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ISBN 978-3-95954-175-6

© Wolfgang Bellmer, 2025 Lektorat: Nina Schiefelbein

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht auf Vervielfältigung und Verbreitung sowie Übersetzung. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Verlag Jörg Mitzkat, Allersheimer Str. 45, 37603 Holzminden Gestaltung: Verlag Jörg Mitzkat www.mitzkat.de

Elises Sohn

... und verdächtig viele Zufälle

Ein biografischer Roman

Verlag Jörg Mitzkat Holzminden 2025

1997

Wir fuhren mit unserem BMW 525 vierzig Kilometer vor Salzburg von der Autobahn ab. Marta, meine Frau, schlief auf dem Beifahrersitz. Es ist eine weite Fahrt bis nach Scheffau vor dem Wilden Kaiser. Von Holzminden nach Kassel, dann über die Rhön und schließlich um München herum. Gerade wegen München ist es gut, nachts unterwegs zu sein, auch wenn Marta nicht gern im Dunkeln fährt. Das tiefe grüne Tal, das in die langsam ansteigenden Berge hineinführt, lag gerade vor uns, als dieser Bestattungswagen von hinten herangerauscht kam. Er blinkte wild und hing mir fast auf der Stoßstange. Tote soll man nicht aufhalten, dachte ich. Ein schöner Satz, er hätte von Humphrey Bogart sein können, Gott hab ihn selig. Ich fuhr an die Seite und ließ das schwarze Auto überholen. Der Fahrer, der eine Art Schaffnermütze tief ins Gesicht gezogen hatte, gestikulierte trotzdem wild herüber und schoss vorbei.

„Die Leute hier unten haben es aber eilig, um unter die Erde zu kommen“, sagte Marta, die durch das Manöver aufgewacht war, in ihrer trockenen Art.

„Der Doofmann will sicher nur schnell zum Essen“, beruhigte ich sie. Es war doch einfach eine dieser großen, überlangen Angeberlimousinen gewesen. Noch dazu mit Münchener Kennzeichen. „Den werden wir nie wiedersehen“, fügte ich hinzu.

Zwei Tage später wusste ich es besser …

Ich fuhr zum malerischen Scheffau im Salzburger Land, um an einer neuen Roman-Idee zu arbeiten. Eine Trilogie über das Leben meiner Mutter. Ich hatte schon einen Verlag dazu kontaktiert, aber die Leute dort waren wenig begeistert. Anscheinend schrieb gerade jeder Zweite ein Buch über seine Mutter. Nun ja, 52 Jahre nach dem Krieg starben sie alle langsam weg, und die Söhne begannen zu begreifen, was ihre Mütter geleis-

tet hatten – unter den Nazis, im Krieg und nach dem großen Zusammenbruch –, um die Familien durchzubringen. Aber Elise, meine Mutter, ist von einem besonderen Kaliber, hatte ich geantwortet. Da mussten sie wieder herzlich lachen und hatten mir nachsichtig auf die Schulter geklopft.

Idioten.

Sie konnten mich mal in ihrer Selbstgefälligkeit. Ich würde hier unten die ersten zweihundert der fünfhundert Seiten, die ich mir vorgenommen hatte, aufs Papier bringen und dann zu einem anderen Verlag gehen. Es gab ja genug davon. Nur zu, hatten sie gefeixt, die haben auch genug von tapferen Müttern und Großmüttern, da sind Sie schneller wieder draußen, als Sie reingekommen sind.

Idioten.

Sie konnten mich mal.

Wir waren fast am Ziel. Jetzt, am Morgen, trieben gewaltig aufgetürmte weiße Wolken am Himmel. Die Sonne ging hinter dem Tennengebirge auf und beleuchtete sie in einem zarten Rosa von unten. Und dann lag Scheffau mit seinen weißen, rotgiebeligen Häusern und den von Geranien überquellenden Balkonen auch schon vor uns. Eine andere, friedliche Welt zwischen den hohen Bergen, die einen demütig machten. Die Menschen hier sind gläubig, was verständlich ist. Wo es so schön ist, muss es jemanden geben, der die Hand über all die weißen Gipfel, die spiegelnden Seen und die grünen Almen hält. Jetzt im Spätsommer ging es hier gemächlicher zu als im Winter. Wir würden es uns gut gehen lassen. Schwimmbad, wandern, schreiben, gut und ausgiebig essen. Und mit der Seilbahn auf zweitausend Meter hochfahren. Ich wollte die ganze Pracht der Alpen in mich aufsaugen und die erzählerische Batterie inmitten der prallen Natur gehörig aufladen. Ich wich einem Trecker aus, und da lag er vor uns: der Gasthof Pointwirt, dessen stämmiger Wirt, Kurt Wallinger, uns schon auf der Eingangstreppe seines zweistöckigen Hotels erwartete. Wir waren bereits einige Male hier gewesen, und es

hatte uns immer gefallen. Die Ruhe pur, und das sollte auch diesmal so sein. Ich würde nicht zulassen, dass irgendwer oder irgendwas mich beim Schreiben störte. Wie der Mensch sich irren kann.

Ein paar Tage später machte Marta den obligatorischen Bummel durch die Modegeschäfte. Sie ist nicht wirklich begeistert, wenn ich dahin mitkomme. Es macht sie nervös. Sie behauptet, ich stünde ostentativ gelangweilt in den Ecken der Geschäfte herum und zwinkere anderen Männern zu, die – die Handtasche ihrer Frau am Handgelenk – vor den Umkleidekabinen auf das Wiedererscheinen ihrer Liebsten in dem „kleinen roten Kleid, das ich schon immer gern haben wollte“ warteten.

Und weil die Sonne gerade golden auf das Tal und die Berge herunterlachte, machte ich mich an meinen geplanten Ausflug zur Karkogelbahn in Abtenau. Irgendwo bellte aufgeregt ein kleiner Hund. Die sanft geneigten roten Dächer der Häuser, die engen Gassen, die Berge und die ganze Welt drumherum lagen frisch und unschuldig da. Der richtige Tag, um über die Landschaft zu schweben, um mir anzuschauen, wie Gott die Welt sehen würde, wie er sie sich bei der Schöpfung gedacht hätte – wenn es sie, die Schöpfung, wirklich gäbe und Gott tatsächlich nachgedacht hätte.

Die Talstation war menschenleer. Ich parkte den Wagen im Schatten eines Baumes, was mir das Lob meiner Frau eingebracht hätte. Als ich gerade den Schlüssel aus dem Schloss zog, sah ich die überlange schwarze Limousine, die langsam auf den Parkplatz einbog. Münchener Kennzeichen. Der Doofmann mit der in die Stirn gezogenen Schaffnermütze. Er stieß die Fahrertür auf, stieg eilig aus, zuckelte seine Chauffeuruniform zurecht, eilte um den Wagen herum und riss die rechte hintere Tür des Autos auf. Verbeugte sich sogar, die Mütze vor die Brust haltend.

Ein kleiner alter Mann kletterte heraus. Er sprach eindringlich auf den Chauffeur ein, entfaltete eine Karte und zeigte auf einen bestimmten Punkt, fragte noch einmal nach, wartete das Nicken des Mannes ab, drehte sich dann, offenbar zufrieden,

ab und ging über den Parkplatz. Ich sah, dass er etwas hinkte. Er blickte kurz zu mir herüber, aber sein Gesicht zeigte keine Regung.

Ich folgte ihm zur Kasse. Er kaufte eine Tageskarte für siebzig Schilling, Dann trat er zur Seite, überprüfte das Ticket so intensiv, als ob er einen Betrug witterte, und wandte sich dann nach rechts, wo die nächste Gondel gerade hereingeschwebt kam. Sie war leer. Die Menschen schienen Abtenau und seine Seilbahn vergessen zu haben. Ich zahlte ebenfalls meine siebzig Schilling und folgte dem alten Mann. Die Form der Kabine erinnerte mich an eine Birne, unten breit, oben, zum Gehänge hin, schmal zulaufend. Es zischte und die Türflügel glitten zurück. Ich ließ ihm den Vortritt, wir stiegen ein, setzten uns einander gegenüber. Ich nickte, er grüßte zurück, sogar ziemlich freundlich. Wir saßen da und blickten uns wortlos an. Zeit dazu hatten wir ja.

Er hatte einen großen, mit Altersflecken besprenkelten Kopf, von dem die Ohren abstanden, wässrige Augen, die hinter den dicken Gläsern einer Hornbrille grotesk vergrößert aussahen, ein vorstehendes, schmal zulaufendes Kinn und Nasenflügel, die so taten, als würden sie einem üblen Geruch nachspüren. Dennoch war trotz aller Altersspuren nicht zu verkennen, dass er früher einmal ein ansehnlicher, wenn nicht gar gutaussehender Mann gewesen sein musste. Er trug einen dunkelblauen Maßanzug, dazu ein makelloses weißes Hemd mit einem verschnörkelt eingestickten Monogramm auf dem Kragen sowie eine grün und golden gestreifte Ripskrawatte. Er war gekleidet, als wolle er gleich eine Aufsichtsratssitzung eröffnen und den Vorstandsvorsitzenden entlassen.

So ganz wohl war mir bei dem Gedanken nicht, mit diesem irgendwie undurchsichtigem alten Knacker in dieser engen Kabine, die nur an ein, zwei Seilen hing, über die Berge zu schweben. Ich rief mich zur Ordnung. Was sollte ein so kleiner alter Mann in der kleinen geschlossenen Kabine schon anstellen, ohne dass ich ihn am Kragen nahm und vermutlich mit Leichtigkeit ruhigstellte? Gut, dass der zwielichtige Chauffeur am Boden blieb.

Ein Signal ertönte. Die Türen schoben sich zu. Noch ein Signal, und wir setzten uns in Bewegung. Es ruckelte und zischte dezent, dann waren wir in der Luft, schwebten über die Straße und folgten ihr ein Stück. In der Heckscheibe sah ich den BMW im Schatten unter dem Baum kleiner werden und dachte sofort wieder an Marta. Sie hasste es, in heiße Autos zu steigen, und lächelte mich immer zufrieden an, wenn ich beim Parken daran dachte und nicht mit meinen Gedanken „irgendwo unterwegs“ war. Seltsam, wie sich Gewohnheiten auch dann melden, wenn man sie gar nicht braucht. Eigentlich beruhigend. Aber ich fragte mich so manches Mal, wie es überlebenden Ehepartnern zumute sein musste, wenn sie nach der Beerdigung allein ins Haus zurückkommen, in dem alles, aber auch alles, nach lange geliebten gemeinsamen Gewohnheiten riecht. Ein schrecklicher Gedanke.

Blick hinaus, rief ich mich zur Ordnung, freu dich an der Landschaft, noch kannst du es. Die Sache mit dem Einsamsein liegt hoffentlich – wenn überhaupt – in weiter Ferne.

Die Landschaft hob sich uns entgegen, als würde der Hügel, den wir gerade überflogen, einatmen. Ein Wald schob sich heran. Eine Schneise tat sich auf, über der wir bergan schwebten. Ein Trecker zog einen Baumstamm aus dem Unterholz.

Als Kind hatte ich eine Eisenbahn gehabt, eine dicke Lok zum Aufziehen und breite Schienen. Onkel Schorse, der bei uns wohnte, hatte aus bemalter Pappe die Landschaft drumherum gebaut, Wälder, Brücken, Berge, Seen. Und Straßen. Auf ihnen hatte ich die kleinen Meico-Autos, Pferdefuhrwerke und Traktoren fahren lassen und meinen Spaß gehabt, wenn es auf den Bahnübergängen krachte, weil die Schranken nicht funktionierten oder weil ich einfach wollte, dass es krachte.

Jetzt, aus zwei-, dreihundert Meter Höhe, von der Sonne bestrahlt, sah die Landschaft nicht wirklich anders aus. Ein Zug schlängelte sich an einer Pappelallee entlang, und Autos warteten an einem Bahnübergang, wo Lok und Waggons die Straße gleich queren würden. Die Schranken funktionierten. Wo, zum Teufel, waren die Jahre geblieben? Was ist Wirklichkeit, was nur

ein Abklatsch davon? Und was nur Erinnerung? Sitzt irgendwo da oben tatsächlich jemand, der die Dinge auseinanderhält? Oder der uns glauben lässt, dass er sie auseinanderhält? Oder hocken da nur – in Rom, Mekka oder sonstwo – machtbewusste Leute in prächtigem Ornat und lassen uns glauben, dass irgendwo jemand – zu dem sie angeblich in einzigartiger Verbindung stehen – sitzt, der die Dinge auseinanderhält? Vielleicht ist die Welt wirklich eine Papplandschaft, und wir sehen es nur nicht.

Werde jetzt bloß nicht sentimental. Du wirst bald sechzig, aber deswegen musst du noch nicht spinnen.

Nein, werde ich nicht. Noch nicht.

Ich sah zu dem Mann hinüber. Er hatte das Kinn in einer Hand vergraben und starrte auf eine alte Aktentasche, die er mit der anderen Hand umkrampfte. Etwas Düsteres ging von ihm aus. Ich hätte ihn gern gefragt, was ein Mann, der gute zwanzig Jahre älter war als ich, in diesem Moment dachte. Würde ja nicht schaden, sich schon mal darauf einzustellen.

Ich hatte gerade meinen Mut zusammengenommen und seinen Blick auf mich gezogen, als es quietschte und die Gondel mit einem Ruck stehen blieb. Sie schaukelte, und instinktiv stemmte ich einen Fuß gegen die Türlaibung, um nicht vom Sitz zu fallen. Mein Gegenüber blieb seltsam ungerührt. Er schien auch keine Mühe zu haben, sich im Sitz zu halten, schien sogar zufrieden, als hätte er alles schon vorher gewusst.

Es knisterte in dem Lautsprecher über uns. „Liebe Fahrgäste“, sagte eine männliche Stimme, „bitte beunruhigen Sie sich nicht. Wir haben einen Defekt. Wir suchen nach ihm, wir haben alles im Griff.“

Wir suchen nach ihm.

Wenn sie alles im Griff hätten, würden sie nicht suchen müssen, dachte ich. Ich blickte nach unten. Wir hingen weit über Landschaft. Direkt unter uns war ein Bach mit Bäumen, die ihn umsäumten. Ob sie den Sturz abfedern könnten, wenn wir fielen?

Denk nicht immer gleich das Schlimmste, wenn es nicht wie

gewohnt läuft, nörgelte das kleine Männchen in mir, das immer alles besser weiß, wenn es kritisch wird. Worst-Case-Denken. Schicksal eines Anwalts, der zehnmal am Tag gefragt wird, was dem Mandanten schlimmstenfalls passieren könnte. Oder das Schicksal eines sechzigjährigen Mannes, der seine Prostata spürt und seinen Urologen am liebsten fragen würde, was schlimmstenfalls passieren könnte. Dazu aber zu feige ist.

„Es passiert immer mal, dass die alte Mühle stehen bleibt“, sagte der Alte und lächelte mir leicht zu, „machen Sie sich nichts daraus.“

Ein Ruck in der Gondel und ein alter Mann, der meint, mich trösten zu müssen, weil er fühlt, dass ich Schiss habe.

Was ist bloß los mit mir?

„Fahren Sie öfter hier?“, fragte ich zurück, um wenigstens etwas Haltung zu zeigen.

„Ab und zu.“

„Um sich die Landschaft anzuschauen?“

Er blickte auf seine Aktentasche. „Um mir das Leben zu nehmen.“ Seine Stimme hörte sich an wie ein Stück Pappe, das gegen Fahrradspeichen schlägt.

Ich wollte etwas sagen, aber in meinem Mund formten sich keine Worte, sie schienen zu verklumpen, ehe sie über die Lippen kommen wollten.

Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit einem kleinen Tuch, das er aus der Jackentasche zog. Als er die Säuberung beendet hatte, hielt er die Brille für zwei Sekunden gegen das Licht, bevor er sie wieder aufsetzte. Ich merkte, dass ich die Luft angehalten hatte.

„Guter Witz“, sagte ich in meinem Bemühen, cool zu bleiben.

„Kein Witz.“ Er schüttelte den Kopf. „Jedes Mal, wenn ich hierherkomme, versuche ich es, habe sogar …“, er fingerte einen kleinen Vierkantschlüssel aus der Hose, „… diesen kleinen Freund hier mit, um die Tür zu öffnen, will springen, aber tue es nicht. Will es, aber tue es nicht. Weil ich ein Feigling bin.“ Er seufzte. „Na ja, und heute sind Sie ja da.“ Er sah mich abwar-

tend an, wie einen Staubsaugervertreter, der das Mittagessen stört.

Heute war ich ja da.

Wenigstens wusste ich nun, dass er nicht springen würde.

„Mein Fahrer wartet immer da unten auf der Straße. Wenn ich springe, springe ich hier“, sagte er, fast um Zustimmung bittend. „Ich habe eine Stelle ausgesucht, wo ich niemanden gefährde, an die er aber doch gut heranfahren kann, um mich aufzuladen.“ Er breitete die Hände aus, und ich fragte mich, ob er so etwas wie ein Lob hören wollte. „Ich habe ihm die Stelle in dieser Karte genau gezeigt, hier, sehen Sie …“ Er bemerkte meinen ungläubigen Blick und fügte wie ein ertappter Schüler hinzu: „Damit alles seine Ordnung hat, verstehen Sie?“

Es wäre alles einfach gewesen, wenn er ein Verrückter gewesen wäre. Aber das war er nicht. Vielleicht jemand, der seine innere Schraube überdreht hat. Oder unendlich traurig ist. Aber verrückt?

Ich schüttelte den Kopf. Als Anwalt pflichte ich den Mandanten anfangs oft bei, tue so, als verstünde ich sie. Das ist gut, um ihr Vertrauen zu gewinnen, aber dies war eine andere Nummer. Er spürte mein mangelndes Mitgefühl und blickte wie ein kleiner Junge, der seine Eltern überzeugen will, dass er die Schwester nicht gekniffen hat. „Ich bin vierundachtzig, aber immer noch zu feige“, schob er nach, als würde dies alles erklären.

„Und wenn jetzt die ganze Gondel … Ich meine, sie könnte doch … wenn ein Seil reißt … ich meine … abstürzen … Es wäre doch möglich …“

„Papperlapapp.“ Er wischte meine Worte mit seiner mageren Hand zur Seite. „Abstürzen werden wir nicht, da mache ich mir keine Hoffnung.“

Ich wollte schon mit „Tut mir leid“ antworten, aber das wäre doch des Guten zu viel gewesen. Die Sonne schien mir jetzt direkt ins Gesicht. Nur hin und wieder zog eine Wolke vorbei und warf Schatten auf die Gondel. Mittlerweile hatte uns ein Adler erspäht. Er kreiste über uns und krächzte tatendurstig.

„Majestätische Tiere, diese Herren der Lüfte“, sagte ich, um überhaupt etwas zu sagen, „aber doch irgendwie unheimlich, wenn man sie so von Nahem sieht.“

„Sie tun nur so, als ob sie majestätisch sind“, nörgelte er. „Diejenigen, die sich als Herren aufspielen, sind meistens nicht so majestätisch, wie sie tun.“

„Sprechen Sie von sich selbst?“

Er blickte auf, als sähe er mich zum ersten Mal. „Kleiner Schlaumeier, wie?“

„Guter Beobachter“, konterte ich. „Sie sehen so aus, als ob sie viel Macht in Ihren Händen halten, sich aber trotzdem nicht leiden können.“

„Wieso?“, blaffte er.

„Wieso? Chauffeur, schwarze Limousine, maßgeschneiderter Anzug. Und ein Vierkant, um aus der Gondel zu springen.“

Sein Gesicht wurde spitz. „Das Leben ist eben so.“

„Man wird nicht im Maßanzug geboren.“

„Mein Leben, Maßanzug oder nicht, geht Sie gar nichts an …“

„Geht mich doch etwas an. Man sitzt nicht jeden Tag mit einem grimmig tuenden Selbstmörder in einer Gondel, der sich von seinem Chauffeur am Boden aufsammeln lassen will.“

Nun grinste er doch. „Und? Was denken Sie?“

„Dass Sie, so alt Sie auch sind und so erfolgreich Sie sein mögen, immer noch nicht glücklich sind. Und immer noch nicht wissen, was Sie wirklich wollen. Und dass solche Menschen – wenn man allein mit ihnen in einer Gondel sitzt – einem nicht ganz geheuer sind und …“

„Und?“

„Und dass man gerne Klarheit hätte, solange dieser verdammte Adler noch auf Abstand bleibt.“

Er nickte. Er überlegte einen Moment und nickte wieder. „Meine Familie war bettelarm, als ich geboren wurde. Mein Vater starb früh, und ich musste die Schule schwänzen, um zu arbeiten. Schlosser, Heizungsmonteur, Maurer, suchen Sie sich was aus.“

„Irgendwas muss geschehen sein.“

„Ich konnte gut mit den Kunden …“

„Den Frauen …?“

„Den alten Frauen. Die meine Mütter hätten sein können und die Häuser geerbt hatten, Mietshäuser, und nicht weiterwussten.“

„Bis Sie kamen, die treuen Augen aufschlugen und die Dinge regelten. Mit den Behörden und so …“

Er grinste wieder. „Behördenleute sind nicht schlimm, man muss nur wissen, dass sie nicht gern arbeiten. Aber sich auch keinen Anschiss vom Chef abholen wollen. Solange alles klar läuft und die Akte dünn bleibt …“

„… sind die Chefs zufrieden.“

„Aber es reicht nicht“, sagte er, „wenn die Chefs nur zufrieden sind. Sie wollen auch etwas davon haben.“

„Bestechung?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Das meine ich nicht. Aber eine gemütliche, einvernehmliche Welt. Da reicht schon eine Tischtennisplatte in der Garage und ab und an ein kleines Turnier unter Freunden. Man wundert sich, wie sehr so ein kleiner Pokal und eine Kiste Bier ein Gemeinschaftsgefühl schaffen kann …“

„… sodass alles klar läuft und die Akten schön dünn bleiben.“ Ich blickte nach draußen, weil ich seine selbstzufriedenen Augen nicht sehen wollte. Der Adler schwebte jetzt dichter heran. Mir schien, als ob er zufrieden lächelte. Beute, die nicht fliehen kann, ist gute Beute.

„Verstehen Sie mich nicht falsch“, sagte er in die Stille hinein. „Es lief alles ordentlich ab. Und ehrlich. Irgendwann drängte mir eine der alten Frauen ihr Haus auf, wenn ich mich nur darum kümmerte, dass sie versorgt war. Das sprach sich dann rum, und ein Haus kam zum anderen. In der DDR, wohlgemerkt. Und als die Mauer dann fiel und die Marktwirtschaft sich breit machte … da war ich plötzlich wer.“

„Wie viele Wohnungen?“

„So um die tausendzweihundert. Es hat sich eben geläppert im Laufe der Jahre …“

„Respekt, Respekt!“

„Aber glauben Sie nicht, dass das alles so einfach war.“

„Lassen Sie mich raten. Die lieben Verwandten wollten ihren Teil abhaben vom Kuchen?“

Er blies die Backen auf. An der Farbe seines Gesichtes sah ich, dass er seine ganze Energie darauf verwandte, nicht die Beherrschung zu verlieren. Er bemühte sich zu lachen. „Mit einer Tischtennisplatte und geselligem Turnier in der Garage war es jedenfalls nicht getan.“

Ich lächelte pflichtschuldigst.

„Die Frau wollte Geld. Und Ansehen. Das ich ihr nicht geben konnte. Ich wollte weiter der liebe kleine Doofi sein, den niemand so recht ernst nahm, von dem jeder meinte, dass er mit ihm schon mit links fertig werden würde …“

„Kinder?“

„Madame war sich zu fein für eine Schwangerschaft. Aber zwei adoptierte, die auch bald überschnappten.“

„Freundinnen?“

„Drei insgesamt. Die zweite, eigentlich ’ne Nette, hat einen Jungen von mir, den sie aber nicht zu mir lässt, seit wir auseinander sind und ich eine Neue habe, die mir wirklich etwas bedeutet, aber …“ Er stockte.

„Aber …?“

„Die ganze Bagage ist gegen mich. Ich störe. Sie leben wie die Maden im Speck, schauen, dass ich den Laden am Laufen halte, aber wie es mir wirklich geht, ist schon nicht mehr wichtig.“

Ich zeigte auf den Vierkant, den er noch immer in der Hand hielt. „Und jetzt wissen Sie nicht …“

„Ich wusste noch nie“, schnaubte er, „wer ich bin, was ich wirklich wert bin, wem ich wirklich etwas wert bin.“

„Ich verstehe“, sagte ich.

„Sie verstehen, Sie verstehen!“, blaffte er. „Ich glaube nicht, dass Sie verstehen! So wie Sie aussehen, so selbstzufrieden, ist bei Ihnen im Leben doch sicher immer alles prima gelaufen, ist das Brot immer auf die Butterseite gefallen …“

1945

Das Erste, was ich, der fünfjährige Wolfgang, vom Kriegsende mitbekam, war, dass Onkel Schorse unserem Hausmädchen, das Doris hieß, in den Po zwickte, woraufhin ein deutsches Jagdflugzeug abstürzte.

Ich saß auf der Treppe, die zum Wintergarten hinaufführte, und spielte mit dem Stoffball, den meine Mama für mich aus den Resten einer alten Gardine genäht hatte. Das Jagdflugzeug tauchte wie aus dem Nichts über den Dächern der nahe gelegenen Fabrik auf und flog schwankend und mit stotterndem Motor über uns hinweg, eine blauschwarze Rauchfahne hinter sich herziehend. Onkel Schorse zog Doris in die kleine Gartenlaube und schlug die Tür hinter sich zu. Die Maschine schob sich ächzend und knatternd auf den Solling zu. Sie war kaum hinter dem Horstberg verschwunden, als eine flammende Rauchsäule in den Himmel schoss. Dann war Stille.

Ich wartete eine Weile, aber Onkel Schorse und Doris kamen nicht wieder aus der Gartenlaube hervor. Ich fragte mich, ob sie größere Angst hatten als ich, und war drauf und dran, sie aus dem Häuschen zu retten. In diesem Moment hörte ich, wie Mama aus dem Küchenfenster nach mir rief. Ich nahm den Ball unter den Arm und lief die Treppe hinauf in den Wintergarten. Er war vollgestellt mit Blumen, die sich an hohen Fenstern der Sonne entgegenreckten. In der Ecke plätscherte ein Brunnen, der in schwarzen Marmor gefasst war. Vor ihm stand eine kupferne Gießkanne, die stets mit Wasser gefüllt war. Das hatte mich immer gereizt. Als Papa mir gezeigt hatte, wie man aus Papier ein Schiff falten konnte, hatte ich mich an die kupferne Kanne erinnert und den Wintergarten für das Schiffchen unter Wasser gesetzt. Es war zwar nicht zu einer Seefahrt gekommen, ich dafür aber zu einer Tracht Prügel von Mama. Lederhose runter, Hintern versohlt.

Ich streckte der doofen Gießkanne die Zunge heraus und lief in den großen, mit Orientteppichen ausgelegten Raum, den meine Eltern das Herrenzimmer nannten. Dicke Sessel gruppierten sich um einen runden Tisch. Ein wuchtiger Schreibtisch stand am Fenster, vor ihm ein geschnitzter Stuhl mit hoher Lehne.

Auf der Sitzfläche lauerte bereits das Ungeheuer auf mich.

Die Erwachsenen sahen in ihm nur ein rotes Kissen mit schwarzen Fransen an den Seiten, aber ich wusste es besser. Das Kissen war in Wahrheit eine Bestie, sie hatte sich nur als Kissen getarnt, damit Mama und Papa nichts merkten von der Gefahr, in der sie schwebten. Die Bestie grinste mich drohend an, weil sie wusste, dass ich sie erkannt hatte. Ich schüttelte ihr die Faust entgegen. Die Bestie duckte sich hinter die hohe Armlehne des Stuhls und glaubte, dort vor mir sicher zu sein. Aber da hatte sie sich geschnitten. Ohne sie aus den Augen zu lassen, kletterte ich auf den Sessel und begann im Stehen zu wippen. Die Federn unter mir wippten mit, stärker und stärker.

Ich stieß mich ab.

Ich flog.

Flog über die hohe Stuhllehne, streifte sie mit dem Knie, aber dann hatte ich das Ungeheuer gepackt. Ich trampelte auf ihm herum, bis es den Kampf aufgab und entkräftet auf den Perserteppich fiel, wo es schlaff und schlapp liegen blieb. Gewonnen!

Ich war gesprungen.

Wie der Tiger, den Mama auf der gelben Bluse hatte!

Es war ein schönes Gefühl, Mama, Papa und auch Doris gerettet zu haben. Sie konnten stolz auf mich sein. Ich gab dem schlappen Ungeheuer noch einen Tritt und ließ es auf dem Teppich verbluten. Die Erwachsenen sollten ruhig sehen, wovor ich sie bewahrt hatte.

Ich schob die Tür zum Esszimmer auf. Gleich um die Ecke führte ein Speiseaufzug nach unten in die Küche im Keller. Er lief in seitlichen Schienen und wurde von zwei Seilen bewegt, die an den Endstationen aus der Schwärze des Fahrstuhl-

schachtes auftauchten, sodass man an ihnen ziehen und den Aufzug auf und nieder bewegen konnte. An der Station in der Küche hatte es mich immer beunruhigt, dass zwar die Fahrt des Aufzuges dort zu Ende war, der Schacht sich aber weiter in die dunkle Erde bohrte. Das konnte man sehen, wenn der Aufzug oben war. Wo mochte der Schacht hinführen? War da noch eine Küche?

Oder etwa die Hölle?

Vor einiger Zeit hatte ich all meinen Mut zusammengenommen. Als der Aufzug gerade oben im Esszimmer war, stellte ich in der Küche einen Hocker an die Wand und kletterte über die Brüstung. Meine Finger ertasteten ein gebogenes Ding. Blöderweise bog es sich weg, als ich dagegen drückte, und ich verlor den Halt.

Ich fiel.

Ich fiel nicht tief. Landete auf festem Boden. Seltsamerweise konnte ich jetzt sehen. Das Licht der Küche fiel von oben herein. Ich lag zwischen vier stählernen Spiralen, die so lang waren wie meine Beine. Die Dinger klirrten und wippten, als ich gegen sie trat. Dann hörte ich, wie oben im Esszimmer jemand die Klappen öffnete und sich am Aufzug zu schaffen machte. Ich wollte rufen, aber das hätte mich verraten. Neben meinem Arm bewegte sich Seil. Ich blickte hinauf.

Der dunkle Boden des Fahrstuhls sank mir entgegen!

Diesmal wollte ich schreien, aber diesmal ging es nicht.

Raus!, dachte ich, nichts wie raus. Raus, raus, RAAAUUUUS!!!

Aber als ich hochspringen wollte, verhakte sich eine dieser blöden Spiralen in meiner Hose. Ich ließ mich wieder fallen. Der Fahrstuhl knallte auf die Spiralen und erwischte mich an der Schulter. Aber dann stand die Kiste und ich lag darunter und wagte nicht, mich zu bewegen. Ich hörte, wie jemand die Küchentür öffnete.

Nun schrie ich.

Ich glaube, es klang irgendwie kümmerlich, aber ich schrie und hoffte, dass es sich nicht wie Weinen anhörte. Es ist doof, wenn die Leute glauben, man ist eine Memme.

Es war Mama. Sie begriff schnell, was passiert war. Mama begriff immer schnell, was passiert war. Sie zog den Aufzug etwas hoch, tastete nach mir und zog mich raus.

Es ist wirklich gut, wenn man eine Mama hat.

„Tut dir was weh?“

„Nein“, log ich.

„Was zum Teufel machst du da drin?“, fauchte Mama.

„Uns retten“, sagte ich und überlegte und bat den lieben Gott, dass mir was Gutes einfiel. „Es ist so dunkel da drin, und da wollte … da wollte …“

„Da wollte mein neugieriger Herr Sohn mal sehen, was sich da verbirgt.“

„Vielleicht ja die Hölle mit all diesen Teufeln, Mama. Sagt Papa doch immer: Erst kommt die Dunkelheit und dann die Hölle.“

Sie blickte mich prüfend an. Vielleicht, weil Papa so etwas noch nie gesagt hatte. Aber genau wusste sie es wohl nicht, denn sie streichelte mir kurz über den Kopf. „Und nun?“

„Hunger“, sagte ich. „Ich habe Hunger.“

Das beruhigte sie. Solange Kinder Hunger haben, ist alles in Ordnung. Es ist so einfach zu wissen, was die Erwachsenen denken.

Viel wichtiger aber war die Erkenntnis, dass einem etwas einfallen muss, wenn es eng wird. Und ich wusste nun, dass Spiralen da waren, um den sinkenden Fahrstuhl aufzufangen. Damit das transportierte Geschirr keinen Schaden nahm. Meine folgenden Versuche ergaben, dass der Aufzug härter aufschlug und höher hüpfte, je schneller er fuhr und je stärker ich an den Seilen zog. Wenn ich Glück hatte, hüpfte das Geschirr bis an die Decke des Kastens, was ordentlich klirrte. Als sich dabei die kostbare Sauciere mit springendem Hirsch den Bauch aufschlug, rumste es auch bei mir wieder – lederhosenmäßig gesehen. Auch diesmal schrie ich wieder ordentlich. Zum einen, weil es – wie Dieter Pollmann sagte – von einem Jungen erwartet wird, wenn er sich vertrimmen lässt. Und zum anderen, weil viel Gezeter bei Papa ein schlechtes Gewissen

hinterließ, was sich spätestens nach dem Essen, bei der Zuteilung von gezuckertem Kakao, positiv auswirkte.

Immerhin, die wahre Mutprobe stand noch bevor.

Die Geschirrkiste selbst zu befahren.

Was möglich sein musste, wenn man die an der Seite laufenden Seile in der Hand behielt. Blieb nur die Frage, ob ich zu schwer war, was sicher zu einem Absturz führen würde. Gewiss, meine Freunde, die federnden Spiralen, waren da und würden mich auffangen, aber … aber … aber …

Ich wachte aus meinen Gedanken auf, als ich Mama noch einmal rufen hörte. Meine Mama! Mein Gott, ich vergaß sie immer völlig, wenn ich nachdachte. Ich möchte wissen, wo du immer deine Gedanken hast, würde sie sagen.

Ich öffnete die Klappe des Aufzugs. Die Kiste war voller Geschirr. Heute war es also nichts mit der Fahrstuhlfahrt. Vor meinen Augen blitzte die Rauchsäule des abgestürzten Flugzeuges auf. Noch ein Absturz wäre vielleicht nicht gut.

Sie hatte gerufen, und ich hatte herumgebummelt. Sie würde natürlich meckern. Aber immerhin hatte ich die Bestie erschlagen. Ob Frauen sich über so etwas freuen?

Ich lief auf den Flur, ignorierte den bohrenden Blick des weißbärtigen Mannes, der aus dem dunklen Ölbild zu mir herabschaute, und lief die Treppe hinunter in die Küche .

Mama machte gerade den Ofen an. Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Wo bleibst du denn? Du sollst doch Holz holen.“

Meine Mutter war eine schöne Frau. Wenn sie ärgerlich wurde, war sie noch schöner. Sie trug diese gewickelte Kittelschürze mit den vielen Blumen darauf.

„Ein Flugzeug ist abgestürzt“, sagte ich, „und Doris und Onkel Schorse sind in der Laube und haben Angst herauszukommen.“

„Und was hat das mit dir zu tun?“

Typisch Mama. Ausreden, die wahr sind, ziehen bei ihr nicht. Obwohl ich merkte, dass die Sache mit Doris sie beschäftigte. Wahrscheinlich, weil sie jetzt allein den Ofen anmachen

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