Multergasse 10

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FormatOst Multergasse 10 Leseprobe Liana Ruckstuhl

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Liana Ruckstuhl

Multergasse 10 Eine St. Galler Altstadtkindheit in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts


© 2021 by Verlag FormatOst, CH-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Gestaltung: Brigitte Knöpfel Gesetzt in Janson und Din Engschrift Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn ISBN 978-3-03895-038-7 www.formatost.ch


Inhalt Einleitung … 7 Waschtag … 11 Gasse … 19 Posten … 33 Spielen … 45 Handwerk … 63 Wasser … 77 Ausflüge … 91 Kindergarten … 105 Unterstufe … 113 Mittelstufe … 129 Töff … 143 László … 151 Ortovero … 161 Nachwort und Dank … 172 Glossar Mundartbegriffe … 174 Bildnachweis … 178

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Altstadtheimat im 3. Stock an der Multergasse 10.


Einleitung Multergasse 10, das Geschäftshaus Wappler-Friderich, Mercerie und Stoffe, das alle Schneiderinnen von St. Gallen kannten, weil sie dort regelmässig Knöpfe, Reissverschlüsse, die neuesten Schnittmuster und hin und wieder auch edle Stoffe für ihre Kundinnen einkauften. Das Haus Multergasse 10 mit seinem engelverzierten Erker beim kleinen Platz mit dem Bacchusbrunnen war das Epizentrum unserer Kindheit. War Heimat unserer Altstadtkinderjahre in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, war Mittelpunkt unseres von Leben strotzenden Mikrokosmos nördlich des Klosterplatzes, ungefähr im Bereich innerhalb der Multergasse, Marktgasse, Gallusstrasse und Webergasse. In dieser kleinen Stadtwelt gab es damals drei Metzgereien, vier Bäckereien, zwei Käseläden, einen Konsum, zwei Kolonialwarengeschäfte, sogar zwei Möbelhäuser und ein Teppichgeschäft, das Hotel Schiff, zwei Schuhmacherwerkstätten, zwei Hutläden, ein Korsettgeschäft für die Damen, einen Laden, in dem man nur Handschuhe kaufen konnte und viele andere gut laufende Geschäfte. Und heute? Mobile-Zone, H & M, Swisscom, Sunrise, Salt … Damals wohnten viele Familien mit Kindern – meist zwei bis vier pro Familie – in unserer südlichen Altstadt. Wir zum Beispiel waren zu viert. Und heute? Nicht ein einziges Kind wächst mehr in den ehrwürdigen St. Galler Altstadtgassen auf. In unserer Primarschulzeit aber waren es immer zwischen fünfunddreissig und vierzig Buben und Mädchen. Die Damm-Gofen nicht mitgezählt. Das waren die Kinder der eher armen Familien, die in den sehr einfachen Sozialwohnungen auf dem Damm 7


südlich vom Gallusplatz wohnten. Diese gleichaltrigen Kinder wurden von uns gemieden, warum auch immer. Auf jeden Fall taten wir alles, um zu verhindern, dass sie mit uns auf dem Klosterplatz, unserem Spielparadies, mittun konnten. Traurig, aber wahr. Sogar ein bisschen rassistisch, naiv-rassistisch. Aber, so wurde es uns halt von klein auf von den älteren Kindern unserer Gassen eingebläut und wahrscheinlich von Jahrgang zu Jahrgang weitergegeben. Ach ja, und da war noch das Globusglöggli – ist es übrigens heute noch – hoch oben im Turm des Warenhauses Globus an der Ecke Multer- und Webergasse. Wie ein Metronom gab es uns Kindern, von denen natürlich keines eine Armbanduhr besass, mit seinem hellen Klang den Takt vor. Sechs Glockenschläge am Abend – schnell zum Znacht nach Hause! Halb acht am Morgen – ab auf den Schulweg! Halb eins am Mittag – Maul halten wegen Nachrichten im Radio! Und für unsere Mutter einmal im Monat früh morgens beim fünften Glockenschlag – aufstehen, Waschtag! Von diesem Waschtag möchte ich jetzt berichten, später dann vom vielfältigen Leben und Betrieb auf der Gasse, dann vom Posten, dem Einkaufen in unseren Kindertagen. Es sind drei Schwerpunkte aus einer Fülle von Erinnerungen an das Leben an und in der Multergasse in der vergangenen Jahrhundertmitte. Anschliessend sollen in meiner Erzählung mit erweitertem Horizont unter anderem das Spielen auf dem Klosterplatz oder meine Schulzeit nochmals aufleben.

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Das Globusglöggli bestimmte den Tagesablauf.

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Waschküche mit beheizbarem Waschhafen und Wäscheschleuder.


Waschtag Das Haus Multergasse 10 war von seinem Aufbau her eher ungewöhnlich, zumindest was die Waschküche betraf. Diese war unter dem Dach eingerichtet, nicht wie bei anderen Altstadtwohnhäusern zur ebenen Erde oder gegen einen Innenhof. Der grosse Waschtag fand also im sechsten Stockwerk statt, direkt unter der Dachzinne, wo unsere Mutter die Wäsche uf em Dach, also nochmals eine Etage höher, zum Trocknen aufhängte. Das Brennholz aber, das zum Anfeuern des Waschhafens benötigt wurde, war im unteren von zwei Kellergeschossen gelagert. Nach Adam Riese musste das Holz für den Sud der Wäsche also acht Stockwerke hinaufgetragen werden. Und damit begann der Waschtag jeweils schon am Vorabend. Unglaublich, was unsere Mutter da im Laufe der Jahre an Feuerholz in einer Chräze auf ihrem Rücken die Treppen hinaufgeschleppt hat. Das war körperliche Schwerstarbeit wie der ganze Waschtag. Und dabei war es für sie selbstverständlich, dass dies alles ihre Aufgaben waren. Ebenfalls am Vorabend musste das Einweichen der Wäsche erledigt werden. Dafür wurden zuerst zwei grosse Holzroste direkt vor dem Waschhafen auf den Zementboden der Waschküche gekippt. Darauf stellte Mutter dann die riesigen Gelten, das sind metallene Behältnisse, in denen wir Kinder übrigens im Sommer wunderbar baden konnten, und füllte sie mit einem Schlauch mit kaltem Wasser. Und dann – hinein mit Leintüchern, Küchen- und Tischwäsche, Hemden, Hosen und was immer von einer sechsköpfigen Familie einer Reinigung bedurfte. Bis zum nächsten Morgen sollten so die Flecken in den Textilien aufgeweicht werden und die Wäschestücke bereit für den eigentlichen Waschvorgang sein. 11


Kernseife und Waschbrett waren Grundlagen für Schwerstarbeit beim Waschen.

Der Waschtagmorgen begann für unsere Mutter früh um fünf Uhr. Zuerst verwandelte sie sich – so wenigstens nahmen unsere Kinderaugen es wahr – in ein perfektes Waschweib mit dicksohligen, schweren Schuhen wegen der Nässe am Boden, einer sonst nie gebrauchten Gummischürze und mit kunstvoll geknotetem Kopftuch um die Haare wegen des Dampfes. Nach einem kurzen Kaffee stieg sie dann hinauf ins bald einmal nassfeuchte Waschfrauenreich. Zuerst musste der Waschhafen eingeheizt werden, ein trommelförmiges Ungetüm aus Kupfer mit einem beheiz­ baren Unterteil inklusive Rauchabzug, direkter Wasserzufuhr und einem abhebbaren Oberteil, in dem das Wasser erhitzt wurde. War es dann soweit, kamen Unmengen von Seifenflocken – die kaufte man im Konsum schachtelweise – in den Sud, und da drin durften die Leintücher oder die Küchenwäsche fröhlich vor sich hin brodeln. Natürlich musste unten immer für genügend Holz- und Brikettnachschub gesorgt werden. 12


Inzwischen hatte sich unsere Mutter an der Handwaschgelte, die auf einem Dreibeinbock stand, in Position gebracht. Die Gelte hatte sie vorher mit einer langstieligen Schöpfkelle mit Heisswasser aus dem Waschhafen gefüllt. Und so stand sie dann da und schrubbte mit Hilfe von Bürste, Kernseife und Waschbrett Kleidungsstück für Kleidungsstück: jede Unterhose, jede Socke, jede Schürze, einfach alles, was nicht gekocht werden durfte. Stundenlang. Inzwischen hatte der Waschhafendampf die Waschküche fast völlig eingenebelt. Was von Hand sauber gewaschen und geknetet war, kam zum Spülen in eine Wassergelte mit bis zu dreimaligem Wasserwechsel. Sobald der Sud im Waschhafen soweit war, mussten in mühsamer und anstrengender Weise die tropfnassen und entsprechend schweren Leintücher mit einer langen Holzstange aus dem Seifensiederinferno befreit und wie die kleineren, farbigen Textilien gespült werden. Einen Unterschied zu diesen gab es allerdings, einen Unter13


Multergasse 11: Coiffeur Fleuchaus, links Eingang zur Metzgerei Schwab.


Gasse Selbstverständlich war die Multergasse in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts noch nicht autobefreit wie heute. Genauer, autofrei war sie eigentlich schon, aber nicht, weil die Stadtbehörde sie verkehrsberuhigt hätte, sondern ganz einfach darum, weil es keinen Autoverkehr gab. Nur ganz vereinzelt wohnten oder arbeiteten Personen in der Gasse, die Besitzer eines Autos waren. Jedes Kind kannte die Nummern der Kontrollschilder auswendig und konnte sie dem jeweiligen Halter zuordnen. Noch heute könnte ich sie alle aufzählen. Das bedeutet nun aber nicht, dass es in unserer Gasse keinen Verkehr gab. Ganz im Gegenteil. Aber es war eben Verkehr, der nicht beruhigt werden musste, weil er in gewisser Weise schon ruhig, irgendwie gemütlich und langsam die Gasse belebte. Da war zum Beispiel der Paketpöstler, Herr Sonderer. Sein Gefährt war ein kutschenähnlicher Kasten auf vier Rädern, natürlich in postgelber Farbe und von einem Pferd gezogen. Rosa hiess das Zugtier und hatte eine mir damals sympathische Angewohnheit: In Warteposition vor dem Café Roggwiller begann es mit dem Huf auf dem Trottoir zu scharren, offenbar wohlwissend, dass augenblicklich eine Verkäuferin der CaféKonditorei erscheinen und der braven Rosa ein paar Würfelzucker füttern würde. Jeden Tag. Ja, und so stand Rosa jeweils wenigsten für Augenblicke still, war beschäftigt, und wir Kinder konnten ohne Angst an ihr vorbei gehen. Grund genug für meine Sympathie! Der Pöstler für die Briefe absolvierte seinen täglichen Rundgang zu Fuss, nur ganz selten mit dem Velo. Sein Kennzeichen war – ausser der blauen Uniform mit der gleichfarbigen Schirmmütze – eine riesige, abgegriffene Um19


hängeledertasche mit unzähligen Fächern, woraus er dann die verschiedenen Briefkästen fütterte. Im Winter gab es zum Postwagen noch ein anderes 1-PS-Ungetüm, das durch die Gasse schnarrte: den Schneepflug. Zwei Holzbalken, v-förmig montiert, pressten den Schnee auf beide Seiten der Gasse zu regelmässigen Maden, während das Zugpferd gleichmütig durch die Gasse schritt. Ich war immer sehr beeindruckt von diesem Vorgang, allerdings weniger vom Pflugpferdeführer, der mit einer Peitsche das arme Tier antrieb. Aus dem frisch gepflügten Schnee bauten wir Kinder hie und da auf dem Brunnenplatz gegenüber der Multergasse 10 einen Schneemann. Nicht mit Schnee, sondern mit Eis hatte das dritte Pferdefuhrwerk zu tun, das allerdings ausschliesslich im Sommer in der Gasse zu sehen war. Nein, das ist kein Widerspruch, sondern absolut logisch. Die Erklärung liegt in der Tatsache, dass nicht nur Privathaushalte, sondern auch Restaurants noch keine Kühlschränke hatten. Darum sorgte die Brauerei Schützengarten dafür, dass in ihren Beizen auch bei hohen Temperaturen das Bier kühl gezapft werden konnte. Nämlich so: Sie belieferten die Beizen regelmässig mit riesigen länglichen Eisblöcken. Diese wurden auf der Ladefläche von Pferdefuhrwerken unter einer Blache transportiert, von einem Eismann vor dem betreffenden Restaurant mit einem langen Eisenhaken vom Fuhrwerk auf dessen Schulter gezogen und so zum Eiskeller transportiert. Markenzeichen dieser Eismänner waren ihre lange Lederschürze und das Schutzleder über der Schulter. Sehr gut erinnere ich mich an eine weitere Figur, die zum Alltagsverkehr in der Gasse gehörte, an unseren Milchmann Herrn Lehmann. Auf einem zweirädrigen Handwagen hatte er mit Seilen zwei Milchtansen befestigt. Die schob er von Haus zu Haus und war einem Schwätzchen mit seinen Kundinnen nicht ab­ geneigt. Diese schrieben ihre tägliche Milchbestellung in ein Büchlein und hinterlegten es im Fach unter dem Briefkasten. Abgerechnet wurde Ende Monat, eben mit der noch heute sprichwörtlichen Milchbüechlirächnig. Herr Lehmann schöpfte 20


Kaffee Baumgartner an der Multergasse 6.

die Milch mit einem metallenen Litermass aus der Tanse in das Milchkesseli, das in keinem Haushalt fehlte, und deponierte es im Fach unter dem Briefkasten. Im Milchkästli, das als Begriff auch heute noch gebräuchlich, der Funktion nach aber längst ein Depot für Onlinelieferungen geworden ist. Wir Kinder kannten in unserer Gasse viele Geheimtipps, wie wir die Freizeit mit mehr oder weniger erlaubten Aktivitäten interessant und lustig gestalten konnten. Da gab es beispielswei21


Vor dem Haus Multergasse 2a fanden im Sommer Platzkonzerte statt.

se im Schuhhaus Bally ein Minikarussell für die junge Kundschaft. Die Verkäuferin kannte uns, und wenn wir nett fragten, durften wir – auch ohne Kaufabsichten – aufsitzen und uns im Kreis drehen, solange wir wollten oder bis uns schlecht war. Im Warenhaus Oscar Weber an der Ecke Markt- und Multergasse war eine andere Lieblingsbeschäftigung angesagt: Liftfahren! Es gab noch sehr wenig Lifte, darum lockte ein exklusives Vergnügen, wenn wir vom rotlivrierten Liftboy die Erlaubnis zum Einsteigen bekamen. Er steuerte den Lift im Innern der Kabine mit einem grossen Hebel und rief jede Etage aus, zum Beispiel: «3. Stock, Spielwarenabteilung.» Sie war bei uns natürlich besonders beliebt. Wir fuhren aber nicht einfach zu diesem Stockwerk hinauf, sondern der Liftboy liess uns mitfahren – hinauf und hinunter, hinauf und hinunter – solange wir wollten. Oder auch da – bis uns schlecht war. Im anderen Warenhaus 22


am westlichen Ende der Multergasse, im Globus, war für ungetrübten Spass ein bisschen Strategie angesagt, um dem aufpassenden Personal nicht unter die Augen zu geraten. Immer gelang es uns nicht, und so setzte es hin und wieder eine saftige Ohrfeige ab, wenn wir beim vergnüglichen Treppengeländerrutschen erwischt wurden. Weit kinderfreundlicher als die Globus-Verkäuferinnen war Herr Stolz, ein älterer Herr, der in den Wochen vor und während der damals noch jungen Olma Lose verkaufte. Übrigens, während der Olma-Zeit dekorierten die Läden in der Gasse ihre Schaufenster immer besonders attraktiv, go Schaufenschter aaluege war daher ein fester Programmpunkt in den Oktobertagen unserer Kindheit. Doch zurück zu Herrn Stolz. Er sass an einem kleinen Tisch auf dem Platz bei der Löwenburg, dem Haus, in dem das Kleidergeschäft Staiger-Birenstihl untergebracht war. Heute heisst der Ort Bärenplatz. Auf seinem Tisch hatte Herr Stolz viele bunte Papierlose aufgehäuft, an Metallösen auf Schnurringen aufgereiht. Auf der Tischplatte waren die Listen mit den Endnummern der Sofortgewinne aufgeklebt – einen, zwei oder für die Glücklichsten fünf Franken. Ich habe noch heute in den Ohren, wie Herr Stolz die Passanten mit seinem «Olma-Lösli! Olma-Lösli!» anzulocken versuchte. Manchmal riet er seiner Kundschaft, die Lose doch durch uns Kinder auswählen zu lassen, wir wären Glücksbringer. Was aber nur ganz selten zum Erfolg führte. Aber stolz waren wir – dank unserem Herrn Stolz – trotzdem. Schon als Kind hatte ich eine Affinität zur Sprache, zu Wörtern. Dafür gab es in der Multergasse genügend Futter mit all den zum Teil seltenen Namen der Geschäftsinhaber, die meine Fantasie beflügelten. Schade, dass meine kindlichen Namensinterpretationen der nüchternen Realität weichen mussten. Die Herren Überschlag verkauften nämlich – völlig unspektakulär – Möbel und kannten einen Salto höchstens aus dem Zirkus. Genauso wie der schon erwähnte Staiger-Birenstihl Kleider in seinem Sortiment hatte und keine Obststiele versteigerte. Ähnlich konnte man bei Siebenrock weder einen einzelnen noch 23


Im Hotel Schiff an der Multergasse logierten auch amerikanische Soldaten.


sieben Röcke erwerben, dafür alle Geräte, die man im Haushalt und vor allem in der Küche brauchte. Fleuchaus war ein Coiffeursalon, kein Anbieter für Ausflüge, und der Bäcker in unserer Nachbarschaft hiess wirklich Hanspeter Beck und hatte daher mit Fug und Recht den Firmennamen Beck Beck kreiert. Baumgartner röstete Kaffee, was man übrigens jeweils in der ganzen Gasse riechen konnte, und hatte weder mit Bäumen noch Gärten etwas am Hut. Bolli war ein angesehener Juwelier und nicht, wie ich flunkerte, der verstossene Sohn von Zolli Bolli – die Gebrüder Grimm lassen grüssen. Die Metzgersleute der Metzgerei Schwab waren Schweizer, Fräulein Schweizer vom Stoffladen hingegen ehemalige Schwäbin. Und beim Fotogeschäft Hausamann hatte sich im Namen – für mein Gefühl falsch – ein a zwischen das Haus und den Mann eingeschlichen. Das Wort Ammann und seine Bedeutung waren mir damals noch unbekannt. Hausamann, Hans Hausamann. Dieser Name bringt mich zu einem Abschnitt mit Erinnerungen, deren Inhalt ich in vielen Fällen erst viele Jahre später verstehen lernte. Er handelt von der Multergasse in der Nachkriegszeit. Spürte man in unserer so heilen Gassenwelt irgendetwas vom grossen Krieg, der eben erst zu Ende gegangen war? Bewusst als Kriegsfolge erlebt habe ich nichts. Doch gab es durchaus Fakten und Geschehnisse, die irgendwie mit dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung standen, ich konnte sie damals nur nicht einordnen. Für mich waren es einfach frühkindliche Erlebnisse. Ich denke dabei vor allem an László, den zwölfjährigen Jungen aus Ungarn, der 1948 einige Monate in unserer Familie lebte, um sich von den Kriegsfolgen zu erholen. Die genauen Zusammenhänge und vor allem die Umstände, wie es dazu kam, verstand ich erst viel später. Darum werde ich in einem der folgenden Erinnerungskapitel genauer darauf eingehen. Doch zurück zum Leben an der Multergasse in der Nachkriegszeit. Sehr gut erinnere ich mich zum Beispiel daran, dass man für den Kauf von Eiern und Butter (bis 1947) Rationierungsmärkli im Amtshaus an der Neugasse holen musste und 25


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