Pilgern erdet und himmelt

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Josef Schönauer

PILGERN ERDET UND HIMMELT Geschichte, Spiritualität, Symbolik des Pilgerns – illustriert mit Erlebnissen auf dem Jakobsweg


Die Herausgabe dieses Buches wurde unterstützt durch:

Umschlagbild: Pilgergruppe auf dem Luzerner Jakobsweg bei Stocki zwischen Willisau und Ufhusen, 12. Mai 2018

© 2021 by FormatOst, CH-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Gestaltung: Brigitte Knöpfel Gesetzt in Minion Pro und Macklin Sans Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn ISBN 978-3-03895-026-4 www.formatost.ch


INHALT

10  Vorwort 14  Unterwegssein als Konstante 15 Tiere reisen in die Ferne und zurück zum Geburtsort 19 Die Menschen – «heute hier, morgen dort» 19 Die Nomaden auf Nahrungssuche 19 Völker wandern 19 Emigration und Immigration 21 Fahrende unterwegs auf Achse 21 Die Wandergesellen mit Hut und Stock 22 Als Flüchtling auf den Weg gezwungen 23 Aus Grau mach Blau 23 Mit dem Lastwagen quer durch Europa 26 Was ist pilgern? – Eine Annäherung 26 Pilgerreise als Metapher für den Lebensweg 26 Pilgern und wallfahren 28 Pilgern und wandern 29 Pilgern in der Bibel 29 Pilgern auf dem Jakobsweg

48 Motivationen zum Pilgern 48 Tapetenwechsel 49 Neugier auf das Fremde 49 Sehnsucht nach Abenteuer und Improvisation 50 Sehnsucht nach Einfachheit und Ursprünglichkeit 52 Vom Hasten zum Rasten 56 Mit allen Sinnen sinn-voll leben 56 Sehen mit verschiedenen Augen 57 Riechen, Atem und Inspiration 58 Hören und Lauschen 59 Berührt werden 61 Spirituell-religiöse Erfahrungen 64 Etwas kommt in Gang 65 Abschied nehmen 68 Weite erleben 71 Ereignisse im Leben 71 Frühere Beweggründe zum Pilgern

36 Geschichten und Legenden zum Jakobsweg 36 Jakobus und Santiago de Compostela 39 Wie kam Jakobus nach Spanien? 43 Erste und neueste Pilgerbewegung 5


76 Pilgererfahrungen 76 Vom Schmerz und vom Leiden 78 Was mache ich da eigentlich? 80 Vom Aufgeben und Scheitern 81 Wandlung von der Trauer zur Freude 83 Von der Leichtigkeit des Seins 84 Vom Aufheben der Abgrenzungen

131 Pilgern im Alltag 131 Entrümpeln von Überflüssigem 132 Gastgeber mit einfachem Essen 132 Vertrauen statt versichern 132 Mieten statt kaufen 133 Freude an der wunderbaren Schöpfung 133 Entschleunigung und Verlangsamung

84 Von der Gastfreundschaft 87 Weggemeinschaft auf dem Camino

138 Das grosse Pilgeruniversum

89 Ankunft auf dem Platz der Umarmungen

138 Bau von Pilgerbasiliken

und der Tränen

138 Das Hospital für Pilgerinnen und Pilger

91 Ankunft in der Kathedrale mit Ritualen

141 Die Hospize

93 Ankunft im Pilgerbüro

142 Ritterorden im Dienst der Pilger

96 Angekommen, und nun?

143 Der Templerorden

97 Umkehr und Neuorientierung

143 Der Johanniterorden – die Malteser 144 Der Deutschritterorden

99 Symbolik des Pilgerns 99 Der Rucksack 101 Der Pilgerstab 104 Die Jakobsmuschel 108 Die Schuhe 109 Die Kleider 110 Der Hut 111 Die Pelerine und der Mantel 113 Die Füsse 115 Wie geht’s? 116 Der Rücken 118 Der eigene Schatten

144 Der Santiagoorden 145 Vom Hospital zur Pilgerherberge 147 Biblische Gasthausnamen am Weg 149 Jakobusbruderschaften 151 Jakobswegvereine und Pilgerzentren 152 Pilgerführer und Erfahrungsberichte 153 Schweizer Ortswappen mit Jakobs­muschel 155 Biblische Pilgerreisen 155 Sehnsucht nach dem Paradies 156 Geborgen unter dem Sternenhimmel 157 Wären wird doch zu Hause geblieben! 159 Ich kann nicht mehr!

122 Pilgern im Kleinformat

160 Ein Stern weist den Weg

123 Die Prozession

160 Flucht zur Rettung des inneren Kindes

123 Liturgischer Ein- und Auszug

161 Eure Kinder sind nicht eure Kinder

124 Der Kreuzweg

162 Als Eremit in der Wüste

127 Das Labyrinth

164 Füchse haben ihre Höhlen

129 Geostete Kirchen

165 Ich bin der Weg 166 Weggemeinschaft hilft

167 Halte mich nicht fest 169 Fremde und Gäste auf dem Erdenweg 171 Der neue Weg

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173 Jakob und drei Mal Jakobus 173 Erzvater Jakob 174 Jakobus der Herrenbruder 175 Jakobus der Jüngere, der Sohn des Alphäus

209  Pilgerschriften 209 Der Pilgerweg des Menschen zu Gott 210 Bericht des Pilgers 212 Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers

177 Jakobus der Ältere, Apostel und Pilgerpatron 177 Vom Fischer zum Pilger 178 Entscheidungshilfe im zweiten Anlauf 178 Ein erstes Heilungswunder 179 Jakobus als Nummer zwei 179 Auferweckt zum Leben 180 Verklärt auf dem Berg 181 Das hat er doch verdient! 182 Feuer über die ungastlichen Leute! 183 Wachen statt schlafen 183 Wo bleibt Jakobus? 184 Die Frauen sind da 185 Jakobus wundert sich 188 Von der Angst zum Mut 189 Ein furchtloser Einsatz für das Gute

215  Der Pilger als Figur des Religiösen heute 215 Pilgerreligiosität als Begriff in der Religionssoziologie 216 Konsequenzen für Kirchen

192 Pilgern in verschiedenen Religionen 192 Shintoismus und Buddhismus in Japan

220 Kirchliche Stimmen zum Pilgern 2 20 Evangelische Stimmen 2 22 Katholische Stimmen

225  Kritische Stimmen zum Pilgern 2 25 Theologische Bedenken 2 26 Sorge um das Wohl der Pilgernden und der Kirche 2 27 Pilger klagen 229 Schlusswort und Dank 231 Informationen rund um den Jakobsweg und

das Pilgern

194 Islam

231 Internetadressen

195 Judentum

231 Zeitschrift 231 Vereine, Pilgerherbergen, Wege

197 Weitere Formen der Pilgerschaft

232 Literaturverzeichnis

197 Wüstenväter und Wüstenmütter

234 Bildnachweis

198 Antonius der Grosse

235 Anmerkungen

199 Maria von Ägypten 199 Säulenheilige, Wandermönche und 201 201 201 203 203 205 206

Inklusinnen Eremiten und biblische Heilige in der Provence Johannes Cassianus Honoratus von Arles Zwei Marias, Lazarus und Sara Marta von Tarascon Die irischen Pilgermönche Jenseitsreise als innere Pilgerreise 7


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«Heute hier, morgen dort. Bin kaum da, muss ich fort.» Hannes Wader, deutscher Musiker und Liedermacher (*1942)

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VORWORT

Alles begann mit einem Abschied. Pfarrer Jakob Fuchs von St. Gallen-Bruggen schenkte mir 1987 zum Stellenwechsel das Jakobswegbuch «Der Weg der grossen Sehnsucht».1 Ich nahm erstmals bewusst den Begriff «Jakobsweg» wahr. Das Buch faszinierte mich. Damals trat ich in den beiden Jakobuspfarreien Degersheim und Mogelsberg eine Stelle als Seelsorger an. Ich wurde beauftragt, die offene Jugendarbeit neu zu organisieren. Zufällig kam mir eine Broschüre zum Jakobsweg Schweiz in die Hände. Sie enthielt Anregungen, den Pilgerweg durch die Schweiz per Fahrrad zu erkunden. Das alles liess in mir den Gedanken reifen, mit Jugendlichen eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg zu unternehmen. Zusammen mit der akj, der regionalen Jugendarbeitsstelle in St. Gallen, ging es an die Planung. «Auf dem Jakobsweg quer durch die Schweiz» hiess der Titel der Ausschreibung. Im Sommer 1988 starteten wir mit siebzehn Jugendlichen und Erwachsenen in Degersheim. Die Reise führte zu Fuss und per Fahrrad entlang des Jakobswegs bis nach Genf. Eine Beschilderung der Route gab es noch nicht. In den spärlichen Unterlagen wurden lediglich einige Stationen am Weg genannt. Die Jugendlichen waren begeistert. Nach Begegnungen mit einer grossen Pilgergruppe aus Augsburg auf dem Etzelpass beim Restaurant St. Meinrad, beim Kloster Einsiedeln und im Flüeli-Ranft bezeichneten sie sich fortan als Pilgerin und Pilger. Wir wagten diesen Begriff bei der Ausschreibung noch nicht zu benutzen, da er damals in Jugendarbeitskreisen entweder unbekannt oder von der Bedeutung her vorbelastet war. In Genf war sich die Gruppe klar, dass die nächste Pilgerreise nach Santiago de Compostela führen müsse. Aufgrund vieler Nachfragen verfasste ich eine Informationsbroschüre zum Pilgern auf dem Jakobsweg. Im Juli 1989 folgte die erste Pilgerreise mit dreissig Jugendlichen und Erwachsenen nach Santiago de Compostela. Ohne Vorreservation der Unterkünfte und ohne eigene Kenntnis 10


des Wegs war es eine eigentliche Expedition. Die Pilgerreise war ein tiefgreifendes Erlebnis für alle. Das Pilgern auf dem Jakobsweg liess mich nicht mehr los. Ich organisierte weitere Pilgerreisen auf dem Jakobsweg. Basierend auf der erwähnten Informationsbroschüre über den Jakobsweg entwickelte ich 2001 die Pilgerseite «pilgern.ch». Ich hielt Vorträge zum Jakobsweg und vertiefte mich in die Literatur rund um das Thema «Pilgern auf dem Jakobsweg». In St. Gallen gründete ich im Juni 2001 zusammen mit Franziska Kehl und Joseph Brunner den Jakobspilger-Stammtisch. Hier entstand die Idee, in St. Gallen eine Pilgerherberge zu eröffnen. Wir gründeten einen Trägerverein. Im April 2008 eröffnete der Verein die Pilgerherberge direkt am Jakobsweg an der Linsebühlstrasse 61 in St. Gallen und begann, erste Pilgerinnen und Pilger zu beherbergen. Eine grosse Gruppe von Ehrenamtlichen stellt sich seither für den Empfang und die Betreuung der Pilgernden zur Verfügung.2 Seit einiger Zeit verspürte ich das Bedürfnis, die vielen Erfahrungen, Erkenntnisse und Gedanken in einem Buch zusammenzutragen. Der Bildungsurlaub im Mai und Juni 2015 bot die Chance dazu. Zur Einstimmung arbeitete ich im Mai zwei Wochen bei der deutschsprachigen Pilgerseelsorge in Santiago de Compostela. Die täglichen Begegnungen und das Betrachten des Pilgergeschehens in der Stadt und in der Kathedrale liessen mich auf neue Weise in das Wesen des Pilgerwegs eintauchen. Auf der Suche nach einem ruhigen Ort zum Schreiben fand ich eine Ferienwohnung in Agay an der Côte d’Azur. Wie war ich erstaunt, dort am Rande eines Platzes auf ein Denkmal zu stossen, das an den französischen Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry erinnert. Sein Buch «Der kleine Prinz» ist für mich eines der schönsten Werke in der Literatur. Beim Nachforschen entdeckte ich, dass Saint-Exupéry manchmal in Agay bei seiner Schwester wohnte, um zu schreiben. Im Rücken von Agay liegen die rotbraunen Felsformationen des Massif de l’Estérel. Über das Massif führt ein Pilgerweg entlang des ehemaligen Römerwegs Via Aurelia. Der Pilgerweg führt westwärts von Menton via Arles nach Santiago oder ostwärts von Arles via Menton nach Rom. Die letzten Arbeiten zu diesem Buch plante ich für den Sommer 2020. Es war wie eine Fügung, dass durch den Ausbruch der Coronakrise Mitte März das ganze gesellschaftliche Leben zum Stillstand kam. Es eröffneten sich grosse Zeiträume ohne Verpflichtungen. «Bleiben Sie zu Hause» lautete der Slogan. Dies gab mir freie Zeiten, die ich zum Schreiben und Nachdenken nutzte. Die Krisenzeit rüttelte viele Menschen auf. Fragen nach dem Sinn unseres Tuns traten ins Bewusstsein. Entschleunigung, Vereinfachung und Verlangsamung wurden als Schlagworte von Regierungen gebraucht, als würden sie das Volk auf eine Pilgerreise vorbereiten. Die Sängerin Lena Meyer11


Der Autor Josef Schönauer bei einer Rast an einem Wegkreuz zwischen Lourdes und Oloron-Sainte-Marie nahe der Pyrenäen, Frankreich. Aufgenommen mit Selbstauslöser am 24. Juni 2006.

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Landrut aus Deutschland schrieb am 10. Mai auf Instagram: «Ich geniesse die Langsamkeit, bin mit Kleinigkeiten zufrieden, befrei mich vom Druck der letzten zehn Jahre, fürchte mich fast ein wenig davor, dass alles wieder so schnell wird wie vorher.» Viele Menschen stellten erstaunt fest, dass weniger Aktivität mehr Lebensqualität ermöglichte. Es bleibt zu hoffen, dass die Erfahrung der Krisenzeit wie bei einer Pilgererfahrung positive Veränderungen zur Folge hat und nicht allzu schnell vergessen geht. Mit diesem Buch nehme ich Sie mit auf eine Entdeckungsreise. Was haben Gasthäuser mit dem Pilgern zu tun? Woher bekam der Jakobsweg seinen Namen? Was verbindet die Pilgernden mit Eremitinnen und Eremiten? Was kann von einer Pilgerausrüstung abgelesen werden? Pilgerreisen bilden eine Konstante in der Menschheitsgeschichte. Wie schlägt sich dies in der Bibel und in verschiedenen Religionen nieder? Ich zeige auf, dass das Pilgern ein wertvolles und kostbares Mittel ist, sich mit dem eigenen Leben, mit der eigenen Spiritualität und der Spiritualität der vergangenen Jahrhunderte auseinanderzusetzen. Exemplarisch schildere ich konkrete Erfahrungen und Erlebnisse, ergänzt mit eigenen Fotos. Der Aufbau dieses Buchs gleicht keiner gradlinigen Pilgerreise. Es ist vielmehr ein labyrinthartiger Weg. Das Thema Pilgern umkreisend, werden verschiedene Themenbereiche angesprochen. Sie alle hängen zusammen. Ich freue mich, Sie durch dieses Labyrinth zu begleiten. Noch eine Bemerkung zur weiblichen und männlichen Schreibweise: um den Text flüssig zu halten, wechsle ich mit den weiblichen und männlichen Formen ab. Manchmal nenne ich beide Formen, um daran zu erinnern, dass beide Geschlechter gemeint sind.

Josef Schönauer, Januar 2021

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«Das Sichtbare ist lediglich die Küstenlinie des herrlichen Ozeans des Unsichtbaren.» John O’Donohue, irischer Philosoph und Theologe (1956 – 2008)

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UNTERWEGSSEIN ALS KONS­TANTE

Beim Nachdenken über das Pilgern fällt auf, dass es in der Tier- und Menschenwelt viele vergleichbare Erscheinungen zu beobachten gibt. Die Vogelzugwarte auf den Pyrenäen nahe von Roncesvalles belegt, dass gewisse Vögel an der gleichen Stelle über die Pyrenäen ziehen wie die Pilgerinnen und Pilger auf dem Jakobsweg. Sind in solchen und ähnlichen Phänomenen Antworten zu finden auf die Frage, wieso es schon immer Pilgerreisen gibt?

Tiere reisen in die Ferne und zurück zum Geburtsort Diverse Tierarten vollziehen ihre zum Teil riesigen «Wanderungen» in ­z yklisch regelmässigen Abständen. Dazu ein paar Beispiele: Kröten und ­a ndere Amphibien brechen immer im Frühjahr auf, um von ihrem Winteraufenthaltsort dorthin zurückzukehren, wo sie geboren worden sind. Sie legen ihre Eier ab und sorgen für Nachwuchs. Im Herbst ziehen sie sich ­zurück ins Winterquartier. Beeindruckend ist die Regelmässigkeit ihrer Wanderung, der gewählte Zeitraum, die «geheime» Absprache zum Start und die Wahl des immer gleichen Reisewegs. Rauchschwalben, die in der Schweiz in Ställen und Scheunen nisten, fliegen Ende Sommer bis 10 000 Kilometer nach Mittel- oder Südafrika. Im Frühling kehren sie an den gleichen Ort und zum gleichen Stall zurück, in dem sie geboren wurden.3 Ein Vogelzug enthält mehrere faszinierende Elemente: das Zusammenfinden in Schwärmen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit, die Bestimmung des meteorologisch richtigen Zeitpunkts für den Start, die Wahl der Reiseroute, die Länge der Reise, die Orientierung unterwegs und das Finden des Ziels. Der Wanderfalke heisst auf Lateinisch «falco peregrinus» – Pilgerfalke. Er stellt damit einen direkten Bezug zum Thema Pilgern her. Je nördlicher er zu Hause ist, desto längere Reisen unternimmt er zur Überwinterung. 15


Die Meeresschildkröte Loggerhead erblickt an der australischen Pazifikküste das Licht der Welt. Sie taucht danach in den Ozean ab, um an der Küste Südamerikas an Land zu gehen und dort zu leben. Geschlechtsreif geworden, kehrt sie nach dreissig Jahren an den Ort ihrer Geburt in Australien zurück. Dort legt sie ihre Eier ab. Die Reise von rund 30 000 Kilometern wiederholt sie fortan in ihrem Leben alle vier bis fünf Jahre. Der Monarchfalter4 fliegt über mehrere Monate verteilt vom südlichen Mexiko in die USA und nach Kanada. Im Herbst kehrt der Schmetterling nach Mexiko zurück. Die Reise von 4000 Kilometern gelingt den Schmetterlingen, weil sie sich über vier Generationen erstreckt. Das bedeutet die viermalige Umwandlung vom Ei über die Raupe zum Schmetterling unterwegs. Der Schmetterling, der am Ziel ankommt, war selbst noch nie dort, sondern nur seine Urgrosseltern! Die Schmetterlingsschwärme landen jährlich auf den gleichen Bäumen im Norden und in den gleichen Höhlen im Süden. Das Gedächtnis mit dem Wissen um den Weg wird weitervererbt. Grauwale mit Körpermassen von bis zu 14 Metern Länge und 35 Tonnen Gewicht durchqueren den Pazifik5, um zu jeweils gleicher Zeit am gleichen Ort aufzutauchen. Sie überwintern vor den Küsten von Kalifornien und Mexiko und verbringen den Sommer im nährstoffreichen Golf von Alaska. Ein Weibchen, dessen Weg von Forschern aufgezeichnet wurde, schwamm von der russischen Insel Sachalin 10 880 Kilometer bis vor die Küste Mexikos. Beim Rückweg nutzte das Tier eine andere Route und kreuzte dabei die östliche Beringsee, bevor es schliesslich nach 172 Tagen und 22 511 Kilometern wieder vor Sachalin ankam. Hier erstaunt besonders, dass der Grauwal auf zwei verschiedenen Wegen rund um die halbe Welt das Ziel fand. Dies sind einige erstaunliche Beispiele aus einer Fülle von ähnlichen Verhaltensmustern in der Tierwelt. Der Mensch hat noch nicht enträtseln können, wie sich die Tiere auf ihren Reisen orientieren. Alle Erklärungsversuche erscheinen relativ platt und sind offensichtlich nicht ausgereift. Der deutschamerikanische Forscher Bernd Heinrich beschreibt zahlreiche Varianten von Erklärungen. Er fasst seine Erkenntnisse so zusammen: «Die langen Strecken, die die Tiere bei der Heimfindung zurücklegen, sind heute weitgehend bekannt, aber bei der Frage, wie sie reisen und wie sie sich auf der Wanderung zu bestimmten Bestimmungsorten orientieren, sind wir noch immer von einer Antwort weit entfernt.»6 Die Evolutionstheorie geht davon aus, dass Teile des menschlichen Gehirns Informationen enthalten, die aus längst vergangener Zeit von unseren Vorfahren stammen. So trägt ein Teil des menschlichen Gehirns den Namen Reptilienhirn. Dieses wurde vor rund 500 Millionen Jahren ausgebildet. Könnte es sein, dass in unserem menschlichen Gehirn etwas von dem 16


Vogelzug in Südfrankreich an der Via Tolosana zwischen Arles und SaintGuilhem-le-Désert.

Wanderwissen gespeichert ist, das sich im Tierreich beobachten lässt? Stammt das Bedürfnis, sich immer wieder auf den Weg zu machen, aus den Tiefen dieses Wissens? Bekanntlich werden die Menschen zu einem grösseren Teil durch das Unterbewusstsein und nicht durch das Bewusstsein gelenkt. In Analogie zu einem Eisberg vermutet der österreichische Psychologe Sigmund Freud das Verhältnis von bewussten zu unbewussten Anteilen bei der Kommunikation mit zwanzig zu achtzig Prozent.7 In poetischer Sprache formuliert es der irische Schriftsteller John O’Donohue so: Das Sichtbare ist lediglich «der dünne Aussenrand» der Dinge. «Das Sichtbare ist lediglich die Küstenlinie des herrlichen Ozeans des Unsichtbaren.» Die Menschen waren schon immer zugleich sesshaft und unterwegs wie es in der Tierwelt der Fall ist. Die Tierwanderungen sind notwendig, um Nahrungsplätze zu finden. Viele Wanderungen von Menschen geschehen im Grunde genommen aus dem gleichen Grund. Dies zeigen die folgenden Ausführungen. Könnte das Pilgern demnach ein Mittel sein, um an Plätze mit geistig-seelischer Nahrung zu gelangen?

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Der Vogelzug regen netzt die erde baumblätter strahlen letzte sommerenergie in bunten farben aus menschen schauen sich in winterkollektionen der warenhäuser um cheminéeöfen werden in betrieb genommen draussen flattern aufgeregt staren-scharen einmal im kreis dann in formation in ganzen schwärmen vereinzelt, in gruppen versammeln sich auf drähten auf masten bäumen und sträuchern zwitschern aufgeregt ängstlich und freudig einzelne vögel flattern hinter schwärmen her nur einander nicht verlieren unsichtbar geheimnisvoll haben sie sich verabredet auf ganzen landstrichen dasselbe schauspiel sie wissen offensichtlich genau was sie erwartet sie wissen den weg der zur wärme führt sie wissen den günstigen abflugtermin zwischen schneestürmen, nebelschwaden und regengüssen sie wissen viel, was wir nicht wissen sie spüren viel, wir spüren viel in uns spüren wir den drang nach sonne jedes jahr neu den drang nach reisen jedes jahr neu den drang nach fernen zielen jedes jahr neu den drang nach wärme jedes jahr neu so etwas wie vogelbewusstsein ist in uns eingelagert in die jahrmillionenlange geschichte des bewusstseins die vögel vertrauen auf ihr gespür und es klappt, sie erreichen ihr ziel die menschen vertrauen selten auf ihr gespür und es klappt oft nicht, sie suchen ihr ziel Josef Schönauer, Oktober 2001

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Die Menschen – «heute hier, morgen dort» Unter diesem Titel veröffentlichte der deutsche Liedermacher Hannes Wader 1972 ein Lied, das zu einer Art Volkslied geworden ist. Der Text umschreibt den Menschen als «homo viator». Homo bedeutet Mensch, viator bedeutet der Reisende. Bei näherer Betrachtung gibt es eine grosse Anzahl von Menschengruppen, die sich freiwillig oder unfreiwillig auf den Weg machen. Die Pilgerinnen und Pilger sind nur eine davon. Die Nomaden auf Nahrungssuche Die Nomaden der vergangenen Epochen und der Gegenwart sind ständig unterwegs. Dank der Wanderungen können sie zusammen mit ihren Tierherden überleben. Sie leben mehrheitlich in Zelten. Die ganze Welt im Blick, gibt es auch in der Gegenwart sehr viele nomadische und halbnomadische Stämme.8 In der jüdischen Religion wurde sogar Gott als Mitwanderer im Zelt9 verehrt. Im digitalen Zeitalter wird von den «digitalen Nomaden» gesprochen. Sie arbeiten ortsunabhängig und sind oft lange Zeit unterwegs. Allen Nomaden gemeinsam ist die Suche nach Nahrung und Arbeit. Völker wandern Eine andere Form von Wanderung vollzogen verschiedene Völker. Gemäss dem historischen Lexikon der Schweiz bezeichnet der Begriff Völkerwanderung die Wanderbewegungen germanischer und anderer Völker zwischen dem Ende des zweiten und dem siebten Jahrhundert. Sie haben Zivilisationen erschüttert und Reiche untergehen lassen.10 Diese Wanderungen waren oft mit Gewalt und Entbehrung verbunden. Kelten beispielsweise zogen nach Frankreich und Spanien. Emigration und Immigration Schon immer sahen sich Völkergruppen, Sippen, Familien oder Einzelpersonen gezwungen, in ein anderes Land zu ziehen. Jeweiliges Ziel war und ist ein Land, das Arbeit, ein besseres Leben und Wohlstand verheissen. Dieses Land stellt so etwas wie das «Paradies», das «Gelobte Land» oder den «Garten Eden» dar. Der Song des Schweizer Sängers Gölä11 «Uf und dervo» – Auf und davon – nahm dieses Motiv auf. Das Lied wurde zum Begleitsong für eine Serie im Schweizer Fernsehen SRF über Auswanderungsgeschichten. Der Refrain des Songs im Wortlaut: «Hätti Flügu zum Flüge, flug i mit de Vögu furt u chiem nie meh hei. I nes Land ohni Näbu, ohni Räge, I nes Land wo si Sunne hei …, I gieng hüt no … uf u dervo.» Auf Hochdeutsch: Hätte ich Flügel zum Fliegen, ich würde mit den Vögeln fortfliegen und ­käme nie mehr heim … in ein Land ohne Nebel, ohne Regen, in ein Land, wo sie Sonne haben …, ich ginge noch heute … auf und davon. 19


Les Saintes-Maries-de-la-Mer. Prozession der Fahrenden und Ein­ heimischen mit den beiden Marien.

Elf Prozent der Schweizer Bevölkerung leben im Ausland. Das waren Ende 2019 insgesamt 770 900 Personen.12 Drei Fünftel davon leben in Europa. Spitzenreiter ist Frankreich, gefolgt von Deutschland und Italien. Ein Viertel lebt in Amerika und Kanada. Ein Beispiel für die Emigration in den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche Schweizer Landwirte und ihre Familien. Sie mussten aus wirtschaftlichen Gründen ihren heimatlichen Bauernhof aufgeben. Eine neue Heimat fanden sie vor allem in Neuseeland oder Kanada, vereinzelt auch in anderen Ländern wie Frankreich, Russland oder Australien. Dort können sie ihre Passion des landwirtschaftlichen Lebens und Arbeitens weiter ausüben. Die Emigranten eines Landes werden zu Immigranten im neu gewählten Land. In ihrem Ursprungsland werden die Emigranten geachtet oder bewundert. Als Immigranten erleben die gleichen Menschen oft eine abweisende Haltung von Seiten der einheimischen Bevölkerung. Was in der Tierwelt passiert, ist auch teilweise bei emigrierten Familien zu beobachten: Söhne und Töchter von emigrierten Eltern kehren in das Ursprungsland zurück. Andere heiraten eine Partnerin oder einen Partner aus dem Ursprungsland. Das Geburtsland der Eltern oder Grosseltern prägt weiterhin. 20


Im Mittelalter gab es Menschen, die aufgrund einer Pilgerreise ungeplant zu Emigranten wurden. Sie liessen sich in einem Land am Weg nieder, weil sie eine Arbeit fanden oder eine Beziehung mit einer ortsansässigen Person eingingen. Auch heute ist dies vereinzelt zu beobachten. Fahrende unterwegs auf Achse Eine spezielle Form von Wanderbewegungen, ähnlich den Nomaden, vollziehen die Fahrenden. Sie haben sich darauf eingestellt, ihr Leben an verschiedenen Plätzen der Welt zu verbringen. An die Stelle der Pferde- und Ochsengespanne sind heutzutage als Reisemittel und Unterkunft die Transportbusse und Wohnwagen sowie Wohnmobile getreten. Schweizweit sind von März bis September schätzungsweise 400 – 500 Wohnwagen von Sinti, Roma und Jenischen unterwegs.13 Die «Wanderbewegungen» der Fahrenden kennen ebenfalls zyklisch wiederkehrende Orte. So findet jedes Jahr am 24./25. Mai ein Treffen europäischer Fahrender in Les-Saintes-Maries-de-la-Mer in Südfrankreich statt. Dort wird die schwarze Sara verehrt. In Prozessionen, intensiv gefeierten Gottesdiensten und anschliessendem Fest im Freien wird die Heilige verehrt.14 Eine Prozession führt von der Kirche zum Meer. Die Figur der Sara wird ein Stück weit ins Meer hinausgetragen. Mit einer Zeremonie wird der Ankunft der dunkelhäutigen Sara gedacht, die hier der Legende nach zusammen mit zwei Marien landete. Es sind dies Maria Jakobäa, eine Jüngerin Jesu, sowie Maria Salome, die Mutter von Jakobus dem Älteren. Das ganze Treffen der Fahrenden steht unter dem Titel «pèlerinage» – zu Deutsch: Wallfahrt oder Pilgerreise. Im Juli treffen sich christliche Fahrende im zentralschweizerischen Marienwallfahrtsort Einsiedeln. Auch dieses Treffen steht unter dem Titel «Wallfahrt der Fahrenden». Unter dem Namen «Ceferino»15 begleitet die Seelsorge für die Fahrenden in der Schweiz die Wallfahrt mit diversen religiösen Aktivitäten: Die Fahrenden werden im christlichen Glauben unterwiesen, Neugeborene werden getauft, Jugendliche gefirmt und Paare getraut. In speziellen Gottesdiensten in der Klosterkirche und bei Prozessionen vor dem Kloster kommt der kulturelle Reichtum der Fahrenden zum Ausdruck. Was im Jahreskreis einer christlichen Gemeinde über das Jahr verteilt gefeiert wird, geschieht hier in konzentrierter Form an wenigen Tagen. Die Wandergesellen mit Hut und Stock Die Wandergesellen unterwerfen sich für ihre Wanderjahre einer strengen Regel16. Sie müssen mindestens drei Jahre und einen Tag unterwegs bleiben. Es darf nur auf den Weg gehen, wer die Gesellenprüfung bestanden hat und ledig, kinderlos und schuldenfrei ist.17 Während dieser Zeit dürfen sich die21


se Frauen und Männer ihrer Heimat höchstens bis fünfzig Kilometer nähern. Ihr ganzes Hab und Gut ist in einem kleinen Bündel verpackt. Zur Ausrüstung gehört oft ein schön verzierter Wanderstock. An der Bekleidung sind die Wandergesellen gut zu erkennen. Dazu gehören ein Hut mit breiter Krempe und eine spezielle Kluft. Durch die gute Erkennbarkeit kommen sie einfacher in den Genuss von Angeboten für Arbeit und Unterkunft. Dies entspricht durchaus den Erfahrungen von Pilgerinnen und Pilgern, die durch eine Jakobsmuschel und einen Pilgerstab erkennbar sind. Auf die Reise gehen die Wandergesellen zu Fuss oder per Anhalter. Der Frauenanteil beträgt in Deutschland etwa zehn Prozent.18 Als Flüchtling auf den Weg gezwungen Nochmals anders gelagert sind Wanderungen und Reisen von Menschen, die wegen der Gefährdung ihres Lebens gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Sie müssen um die Aufnahme in einem neuen Land bitten. Ihre Motive sind zum Teil vermischt mit anderen Motiven der Emigration. Die Flüchtlingsbewegungen erfassen je nach politischer Situation jährlich viele Millionen Menschen. Die folgenden Zahlen vermitteln nur das Gesamtproblem, aber nicht die persönlichen Schicksale dahinter: Ende 2019 zählte das Flüchtlingswerk der UNO UNHCR 19 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht wegen Verfolgung, Konflikten, Gewalt oder Menschenrechtsverletzungen. Nur fünfzehn Prozent gelangten in reiche Länder nach Europa oder in die USA. Verglichen mit der eigenen Bevölkerungszahl nahm die vor ­Venezuela gelegene Insel Aruba mit 1:6 am meisten Flüchtlinge auf, gefolgt von Libanon im Verhältnis 1:7. 3,9 Millionen Flüchtlinge kehrten im Jahr 2019 in ihr Heimatland zurück.20 In neuerer Zeit wurde es für europäische Länder besorgniserregend, weil viele Tausende von Menschen versuchten, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Hunderte ertrinken jährlich im Meer. Die vielschichtige Problematik mit den menschlichen Dramen lässt sich nicht mit wenigen Sätzen so beschreiben, dass sie den einzelnen Schicksalen gerecht wird. Politische Verfolgung, Arbeitslosigkeit, Folgen des Klimawandels, falsche Versprechen und hohe Verdienste von Schlepperbanden, Folter und Krieg vermischen sich zu einem undurchsichtigen Knäuel in den einzelnen Flüchtlingsgeschichten. Kommt hinzu, dass populistische Strömungen in den aufnehmenden Ländern durch Schwarz-WeissMalerei und Verbreitung von Angst für sich Profit schlagen. Das zwangsweise Unterwegssein ist die härteste Art aller Wanderbewegungen. Sie wird die internationale Staatengemeinschaft noch lange herausfordern.

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Aus Grau mach Blau Warum kommt in sehr vielen Menschen der Wunsch auf, sich in der Ferienzeit auf den Weg zu machen? Egal, ob zu Fuss oder mit einem Verkehrsmittel – es scheint so etwas wie einen inneren Drang zu geben, sich in den ­Ferien aufzumachen und die Heimat für eine gewisse Zeit zu verlassen. Viele wählen über Jahre oder Jahrzehnte immer den gleichen Ort oder die gleiche Region für ihre Ferien. Es wird in diesem Zusammenhang oft von der «zweiten Heimat» gesprochen. Diese immer wieder gleiche Wahl erinnert stark an die Reisen in der Tierwelt. Dort geht es um die Fortpflanzung und die Nahrungsplätze. Bei Ferienreisen geht es um das Wiederherstellen innerer Frische und die Erholung sowie um die Aufnahme geistig-seelischer Nahrung. Mit dem Lastwagen quer durch Europa Eine eigene Kategorie von Menschen auf Achse bilden die Heerscharen von Frauen und Männern, die mit ihren Lastwagen quer durch die Länder fahren. Konkrete Zahlen lassen sich nicht finden. Die Schweizer Wochen­ zeitung WOZ hat 2018 einen Artikel über Lastwagenchauffeure verfasst. Darin werden die Lebensbedingungen, die Löhne und die Arbeitsbedingungen beleuchtet.21 Die Schilderungen basieren auf einer eindrücklichen mit Videos und Fotos gestalteten Webreportage im Auftrag des Komitees der Alpen-Initiative. 22 Mich beeindrucken die vollen Abstellplätze abends oder über das Wochenende entlang der Autobahnen. Fern von der Heimat sitzen die Fernfahrerinnen und Fernfahrer da, um den nächsten Werktag abzuwarten. Die Übernachtung in der Fahrerkabine, die sanitären Verhältnisse und die Verpflegung fordern einiges. Diese Chauffeure kommen mir wie eine Art Einsiedler oder Pilgerinnen vor. Sie fahren während Stunden alleine über die Strassen. Manchmal sind sie als kleine Karawane der gleichen Firma unterwegs, manchmal sind sie ganz auf sich alleine gestellt. Sie legen jede Woche tausende Kilometer zurück. Die Gesellschaft ist auf diese Transportdienste angewiesen. Trotzdem wird oft pauschal negativ über die Lastwagen gesprochen und geschrieben. Dabei geht vergessen, dass hinter jedem Steuer ein Mensch sitzt, der Achtung und Wertschätzung verdient.

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«Im Grunde ist die Lebensreise des Menschen eine Pilgerfahrt, auf der er durch heilige Orte kommt, die die Seele weiten und bereichern.» John O’Donohue, irischer Philosoph und Theologe (1956 – 2008)

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WAS IST PILGERN? – EINE ANNÄHERUNG

Nach der Betrachtung von vielerlei Reisen und Wanderbewegungen geht es nun um das Pilgern allgemein und um das Pilgern auf dem Jakobsweg im Besonderen. Der Begriff «pilgern» erlebte in den letzten Jahrzehnten eine Verschiebung vom leicht verstaubten Image hin zu einem Wort, das mit positiven Gefühlen, Abenteuerlust und Neugier verbunden ist.

Pilgerreise als Metapher für den Lebensweg Eine Pilgerreise bildet den Lebensweg in allen Facetten ab. An ihr kann abgelesen werden, wie jemand im Leben steht und durch das Leben geht. Die verschiedenartigen Wege auf einer Pilgerreise lassen sich mit Lebensabschnitten vergleichen: wechselndes Auf und Ab, geradlinige oder kurvenreiche Strecken, gepflegte oder holprige Strassen, feste oder schlam­ mige Wege, Wege durch dunklen Wald oder auf eine Anhöhe mit grosser Weitsicht. Jeder Weg sagt etwas über das Leben aus. Es ist erstaunlich, wie klar eine Pilgerreise die momentane Verfassung eines Menschen spiegelt. Beispielsweise wiegt der Rucksack an einem Tag fast nichts, um tags darauf wie ein Stein am Rücken zu hängen. Wer mit hohem Tempo unterwegs ist und dabei die Schönheiten am Weg übersieht, wird es im Alltag schwer haben, achtsam im «Jetzt»23 zu leben. Viele Pilgernde bekommen aufgrund ihrer Erfahrungen Hinweise, wie sie ihren Lebensweg weitergehen können.

Pilgern und wallfahren Das Wort «pilgern» hängt mit dem lateinischen «peregre» zusammen. Dies bedeutet, sich ausserhalb des eigenen Ackers in der Fremde befinden. Davon abgeleitet ist der Begriff «Peregrinus» für Pilger. Eine Pilgerin bricht auf, um den eigenen Acker, die eigene Lebenswelt, die Heimat, die Familie, die eigene Wohnung zu verlassen. Der Pilger begibt sich in die Fremde. Ein 26


mittelalterliches Pilgerlied beginnt mit den Worten «Wer das Elend wagen will». Mit «Elend» ist die Fremde gemeint. Diese erschien in früherer Zeit bedrohlicher als heute. Wobei sich auch heute viele Menschen vor dem Fremden fürchten, nicht zuletzt vor fremden Menschen mit fremden Sprachen. Der Pilger wird ab etwa dem achten Jahrhundert «piligrim» genannt. Dieses Wort ist noch erkennbar im englischen Begriff «pilgrim» für Pilger oder im Begriff «pilgrimage» für Pilgerschaft. Pilgern bezeichnet erst ab dem achtzehnten Jahrhundert eine Fussreise zu einer religiös verehrten Stätte. In der deutschen Sprache ist dabei die Rede von «wallfahren». Die Unterscheidung von pilgern und wallfahren ist in anderen Sprachen nicht bekannt. Es gibt dort nur den Begriff pilgern respektive die Pilgerschaft oder die Pilgerreise. Beispiele: Englisch pilgrimage; Französisch pèlerinage; Spanisch peregrinación. Wallfahren bedeutete ursprünglich «gemessen schreiten» oder «in einer Prozession feierlich dahin schreiten». Beim Wallfahren ist das Ziel eine heilige Stätte. Das Ziel ist wichtiger als der Weg dorthin. Es ist deshalb nicht von Belang, ob eine Wallfahrt zu Fuss, im eigenen Auto, per Bus oder mit dem Flugzeug unternommen wird. Typische grosse Wallfahrtsorte sind Einsiedeln und Flüeli-Ranft in der Schweiz, Altötting in Deutschland, Lourdes in Frankreich oder Fátima in Portugal. Daneben gibt es in jedem Land eine grosse Anzahl von lokalen Wallfahrtsorten. Beim Pilgern ist der Weg ebenso wichtig wie das Ziel. Oft wird der chinesische Gelehrte Konfuzius (551–479) mit den Worten «Der Weg ist das Ziel» zitiert.24 Damit wird gesagt, dass das Ziel einer Pilgerreise zweitrangig ist. Es ist aber nicht gewinnbringend, den Weg und das Ziel in ihrer Bedeutung gegeneinander auszuspielen. Wie so oft führt statt einem Entweder– oder ein Sowohl-als-auch weiter. Der Schweizer Dichter Marco Zenetti formuliert in diesem Sinn: «Der Weg ist das Ziel erst, wenn das Ziel zum Weg wurde.»25 Die Unterscheidung von Pilgern und Wallfahren widerspiegelt eine dualistische Weltsicht, bei der zwei Sichtweisen einander je als absolute Wahrheit gegenübergestellt werden. Diese Weltsicht ist die Wurzel vieler Pro­ bleme unserer Zeit. Sie führt zu gegenseitiger Verurteilung, zu Hass und im Extremfall zu Krieg. Das Ergebnis einer Pilgerreise kann eine Abkehr vom dualistischen Denken hin zu einer offenen Denkweise sein. Diese Öffnung lädt zu Toleranz und Achtung voreinander und vor verschiedenen Lebensmustern ein. Nicht das Entweder-oder, sondern das Sowohl-als-auch dient der Menschheit. Alle Weisheitstraditionen der Welt kommen zu diesem Schluss. Der etwas altertümliche Begriff Weitherzigkeit findet hier seinen Platz. 27


Pilgern und wandern Wer noch nie pilgernd unterwegs war, kann sich fragen: «Warum sollte ich einen bestimmten Pilgerweg begehen – ich kann doch geradeso gut rund um den Bodensee wandern oder mich auf eine Fernwanderroute begeben. Warum soll eine Pilgerreise etwas anderes sein als eine Trekkingtour oder eine Weitwanderung?» Ich habe für mich die Formel gefunden: Pilgern ist wandern+ (wandern plus).26 Im Pilgern sind das Wandern, das Weitwandern und das Trekking inbegriffen. Mit dem Plus meine ich den spirituell-religiösen Aspekt, der bewusst und explizit zum Pilgern gehört. Bei vielen Pil­ gerinnen und Pilgern ist dieser Aspekt vorerst nur unbewusst vorhanden. Er zeigt sich erst mit der Zeit. Deshalb gibt es die Redewendung: «Ich bin als Wanderin gegangen und als Pilgerin zurückgekehrt.» Das bewusste Wahrnehmen von spirituellen Anhaltspunkten am Weg macht das Pilgern aus. Dazu gehören: das Wahrnehmen der Schöpfung in all ihrer Herrlichkeit und Kraft; das Staunen über die Grossartigkeit der Natur, der Elemente, der Erde, der Pflanzen- und Tierwelt und der Menschen; das Betrachten eines funkelnden Nachthimmels; das Wissen, dass die sichtbaren Sterne nur einen winzigen Teil des unvorstellbar weiten Kosmos ausmachen. Von der Astronomie weiss man, dass die Galaxie Milchstrasse aus 100 bis 200 Milliarden Sternen besteht. Das Universum wiederum soll aus etwa einer Billion solcher Galaxien bestehen. Auch das Staunen über den Mikrokosmos gehört zum Plus des Pilgerns: beispielsweise über eine Ameisenstrasse, die quer über eine breite Teerstrasse führt; über eine Schnecke, die ihr Haus bis an die Spitze eines verdorrten Pflanzenstängels trägt; über die Blütenkelche von Blumen am Weg oder die verästelte Struktur eines Blatts. Dieses Wahrnehmen mündet in einer grossen Dankbarkeit. Sie kann im Schweigen, in Worten, im Gebet oder in Musik zum Ausdruck kommen. Hinzu kommt das Wahrnehmen spirituell-religiös geprägter Orte – seien es eine besondere Landschaft, eine Kapelle, eine Kirche, ein Bildstock am Weg, ein Wegkreuz, eine Skulptur oder ein besonderes Kunstwerk. Zum Wahrnehmen gehört, einen Ort mit seiner Ausstrahlung auf sich wirken zu lassen. Ein Wald kann fesseln mit seiner Ruhe und den majestätischen ­Bäumen. Eine Passhöhe lässt innerlich oder äusserlich jubeln über den Ausblick, der sich eröffnet. Das Murmeln eines Bachs begleitet einen wie ­Musik. Das sind Beispiele für spirituell geprägte Orte in der Landschaft. Sakrale Innenräume wirken auf ihre Weise. Das Entziffern von Bildern an Kirchenfenstern lässt in die überlieferte Tradition religiös-spiritueller Aussagen ein28


Beschilderung am Jakobsweg in Frankreich mit Hinweis auf eine Pilgerherberge.

tauchen. Das Betrachten von bekannten und unbekannten Skulpturen und Heiligenfiguren verbindet mit biblischen und religionsgeschichtlichen Inhalten. All diese Wahrnehmungen weiten und bereichern die Seele. Dieses Erleben kann niemandem abgesprochen werden, der von sich sagt, «nur» zu wandern. Umso schöner ist es, wenn auch eine gewöhnliche Wanderung zu solchen Einsichten und Wahrnehmungen führt.

Pilgern in der Bibel Die biblische Tradition ist voller Pilgergeschichten. Bei den Psalmen gibt es die Kategorie der Wallfahrtspsalmen. Es sind die Psalmen 120 bis 134.27 Eine ausführliche Darstellung verschiedener biblischer Pilgergeschichten finden sich im Kapitel «Biblische Pilgerreisen» (Seite 155).

Pilgern auf dem Jakobsweg In der jüdisch-christlichen Tradition sind drei Pilgerziele von grosser Bedeutung: Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela. Ab dem zwölften Jahrhundert war Santiago gleich wichtig wie Jerusalem und Rom. In der aktuellen Zeit sticht der Jakobsweg nach Santiago de Compostela ganz besonders hervor. Wird das Stichwort Jakobsweg in einem Gespräch erwähnt, 29