen der Weltrevolution im allgemeinen und der eigenen Situation im Besonderen. „Her mit dem schönen Leben“ heißt eine ihrer P ­ lakatlosungen oder „Häuser kaufen und Nazis boxen“ (der Hauskauf ist ihnen tatsächlich gelungen). Einige von Ihnen sind sicher an dem alternativen Klub- und Wohnprojekt gleich um die Ecke beteiligt, das von einem Verein getragen wird, der auch mir vor über 30 Jahren zur Legalisierung einer schwarz bewohnten Bruchbude verholfen hat. Nur wenige Meter sind es bis zum Wohnprojekt, welches den Ehrgeiz hat, einen Hauch von Hamburger Hafenstraße in meine verträumte Heimatstadt zu bringen. Fast immer hängen Banner mit kämpferischen Losungen unter den Fenstern. Die Fassade ist mit re-


volutionären Plakaten und Graffitis versehen. Da wird zur Befreiung des einen oder anderen Freiheitskämpfers oder zum Gedenken an Märtyrer aufgerufen oder die Evakuierung eines Flüchtlingscamps gefordert. Ich habe den begründeten Verdacht, dass diese Klientel auch für die unfassbare Menge an Tags, Losungen und Malereien im Stadtteil verantwortlich ist, die man nicht dem heimischen Fußballklub zuordnen kann. In ihren Briefkasten werfe ich ein Neues Deutschland und überlege kurz, was wohl die Genossen vom Zentralkomitee der SED - dem früheren Herausgeber der Zeitung - zu dieser etwas verwahrlosten Idylle gesagt hätten. Es gibt aber auch ordnende Kräfte, denn immer wieder sehe ich rührende Botschaften, die vor der Tür herumstehende Raucher daran erinnern, dass das Wegschschnippsen von Kippen nicht im Sinne einer Weltverbesserung sei. Auch mehrere Ascheimerchen mit entsprechenden Anweisungen wurden bereitgestellt. Gerührt haben mich auch die an den Bänken am Brunnen angeklebten Briefe genervter Anwohner. Sie beklagen in ihren laminierten und zum Teil sogar gereimten Texten das Urinieren in den Brunnen und dass Kinder wegen Lärmbelästigung nicht einschlafen könnten. Auch appellieren sie an das revolutionäre Gewissen der Schluckspechte und offenbaren die eigene fortschrittliche Grundhaltung. Zwei, drei Tagen bleibt so ein Brief unversehrt. Dann wird er mit an-


züglicher Edding-Kunst verziert und einen Tag später abgerissen. Die Verzweiflung ist aber so groß, dass sich nur zwei Tage später ein neuer laminierter Brief an einer der Bänke klebt. Zum Thema „rührend“ passen auch die Plakate zum Kampftag der Arbeiterklasse, dem 1. Mai. Auf ihnen wird die Arbeiterschaft zu mehr Klassenbewusstsein und zur Teilnahme an revolutionären Kundgebungen aufgerufen. Die weltanschauliche Kluft zwischen revolutionären Bürgerkindern und deutschem Proletariat war nie so groß wie heute und ich habe den Verdacht, dass man die vom Kapitalismus bedrückte Arbeiterschaft zu ihrem Glück wohl wiedermal zwingen müsste. Eine selbstironische TAZ-Karikatur aus den Anfangsjahren der Zeitung mit der Unterschrift „Arbeiter, TAZ lesen!“ und „TAZ-Leser, arbeiten!“, kommt mir in den Sinn, wenn ich ein paar Meter weiter ein Exemplar dieser Zeitung in einen Briefkasten werfe. Seit einiger Zeit spiegelt ein witziges, übergroßes Fassadenbild das feuchtfröhliche Geschehen am MagPlatz mit dem Brunnen. Es misst etwa 20 x 4 Meter und zeigt Walt Disneys Panzerknacker als lustige Zecher und auch den Brunnen selbst. Diese großen und oft sehr kunstvollen Graffitis sind ganz typisch für den Stadtteil. Sie sind, wie der großflächige Fassadenschutz aus bunten Kacheln, eine Abwehrreaktion der Hausbesitzer gegen unerwünschte Wandmalereien.


Mich würde interessieren, ob dieses stark überzeichnete Spiegelbild irgendwelche Rückwirkungen auf die reale Szene auf dem Platz hat. Schmeckt das Bier besser oder schlechter, wenn man ständig auf die eigene Karikatur schauen muss? Ich selbst stehe irgendwie zwischen den Fronten und habe Verständnis für das junge Volk, das ich etwas um sein einfaches Weltbild und seinen Idealismus beneide. Und: Irgendwo muss man schließlich abhängen und gegen irgendetwas soll auch rebelliert werden - wo kämen wir sonst hin? Auch kann ich die Abneigung gegen allzu saubere und glatte Fassaden nachvollziehen. Ich habe mich selbst nur mit Mühe an diese pastellfarbene, wärmegedämmte, gesamtdeutsche „schöne, neue Welt“ gewöhnt. Als vom Lärm und Schmierereien betroffener Anwohner oder Hausbesitzer würde ich das vielleicht ganz anders sehen. Ich erinnere mich auch an die schon erwähnte Bruchbude, die ich fast 10 Jahre mit einigen Freunden bewohnt habe. Für den Senior und einzigen „normalen“ Bewohner des Hauses waren wir wohl auch so eine Art Landplage, da wir nur alle paar Jahre die Treppe fegten und unsere Kippen vor‘s Haus warfen. Insgesamt fühle ich mich recht wohl in dieser Gegend. Wenn es mir mal zu bunt wird, erinnere ich mich daran, dass es auch anders kommen könnte. Gott sei Dank gibt es hier keine Nazi-Läden oder ­ G latzen-Kommunen. Ich bin


auch fotografischer Sammler origineller ­G raffiti-Kunst - ­s owohl der Bestellten, als auch der Illegalen. Wenn ich am entgegengesetzten Ende meines Reviers die letzten Zeitungen zustelle, schiebe ich gerne mein Rad und stelle mich schon mal auf einen gemächlichen Heimweg ein. Eines Morgens bemerkte ich hinter mir einen Vater mit Kind und Hund, welcher wohl Gassi geführt wurde. „Guck, jetzt bekommt Opa seine Junge Welt“ sagte der Vater zu seinem Kind. Beim Lesen der Vornamen meiner Abonnenten hatte ich schon vermutet, dass ein nicht geringer Teil schon im Rentenalter sein müsste. Trotzdem bewegt und amüsiert mich diese Aussage irgendwie. Wie unterschiedlich sind doch die Hauptzielgruppen dieser Zeitung und wie eigentümlich die politischen Verhältnisse in meiner Heimatstadt, in der die Ex-SED bei Kommunalwahlen immer stärkste Partei wird. Irritierend finde ich, dass ich hier offenbar als Zusteller bekannt bin, obwohl ich morgens so gut wie nie Menschen vor dieser Haustür treffe und doch eigentlich lieber unerkannt durch den Stadtteil huschen möchte. Bin ich möglicherweise selbst längst ein Stadtteil-Original? Ich will, trotz gelegentlicher Sympathien, auch nicht unbedingt mit der politischen Ausrichtung der von mir verteilten Zeitungen identifiziert werden und musste gelegentlich schon Aufklärungsarbeit in dieser Hinsicht leisten.


EIN TRAURIGER ALTER MANN

Er steht kurz vor Ende meiner Tour vor seiner eigenen Haustür und erwartet ungeduldig den Transporter des Roten Kreuzes. In seiner Wohnung kann er es offenbar keinen Augenblick länger aushalten. Sicher wird er zu einer Seniorentagesstätte oder Tagespflege gebracht. Ist es die Ungewissheit des Eintreffens des Wagens, der seine Unruhe erzeugt? Ist er schon lange vorher bereit zum Aufbruch und kann den Augenblick kaum erwarten? Vielleicht ist die Einsamkeit seiner Wohnung besonders quälend in den Stunden morgendlicher Schlaflosigkeit und vielleicht die Freude über einen Tag unter Menschen groß. Sein Gesicht aber zeigt Traurigkeit und sein Blick ist vorwurfsvoll und abweisend, so als wäre mein „Guten Morgen“ eine Zumutung. Alles an ihm ist Vorwurf, als wolle er sich beschweren über die Einsamkeit des Alters, über Kinder, die sich nicht kümmern, über Zeiten, die immer verrückter und ungerechter werden. Und jetzt grüßt dieser verdächtige Kerl mit den Zeitungen auch wieder wie jeden Morgen, wenn er in den Vorgarten einbiegt. Ich kann mich nur schlecht abfinden mit seiner abweisenden, vorwurfsvollen Haltung und möchte ihn für e ­ inen Moment aufrütteln aus seiner Erstarrung. Kurz sehe ich mich selbst in ihm, der ich schon heute manche seiner Züge trage.


DIE HELDINNEN DES MORGENS

Es sind die radelnden Muttis, die ihre Kinder vor der Arbeit in den Kindergarten oder die Schule bringen. Auch einige Papas mit Nachwuchs sind anzutreffen. Auffällig sind die rollenden Kleinfamilien. Ich sehe oft im Vorüberfahren schon die Vorbereitungen zum Aufbruch, die sich vor den offenen Haustüren abspielen. Zwei Kinder fahren da schon unternehmungslustig davon, während Mama noch ihr Fahrrad richtet, das Kleinste in den Kindersitz befördert, oder noch Räder die Kellertreppe hoch wuchtet. Frühe, geräuschvolle Vorbereitungen des Aufbruchs spielen sich oft noch hinter geschlossenen Haustüren ab und da ich jeden Tag ungefähr zur gleichen Zeit vorbeikomme, kenne ich die jeweilige Fortsetzung der Handlung. Ein bunter Fuhrpark der verschiedensten Dreirad-, Laufrad-, Kinderrad- und Rollermodelle strebt durch mein Viertel den verschiedenen Tagesstätten und Schulen zu. Dazu kommt manchmal sogar ein Hund, welcher an der Leine neben dem Fahrrad läuft. Jede Anführerin so einer Expedition braucht Nerven wie Stahlseile und gute Puste für diese Sportart. Auch hört nicht jedes der Kleinen beim ersten Zuruf. Da trudelt schon mal Brüderchen in Richtung Straße davon, während Schwesterchen sich mit einem hohen Bordstein auseinandersetzt. Ein Kleinkind im Kindersitz weint verzweifelt, während die Mutter sich in den Sattel schwingt. Dabei spricht sie beruhi-


gend auf das Kind ein, was so vergeblich ist, wie den Lauf der morgendlichen Zeit aufzuhalten. Manchmal ist allerdings auch etwas Leichtsinn im Spiel beim morgendlichen Kindertransport und Fahrradbeleuchtung auch im Berufsverkehr und bei Dunkelheit offenbar keine Selbstverständlichkeit.

STUDENTISCHE KAMIKAZE-BIKER

Es gib einige gefährliche Ecken auf meiner morgendlichen Runde. Die größte Gefahr droht dabei von rasenden ­Studenten, welche die Bürgersteige in Nähe der Kliniken als Einflugschneisen nutzen. Ob sie die komfortable ­Radspur entlang der Hauptstraße wegen fehlender Fahrradbeleuchtung meiden? Oder brauchen sie den Kick ­eines Beinahe-Crashs? Vielleicht schult die Gefahr ja das Reaktionsvermögen des jugendlichen Rebellen und Großstadt-Bikers. Patienten-Nachschub für die nahen Kliniken wird ­ohnehin immer gebraucht. Jedenfalls muss ich mich höllisch vorsehen, wenn ich aus einer der mannshohen ­Hecken der Vorgärten trete, um meine Runde fortzusetzen. Es empfiehlt sich dabei, zunächst langsam den Kopf aus dem Gebüsch zu schieben oder gut sichtbar mit einem weißen Taschentuch zu wedeln. Die müde vor sich hin funzelnden Laternen


stehen weit entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite und leisten keinen erhellenden Beitrag. Am Beginn dieses gefährlichsten Abschnittes meiner Tour befinden sich die Räumlichkeiten einer Fahrschule. In e ­ inem Fenster steht ein von hinten beleuchtetes Gerippe mit dunkler Sonnenbrille auf dem Schädel, das passenderweise für einen Ersthelfer-Kurs Reklame macht. Auch mitten auf dem nahen Gehweg kann es einen zu jeder Tageszeit erwischen. Ein unüberlegter Schritt zur Seite, eine kurze Richtungsänderung kann dem Fußgänger einen völlig überraschenden Zusammenstoß aus dem Hinterhalt bescheren. Mancher ­Biker hat vielleicht auch den alten Fahrrad­kurierEthos verinnerlicht, nach dem Fußgänger nur lebende Slalomstangen und Verkehrsregeln lästige Auswüchse des verachtenswerten kapitalistischen Ausbeutersystems seien. Da ich selbst begeisterter Radfahrer bin und nie ein Auto besaß, sind mir solche Gedanken nicht ganz fremd. Das Geniale daran ist, dass man sich trotz Blödheit und Rücksichtslosigkeit nur durch die Wahl des richtigen Verkehrsmittels moralisch überlegen fühlen kann. Bei jungmännlichen Fahrradfahrern kommt auch der Aspekt der Coolness hinzu. In einem gewissen Alter ist es manchmal notwendig, beide Hände vom Lenker zu nehmen und sie, in hoch aufgerichteter Sitzhaltung, beim Fahren nach Möglichkeit in den Hosentaschen zu vergraben. Dabei muss man etwas weltabgewandt drein schauen, so als ob alle Passanten und die Existenz des Universums ganz


allgemein eine Zumutung wären. Besonders dick aufgetragen wird von den jungen MTB-Fahrern, welche von ihrem selbstgebauten Parcour im nahegelegenen Stadtwald in die Vorstadt herunter rollen. Da werden Lenker hochgerissen und hemmungslos alberne Kunststücke aufgeführt. In solchen Augenblicken tue ich immer so, als ob es auf der entgegengesetzten Straßenseite etwas Interessantes zu entdecken gäbe und schaue demonstrativ in die entgegengesetzte Richtung. Man sollte diese jungen Menschen nicht in ihrem riskanten Verhalten bestärken. Auch Wettkämpfe müssen manchmal spontan auf dem Rad ausgetragen werden. Die Wettkampf-Problematik betrifft leider auch mich selbst. Am frühen Morgen beherrsche ich meinen inneren Teufel ganz gut, aber tagsüber kann ich für nichts ­garantieren. Neben der männlichen Biker-Variante gibt es auch einen weiblichen Typus des fahrradfahrenden Leichtsinns. Die Gefahr steigert sich, wenn mehrere miteinander plaudernde Radlerinnen beteiligt sind. Fehlende Beleuchtung und Smartphone-Nutzung während des Fahrens spielen immer wieder eine Rolle. Eine kritische Situation entsteht, wenn ein großer, fröhlicher studentischer Feierabend-Pulk nach Ende der Vorlesung den Berg vor der benachbarten Uni-Klinik in Richtung Kreuzung herunter rollt. In diesem Moment sind alle Verkehrsregeln außer Kraft gesetzt und höchste Aufmerksamkeit geboten. Auch Mobiltelefone nutzende Fußgänger, ob Klinikpersonal, Stu-


denten oder Patienten, bilden eine Gefahrenquelle. Einige benehmen sich wie Schlafwandler und laufen mir gelegentlich direkt vor das Fahrrad. Es scheint ein stark gesteigertes Mitteilungsbedürfnis nach dem Verlassen der Kliniken zu geben. Ich selbst bin natürlich ein Vorbild in Sachen Vorsicht und Rücksichtnahme. Noch nie kam es im Rahmen meines Minijobs zu versicherungs­ relevanten Vorfällen oder Verletzungen bei anderen Verkehrsteilnehmern. Aber wo gehobelt wird, da fallen... oder vielmehr, wo unter Zeitdruck wichtige Dinge erledigt werden sollen, müssen gelegentlich Opfer gebracht werden. Jedenfalls sind bislang fast alle Beteiligten auf den Beinen geblieben. Leichte Hautabschürfungen waren bisher nur an eigenen Gliedmaßen zu beklagen. Ein klitzekleiner, schwarzer Hund, welcher mal bei Dunkelheit aus einem stockfinsteren Hauseingang herausgeschossen kam, ist möglicherweise etwas erschreckt worden. In größeren Abständen schaffe ich es, außerhalb meines Minijobs, mit meinem Fahrrad zu stürzen, manchmal auch aufgrund eigener Dummheit. Die Strafe sind oft wochenlange Schmerzen, welche Teil eines notwendigen Lernprozesses sind. Manchmal möchte ich Verkehrsteilnehmer, die ich beispielsweise bei einem idiotischen Abbiege-Manöver beobachte, vom Rad zerren, um ihnen und anderen Geschädigten diese gesammelten Erfahrungen zu ersparen. Ein kurzes Pflichtseminar mit dem Thema „Asoziales Verhalten auf dem Fahrrad und seine Folgen“ könnte so ein Vortrag heißen.


TIERISCHE UND MENSCHLICHE URINSTINKTE

Gerade heute früh wollte mich wieder dieser große weiße Mischlingshund anspringen, der sich bei jeder Begegnung stumm in seinem Geschirr aufbäumt und von einer älteren Dame mit aller Kraft und unter heftigen Ermahnungen im Zaum gehalten wird. Dabei fasst sie die Leine ganz kurz und hindert ihn gerade so daran, mich anzugehen. Vor kurzem sah ich, dass er das bei jedem Passanten tut. Das gab mir die beruhigende Gewissheit, nicht das geborene Opfer von Hunde-Aggressionen zu sein. Meine Abneigung gegen Hunde stammt auch aus zurückliegenden Jahrzehnten, in denen ich als Freizeitläufer durch umliegende Parkanlagen unterwegs war. In regel­ mäßigen Abständen hatten wütende Kleffer einen Zahnabdruck in meiner Wade hinterlassen. Entscheidend war oft der Moment, in dem ich die unangeleinte Bestie passiert hatte. Dann sah sie in mir ein fliehendes Opfer und folgte knurrend und zähnefletschend ihrem fast erloschenen Killerinstinkt. Es waren vorwiegend diese kleinen schlecht erzogenen Biester, die meinen Angstschweiß hervorriefen. Mehrfach hörte ich die Worte „Der tut doch nichts...“ noch nachdem ich bereits ins Bein gezwickt worden war. Auch auf Wanderungen durch ländliche Regionen erschreckten mich wütende Hofhunde durch ihr infernalisches Gebell.


Diese unangemessenen Ausbrüche haben mir diese Tierart nicht zum Freund gemacht. Hunde begegnen mir auf meinen morgendlichen Runden an fast jeder Ecke, da sie von ihren Besitzern zum morgendlichen Kacken auf die Straße geführt werden. Nicht selten kann ich ein Exemplar beim Abseilen seines Geschäftes beobachten. Dann lohnt es sich, dessen Fortgang zu verfolgen. Manchmal schließe ich dabei insgeheim mit mir selbst eine Wette: Wird es zu einer ordnungsgemäßen Aufnahme des Exkrements durch den Hundehalter mittels einer Tüte kommen? Manchmal weiß ich von früheren Begegnungen, dass das nicht passiert. Dann werfe ich dem Unterlassungssünder gelegentlich einen langen, tadelnden Blick zu, dessen erzieherische Wirkung gleich null ist. Auch guckt so mancher schon von sich aus etwas schuldbewusst. Leider kommt es gelegentlich vor, dass ich mir unterwegs Hundekot eintrete. Diese Vorfälle sind Dank der Sammelbehälter und dem immer vorbildlicheren Verhalten der Hundebesitzer seltener geworden. Aber gerade im Dunkeln und auf den schmalen Rasenstreifen, zwischen parkenden Autos und Bürgersteig, die ich oft kreuze, ereilt einen das übelriechende, schmierige Schicksal. Nur in der Hälfte der Fälle bemerke ich das Malheur sofort. Manchmal fällt es erst auf, wenn ich mir beim Radfahren schon Pedale und Hosensaum beschmutzt habe. Der höchste Grad auf der nach oben offenen Peinlichkeits-Skala ist erreicht, wenn sich die


Sache bei einem Termin in einem Innenraum offenbart. Ich erinnere mich an einen dienstlichen Besuch in einem Handwerksbetrieb, bei dem ich mit einer Kundenberaterin an einem Tisch saß. Während des Kundengespräches und bei kuschliger Zimmertemperatur konnte sich das Hundekot-Aroma erst so richtig nachhaltig im Raume entfalten. Ich weiß noch, dass ich ziemlich aus dem Konzept kam und mich nie wieder in dem Betrieb sehen ließ. Natürlich muss ein Hund auch an bestimmten Punkten seine Markierung an einen Baum strullen und sorgfältig die Duftmarken der Konkurrenz erschnüffeln. Diesen Vorgang finde ich wiederum interessant. Ist es nicht erstaunlich, dass diese Art noch nach Jahrtausenden der Domestizierung wie ein Wildtier ein bestimmtes Gebiet für sich reklamiert? Selbst diese kleinen Wollknäule tun das noch. Da ähneln ihnen auch manche junge Bewohner meines Stadtteiles mit ihrem Markierungsverhalten. Besonders hervortun sich dabei die Fans des größten, örtlichen Fußballklubs und die Angehörige linksextremistischer Gruppierungen. Wenn junge Männer nicht ausreichend beschäftigt oder abgelenkt werden, verfallen sie offenbar wieder in vorzeitliche Handlungsmuster. Wenn also der dünne zivilisatorische Lack ab ist, Farbe im Überfluss vorhanden und Verfolgungsdruck kaum spürbar ist, wird wieder zu archaischen Handlungsweisen zurückgekehrt. Auch die Kämpfe


verfeindeter Fangruppen scheinen so ein merkwürdiges Relikt zu sein. Manchmal treffe ich morgens in der Nähe des Stadions und in meinem Stadtteil auf Kampfspuren des vergangenen Bundesligaspieltages oder auch schon auf die ersten frühen Besucher des kommenden Spiels. Mit Vernunft sind Gewaltexzesse und Imponiergehabe nicht zu erklären. Es sind Urinstinkte, die sich da angeblich im Namen von Sportvereinen austoben. Diese bedanken sich natürlich herzlich für die unerbetene Hilfe und verbannen immer mehr Ultras aus ihren Stadien. Es geht jungen Männern um Kampf, Gemeinschaft, Identifikation und Leidenschaft, die offenbar kein anderes Ziel in unserer vernunftbetonten Gesellschaft finden. „Stadionverbote brechen uns das Herz“ lese ich an einer Hauswand und versuche die Motivation eines jungen Ultra-Fans zu ergründen, der wirklich ehrlich für seinen Klub brennt, „alles für den Verein“ geben will, aber offensichtlich irgendetwas falsch verstanden hat. Den ehrenamtlichen Ultra- und Antifa-Künstlern gehen nun offensichtlich die Hauswände aus. Jede in Frage kommende Fläche innerhalb der Stadt und an wichtigen Zufahrtswegen ist längst mit kämpferischen Kunstwerken versehen und schon mehrfach übermalt worden. Nun müssen entlang der S-Bahn große Verpackungsfolien um Bäume gewickelt werden, um neuen Malgrund zu gewinnen. Auch sind immer mehr Fassaden mit großflächigen Auftrags-Graffities bemalt, die den heimischen FC eher humor-


voll als fanatisch feiern. Vor diesen Wänden schrecken die Rabauken-Sprayer interessanterweise zurück. Aus einer südamerikanischen Hauptstadt erreichte mich die Nachricht von der Verhaftung mehrerer Sprayer aus meiner Heimatstadt. Ihr Ziel ist es nach eigener Aussage, auf allen Kontinenten Spuren zu hinterlassen und so den Ruhm ihres heißgeliebten und extrem erfolglosen Fußballvereins zu mehren.

DIE BESTIE

Seit einem halben Jahr begegne ich fast jeden Morgen der Bestie. Es ist ein kleiner, übergewichtiger und kurzsichtiger Hund, der von einem biederen Rentner um den Block geführt wird, während ich in dieser Gegend unterwegs bin. Ihr Zuhause ist der einzige Aufgang der Straße, bei dem ich eine Zeitung zustellen muss. Sorgfältig vermeide ich es, ihnen während des Betretens und des Verlassens ihres Grundstückes zu begegnen. Bei einem Abstand von unter fünf Metern werde ich im Revier der Bestie erkannt und gnadenlos bekämpft. Vorsichtig luge ich in den von sehr hohen Hecken ­umwachsenen Hauszugang und versuche zu erkennen, ob Licht im Hausflur brennt. Auf den letzten


hundert Metern meines Anfahrtsweges habe ich zuvor den angrenzenden, von Autos verdecken Bürgersteig ausgespäht und nach Herrchen und Bestie Ausschau gehalten. Wenn sie bereits im Anmarsch sind, muss ich mich bremsen oder beeilen bei der Zustellung - je nach dem, wie weit sie von der Haustür entfernt sind. An einem weiteren Punkt können sich unsere Wege theoretisch kreuzen und auch dort bin ich vorsichtig. Außerhalb seines unmittelbaren Reviers ist glücklicherweise die Aggressivität kaum ausgeprägt. Wenn wir uns trotz aller Vorsicht auf dem Grundstück treffen, wirft sich die Bestie nach kurzem Augenblick des Wiedererkennens, mit schaurigem Knurren voll ins Geschirr. Es bewahrt sie davor, mir an die Gurgel oder ans Bein zu springen. Sie fletscht ihre kleinen spitzen Zähnchen und gibt Vollschub. Dabei kratzen und scharren die Füßchen wie wild über den Beton und aus ihrem Maul ertönt ein irres Kläffen. Der ältere Herr und ich sind immer peinlich berührt und murmeln hilflos-beschwichtigende Floskeln. Bei einer solchen Vorfall nannte er, um Verständnis bittend, seinen Hund einen kleinen „Platzhirsch“, der entschlossen sein Revier verteidigen würde. Ich bin insgeheim beeindruckt von diesem durch die Natur angelegten und alle realen Kräfteverhältnisse missachtenden Mut. Insgeheim wünsche ich mir selbst manchmal derartige Todesverachtung und muss kurz auflachen. Ich greife mir unwillkürlich an den Hals und stelle mir vor, ich


würde mich in der Rolle des Hundes befinden. Ich hätte mich völlig besinnungslos und mit ganzer Kraft gegen ein Halsband geworfen und noch tagelang Verspannungen im Hals-Schulter-Nacken-Bereich, aber zumindest massive Schluckbeschwerden zu beklagen. Und ich wäre völlig unbelehrbar und müsste diesen Vorgang ständig w ­ iederholen. Genau genommen ist mein eigenes Verhaltensmuster völlig entgegengesetzt. Ich wäre sehr wohl in der Lage mich zu verteidigen und strahle das als nach wie vor gut trainierte Sportskanone wohl auch oberflächlich aus. Bei genauerer Prüfung stellt sich aber heraus, dass ich nicht in der Lage bin, meine physische Überlegenheit einzusetzen. Nun ist so ein Alles-oder-nichts-Konzept vielleicht auch nicht das Gesündeste, aber ein klein wenig Draufgängertum alá ­Killerbestie könnte mir gelegentlich nicht schaden. So ein praktischer Kippschalter im Kopf, der im Notfall Angst, Bedenken und Hemmungen wegschaltet. Fast immer genügt ja schon die entschlossene Pose, um sich zu behaupten: „Grrrrr…“


CITY-MÖWEN

Immer häufiger beobachte ich diese großen, weiß-grauen Vögel mit gelbem Schnabel dabei, wie sie in den Morgenstunden überfüllte Mülleimer auseinandernehmen. Einige dieser Silbermöwen können über 60 cm groß werden und haben eine Flügelspannweite von bis zu 155 cm. Sie haben in den letzten Jahrzehnten fast jede Scheu abgelegt und sich als City-Möwen die Futtersuche über dem Wasser abgewöhnt. Sie nisten weniger am Fluss- oder Meeresufer, wo man sie oft durch Wasserbaumaßnahmen vertrieben hat, sondern auf Flachdächern des Stadtzentrums. Während ich eine Zeitung in den Briefkasten eines Kaffees werfe, werde ich ungnädig von einer großen Möwe beobachtet, die mir ihre Seite zuwendet und mich aus einem kleinen, kalten Auge ansieht. Das wirkt sonderbar, weil Kopf und Schnabel von mir abgewandt im rechten Winkel zur Blickrichtung stehen. Sie hüpft etwas ungeduldig und will, dass ich verschwinde, damit sie wieder in aller Ruhe mitten auf der Straße eine Döner-Verpackung in kleine Alu-Schnipsel zerschreddern und deren Inhalt in der Gegend verteilen oder verspeisen kann. Einen Rest an Scheu hat sie sich bewahrt. Ich rechne aber jeden Tag damit, dass sie oder eine ihrer Artgenossen plötzlich ihre großen Flügel ausbreitet und Autos anhält. „Hast du nicht gesehen, dass ich hier frühstücke, oder was?“ könnte sie krächzen. Seit wann nehmen


Möwen überfüllte Mülltonnen auseinander oder stehen auf Straßen und Autodächern herum? Auch das muss eine neue Angewohnheit dieser etwas unheimlichen Tiere sein. Im nahen Seebad sind freche Möwen zu einer Sehenswürdigkeit geworden. Dort feiert man ihre Angewohnheit, Touristen im Fluge das Fischbrötchen aus der Hand zu reißen. Dabei sind sich die beteiligten Anwohner und Touristen noch nicht ganz sicher, ob sie dieses Verhalten eher cool oder für unzumutbar halten sollen. Die Möwen patrouillieren in der Luft, zu Wasser und zu Lande und haben die Fischbrötchenlage ständig im Blick. Notfalls stellen sie sich auch vor einen Esser, der sich auf eine Bank gesetzt hat und starren ihn so lange an, bis er einen Brocken herausrückt. Sie sind es gewöhnt, gefüttert zu werden. Trotz Verbotes durch die städtischen Behörden, gibt es Menschen, die Brotkrumen säckeweise verfüttern und ganze Schwärme von Vögeln anlocken. Bei diesen Gelegenheiten oder vor einer beschaulichen Imbiss-Bank sind Möwen die Chefs im Ring. Wo sie auftauchen, haben Tauben und Spatzen wenig zu melden. Eine Konkurrenz sind nur die zahlreichen Krähenvölker.


WARTENDE RAUCHER

Zwei Menschengruppen, die am Morgen anzutreffen sind, können in einem Rutsch abgehandelt werden, da sie eine große, gemeinsame Schnittmenge bilden. Es sind die ­Wartenden und die Raucher. Erstere sitzen in Hauseingängen oder stehen an Straßen und warten darauf, zur Arbeit mitgenommen zu werden. Da ist etwa der junge Handwerker, der über Wochen in einem Hauseingang sitzt und gelangweilt rauchend mit seinem Smartphone spielt. Über längere Zeiträume sehe ich ihn nicht, bis er, manchmal nach Monaten, wieder bei meinem Eintreffen auf den Stufen des Hauseingangs sitzt. Ich grüße ihn gewohnheitsmäßig und erhalte eine einigermaßen freundliche Antwort. Nur ein paar Meter weiter treffe ich im Sommer zwei oder drei Rumänen, die im vielleicht zu den großen Erdbeerfeldern östlich der Stadt oder zu einer Baustelle mitgenommen werden. Auch sie stehen, sich leise unterhaltend, vor einer Haustür und erwidern meinen Gruß. Am frühen Morgen höre ich häufiger bei Wartenden oder Passanten dieses laute, rasselnde Raucher-Abhusten und andere mit der Befreiung der Atemwege verbundene Geräusche. Besonders geräuschvoll können das Männer im mittleren Alter in Bauarbeiter- und Handwerkerkluft, die ihre stark vorbelastete Lunge gerade mit der ersten Zigarette des Tages vertraut machen. Die dazugehörigen


Geräusche hallen manchmal weit durch morgendlich stille Vorstadtstraßen, denn diese Menschen sind es gewohnt, Lautäußerungen auf im Berufsalltag selbstbewusst und mit maximaler Lautstärke abzugeben. Bis vor ein paar Monaten begegnete ich auf meiner Runde einem rauchenden Relikt längst vergangen geglaubter Zeiten. Damals konnten sich Menschen ihre eigene Gesundheit und diejenige ihrer Angehörigen mit grausigen Tabakerzeugnissen ruinieren und waren dabei in ihrem Tun gesellschaftlich voll anerkannt. Früher qualmte jeder bedenkenlos in Wohnzimmern, Autos und anderen geschlossenen Räumen und nahm insgeheim übel, wenn sich Menschen das in ihrer Wohnung verbaten (ich gehörte bis vor 25 Jahren auch zu diesen Qualmern und erinnere mich noch gut an die Rauchschwaden im elterlichen Wohnzimmer). Raucherecken waren Knoten- und Kontaktpunkte, die Beziehungen jeglicher Art anzubahnen oder zu pflegen halfen. Als Nichtraucher hatte man es unter bestimmten Bedingungen schwer, weil einem bestimmte dort ausgetauschte Informationen oder Kontakte fehlten. Gerade als sehr zurückhaltender Mensch konnte ich mir solches Außen­seitertum nicht erlauben und qualmte nach Kräften mit - bis der Ekel größer war, als die Sucht. Heute müssen vereinzelte übriggebliebene Raucher den Balkon aufsuchen oder - noch schlimmer - vor die Haustür gehen. Da stehen sie alleine oder bilden vor Firmengebäuden ver-


schämte, wie ausgestoßen wirkende Rudel, welche irgendwann, in eine Steppenbrand-Aura gehüllt, an ihren Arbeitsplatz oder Wohnzimmer zurückkehren müssen und dort bestenfalls geduldet sind (sie selbst können diesen Dunst nicht riechen und auch mir erschloss sich diese Erfahrung erst nach dem Ende meiner Raucher-Karriere). Oftmals lassen sie vor der Tür kleine Gefäße zurück, in denen sich ein übel riechender, durchnässter Kippen- und Asche-Mulch ­befindet. Der Raucher, welchen ich auf meiner Runde traf, stand fast jeden Morgen auf seinem Balkon im ersten Obergeschoss und verbreitete einen ungewöhnlich infernalischen Tabakgestank. Derartiges hatte ich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gerochen. Hier verbrannte nicht die immerhin schon ziemlich üble DDR-Marke „Karo“, sondern noch etwas sehr viel Schlimmeres. Schon 50 Meter vor seiner Haustür konnte ich seine Spezialmarke erschnuppern. Es roch, als hätte jemand verschimmelte Reste vom Fußboden einer balkanischen Tabak-Kolchose mit gleichen Teilen getrocknetem Hühnerkot und zerkleinertem Pferdehaar gestreckt. Es kann sich aber auch um den Überrest einer einheimischen Zigarillo-Marke gehandelt haben, die schon zu DDR-Zeiten meinen Abscheu erregt hatte. Ich kann mich genau an sie erinnern: Es waren filterlose, kurze, ovale Teile, die ich auch in der größten Not nicht konsumiert hätte. Sie hießen „Salem“ oder „Puck“ und befanden sich in einer Klappschach-


tel. Wohl um den gesundheitlichen Schaden in Grenzen zu halten, wurden sie nur in kleineren Packungen verkauft. Vielleicht hat der Raucher unter glücklichen Umständen nach 1990 die Konkursmasse eines volkseigenen Tabak-Handels ergattert und sich noch ein paar schöne Jahre mit dem Teufelskraut gemacht. Auch noch 30 Jahre nach Ende der DDR kann man gelegentlich bei einer großen Online-Auktions-Plattform größere Posten solcher Zigaretten ersteigern. Das Angebot enthält lediglich die Bemerkung „Achtung: Tabak ist vertrocknet“. Irgendwann war jedenfalls Schluss mit lustig. Ich sah den Raucher nicht mehr auf seinem Balkon stehen - es brennt aber bis heute Licht in seinem Wohnzimmer. Vielleicht beginnt da sein Nachmieter oder ein Familienangehöriger seinen Tag, vielleicht ist er am Leben und erfreut sich bester Gesundheit. Möglicherweise ist er umgezogen, die Vorräte sind aufgeraucht oder sein Arzt und seine Frau haben ihm jahrelang zugesetzt, bis er die Reste seines Vorrates als Sondermüll entsorgt hat. Wohlmöglich hat er ganz mit dem Rauchen aufgehört. Ich hoffe jedenfalls das Beste für ihn und seine Lunge, dennoch empfinde ich für seine kauzige Beharrlichkeit eine gewisse Bewunderung. Denn gerade, wenn alle Dir etwas verbieten wollen, musst Du es erst recht tun! Wenn es aber um Leben und Tod geht, sollte man es auch mal gut sein lassen.


DIE FLASCHENSAMMLER

Eine dem Zeitungsverteiler verwandte Tätigkeit ist die des Flaschensammlers. Sie spielt sich auch in den frühen Morgenstunden ab, wenn der Durst der Jugend im wesentlichen gelöscht und der Heimweg vom Grillen oder von der Party beendet ist. Auch die Sammler arbeiten ganze Stadtteile ab, haben aber, genau wie ich, bestimmte Schwerpunkte zu bearbeiten. Es scheint eine Art Aufteilung in Reviere zu geben, was aber Konkurrenz der Sammler untereinander nicht ausschließt. Die in Frage kommende Klientel für diese Beschäftigung bildet wohl eine Schnittmenge mit den Zeitungsverteilern. Jedenfalls habe ich selbst schon darüber nachgedacht, ob ich nicht in Doppelfunktion durch den Morgen radeln (oder scheppern) sollte. „Sammeln“ an sich liegt ja in meiner Natur Sehr unterschiedliche Sammlertypen beobachte ich morgens und abends bei dieser Tätigkeit. Morgens sind es eher Studenten oder Mitmenschen mit einer Suchtproblematik, abends zwei radelnde Originale, die auch im Stadthafen anzutreffen sind. Sie sind allseits bekannt, zum Teil sehr mitteilsam und stehen in starker Konkurrenz zueinander. Da wäre der „Alte Indianer“, ein schweigsamer, etwas mürrischer Sammler fremdländischer Herkunft, der von der sehr gesprächigen „Ich-habe-das-eigentlich-gar-nichtnötig-Dame“ des Ventil-Diebstahls bezichtigt wird. Letzte-


re hat die Sympathie der Bier trinkenden und grillenden Jugend im Stadthafen. Ersterer kommt aber wohl auch auf seine Kosten und lernt auch so allmählich, dass Kommunikation das Sammeln erleichtert. Die jungen Biertrinker sind mittlerweile schon in so weit geschult, dass sie das Leergut direkt in die Hand übergeben oder neben den Bänken stehen lassen. Ich selbst mache das auch so, reiche die Flaschen zu oder stelle mein Leergut im Stadthafen direkt neben die Bank, wo es leicht gesehen und nicht aus Versehen umgetreten werden kann. Manchmal kommt es an den besonders lohnenden Spots zu regelrechten Wettrennen unter den radelnden Sammlern. Einfluss nehmen will auch die Kampagne „Pfand gehört davor“ (vor den Mülleimer), welche in Szenevierteln das Flaschensammeln erleichtern soll. In Wirklichkeit animiert es dazu, Glasflaschen überall mitten auf den Bürgersteig zu stellen und das Scherben-Aufkommen zu erhöhen. Die Grundidee lautet in etwa: „Schmeiß deinen Müll irgendwo hin und fühl’ dich gut dabei“. Nach Beginn dieser Kampagne und vor dem Kauf von Pannenschutz-Reifen hatte ich jedenfalls wöchentlich ein bis zwei Platten zu beklagen. Mehrfach ist es passiert, dass meine beiden Fahrräder am selben Tag nacheinander durch Scherben bedingte Pannen hatten. Ich bemerke es gerade selbst: Irgendwie triggert mich dieses Thema enorm. Ist es der reflexartige Widerstand gegen jegliche Form von Ideologie und Belehrung? Jeder noch so ehrenwerte Versuch, aus mir einen besseren


Menschen zu machen, ist streng verboten. Mein Bedarf an Umerziehung ist schon während der DDR-Diktatur gedeckt worden. Diese Gutfühl-Vermüllung hat sich mittlerweile auch auf Gegenstände des täglichen Bedarfs und auf - zugegeben - manchmal lesenswerte Bücher ausgeweitet. Als kleine Geschwister des illegalen Sperrmüllhaufens finden sich Kartons voller Krempel an fast jeder Ecke. Manchmal sind sie Keimzellen für ausgewachsene Müllhaufen. Ich empfinde ich den Vorgang des Flaschensammelns eigentlich als traurig und entwürdigend. Deswegen verschiebe eigene Ambitionen in dieser Richtung lieber auf Zeiten, in denen ich es mal wirklich nötig haben sollte. Ich habe Mitleid mit alten Menschen, die ihre Rente auf diese Weise aufbessern müssen. Die Höhe des Pfandes für Glasflaschen sollte meiner Meinung nach etwa verdoppelt werden. Insofern stimme ich den Pfandflaschen-Ideologen zu, die diesen Punkt auch in ihr Manifest aufgenommen ­haben.


VERWUNSCHEN

Am westlichen Ende meiner Tour stoße ich auf einen großen Komplex von Sportstätten. Hier findet sich ein bunter Mischmasch von Baustilen der letzten 80 Jahre. Zuerst sehe ich die grobschlächtige, aus Granitblöcken bestehende Einfassung einer Aufmarschfläche, die heute den Eingangsbereich eines großen und modernen Fußballstadions bildet. Auch die umliegenden Straßen, in denen ich meine ­Zeitungen verteile, geleiten offensichtlich zu diesem Ort, an dem sich viele Menschen versammeln sollen. Gleich nebenan befindet sich ein großer, backsteinerner Schwimmhallenkomplex aus der Stalinzeit. Er beeindruckt durch klassizistische Anleihen und durch ein überaus großzügig gehaltenes Säulen-Foyer, in dem auch schon mal ausgewachsene Bälle abgehalten werden. Während des Normalbetriebes schreitet man über Marmorplatten durch eine mit Säulenreihen gegliederte Halle auf eine kleine Kassenbox zu. Dabei kommt man sich vor wie in einem britischen 80er-Jahre-Phantasy-Klassiker mit George-Orwell-Anleihen. Das Eigentümliche dieses großen Geländes ist schwer in Worte zu fassen. Es besteht wohl im Widerspruch zwischen den ausufernden Dimensionen der Gebäude und Anlagen und der harmlosen Privatheit des alltäglichen Lebens, welches sich heute in ihnen und vor ihren Toren abspielt. Totalitäre Gesellschaften benötigten einschüchternde Größe


und ein emotionales Massenerlebnis zur Förderung ihrer Ideologie. Das hochmoderne Fußballstadion wirkt dagegen wie ein funktionelles Menschen-Gatter, in dem sich diejenigen austoben können, die auch in der individualistisch geprägten Gesellschaft auf den Rausch der Masse nicht verzichten können. Von Postkarten war mir bekannt, dass es auf diesem großen Gelände auch mal ein Freiluft-Schwimmbad mit 50-Meter-Bahn, Tribüne, Rängen und Sprungtürmen gegeben hatte, in dem selbst internationale Wettkämpfe ausgetragen worden waren. Auch kannte ich Berichte von Anwohnern, die von dem Freibad berichteten. Mehrfach wurde mir von heimlichen, nächtlichen Besuchen mit der Jugendclique erzählt. Verborgen geblieben war mir aber zunächst, dass das Freibad noch immer existierte. Auch vermutete ich es in einer anderen Ecke des weitläufigen Schwimmhallenkomplexes und beharrte in hitzigen Diskussionen darauf, dass es längst überbaut worden sei. Tatsächlich liegt es aber direkt an einem meiner täglichen Wege, neben der Hauptstraße, sehr gut hinter Wällen und Zäunen versteckt. Und tatsächlich - wenn man seinen genauen Standort kennt, ist der Sprungturm hinter Bäumen und Büschen zu erkennen. Ich konnte den Beginn des Sommers kaum erwarten, denn schon seit langem plante ich einen frühmorgendlichen, unangemeldeten Schwimmbadbesuch mit Fototermin. Bis dahin galt es, bei den täglichen Wegen zum Supermarkt


die Umzäunungen auszuspähen und ihre Überwindung zu planen. Mittlerweile liegen die Ergebnisse dieser riskanten Expedition vor, die an einem Juni-Samstag früh um 5.00 Uhr, kurz vor dem Zeitungsaustragen durchgeführt wurde. Am Tag zuvor hatte ich früh am Morgen im weiteren Umfeld des Schwimmbades einen Sperrmüllhaufen gesehen und im Vorübergehen einen für das Übersteigen des Zaunes geeigneten Hocker entdeckt. Auch am Abend, bei Gelegenheit eines Einkaufs im nahen Supermarkt, sah ich den Hocker noch dort stehen. Am folgenden Morgen packte ich meine Kamera ein und klemmte mir im Vorübergehen den Hocker unter den Gepäckträger. Nach einigen waghalsigen Verrenkungen zwischen kippendem Hocker und wackelndem Zaun, gelang die Überwindung des Hindernisses. Ich habe trotz des etwas schummrigen Morgenlichts einige schöne Fotos gemacht. Sie haben eine eigenwillige Idylle eingefangen - anheimelnden Verfall und kuschelige Verwucherungen, wie sie in dieser kalten, glatten und makellosen Welt leider nur noch selten zu finden sind. Auch eine leichte Zerrung im unteren Rückenbereich habe ich mir b ­ ei der Gelegenheit zugelegt.


FRISCHE DRUCKFARBE

Sie bleibt während des Verteilens der Zeitungen als ein kaum sichtbar Schleier auf meinen Fingerspitzen haften. Schließlich wurde die Zeitung erst wenige Stunden zuvor gedruckt. Wenn ich mir anschließend nicht gründlich die Hände einseife, überträgt sich beim Abtrocknen ein schwacher Gruß der Druckindustrie auf meine Handtücher. Die Gummigriffe meines Fahrradlenkers muss ich regelmäßig mit Terpentin-Ersatz bearbeiten, um starke Farbverschmutzungen zu entfernen, wobei sich ein anheimelnder Geruch verbreitet, der mich an meine Berufsjahre in Druckereien erinnert. Besonders in der wärmeren Jahreszeit ist die Farbe noch frisch und auch das Layout der Zeitungen hat Auswirkung auf den Verschmutzungsgrad von Händen und Handgriffen: Großflächige, dunkle Fotos auf Titelseiten färben besonders gut ab. Während meiner Druckerei-Jahre roch ich die Farbe und die zugehörigen Lösungsmittel täglich und durfte ihre Verarbeitung miterleben. Ich sah wie die Drucker sie mit Spachteln in die Farbkästen ihrer Maschinen schmierten und das Wunderwerk einer großformatigen Bogen-Offset-Maschine in Betrieb nahmen. Diese standen zu Mehreren in einer kleinen Halle, in der es zuging wie in einer frühindustriellen Maschinenhölle. Alle vorhandenen Zwischenräume oder Wände waren zugestellt mit


zum Teil übermannshohen Papierstapeln und Regalen. Für Personal und Hubwagen und blieben nur Trampelpfade. ­Eines dieser mechanischen Ungetüme war schon ein halbes Jahrhundert alt. Ich arbeitete weit entfernt vom Lärmzentrum, das nur als gedämpfte Geräusche zu mir drang. Bei einem Gang von meinem stillen Arbeitsraum zum Drucksaal, quer durch die ganze Firma und bewaffnet mit einem Schwung frisch entwickelter Druckplatten, schwoll das Lärmvolumen von Tür zu Tür an. Die Maschinen und die Menschen, die sie bedienten, flößten mir Respekt ein. Die Drucker hatten scheinbar an der Hallentür einen Teil ihres menschlichen Wesens zurückgelassen und gehorchten nun den Bedürfnissen dieser ratternden und zischenden Kolosse. Man musste sie anschreien oder anstoßen, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Sie hörten einem in solchen Momenten ohnehin nur halb zu und schienen irgendwie durch mich hindurch zu sehen. Ich musste darauf gefasst sein, dass sie mitten im Gespräch blitzartig zur Auslage der Maschine sprangen, um fluchend einen großen Papierbogen aus dem zischenden Monster herauszufetzen oder an irgendeinem Hebel zu racken. Besonders respekteinflößend war aber die große Schneidemaschine. Die Bögen, welche hinter den Druckmaschinen zu hohen Stapeln anwuchsen, musste ich ab und zu auch selbst verarbeiten, wenn der zuständige Kollege nicht greifbar war. Dazu waren die großformatigen Bögen aufzu-


nehmen, sehr sorgfältig aber zügig in die große Maschine einzulegen und in ihre Einzelteile zu zerhacken. Von der fachmännischen Behandlung des Papiers hing eine Menge ab und den Plan dazu sollte ich gefälligst kennen, da ich ihn zuvor selbst in einem früheren Verarbeitungsschritt angelegt hatte. Mit diesem Ungetüm, das beim Schneiden mit seiner furchteinflößenden Gewalt das Haus zum Beben und halbfingerdicke Stahl-Lineale fast durchschneiden konnte, war nicht zu spaßen. Auch die Endgültigkeit des Schnittes, der über Gelingen oder Scheitern eines D ­ ruckerzeugnis entschied, war beunruhigend. Eine winzige Fehlkalkulation oder Ungenauigkeit genügten manchmal, um einen Zentner bedruckten Papieres zu vernichten. Der Ausdruck, etwas „in die Tonne zu hauen“, bekam eine ganz reale Bedeutung. Der zuständige t­onnenähnliche Behälter wartete gleich hinter dem Hallentor. Auch konnte es zum gefürchteten Effekt des „Ablegens“ kommen: Ein Bogen schmierte seine Druckfarbe gegen die Rückseite des Nachbarbogens. Andererseits machte es auch Spaß in diesem beengten und lärmenden Papier-Wust zu arbeiten und am Entstehen irgendeines Druckerzeugnisses mitzuwirken. Oft war sein endgültiges Aussehen auf den glatten großen oder kleineren Papierbögen noch nicht erkennbar. Erst die Kenntnis eines genau durchdachten Plans, die Zusammenarbeit verschiedener Abteilungen der Druckerei und handwerkliche Erfahrung machen aus einem Papierstapel ein fertiges Produkt. Gerade die besonders monotonen Tätigkeiten,


welche in dieser Halle auf mich warteten, habe ich eigentlich immer sehr gerne ausgeführt. Bei diesen Gelegenheiten wurde ich zur lebendigen Maschine und Teil dieser intensiven Arbeitsatmosphäre. Die immer wiederkehrenden Arbeitsabläufe gingen schnell wie von selbst von der Hand und konnten durch kleine Verbesserungen weiter beschleunigt werden. Als menschliche Falz-, Zusammentrage- oder Schneidemaschine, konnte ich gelegentlich in einen von lästigen Gedanken befreiten, meditativen Rausch verfallen. Wenn dann auch noch die Seiten in der richtigen Reihenfolge, bzw. Schnitte und Falze an der richtigen Stelle lagen, war die Druckerei-Welt in Ordnung. In einem noch weiter zurückliegenden Druckerei-Leben habe ich auch die eigentliche Zeitungsherstellung und den Zeitungsvertrieb kennengelernt - zunächst allerdings nur von weitem. Als Lehrling und Facharbeiter in der Druckvorstufe des Werbedruck-Bereichs wanderte ich mehrmals täglich durch die große Druckerei zum Betriebsrestaurant oder zur Kantine. Aus Neugierde und der Abwechslung wegen wählte ich ab und an nicht den direkten Weg über den Hof, sondern einen Umweg durch die Kelleretagen des Unternehmens. Hier begegneten einem keine lästigen Chefs, die einen wieder an den Arbeitsplatz zurück zerren wollten. Unterwegs konnte ich jederzeit aus dem Untergrund auftauchen und andere Lehrlinge besuchen, die sich über jede Gelegenheit freuten, von ihrem Arbeitsplatz zu entweichen. Im Keller lagerten die fast mannshohen Papierrollen,


mit denen in der Nacht die haushohe Hochdruck-Rotationsmaschine gefüttert wurde und deren massive Füße hier in der tagsüber verwaisten Unterwelt standen. Die oberen Ausläufer des Kolosses konnte ich in den darüber liegenden Etagen bewundern. In den Druckerei-Katakomben gab es geheimnisvolle Räume, wie die Bibliothek, welche ehrenamtlich von einer eigenwilligen Dame verwaltet wurde. Sie trug eine hohe, etwas altmodische Frisur und sprach einen sehr ausgeprägten Dialekt. Freundlich bot sie dem Besucher auch gebrauchte Bücher an, die im staatlichen Buchhandel nicht zu erhalten waren. Gleich bei meinem ersten Besuch fand ich eine sehr gut erhaltene Erstausgabe des mystischen Prag-Romans „Walpurgisnacht“ von Gustav Meyrink aus dem Jahre 1917. Ich stand kurz vor meinem ersten selbstständigen Besuch dieser Stadt und hatte hier eine einmalige und magische Reiselektüre gefunden. Um mehrere Wochen überzog ich nach dem Urlaub meinen Rückgabetermin, entschloss mich aber dann doch schweren Herzens, das Buch zurückzugeben. Drei Jahre später, im Jahr 1990, fegte der Wind der Geschichte auch durch die Druckerei-Katakomben. Gerüchteweise hatte ich von der Auflösung der Bibliothek erfahren. Es könne jeder, so hieß es, mitnehmen, was er wolle, denn alle Bücher würden in den Reißwolf wandern, welcher nur einige Meter von der Bibliothek entfernt stand. Wie elektrisiert raste ich in den Keller, fand aber nur noch einige literarische Schnipsel in dem riesigen Reißwolf. So


ist mancher Schatz und manches Archiv im Osten Deutschlands in dieser Zeit vernichtet worden. Der Zeitungsdruck war wie eine Parallelwelt, die nur Nachts zum Leben erwachte und deren etwas grobschlächtige, ausschließlich nachtaktiven Arbeiterinnen und Arbeiter mir sonderbar fremd waren. Auf dem Weg zur Kantine sah ich dann auch die mechanischen Wunderwerke der Bleisatzmaschinen, auf denen schon tagsüber die neuen Ausgaben der Zeitungen begonnen wurden. Jedenfalls war in diesem Betrieb ein verwirrendes Nebeneinander von Vergangenheit und Moderne bei Zeitungsproduktion und Werbedruck zu erleben. Während in der untersten Etage noch Bleilettern per Hand gesetzt wurden, arbeitete man ein Stockwerk darüber schon mit Trommelscannern und Fotosatz. Das erste Jahr meiner Lehrzeit verbrachte ich übrigens in der Betriebsberufsschule des Neuen Deutschland in Berlin, wo die Berufsanfänger der SED-eigenen Betriebe der Nordbezirke gemeinsam ausgebildet wurden. Untergebracht waren wir in einem ganz gemütlichen Internat im Prenzlauer Berg. Gegen Ende dieser Jahre in einer Großdruckerei geriet ich unfreiwillig in die Nähe der Zeitungsmaschinerie. Nach dem Untergang der DDR wurde der Werbedruckbereich abgewickelt und dessen Mitarbeiter nach Möglichkeit im Zeitungsbetrieb untergebracht. So fand ich mich dann im Bereich Vertrieb/Abo-Verwaltung, mitten in der


Umstellung vom DDR-Postzeitungsvertriebes auf den Eigenvertrieb wieder. In dieser Zeit des Umbruchs wurden Hunderttausende Abonnentendaten per Hand in die betriebseigene Datenbank eingegeben. Während ich die Abonnenten zweier Kreisausgaben betreute, musste ich, als Laie, der noch nie an einem Computer gesessen hatte, lange Datenlisten erfassen. Damals passierte es, dass wir unzählige Zeitungsleser irrtümlich löschten, weil die Verantwortlichen die Computer-Ausdrucke der Post nicht richtig deuten konnten. Vertretungsweise musste ich auch ein paar Nachtschichten auf der Vertriebsrampe schieben. Hier sollte ich die Übergabe der Zeitungscontainer samt Unterlagen an die Fahrer der LKWs koordinieren. Irgendwie muss die korrekte Verteilung einer großen und zweier kleinerer Provinz-Zeitungen mit je einem Dutzend verschiedener Kreisausgaben, etlicher Betriebszeitungen und der Empfang sowie die Verschickung einiger überregionaler Blätter auch ohne meine Hilfe funktioniert haben. Wenn ich mich recht erinnere, bin ich in diesen vier oder fünf Nächten wie „Huhn ohne Kopf“ herumgelaufen und habe nur ansatzweise begriffen, was man von mir wollte. Mir ist aber der Eindruck einer rasanten, äußerst eingespielten Maschinerie in Erinnerung geblieben. Tagsüber verzweifelte ich dann wieder an Leserzuschriften, denen keine Daten im Abo-System zuzuordnen waren. Bis heute verfolgen mich Dorf-, Straßen- und Familiennamen eines Winkels der Vorpommerschen Boddenlandschaft, dessen Bewohner


in Folge jahrhundertelanger Inzucht den gleichen Familiennamen trugen, alle an der selben Dorfstraße wohnten und nicht zweifelsfrei identifiziert werden konnten. Zum Teil waren die Daten aber auch im Zuge der Datenerfassung verschludert oder noch nicht bearbeitet worden. Eines Nachmittags wurde der Wunsch übermächtig, diesem Schrecken zu entkommen. Ich ging, von Verzweiflung getrieben, kurz vor Feierabend in die Personalabteilung und verkündete, dass ich zum nächstmöglichen Termin kündigen wolle. Froh leuchteten da die Augen der zuständigen Leiterin auf. Sie unterstützte meinen Wunsch sofort und sagt: „Kein Problem, Herr Kollege, morgen holen Sie sich ihren Laufzettel und übermorgen brauchen Sie hier nicht mehr zu erscheinen“. Das hatte ich gar nicht zu hoffen gewagt - in diesem Moment hatte ich mein ganz persönliches „Wende-Erlebnis“. Es war, kurzfristig betrachtet, eine klassische Win-Win-Situation, auch wenn ich mir damit langfristig vielleicht eine saftige Entschädigung entgehen ließ, die mir aus Anlass einer späteren, betriebsbedingten Entlassung gezahlt worden wäre. Ich erinnere mich an eine Belegschaftsversammlung in der wir Mitarbeiter damals tatsächlich darüber befragt wurden, ob wir einem Verkauf des SED-Eigentums an den Springer-Konzern zustimmen würden. Irgendwie fanden es die Genossen wohl pietätlos, ihre Belegschaft samt „Volkseigentum“ direkt und ungefragt dem ehemaligen Todfeind zu überlassen. Ich bin nicht sicher, ob eine Ablehnung Aus-


wirkung auf zukünftige Besitzverhältnisse gehabt hätte. In dieser bewegten Zeit hielt jeder fast alles für möglich, war aber froh, eine Arbeit zu haben, egal wem der Betrieb gehörte. Ausnahmen wie ich selbst bestätigten die Regel. Ich war durchaus bereit, eine klitzekleine Schaffenspause zum Zwecke der Selbstfindung einzulegen, um mal ein Stück weit in mich hinein zu horchen. Die Aussicht auf ein paar Monate Arbeitslosigkeit war nichts schreckliches für mich. Jedenfalls hatte die versammelte vierhundertköpfige Belegschaft nichts dagegen, Springer-Mitarbeiter zu werden. Sie hob allerdings nicht aktiv die Hand, um ihre Zustimmung zu geben. Das war nicht gefragt. Nur ein eingewanderter dänischer Altkommunist und ein linksautonomer Jungfacharbeiter aus meiner Abteilung lehnten das Springer-Angebot per Handzeichen und mit anschließender kurzer Begründung ab. In einer Abteilung, der buchbinderischen Weiterverarbeitung, freute man sich derweil schon auf die neue Zeit und die harte Währung. Dort zeigte eine Wandzeitung seit kurzem statt Porträts verdienter Mitarbeiter oder sozialistischer Kampflosungen („Meine Hand für mein Produkt“) nun einen täglichen Countdown der BILD-Zeitung, welcher die Leser auf die Währungsunion am 1. Juli 1990 einstimmte. Nach Einführung der D-Mark habe ich als Mitarbeiter des Werbedruck-Bereiches der Druckerei nur noch laufende Aufträge abgearbeitet und danach vierzehn Monate lang in zwei Schichten Skat oder Schach gespielt, da es


keinerlei Arbeit mehr gab. Auch in der Abteilung Weiterverarbeitung wurde kaum noch gearbeitet. Nur ein winziges Strohfeuer der Hoffnung glimmte dort noch in Form eines großen Auftrages der sowjetischen Fluglinie Aeroflot. Der Bundeskanzler persönlich soll sich eingesetzt haben für sogenannte „Hermes-Bürgschaften“, die osteuropäischen Unternehmen ermöglichten, im neuen Einzugsgebiet der D-Mark Industrieprodukte in Auftrag zu geben. Auch ich habe ein paar Tage lang Postkarten zusammengetragen und in eine Aeroflot-Mappe gesteckt. Heutzutage bin ich nicht mehr hauptberuflich in einer Druckerei beschäftigt. Als freiberuflicher Mediengestalter habe ich dennoch Kontakt zu Druckfarben. Ich entwerfe Flyer, Broschüren oder Plakate und gestalte und schreibe regelmäßig für eine eigene kleine Zeitung. Dabei bedenke ich ständig, wie Drucker, Papier, Farbe und Druckverfahren meine Idee beeinflussen können. Noch immer erscheint mir die exakte Farbübertragung im Offsetdruck über sämtliche Verarbeitungsschritte als etwas Wundersames. Regelmäßig stehe ich auch heute, fast zwanzig Jahre nach meinem Abschied, in der anfangs beschriebenen Druckhalle - jetzt allerdings als Auftraggeber. Bei diesen Gelegenheiten komme ich mir vor, als wäre ich in eine Zeitschleife geraten. Eine bange Unruhe, in Erwartung des fertigen Produktes, ist mir aus meiner Druckerei-Vergangenheit geblieben. Neu ist die Vorfreude auf ein selbst gestaltetes Druckerzeugnis.


DIE KRISE DER ZEITUNGEN

Im Jahr 1991 hatte es mich, wie gerade beschrieben, aus der Druck-Vorstufe einer großen Druckerei in die Abo-Verwaltung der benachbarten Tageszeitung verschlagen. Einige qualvolle Monate half ich, das Chaos zu vergrößern, das bei der Übergabe des Abonnenten-Bestandes an die Zeitung entstanden war. Etwa 230 000 Abonnenten galt es immerhin vom zentralen DDR-Postzeitungsvertrieb zu übernehmen, von denen eine größere Anzahl sofort und insgesamt rund 120 000 im Laufe der kommenden 30 Jahre verloren gehen sollten. Erstaunlicherweise konnte das SED-Bezirksblatt wie überall in der früheren DDR seine dominante Marktposition behaupten und alle mutigen Neugründungen und kleinere, durchaus beliebte Alt-Konkurrenten in kurzer Zeit verdrängen. Sehr schnell fanden sich neue Besitzer für die regionalen Marktführer. Nur ein kleines Konkurrenzblatt früher zur Blockpartei NDPD gehörend - hält hier noch bis heute die Fahne eines anderen Medienkonzerns hoch. Ja, die großen Verlage beherrschten sehr schnell die regionale Zeitungslandschaft und investierten sehr schnell große Beträge in neue Technik. Was mein Regional-Blatt in 30 Jahren erlebte, schaffte das Neue Deutschland in den letzten 10 Jahren während meiner Tätigkeit als Zusteller. Allerdings stellt die Halbierung


der Abonnentenzahl in diesem Zeitraum einen Extremfall dar. Der Rückgang wird natürlich befeuert durch das Aussterben der alten DDR-Genossen. Die Junge Welt, 1947 gestartet als Organ der FDJ, hielt sich dagegen tapfer im vergangenen Jahrzehnt und verzeichnete sogar Zuwächse in meinem Revier, denn sie konnte sich zu einer deutschlandweit gelesenen Zeitung entwickeln. Linksautonome aus Ost und West, Hipster-Linke und Ost-Senioren mit FDJ-Hintergrund haben sich gemeinsam vor das Abonnenten-Leck geworfen und den Untergang verhindert. Die TAZ blieb stabil auf sehr geringem Niveau und liegt in meinem Revier deutlich hinter der Jungen Welt. Trotz der starken Verluste hat das Neue Deutschland hier immer noch so viele Abnehmer wie TAZ und Junge Welt zusammen. Wie alle Medien-Erzeugnisse leben auch Zeitungen von Werbung. Ich sorge mich selbst regelmäßig um die Existenz meines eigenen kleinen Zeitungsprojektes und hoffe, dass mein Vertriebs-Kollege es wieder schaffen wird, die besonders einträgliche letzte Umschlagseite zu verkaufen. Es ist ein ziemliches Geschacher, bei dem am Ende zusammen mit den Verkaufserlösen ein ganz ordentlicher Betrag erwirtschaftet werden muss, um die Zeitung am Leben zu erhalten. Da die drei von mir verteilten Zeitungen wegen ihrer sehr eindeutigen politischen Ausrichtung und geringen Regionalität kein allzu großes Anzeigenaufkommen haben,


trifft sie die Neuaufteilung des Werbekuchens vermutlich nicht allzu sehr. Anders geht es da den regionalen Tageszeitungen, die sehr von Anzeigen und Werbebeilagen abhängig sind. Sie leiden stark unter der Konkurrenz des Internets, das immer mehr Aufmerksamkeit und Mittel und an sich zieht. Die Einnahmen aus Anzeigen haben sich bei den Tageszeitungen insgesamt seit der Jahrtausendwende mehr als halbiert, weswegen sich die Zeitungen verstärkt über Verkaufserlöse finanzieren müssen. Dadurch verteuern sich Abonnements, was wieder Abbestellungen zur Folge hat. Kostensenkung ist bei sinkender Abonnentenzahl angesagt, was besonders die Mitarbeiter in den Redaktionen und freie Mitarbeiter zu spüren bekommen. Dabei kommt es zu aus der Not geborenen lokalen Kooperationen. Eigentlich konkurrierende Blätter teilen sich Bereiche wie Anzeigen-Akquisition, Fotografen oder Zustellung, um Kosten zu sparen. Wirklich ­„lokal“ ist bei den regionalen Tageszeitungen auch nur noch der kleinste Teil. Der größere, überregionale Teil wird aus Kostengründen anderswo produziert und von ganzen Zeitungsverbunden genutzt. Dagegen ist eigentlich nichts einzuwenden, da die Themenvielfalt groß und der Qualitäts-Standart recht hoch ist. Bei dem anhaltenden Schrumpfungsprozess ist es klar, dass mir etwas bange ist um meinen schönen Minijob, zumal sich in letzter Zeit mein Lohn durch die Einführung des Mindestlohns stark erhöht hat. Darüber will ich mich wirklich nicht beschweren, aber wer weiß, wie lange das noch


gut geht? Wie ich höre, ist inzwischen der Vertrieb mit fast 40% der größte Kostenfaktor in der Zeitungsproduktion. Wie so oft hilft da die Flucht nach vorne. So konnte ich nach einer kurzen Vertretungszeit und Freiwerden eines Nachbarreviers durch eine Initiativbewerbung meinen Abonnentenbestand mehr als verdoppeln. Seitdem lohnt sich das frühe Aufstehen wieder. Allerdings ist die Tour nun so lang geworden, dass sie zu Fuß nur schwer zu bewältigen ist. Ich versuche daher neuerdings, unter allen Umständen mit dem Fahrrad zu fahren. Für Wintertage habe ich mir deshalb, zu meinem zehnjährigen Jubiläum als Zeitungsverteiler, einen Satz Unplattbar-Reifen mit Spikes geleistet, die sich im letzten Winter sehr gut bewährt haben. Nebenbei lockt schon wieder ein Nachbar-Revier. Wäre das nicht eine willkommene Abrundung meines kleinen Imperiums? Vertretungshalber durfte ich dort schon mal aushelfen und konnte feststellen, dass sich das Gebiet ohne allzu großen Aufwand in meine Tour einfügen würde. Ich bin jedenfalls fest entschlossen, mindestens bis zur nicht mehr allzu fernen Rente oder zu den letzten Zuckungen der ExDDR-Presse durchzuhalten und das letzte „Neue Deutschland“ notfalls zu Fuß an den Stadtrand zu tragen.


ZEITUNGMACHEN IST NICHT SCHWER

Ja, tatsächlich - rein technisch betrachtet, kann heute jeder seine eigene Zeitung herstellen. OK - vielleicht nicht gerade Tag für Tag, bzw. über Nacht und nur in begrenzter Auflage, Format und Umfang. Ob es vorgefertigte Musterseiten von Online-Anbietern sind, die mit Inhalten gefüllt werden oder am eigenen PC erstellte Layouts, man benötigt dafür keine teuren ­P rofi-Programme mehr und muss nur einige Vorgaben der jeweiligen Online-Druckerei oder des lokalen Anbieters erfüllen. Wenn man da etwas falsch macht, werden die Daten oft gar nicht erst angenommen. Früher schier unüberwindliche Hindernisse sind bereits aus dem Weg geräumt, denn es existieren keine behördlichen Druckgenehmigungen, Zensur oder Papier-Knappheit mehr. Durch die Digitalisierung sind viele Druckerzeugnisse der Internet-Anbieter so günstig geworden, dass ich manchmal glaubte, ich hätte mich beim Lesen der Preislisten vertan. Im Grunde kann der Zeitungsmacher auf seinem Schreibtisch-Stuhl verharren und nach Hochladen der Druckdaten auf das Klingeln des Paketboten warten. Ganze Berufszweige sind in der Druckvorstufe in den letzten Jahrzehnten überflüssig worden. Was Scharen


hochspezialisierter Facharbeiter wie ich früher mit stundenlanger, umständlicher Bastelarbeit und unter Einsatz von Chemie, Klebeband, Folien, Filmen und technischen Geräten erreichten, wird heute an einem Computer-Arbeitsplatz in Minuten erledigt. Die Druckdaten „materialisieren“ sich erst bei der digitalen Belichtung einer Offset-Druckplatte oder gelangen im Digitaldruck als Toner auf das Papier. Ganz unterschiedliche Berufsbilder sind fast miteinander verschmolzen und können theoretisch von einer Person ausgeübt werden. So kann ein Zeitungsredakteur auch Layouter, Autor, Grafiker und Vertriebler sein, ohne seinen Arbeitsplatz zu verlassen. Ob er jede Tätigkeit mit ausreichender Qualität bewältigen kann, ist eine andere Frage. Er kann auch mit ein paar Mouse-Klicks das Druckprodukt an einen oder mehrere Adressen ausliefern lassen und muss theoretisch nicht mal seinen Hintern anheben, um dem Paketboten zu öffnen. Die Internet-Druckereien sind gegenüber der Druckerei aus dem heimischen Gewerbegebiet oft im Vorteil. Im Zuge der Digitalisierung haben sie es mit einer verkleinerten Auswahl an Produkten, Papiersorten, Verarbeitungsmöglichkeiten und geringerem Personal- und Verwaltungsaufwand geschafft, die Konkurrenz zu überflügeln. Während die Druckerei um die Ecke mit einer unüberschaubaren Flut an Sonderwünschen kon-


frontiert ist, gibt die Online-Druckerei im Grunde vor, was in welcher Auflage gedruckt wird und kann gleiche Aufträge an bestimmten Standorten per Datenleitung zusammenführen und kostengünstig a ­ barbeiten. Natürlich sind Tageszeitungen, die ich jeden Morgen in Briefkästen werfe nicht vergleichbar mit privaten, kleinen Zeitungsprojekten und Online-Druckereien erfüllen nicht alle Wünsche. Die großen Zeitungsverlage verfügen über industrielle Drucktechnik und sind darauf trainiert, in kürzester Zeit gewaltige Papiermengen mit Hilfe haushoher Maschinen zu bedrucken und weiterzuverarbeiten. Sie haben große Redaktionen und der Verwaltungs- und Vertriebsaufwand ist enorm. Für das kleine, eigene Projekt kommt statt der Internet-Druckerei vielleicht doch die Firma um die Ecke in Frage. Jedenfalls bringe ich, wie schon beschrieben, die Druckdaten meiner Zeitung immer noch zu Fuß zum Druck. Ich bin einer dieser Kunden, die eine Extrawurst gebraten bekommen, das heißt, meine Zeitung unterscheidet sich mancher Hinsicht von den standardisierten Online-Angeboten. Bei anderen Druckaufträgen nutze ich dagegen auch regelmäßig die preiswerten Angebote einer großen Online-Druckerei. Genauso wichtig wie die technische Seite bei einem kleinen Zeitungsprojekt ist der Vertrieb. Wenn man nicht gerade über einen warmen Geldregen aus ­irgendeinem Fördertopf verfügt oder im Auftrag


­i rgendeines öffentlichen Trägers oder Vereins handelt, der nicht auf Verkaufserlöse oder Werbeeinnahmen angewiesen ist, braucht es jemanden, der auf Menschen zugehen und sie vom eigenen Projekt überzeugen kann. Er wirbt Anzeigenkunden, tut Verkaufsstellen auf und darf sich nicht zu schade sein, auch mal einen Tag auf einem Marktplatz die eigene Zeitung zu verkaufen und die Leute vollzuquatschen. Das Allerwichtigste ist aber eine Zielgruppe, an die sich die Zeitung wendet. Diese will mit interessanten Artikeln und Abbildungen unterhalten werden. Eine möglichst große Anzahl talentierter und zuverlässiger Autoren sollten im Umfeld der Zeitung bereit und in der Lage sein, neue Themen zu liefern oder im Auftrag etwas zu recherchieren und Menschen zu interviewen.

WINTERMORGEN

Die unerfreulichste Jahreszeit für das Verteilen von Zeitungen ist der Winter. Mit zunehmender Kälte und Dunkelheit schwindet die Lust, morgens auf das Fahrrad zu steigen. Viel leichter ist es doch, einfach zu Fuß in die kalte morgendliche Dunkelheit hinaus zu latschen. Keine kalten Finger stören das ohnehin sensible morgendliche Wohlbe-


finden, wenn man sie tief in den Taschen vergraben kann. Das Gewicht der Umhängetasche lässt sich zu Fuß auch leichter ertragen, wenn eine Hand mithilft. E ­ igentlich gehe ich bei Dunkelheit lieber zu Fuß, musste mich aber in den letzten Jahren wegen der Länge der Tour ganz für das Rad, für Handschuhe und die Satteltasche entscheiden. Sonderbare Zwischenspiele sind die Zeitumstellungen, welche ihre tagesverlängernde- oder verkürzende Wirkung während meiner Arbeitszeit entfalten. Im Frühjahr ärgert mich die plötzlich verlängerte morgendliche Dunkelheit. Ich fühle mich betrogen um die Minute für Minute erarbeite Helligkeit. Die früher einsetzende Helligkeit bei der herbstlichen Zeitumstellung empfinde ich dagegen als wohltuendes Geschenk. Eine wirkliche Herausforderung sind die Nächte und Morgenstunden, an denen Schnee gefallen ist. Dann werden noch kurz vor Mitternacht die motorbetriebenen Schneebürsten unter meinem Fenster vorbei geschoben oder gefahren, welche auch beim geringsten Schneefall pausenlos die Bürgersteige vor den Kliniken glatt polieren. Diese haben das Räumgeschäft wohl an externe Firmen ausgelagert. Ihre dröhnenden Bürsten-Flotillen machen kurz vor Mitternacht Feierabend und legen schon morgens um 4.00 Uhr wieder los. Ich trauere den Zeiten hinterher, in denen einige träge Hofarbeiter fast geräuschlos das Nötigste taten, um morgens ein paar freie Zugänge zu den Kliniken


frei zuschieben und bete für die rasche Verbreitung des ­Elektromotors bei den Schneebürsten. Oft bin ich der erste, der seine Fahrrad- oder Stiefelspur in die frisch verschneiten Seitenstraßen meines Viertels setzt. Mit ein paar robusten Stiefeln und Spikes an den Reifen ist so eine winterlicher Morgen­tour kein Problem und nur ein wenig anstrengender. Vorsicht ist an Stufen vor Hauseingängen geboten. Da besteht die Gefahr, ernsthaft zu verunglücken. Ehe ich mich versah, holten mich schon einige glitschige Stufen von den Beinen. Auch an Tagen mit sogenanntem „Blitzeis“ habe ich schon so manche riskante Pirouette gedreht oder auch mal für hundertstel Sekunden waagerecht in der Luft geschwebt. Dennoch bin ich erstaunt, wie ernst die Hausbesitzer und Mieter meiner Umgebung ihre Räumpflicht nehmen. Da äußert sich echtes Pflichtbewusstsein. Nur dort, wo irgendein externer Räumdienst beauftragt oder die Verhältnisse und Pflichten unklar sind, passiert manchmal tagelang nichts. Es gibt auch die klaren, schneefreien Frosttage, an denen die Gullys Rauhreif-Bärte tragen. Vermutlich haucht da ein heißes Dusch- oder Wannenbad etwas Wasserdampf auf seinem Weg durch die Kanalisation auf die Straße. Dieser gefriert sofort und bildet einen weißen Vollbart aus Eis an der windabgewandten Seite. Gefährlich sind winterliche Straßen, deren Glätte ich erst erkenne, wenn ich mit dem Rad ins Rutschen komme. Das geschieht manchmal erst Kilometer nach dem Start auf ei-


ner Brücke oder einer besonders glatten Asphalt-Partie. Unangenehm wird es auch bei Regen, welcher bei Dunkelheit durch Laternen- oder Scheinwerferlicht in jedem einzelnen Tropfen auf meiner Brille Lichtbrechungen und Lichtreflexe erzeugt. Dann muss ich ohne Sehhilfe Fahren oder zu Fuß gehen. Bei starkem Nieselregen und Laternenlicht ist Radfahren mit Brille fast unmöglich. Unangenehm ist auch die bei Temperaturen von unter 10 °C und bei sportlichem Radfahren ständig laufende Nase.

KATZEN

Sie hocken jeden Morgen in der Nähe ihrer Hauseingänge und Türen und schauen mich erwartungsvoll, ängstlich oder manchmal etwas hochmütig an. Ganz verschiedene Katzen-Charaktäre begegnen mir auf meiner Tour. Als Dämmerungs- und Nachtaktive haben sie ihre Pflichten absolviert und sehen einem angenehmen Feierabend entgegen. Sie gewähren auserwählten Menschen oder einer Menschengruppe, welche hinter einer der Türen wohnt, die große Gunst ihrer Anwesenheit. Dafür haben sie das Recht auf Fütterung, Obdach und Liebe. Wenn die Menschen ihre Aufgaben gut erfüllen, legt ihnen die Katze vielleicht ein paar leckere Mäusegedärme vor die Terrassentür


und auch streicheln lässt sie sich dann. „Wenn nicht schon wieder diese beschissene Tür verschlossen wäre“, scheint die etwas hochnäsige Katze aus meiner Nachbarschaft zu miauen. Es ist immer das Gleiche, auf nichts kann Katze sich mehr verlassen. Aber da kommt ja so ein Zweibeiner angerollt, welcher Dank seiner erstaunlich gewachsenen Vorderpfoten über die unverdiente Gabe des Greifens verfügt. Er könnte also dieses scheußliche Dings öffnen, welche den Weg zum weichen, warmen Feierabend-Lager und zum lecker gefüllten Fressnapf versperrt. Aber nein, man hätte es wissen können! War er nicht schon gestern hier? Und vorgestern? Das hoffnungsvolle Miauen wird fordernder und weicht einem genervt-resignierten Ton. Wozu taugt dieser Mensch also, wenn er bei all seiner Kraft und Größe nicht mal eine schwer arbeitende Katze zur wohlverdienten Ruhe verhelfen kann? Oder will er es gar nicht? Es ist zum Verzweifeln - er will einfach nicht - oder will’s nicht verstehen. Aus purer Blödheit! Stopft nur etwas in diese komischen Kästen rein, und fährt wieder weg. An den folgenden Tagen wird der Typ nur wie gewohnt kurz und erwartungsvoll angemauzt, bevor er als der morgendliche Versager erkannt wird. Ach, der wieder! Andere Katzen, denen ich frühmorgens begegne, sind weniger herausfordernd. Sie sitzen bewegungslos auf Mülltonnen oder verstecken sich irgendwo unter Autos oder Büschen und beobachten mich mit einer Mischung aus


Vorsicht und Neugier. Eine zurückhaltende Vertreterin ihrer Art versucht mir in einer Art sympathischer Zeichensprache eine wichtige Nachricht zu übermitteln. Auch hier geht es um das Öffnen der Haustür. Dazu kommt sie herbeigeeilt, weist freundlich miauend mit dem Kopf in Richtung Türklinke und reibt ihre Seite an der Tür. Ersatzweise streichele ich sie kurz und spreche mit ihr. Ich werfe die Zeitung in den Briefkasten, entschuldige mich höflich dafür, dass ich nicht behilflich sein konnte und rolle von dannen. Die „Fensterguckerkatzen“ gucken etwas wehmütig aus Fenstern von Paterre-Wohnungen in die morgendliche Welt hinaus. Ihr Gegenstück sind diejenigen, die ungeduldig draußen auf Fensterbrettern hocken und durch das Glas in die Wohnungen schauen. Sie wollen herausfinden, warum es an diesem Morgen schon wieder nicht klappt mit pünktlichem Einlass, Obdach und Bewirtung. Die coolste Vertreterin ihrer Art ignoriert mich völlig. Sie hat noch irgendetwas wichtiges zu erledigen und pirscht vor meiner Nase über Bürgersteige und durch Gebüsche, wobei sie notfalls auch zwischen den Rädern meines abgestellten Fahrrads hindurch läuft. Ich werde dabei keines Blickes gewürdigt.


IM PARK

Wie schön ist doch ein Hochsommermorgen. Da ­fahre ich nach meiner Runde gerne in den benachbarten Park, um eine meiner überzähligen Zeitungen zu lesen. An einem warmen Morgen steigt die Sonne schon langsam über die Bäume und vertreibt ein leichtes Frösteln. Manchmal ist es aber in den Morgenstunden so warm, dass man schon ganz früh ohne Jacke oder Pullover auf­brechen kann. Es ist der Ausklang einer „tropischen Nacht“, in der die Temperatur nicht unter 20 Grad sinkt. Dieser Park bei Sonnenaufgang ruft Erinnerungen wach an das morgendliche Erwachen auf hochsommerlichen Wanderungen. Fast immer wurde im Wald übernachtet, um nicht entdeckt zu werden. Der frühe Aufbruch gehörte bei diesen Wanderungen dazu, weil niemand lange schlafen konnte. Nach einem starken Kaffee aus der Thermoskanne begann der Tag. Das frühe Aufstehen schenkte uns einen langen Wandertag und ließ uns die angenehm kühlen Temperaturen des Morgens optimal ausnutzen. Nach klaren Nächten ist die Parkbank voller Tau, aber es sind auch genug Zeitungen in der Tasche, um sämtliche Bänke damit zu pflastern. Der Park hat eigentlich Wald­ charakter. Hohe Laubbäume lassen nur wenig Licht ins Unterholz und sorgen dafür, dass sich nur wenig Verkrautung bildet. Nur an der Wiese, an der meine Bank steht, wuchern


hohe Brennnesseln und Springkraut. Manchmal liegen ein paar Überreste des Grillabends in der Gegend herum, und so schiebe ich zwei Bierflaschen diskret beiseite. Niemand soll denken, ich würde schon am frühen Morgen solche Getränke konsumieren. Tatsächlich tue ich mich schwer, Bier in der ersten Tageshälfte auch nur zu einzukaufen. Insgeheim halte ich es noch nicht für abgemacht, dass ich nicht selbst irgendwann mal Bier trinkend, sozusagen „hauptberuflich“, auf einer Parkbank ende. Sehr oft ist die Bank völlig verschmutzt. Viele Benutzer halten es merkwürdigerweise für notwendig, auf der unbequemen Oberkante der Lehne zu hocken. Sie trampeln dadurch auf der Sitzfläche herum und hinterlassen so jede Menge Erde darauf. Gerne würde ich mal einen dieser Menschen dazu befragen: Warum nutzt du nicht den bequemen Sitz und quälst dich auf der Kante herum? Das hinterlässt doch Prellungen am Gesäß und schädigt die Körperhaltung. Auch ginge das Einspeicheln des Bodens, das bei jungmännlichen Banknutzern offenbar dazu gehört, leichter im Sitzen. Ich vermute ja, dass es sich dabei wieder mal um den in Jugendgruppen herrschenden leidigen Zwang zu unangepasstem Verhalten handelt. Gott sei Dank habe ich das hinter mir und habe es mir, wenn ich ehrlich bin, auch als relativ braver Heranwachsender auf Bänken immer bequem gemacht. Ein Ärgernis sind einzelne oder in Rudeln auftretende Hunde samt Herrchen oder Frauchen. Diese stören schlag-


artig mein Konzept der einsamen Morgenidylle. Nicht nur, dass das vorauseilende Tier neugierig an mir herumschnüffelt - nein, auch das telefonierende Frauchen ist ein Ärgernis. Es kommt so weit, dass ich mir eine andere Bank für meine Presseschau suchen muss. Warum müssen Menschen überhaupt beim Gassigehen im Park lautstark telefonieren? Dieses Phänomen ist durchaus verbreitet und irgendwie symbolisch für unsere moderne Welt. Ruhe hat für viele etwas Beängstigendes, die andauernde Beschallung und Reizüberflutung darf scheinbar nie aussetzen - auch nicht in dieser tautropfenglitzernden, vogelzwitschernden, morgendlichen Parkidylle. Lasst doch euren unnützen Multi­media-Schnickschnack zu Hause, sperrt eure Ohren auf, atmet tief die Morgenluft und schließt noch mal kurz die Augen! „Still sein und Staunen lernen“ sage ich nur. Tagsüber ist mir ja dieses Achtsamkeits-Getue zuwider, am frühen Morgen aber gelten andere Maßstäbe. Wie soll eigentlich euer Hund diese Wortflut deuten oder verarbeiten, die aus seiner Sicht scheinbar ins nichts oder an ihn selbst gerichtet zu sein scheint. Als Hund würde ich mir aus Protest irgendeine unangenehme psychosomatische Störung zulegen - beispielsweise in unpassenden Momenten in‘s Wohnzimmer pupsen oder so... Mehr Nachsicht habe ich mit zwei Sportlerinnen, die in der Nähe meiner Bank mit ihren morgendlichen Dehnungsund Kräftigungsübungen beginnen wollen. Eine scheint so eine Art Personal-Coach zu sein, der die Übungen vormacht.


Die andere turnt das Gesehene etwas unbeholfen nach. Sie fühlen sich natürlich durch mich belästigt und werfen mir vorwurfsvolle Blicke zu, so als ob ich hier der Störenfried sei. Na gut, dann packe ich meine Zeitung eben wieder ein und verschwinde von meiner Lieblingswiese. Sie können ja nicht wissen, dass sie keineswegs die Entdecker dieser Idylle sind und dass ich hier schon seit über zehn Jahren regelmäßig Presseschau halte. ­Prämium-Plätze wie hier, sind nicht so reich gesät. Anderswo ist mir zu viel Betrieb oder die Bank liegt zu weit entfernt und nicht in der wärmenden Morgensonne. Mein eigener Tagesablauf entschleunigt sich in dieser Stunde noch mal deutlich. Eine der größten Errungenschaften meines Lebens ist es, mich um 7.30 Uhr noch mal hin legen zu können. Was gibt es Besseres, als sich eine halbe Stunde später zu erheben, zu frühstücken, eine abonnierte Zeitung zu lesen, einen starken Kaffee zu trinken und wirklich ausgeruht in den Tag zu starten?


DER ZAUBER IST VERFLOGEN

Nach 8.00 Uhr verblasst meine Morgenwelt und die Normalität des Tages bricht an. Die wellenartigen stündlichen Menschenschübe des Berufsverkehrs weichen einer gleichmäßig-werktäglichen Belebung der Straßen. Ausgeschlafene Menschen treten ins Freie und erledigen etwas im Nahbereich ihres Hauses, kaufen ein oder verbringen ihre Freizeit im öffentlichen Raum. Die Lage beruhigt sich, wird aber schlicht unübersichtlich. Sie erscheint mir fremd und frei von jeder Regelmäßigkeit zu sein. Wer eine Arbeit hat, ist zumeist an seinem Arbeitsplatz oder in irgendeiner dienstlichen Mission unterwegs. Die Straßen leeren sich zunächst, um sich zur Tagesmitte wieder stärker zu beleben. Die allgemeine Vorschubbewegung ist in den Normalbetrieb übergegangen, der morgendliche Zauber verflogen. Ich kenne mich nicht mehr aus in dieser 8-Uhr-Welt. Sollen doch Andere darüber berichten. Pünktlich zur Fertigstellung dieses Textes ist mein Minijob nach fast elf Jahren gekündigt worden. Der kleine ­Kurier-Dienstleister kann nach eigener Aussage die Zustellung der Tageszeitungen nicht mehr kostendeckend organisieren und hat diesen Bereich völlig aufgegeben. So richtig überrascht hat mich diese Nachricht nicht, denn es steht


wieder eine Erhöhung des Mindestlohns bevor. Kurz entschlossen habe ich mich bei der dem großen Zeitungsverlagshaus meiner Heimatstadt angeschlossenen Vertriebsfirma gemeldet. Der Arbeitgeber, dem ich vor über 30 Jahren „tschüß“ gesagt hatte, bot mir gleich mehrere Jobs an, die allerdings das Mehrfache an Zeit und Aufwand kosten würden. Ein kleiner Wohlfühl-Minijob wie ich ihn gewohnt war, ist offenbar nicht zu haben. Auch behauptete mein Gesprächspartner, dass die von mir gerade eben verteilten Zeitungen längst übernommen worden seien. Es scheint so, als ob einzelne Gebiete in meiner Nachbarschaft tatsächlich längst von der kleinen Vertriebsfirma abgegeben worden sind. So führten wir noch eine kurze Nonsens-Diskussion, an deren Ende ich mich von der ­Zeitungs-Zustellerei gedanklich verabschiedet habe. Pünktlich zum Frühlingsanfang kann ich also wieder ausschlafen und bin insgesamt freier in meiner Zeiteinteilung. Vielleicht findet sich ja auch noch ein kleiner, zu mir passender Nebenjob. Auch erfordert die eben beschriebene Zeitungsschau im Park an einem warmen Sommermorgen nicht zwingend eine zwölf Kilometer lange Fahrradtour durch die Stadt. Ich kann einfach im Vorübergehen meine eigene Tageszeitung aus dem Briefkasten greifen und in den Morgen hinaus schlendern.



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