Vorwort
Wir alle erinnern uns an die Zeit, in der wir gespannt darauf gewartet haben, dass uns jemand von den Erwachsenen etwas vorliest. Sobald es soweit war, begann ein Kopf kino, das uns im Nachhinein so gewaltig beeinflusst hat, dass uns diese Figuren und Geschichten während unseres gesamten Erwachsenwerdens begleitet haben. Häufig war es die Oma oder der Opa, die uns diese Geschichten erzählten, oft auch Mama oder Papa. Aber lassen Sie es sich gesagt sein, ich ahne, dass genau diese Personen in der Vergan genheit, als diese Geschichten noch nicht aufgeschrieben waren, sondern lediglich mündlich weitergegeben wurden, die eine oder andere Sage ver mischt, oder das eine oder andere Detail allzu ausgeschmückt haben. Und das, was die Oma durfte, darf ich auch!
Als Deutschlehrer am Campe-Gymnasium im niedersächsischen Holz minden habe ich schon lange auch mit dem Thema „Nacherzählung von Sagen und Mä rchen“ zu tun, es ist seitens des Kultusministeriums Niedersachsen vorgeschriebener Bestandteil des Deutschunterrichts. So war ich begeistert, als ich davon erfahren habe, dass unser regionaler Verlag Jörg Mitzkat im Jahr 2008 eine Sammlung von „Sagen und Märchen aus dem Solling und dem Wesertal“ als Buch veröffentlicht hat: „Der Fiedler in der Wolfsgrube“.
Schnell war bei uns Fachkolleginnen und -kollegen der Beschluss gefasst, diesen Schatz aufgrund seines Regionalbezugs ins Zentrum des Unterrichts zu Mä rchen und Sagen zu stellen. Und natürlich achten wir dabei auch darauf, unseren Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass eine Sage anders nacherzählt werden sollte, als ein Märchen: Sagen beziehen sich mehr auf konkrete Orte und Personen, es werden manchmal Namen von Menschen genannt, deren Nachfahren in dieser Erzählung einen Teil ihrer eigenen Familiengeschichte sehen könnten. So ist bei einer Nacherzä hlung also Fingerspitzengefühl geboten, dass man die in der Sage vorkommenden Personen nicht in ein schlechtes Licht stellt und so eventuell Gefühle verletzt oder Identitäten verzerrt.
Märchen hingegen bleiben hinsichtlich dieser Informationen offen, sie spielen schlicht „vor langer Zeit“, klassisch die Sentenz „es war einmal“, sie
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könnten theoretisch überall stattfinden, denn es geht um anonyme König reiche, um namenlose Prinzen und Zauberer, Wesen, die eher Bezeichnun gen als Namen haben, wie z.B. „Rumpelstilzchen“, es kommen sprechende Tiere vor und magische Gegenstände.
Soweit so klar. Doch gerade wir hier in Holzminden, die an der „Deut schen Märchenstraß e“ wohnen, können uns einen unmittelbaren Ein druck davon verschaffen, dass Märchen zwar in der dargestellten Weise anonym geschrieben sind, aber zumindest in der Theorie doch auf etwas Konkretes, also klare Orte und vielleicht sogar Personen zurückgeführt werden könnten. Außerdem ist angesichts der Inhalte klar, dass (die „typisch deutschen“) Mä rchen in der Zeit des ausgehenden Mittelalters bis in die ersten Jahrhunderte der Frühen Neuzeit hinein spielen müssten. Aus dieser Perspektive liegt vielleicht der Gedanke nahe, dass sich ein wahrer Kern erst zu einer noch recht konkreten Sage und dann schließlich zu einem abstrakten Märchen entwickeln „darf“.
Dieser Gedanke ist im Zusammenhang mit diesem Buch aus dem Grund bedeutsam, dass ich mich dafür entschieden habe, die Sagen aus dem Sol ling und dem Wesertal nicht als Sagen nachzuerzählen, sondern zu eher eigenstä ndigen Märchen umzugestalten. Zu diesem Schritt bin ich gekommen, weil ich mir bewusst Kinder als Zielgruppe für dieses Buch gesetzt habe und diesen durch die Geschichten möglichst viel Anschaulichkeit und vielleicht auch Lehrreiches bieten möchte. Wenn ich mich dabei im Sinne der Erhaltung von irgendwie gearteten Wahrheiten einschränken würde, wäre diese Zielsetzung aus meiner Sicht nicht zu erfüllen.
Da ich aber dennoch in dem Regionalitätsbezug der Vorlagen meiner Märchen einen großen Wert sehe, habe ich mir einen entsprechenden Fachmann an die Seite geholt: Herrn Mitzkat, in dessen Verlag dieses Buch auch erschienen ist. Er hat sich dankenswerter Weise bereit erklärt, alle Märchen mit einem Zusatz zu versehen, der ihre konkreten lokalen Hintergründe nacherlebbar macht. So sind alle Leserinnen und Leser und natürlich auch Hörerinnen und Hörer herzlich dazu eingeladen, auf Spu rensuche zu gehen und vielleicht selbst einmal eine Burg oder ein Dorf zu besuchen, wo eines der Märchen hier spielt.
Für diejenigen, die vielleicht noch etwas mehr über die Hintergründe und Inhalte der Nacherzählungen erfahren wollen, habe ich außerdem bei jeder Geschichte noch einen Teil mit dem Titel „Für junge Märchenfor scher“ beigefü gt, in dem mal mehr mal weniger Interessantes ausgeführt
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wird. Allerdings möchte ich dabei betonen, dass das hier ein Märchenbuch ist, das v.a. Kindern Spaß machen soll und in keiner Form an einer wie auch immer gearteten historischen oder moralischen Debatte teilnehmen will.
Die genialen Bilder, die Sie in diesem Buch finden, stammen von ver schiedenen Künstlerinnen (Schüler- und Lehrerinnen) von dem Gymna sium, an dem ich arbeite. Jede von ihnen hat sich das (oder die) Nacher zählungen explizit ausgesucht, um sie grafisch mit ihrem eigenen Stil und ihrer eigenen Herangehensweise zu bereichern. Ich selbst finde es beein druckend, was diese überwiegend noch sehr jungen Menschen geleistet haben!
Nun aber wünsche ich Ihnen (und Ihrer Familie, Ihren Kindern) im Namen aller, die an diesem Buch mitgewirkt haben, eine schöne Zeit und viele Anregungen durch dieses Buch!
Florian Körber
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8 Oberjägermeister Hackelberg
Iryna Pronkina
Oberjägermeister Hackelberg
Es ist noch nicht lange her, da spazierte ein älterer Herr mit seiner kleinen Enkelin durch einen zugeschneiten Wald. Sie genossen die schöne Landschaft und die beeindruckende Aussicht, die sich ihnen hier in den Bergen und Hügeln bot.
Die Kleine war ganz hingerissen von den vielen interessanten Pflanzen, Tiergeräuschen und weiteren kleinen Besonderheiten der Natur, die es hier zu entdecken gab und ihr Opa hatte große Freude daran, ihr alles zu erklären.
Schließlich fanden sie einen großen Stein, der halb in der Erde vergra ben war. Das Mädchen befreite ihn mit ihren Handschuhen etwas vom Schnee. Eine eine Gravur wurde sichtbar: Das Bild einer Armbrust. Dar unter war ein Schriftzug erahnbar – „Hanns von Hack-“, der Opa wischte noch einmal nach, dann war der Name ganz zu lesen, „Hanns von Hackel berg – Wilder Jäger“ prangte nun ganz klar lesbar in verziehrten Buchsta ben auf dem Stein.
»Hmm.« machte der Großvater.
Die Kleine sah zu ihm hoch: »Ist das ein Grab? Liegt da ein Toter drin?«
Noch ganz in Gedanken sprach der alte Mann: »Ja ..., das ist ein Grab. Eines, das eigentlich niemand finden kann...«
Seine Enkelin schaute nun ängstlich drein.
Er fuhr fort, ohne sich wirklich zu vergegenwärtigen, dass ein kleines Kind anwesend war: »... und dass da noch ein Toter drinliegt, darauf würde ich nicht wetten.«
»Was ist denn mit dem Toten geschehen?«
Sein Blick streifte sie und wurde sofort wieder klar.
»Oh! Meine Kleine!« Er ging in die Hocke und nahm sie in den Arm: »Du brauchst keine Angst zu haben, am besten erzähle ich Dir mal die
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ganze Geschichte. Hier steht nämlich „Hackelberg“ und das war einmal ein recht berühmter Mann hier in der Gegend!«
Die Dämmerung war abzusehen und damit eine größ ere Kälte, daher machten sich die beiden durch die Winterlandschaft auf den Heimweg, während der Opa begann, zu erzählen. Nebenher ritzte er mit einem klei nen Messer immer kleine Zeichen an die Bäume, an denen sie vorbeika men, damit sie das Grab hinterher auch wiederfänden.
»Hanns von Hackelberg war eigentlich ein Oberjägermeister, also im Dienst des damaligen Grafen und für die Organisation und Durchfüh rung von groß en Jagden zuständig, an denen alle wichtigen Menschen der Gegend teilnahmen. Auch wenn er seine Arbeit zur vollsten Zufriedenheit der Adligen erledigte, die mit seiner Hilfe die edelsten Tiere aufstöbern konnten, war er beim einfachen Volk nicht sehr beliebt.«
»Warum denn nicht?«
»Naja, er war auch viel allein mit seinen beiden gefährlichen Hunden unterwegs, Wotan und Odin. Und das auch mitten in der Nacht, an Sonntagen und sogar an den heiligen Tagen zu Weihnachten und Ostern! Das störte die Leute, denn sie mussten immer damit rechnen, dass irgendwo ein großer gefährlicher Hund herumsprang oder ein verrückter Jäger auf seinem weißen Pferd wie ein Irrer durch den Wald preschte.«
»Wurden denn Leute dabei verletzt?«
»Das kam leider auch vor, es wurde von Kindern erzählt, die von einem der beiden Hunde gebissen worden sind, Hackelberg ist auch einmal mit seinem Schimmel in den Karren eines Holzhauers gekracht, wobei er selbst sogar ein Auge verloren haben soll.«
»Ist er daran gestorben?«
»Nein, aber genau von seinem Tod wollte ich Dir erzä hlen, der ist näm lich auf ganz besondere Weise eingetreten.«
Die Kleine blickte ihn ganz gespannt an.
»Er hatte nämlich einmal vor einer größeren Jagd drei Nächte hinter einander den Traum, dass ihn dabei ein Keiler, also ein Wildschein töten wird. Besonders die männlichen Wildschweine können sehr groß und mächtig werden und mit ihren Zähnen auch ausgewachsenen Männern schwer zusetzen.« Der Alte verdeutlichte die Größe eines solchen Tieres mit beiden Armen, die er dafür weit ausstrecken musste. »Jedenfalls erzählte er seiner Frau von seinem Traum und die bat ihn, nicht an der Jagd teilzunehmen.«
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»Das kann ich verstehen. Ich habe schon mal erlebt, dass ein Traum wahr geworden ist.«
»Genauso war es bei Hackelberg! Er lachte über die Sorge seiner Frau und nahm trotzdem an der Jagd teil. Und tatsächlich: Die gesamte Jagd gesellschaft wurde von einem wirklich unnormal riesigen Eber angegrif fen und es gelang zunächst keinem, dem gewaltigen Vieh beizukommen. Das Monster war so rasend, dass es fast spielend die Hunde Wotan und Odin so schwer verletzte, dass sie beide kurz nach dem Angriff im Unter holz zusammenbrachen und starben. Dann wollte sich das massige Tier Hackelberg auf seinem Schimmel schnappen, doch kurz bevor es ihn mit seiner Masse und seinen spitzen Hauern erreichen konnte, hatte dieser es mit seinem Spieß erwischt.« Der Alte bewegte seinen Arm so, als würde er einen Speer werfen. »Als es daraufhin verletzt am Boden lag, tötete er den Keiler dann mit seinem Messer.«, auch das Abstechen stellte er nach.
Die Augen seiner Enkelin wurden größer und größer: »Aber dann hat er ja doch recht gehabt, dass sein Traum nicht wahr geworden ist.«
»Warte ab! Als die ganze Truppe nämlich von der Jagd nach Hause gekommen ist und auf dem Dorfplatz ihre Beute präsentierte, waren natürlich alle von dem Eber ganz besonders beeindruckt. Hackelberg ging zu dem toten Tier hin, das auf dem Rücken lag, hob dessen riesigen Kopf an und sprach zu ihm: „Na Du Bestie, meine lieben Hunde hast Du mir genommen, aber mich hast nun also doch nicht gekriegt!“ Dabei lachte er verbittert.«
»Irgendwie ist das total traurig.« flüsterte das Mädchen.
Der Großvater hob bedeutsam den Zeigefinger: »Aber dann kam es doch ganz anders! Kaum hatte er das gesagt, entglitt ihm der Kopf des Kei lers, sackte in Sekundenbruchteilen runter, wobei sich einer von seinen riesigen spitzen Eckzä hnen durch den rechten Stiefel von Hackelberg in dessen Fuß bohrte!« Mit seinem rechten Zeigefinger stieß der Alte auf die Fläche seiner linken Hand, als ob der Finger der Zahn und die Hand der Fuß sei.
Seine Enkelin verzog das Gesicht.
»Hackelberg ließ sich jedoch keinen Schmerz anmerken, machte noch ein paar Scherze über die Jagd und humpelte dann aber gestützt von seiner Frau nach Hause. Doch die Verwundung war doch schlimmer, als der Oberjägermeister es zeigen wollte: in der Nacht rief seine Frau um Hilfe.« Diese Worte begleitete ein bedeutsamer Blick vom Alten. »Schnell hatten
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sich viele der Dorfbewohner um das Bett des Jägers versammelt. Dieser lag schon im Sterben: „Nun bin ich selbst zur Beute geworden, obwohl ich doch der Jäger hätte sein sollte. Deswegen will ich niemals in den Himmel kommen, sondern diese Schmach durch eine ewige Jagd tilgen.“«
»Er wollte nicht in den Himmel?« frage die Kleine betroffen.
»Richtig! Er verbot sogar, ihn auf einem geweihten Friedhof zu begra ben, sondern verlangte, dass man seinen Leichnam auf einen Schlitten an seinen Schimmel band und es wegreiten ließ. Nur sein eigenes Pferd sollte verwendet werden, von keinem anderen würde er sich als Toter ziehen lassen.« Der Alte machte einen großen Schritt über eine Schneewehe auf dem Weg hinweg. »Und mit diesen Worten starb er.«
»Das haben sie auch so gemacht?«
»Oh nein! Sie wollten ja das beste f ür ihren Freund. Daher legten sie ihren toten Oberjägermeister zwar auf einen Schlitten, banden jedoch drei andere starke Pferde davor, die sonst dafür verwendet wurden, große Baumstämme aus dem Wald zu ziehen. Diese sollten den Toten zum Friedhof bringen, damit er hier in geweihter Erde begraben werden und somit den Weg ins Himmelreich finden kann.« Da blieb der Großvater plötzlich stehen und hielt auch seine Enkelin am Arm. Tief sah er ihr in die Augen: »Und ob Du es glaubst oder nicht, diese riesigen starken Pferde, die rein sten Muskelpakete, waren auch zu dritt nicht in der Lage, den kleinen Schlitten auch nur einen einzigen Millimeter zu bewegen!«
Die Kleine war beeindruckt.
Ihr Opa fuhr fort: »Nun, da blieb den Leuten nichts anderes übrig, als so, wie Hackelberg es bestimmt hatte, dessen Schimmel vor den Schlit ten zu spannen. Kaum hatten sie das getan, zog das Tier mit Leichtigkeit das Gestell fort und zwar so schnell, dass niemand mit ihm Schritt halten konnte. Hackelbergs Leiche verschwand somit auf Nimmerwiedersehen im nächtlichen Schneegestöber.«
Ringsum war es auch schon recht dunkel geworden, der alte Mann ent zündete eine kleine Laterne. Zum Glück hatten die beiden dicke Kleidung an. »Irgendwann soll ein verirrter Wanderer die Reste des Toten gefunden und sie irgendwo beerdigt haben.«
Die Kleine horchte auf: »Irgendwo? Wir haben das Grab doch vorhin gefunden!«
Sofort blieb der Alte stehen. »Meinst Du?« Er drehte sich um. »Dann komm mal ein paar Schritte mit zurück.«
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Sie stapften durch den Schnee zu dem Baum, an dem der letzte der ein geritzten Pfeile gewesen sein musste, die der Großvater als Markierung des Weges zu Hackelbergs Grab hinterließ.
Seine Enkelin erkannte flüsternd: »Der Pfeil ist weg.«
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Der Alte nickte: »So ist es immer, wenn man versucht, sich den Ort des Grabs zu merken: alle Zeichen verschwinden auf magische Art und Weise, wahrscheinlich wird auch das Grab selbst schon jetzt nicht mehr dort sein, wo wir es gefunden haben.«
»Wenn Du das wusstest, warum hast Du dann die Pfeile gemacht?«
»Ich glaube, ich hatte einfach Hoffnung, dass es dieses Mal funktio niert.«, die Stimme des Großvaters klang traurig.
Die Kleine schwieg einige Zeit. Dann nahm sie ihren Großvater in den Arm: »Ich glaube, ich möchte jetzt schnell nach Hause.«
Der Alte nickte und nun hatten sie es beide irgendwie recht eilig, ihr Dorf zu erreichen. Doch plötzlich war am Himmel ein Getöse zu hören, ein Pferdegetrappel und das Kl äffen von großen Hunden. In großer Höhe flog ein riesengroßer Rabe im Mondschein über sie hinweg.
Die Kleine blickte fast schon panisch ihren Großvater an, doch der lächelte nur.
»Das ist das Nachtrabe,« erklärte er ruhig, »und der Nachtrabe begleitet in den Nächten um Weihnachten herum stets den Wilden Jäger.«
»Wilder Jäger!?«
Und da sahen sie ihn: Auf den Raben folgte hoch am Himmel ein geisterhafter Reiter, begleitet von zwei großen Hunden. Sie schienen von Wolke zu Wolke zu springen und dort, wo keine Wolke war, erschien eine leuchtende Fl äche, die sie trug.
Zur großen Verwunderung seiner Enkelin begann nun ihr Opa, laut zu lachen. Er lehnte sich im Stand zurück und schrie in den Nachthimmel: »Heyhooo, Herr Oberjägermeister! Waidmannsheil!«
Da zog der unheimliche Reiter im Gegenlicht des Mondes mit seinen zwei Hunden einen kleinen Bogen, wohl um zu sehen, wer ihn da gegrüßt hatte.
Das kleine Mädchen zeigte Anstalten, sich hinter ihrem Großvater zu verstecken.
Der Unheimliche am Himmel schien den Großvater erkannt zu haben: »Aaahh, der unbesiegbare Kettenzieher! Waidmannsdank!« – seine keh lige Stimme dröhnte über den ganzen Wald hinweg. Dann drehte er wieder auf seinen ursprünglichen Kurs zurück. Als er fast nicht mehr zu sehen war, brü llte er noch: »Tschiff, tschaff, tohoooo!«
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Den Blick immer noch dorthin gerichtet, wo Hackelberg verschwunden war, erklärte der Großvater: »Nun hast Du tatsächlich einen Wilden Jäger gesehen, das können nicht viele von sich behaupten!«
Langsam fand die Kleine ihre Worte wieder: »Warum nennt man ihn „Wilder Jäger?“«
»Wenn am Ende des Jahres die Nächte länger und die Tage dunkler werden, dann beginnt die Wilde Jagd. Dabei kommen die Geister auf die Erde, um die Lebenden zu beschützen und die Bösen zu bestrafen. Und der Oberjägermeister ist einer der Geister, der hier bei uns nach dem Rechten sieht.«
»Was macht er denn mit den bösen Menschen?«
»Nun, es soll zum Beispiel einmal eine vorlaute Gruppe von Waldarbei tern gegeben haben, über die sich Hackelberg geärgert hat. Für die hat er ein fünf Meter tiefes Loch gezaubert, aus dem sie fast nicht mehr herausge kommen sind. Dieses Loch gibt es immer noch.«
Langsam erreichten sie ihr Heimatdorf, die Fenster der Häuser leuchteten einladend.
»Du, Opa...«
»Ja, meine Kleine?«
»Warum hat Dich der Oberjägermeister Hackelberg „unbesiegbarer Kettenzieher“ genannt?«
Sie standen nun vor der Tür ihres Zuhauses. Der Großvater lächelte ver schmitzt: »Das, meine Liebe, ist eine andere Geschichte.«
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FÜR JUNGE MÄRCHENFORSCHER
Lebte Oberjägermeister Hackelberg wirklich?
Tatsächlich wird es wohl einen Oberjägermeister namens Hanns von Hak kelberg gegeben haben, der im Dienst des Herzogs Julius von Braunschweig gestanden hat. Sagen aus dem Weserbergland erz ählen, dass er in der Nähe von Neuhaus im Solling lebte und dann nach seinem Tod als „Wilder Jäger“ an verschiedenen Orten in dieser Gegend gesehen worden sein soll.
Ist Hackelberg wirklich das passiert, was hier erzählt wird?
Alles, was der Großvater hier seiner Tochter erzählt, findet sich z.T. in mehre ren Sagen. Sogar, dass das Grab von dem Oberjägermeister niemals zweimal gefunden werden kann.
Was ist denn ein „Wilder Jäger“?
Schon seit Langem empfanden die Menschen die letzten Tage des Jahres, also das, was wir heutzutage als „zwischen den Jahren“ bezeichnen, als sehr geheimnisvoll. Denn in dieser Zeit der langen, dunklen Nächte, wenn die Winde durch die Wälder tosen und die Menschen sich in ihre Behausungen zurückziehen, liegt es nahe, diese Naturgewalten als etwas Übernatürliches zu deuten. Und genau das taten die Menschen und tun es teilweise noch heute: In den letzten Tagen des Jahres sei das Totenreich nahe an das der Lebenden gerückt, sodass die Geister derer, die eines unnatürlichen Todes gestorben sind, als klagendes und manchmal auch strafendes Heer durch den Himmel ziehen und dadurch die Stürme und Wetterkapriolen entstehen. Ganz früher, als noch die meisten Menschen im Weserbergland an mehrere Götter glaub ten, waren sie der Überzeugung, dass Götter wie „Odin“ oder „Wotan“ diese Heere anführten. Ach ja, in manchen Familien ist es noch heute üblich, zwi schen den Jahren bloß keine Wäsche zu waschen. Der Hintergrund davon ist, dass die Menschen früher Angst davor hatten, dass sich in der zum Trocknen aufgehängten Wäsche ein umherziehender Geist verfangen könnte. Also: In dieser Zeit Wäschetrockner verwenden!
Spurensuche
Am Wanderparkplatz zwischen Neuhaus und Silberborn findet sich ein jahrhundertealter rätselhafter Stein mit fünf eingearbeiteten Kreuzen. Er gilt als „Hackelbergstein“. Seine tatsächliche Bedeutung ist jedoch unklar. Gerade das hat die Fantasie der Menschen im Solling angeregt. Der Stein stand ursprünglich noch etwas höher am Moosberg, der seit jeher mit der Hackelbergsage in Verbindung gebracht wird. Oben auf dem Hochsolling turm kommt ihr dem wilden Jäger und seinem Gefolge besonders nah.
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