Die Juden von Coppenbrügge

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Bernhard Gelderblom Die Juden von CoppenbrĂźgge



Holunderblüte Leute, ihr redet: Vergessen –  Es kommen die jungen Menschen, ihr Lachen wie Büsche Holunders. Leute, es möcht‘ der Holunder sterben an eurer Vergesslichkeit. Johannes Bobrowski


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-95954-017-9 Zuschüsse zu dem Forschungsprojekt „Juden in Coppenbrügge“ und den Druckkosten des Buches haben gewährt: Flecken Coppenbrügge Landesverband der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, Hannover Dr. Rainer Halves Landschaftsverband Hameln-Pyrmont e.V. Sparkasse Hameln-Weserbergland Rudolf Bandick Bild auf der Vorderseite: Die auf Arnold Levy zurückgehende Tür des Rathauses Coppenbrügge, restauriert 2016. Der Löwenkopf ist Zeichen der Zugehörigkeit zum Stamm der „Leviten“. (Quelle: Slg. Bernhard Gelderblom, Foto 2016) Bild auf der Rückseite: Ruth Levy als Schülerin im Atelier eines Fotographen, undatiertes Foto. (Quelle: Slg. Jürgen Holzapfel) Gestaltung: Verlag Jörg Mitzkat, Berit Nolte Alle Rechte vorbehalten. Verlag Jörg Mitzkat Holzminden 2016 www.mitzkat.de


Bernhard Gelderblom

Die Juden von CoppenbrĂźgge

Verlag JĂśrg Mitzkat Holzminden 2016


Inhalt Grußworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Die Geschichte der Juden in Deutschland seit dem Mittelalter – ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Mittelalter und frühe Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Die norddeutschen Landesfürsten im 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . 21 Das Zwischenspiel des Königreichs Westphalen (1807 – 1813) . . . . . . 24 Emanzipation und Integration (1815 – 1918) . . . . . . . . . . . . . . . 25 Erste demokratische Republik (1918 – 1933) und ­NS-Regime (1933 – 1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Nachkriegszeit und Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . 29 Zur Geschichte Coppenbrügges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Juden in Coppenbrügge – ein Überblick in Zahlen . . . . . . . . . . 35 Die Zeit der Grafschaft Spiegelberg (bis 1819) . . . . . . . . . . . . . 39 Ein Verzeichnis der Juden aus dem Jahre 1630 . . . . . . . . . . . . . . 39 Die Kopfgeldbeschreibung von 1715 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Eine Schutzgeld-Liste von 1740 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Der Verkauf der Saldernschen Epitaphien aus Lauenstein an einen Coppenbrügger Juden im Jahre 1756 . . . . . . . . . . . . . . 43 Die Statistische Beschreibung der Grafschaft Spiegelberg von 1783 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Bericht des hannoverschen Amtes Coppenbrügge über „Die Verhältnisse der dort wohnenden Juden“ von 1820 . . . . . . 46 Exkurs: Die jüdische Namensgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Jüdisches Leben in Coppenbrügge in der Zeit der Grafschaft Spiegelberg – eine Zusammenfassung . . . . . . . . . . 52


Emanzipation und Assimilation. Das 19. Jahrhundert bis 1870 . . 55 Die rechtliche,­wirtschaftliche und soziale Lage sowie die demographische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Religion und Schule zur Zeit des Gemeindevorstehers Jacob Mosheim 1814 – 1841 . . . . . . . . . . 62 Die religiösen und schulischen Verhältnisse 1841 – 1870 . . . . . . . . 67 Die alteingesessenen jüdischen Familien in Coppenbrügge . . . . . . . 74 Im 19. Jahrhundert zugezogene jüdische Familien . . . . . . . . . . . . 89 Juden in Brünnighausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Juden in Hohnsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Juden in Bisperode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Umstrittene Integration. Von 1870 bis zum Ersten Weltkrieg . . . 119 Die rechtliche, wirtschaftliche und soziale Lage sowie die demographische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Die religiösen und schulischen Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . 123 Die jüdischen Familien in Coppenbrügge . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Vom Ersten Weltkrieg und den Jahren der Weimarer Republik bis zum Ende des NS-Regimes . . . . . . . . 147 Die soziale und religiöse Lage der jüdischen Gemeinde . . . . . . . . . 147 Die jüdischen Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Das NS-Regime vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Zerstörung und Verkauf des jüdischen Friedhofs . . . . . . . . . . . . . 214 Verantwortliche NS-Funktionäre in Coppenbrügge . . . . . . . . . . . 224 Nachkriegszeit und Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . 239 Der Umgang mit den Verantwortlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Die Schicksale der überlebenden Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Die endlose Geschichte der Rückgabe des Friedhofes . . . . . . . . . . 256 Die Namen der Opfer unter den jüdischen Familien des Fleckens Coppenbrügge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Anhang – Dokumente und Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Grußworte Grußwort des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen KdöR Wen interessiert das schon? Mehrere hundert Seiten über eine nicht mehr existente jüdische Gemeinde auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsens – muss das denn sein? Gerade vor wenigen Tagen wurde ich von einer jungen Schülerin einer 11. Klasse eines renommierten hannoverschen Gymnasiums gefragt, ob man sich denn noch mit der Geschichte des Nationalsozialismus, mit der Ermordung fast des gesamten europäischen Judentums beschäftigen müsse. Sie beschäftigte sich selbst mit diesem Thema, also war es eigentlich nur eine rhetorische Frage – oder vielleicht doch nicht? Ist es nicht tatsächlich so, dass Millionen von Menschen meinen, dass es an der Zeit wäre, sich mit der Vergangenheit nicht mehr beschäftigen zu müssen, unabhängig davon, ob es Deutsche sind, in Deutschland lebende Ausländer, Menschen ohne und Menschen mit Geschichte. Es gibt natürlich nur eine Antwort: Geschichte und Vergangenheit gehören zum Leben. Gegenwart und Zukunft ohne Vergangenheit sind nicht möglich und so gehört die Erinnerung an die bösen Zeiten unserer Geschichte zwangsläufig dazu, wenn wir uns an die guten Zeiten der Geschichte erinnern wollen. Bernhard Gelderblom hat sich wieder einmal ans Werk gemacht. Er hat wieder einmal die Geschichte der Juden in einem kleinen westhannoverschen Gebiet beschrieben und damit deutlich gemacht, dass Judentum nicht nur ein fremdartiger Körper war im Flecken oder in der Stadt, in der Juden über Jahrhunderte lebten und die sie mit ihrem Wissen und ihren Talenten bereicherten. Gelderblom hat die jüdische Gemeinschaft in Coppenbrügge und seiner Umgebung nicht nur in ihre Zeit eingeordnet, sondern einen großen Bogen gespannt über 300 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, über den Aufgang des Judentums, aber auch den Niedergang. Und schließlich endet jüdisches Leben in Coppenbrügge mit der Vertreibung der letzten Juden kurz nach der sog. „Reichskristallnacht“ und schließlich mit dem Tod, der Ermordung der drei letzten Coppenbrügger Juden Oskar und Lieschen Levy und ihrer Tochter Ruth in Riga. Der Deportation ins Ghetto Riga gedenken wir in Hannover jedes Jahr am 15. Dezember und es wird seit Jahren immer deutlicher, dass dieses Gedenken an bestimmten Fixpunkten ausgerichtet, bestimmte Personen wieder zurückholend, für Schüler wieder interessant wird, interessanter als nur das schlichte Ablegen eines Kranzes, einiger salbungsvoller Wörter und Sätze. Vielleicht wa-

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Grußworte

ren die letzten Coppenbrügger Juden Oskar, Lieschen und Ruth Levy mit meinen Großeltern und meinem Vater auf dem Transport am 15. Dezember 1941, vielleicht sind sie genau wie meine Großeltern Max und Elise zur gleichen Zeit in Riga umgebracht worden? Gelderbloms Buch über das Judentum in Coppenbrügge bedeutet, dass die „offene Wunde“, die der Untergang des Judentums in Coppenbrügge, in Hannover, in Deutschland und ganz Europa bedeutete, sich nicht verschließen wird. Das Buch zeigt, dass die jüdische Gemeinschaft in der Grafschaft Spiegelberg bzw. dem späteren Amt Coppenbrügge zwar ein eigenes religiöses, kulturelles und wirtschaftliches Leben entfaltete, aber gleichermaßen – gerade in der ländlichen Gegend – Bestandteil der Gesellschaft war, wenngleich auch nicht immer anerkannt und dass für viele auch die Konversion zum Christentum das Entre Billet in die deutsche Gesellschaft wurde. Dank an Bernhard Gelderblom für diese außerordentlich wichtige Arbeit.

Michael Fürst Präsident des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen KdöR

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Grußwort des Fleckens Coppenbrügge Liebe Leserinnen, liebe Leser, am 13.11.2013 hat der Rat des Flecken Coppenbrügge beschlossen, unter der Federführung des Hamelner Historikers Herrn Bernhard Gelderblom die Erstellung einer Dokumentation über das jüdische Leben in Coppenbrügge zu unterstützen und zunächst Mittel bereitzustellen, um die Sichtung historischer Dokumente zu ermöglichen. In weiteren Sitzungen der politischen Gremien wurde letztendlich die Finanzierung des Projektes sichergestellt. Herr Gelderblom hat bereits in einem Vortrag am 10.09.2015 eindrucksvolle Einblicke über seine Recherchen gegeben. Die Zuhörer konnten viel über das Schicksal der jüdischen Coppenbrügger Familien erfahren und waren an diesem Abend erschüttert angesichts der tragischen Ereignisse während der Zeit des Nationalsozialismus. Ein Stück der Coppenbrügger Ortshistorie, das bisher nicht näher untersucht wurde, ist nunmehr in eindrucksvoller Weise aufgearbeitet worden. Herr Gelderblom gibt den Menschen mit jüdischem Glauben, die hier bei uns gelebt und auch gelitten haben, eine Geschichte, ein Gesicht, ein Bild über ihr Wirken und Tun. Viele Familien waren erfolgreich hier im Ort und in den umliegenden Dörfern tätig. Und wir wissen: Erfolg weckt Neid. Neid auf Dinge, die man sich hart erarbeitet hat. Die hässliche Pflanze Neid konnte weiter wachsen und hat in ganz Deutschland, aber auch in unserem beschaulichen Coppenbrügge, das Schicksal der Juden besiegelt. In unserem Rathaus wirkte der jüdische Kaufmann Arnold Levy. In den Räumen, in denen wir heute arbeiten, führte er sehr erfolgreich eine Textilmanufaktur und gab vielen Menschen vor Ort Lohn und Brot. Die Eingangstür mit dem Löwenkopf (Levy – Löwe) zeugt noch heute davon. Herrn Bernhard Gelderblom und seinem Mitstreiter Herrn Mario Keller-Holte gilt ein ganz besonderer Dank. Der Dank, das Bewusstsein geweckt zu haben für ein Stück Geschichte, der man sich nicht gern stellt. Es ist sehr wichtig, dies zu tun, denn nur so kann zukünftig verhindert werden, dass sich hier derartige Verbrechen an der Menschlichkeit wiederholen können und dass man rechtzeitig gegensteuern kann. Gerade angesichts der aktuellen Ereignisse der Flüchtlingskrise gilt es zu zeigen, dass Coppenbrügge – so wie es unsere Bundeskanzlerin für ganz Deutschland wünschte – ein freundliches Ge-

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Grußworte

sicht hat, dass wir bereit sind, zu helfen und zu unterstützen und Menschen aufnehmen, die ein schweres Schicksal aus der Heimat vertrieben hat. Ich wünsche Ihnen und uns allen, dass dies gelingt. Auch dieses Buch ist ein Beitrag dazu, dass wir gegenseitiges Verständnis und Respekt vor dem Glauben jedweder Religion haben. Dass die Menschlichkeit das Wichtigste ist und bleibt. Dass Hass und Neid nicht Einzug halten können in unserem schönen Ort. Dass wir mit Trauer und Wehmut an die jüdischen Mitbürger denken, die dem nationalsozialistischen Regime zum Opfer gefallen sind. Dass wir aber tatkräftig in die Zukunft schauen und gemeinsam dafür sorgen, dass sich derartige Ereignisse niemals wiederholen können.

Dies wünscht Ihnen Ihr

Hans-Ulrich Peschka Bürgermeister des Fleckens Coppenbrügge

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Vorwort Mit der Vorlage dieses Buches gelangt ein vor annähernd 30 Jahren begonnenes Projekt zu den „Juden im Flecken Coppenbrügge“ zu seinem Abschluss. Vorarbeiten zum Thema gibt es nicht. Die wenigen zu Coppenbrügge und anderen Ortschaften des Fleckens vorliegenden historischen Arbeiten berücksichtigen die jüdischen Einwohner nicht. Einzig die umfangreiche Materialsammlung Henner Meywerks zu Häusern und Einwohnern Brünnighausens nennt Daten zu den jüdischen Bewohnern. Den Beginn des Projekts bildete am 2. Oktober 1988 ein Besuch des Verfassers zusammen mit Schülerinnen und Schülern des Albert Einstein-Gymnasiums Hameln bei dem damals 69 Jahre alten Meir Günther Levy in seinem Haus in Beit Yitzchak in Israel. Meir Günther Levy war 1918 in Marienau zur Welt gekommen und im April 1936 aus Hannover nach Palästina geflohen. Dem Besuch folgte ein Briefwechsel und der Entschluss, das jüdische Leben im Flecken Coppenbrügge gründlicher zu erforschen. In den 1980er-Jahren lebten in Coppenbrügge noch zahlreiche Menschen, welche die NS-Zeit unmittelbar miterlebt hatten. Ihr Wissen konnte der Verfasser in Interviews sichern. Über die Umstände der Entrechtung und Deportation der jüdischen Bürger des Ortes mochten die Zeitzeugen mit Rücksicht auf ihre Nachbarn allerdings kaum sprechen. Einzelne wollten nur unter Zusicherung der Anonymität Auskunft geben. Im Ort war eine über das normale Maß hinausgehende Abwehr dagegen zu spüren, sich mit der NS-Zeit auseinander zu setzen. Recherchen in den umfangreichen Beständen des Niedersächsischen Landesarchivs Hannover und des Kreisarchivs Hameln-Pyrmont boten eine sichere Grundlage, um die bis ins 17. Jahrhundert zurückgehende Geschichte der Coppenbrügger jüdischen Gemeinde darzustellen und sie in mehreren Exkursionen und Seminaren (1989, 1994 und 1998) der Öffentlichkeit zu präsentieren. Aus dem Seminar von 1998 bildete sich eine Initiative Coppenbrügger Bürgerinnen und Bürger, die sich dafür einsetzte, die zweckentfremdeten Torpfosten des jüdischen Friedhofs vom christlichen Friedhof, vor den sie 1937 gestellt worden waren, wieder an ihren angestammten Platz zurückzusetzen. Die Rückgabe der Pfosten und noch mehr die Rückerstattung des Friedhofsgrundstücks an den Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen führten damals im Coppenbrügger Rat zu erregten Auseinandersetzungen. Seit dem Jahr 2000 hat sich der Zugang zu Archivmaterial aus der NS-Zeit schrittweise vereinfacht. Die Akten der Devisenstelle des Oberfinanzpräsidenten Hannover im Niedersächsischen Landesarchiv-Hauptstaatsarchiv Hannover geben

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Vorwort

Auskunft über die Ausplünderung, die Juden vor ihrer Flucht über sich ergehen lassen mussten, sowie über die nicht selten vergeblichen Anstrengungen, der Verfolgung zu entkommen. Die Rückerstattungsakten, die im Zuge der sog. „Wiedergutmachung“ in den 1950er-Jahren entstanden, zeigen im Rückblick die Probleme der Auswanderung und die Schwierigkeiten, eine neue Existenz aufzubauen. Die Entnazifizierungsakten werfen ein beklemmendes Bild auf die fehlende Bereitschaft auch der Coppenbrügger Täter, sich mit ihrer Schuld auseinanderzusetzen, und zeigen, wie stark die junge Bundesrepublik Frieden mit den Tätern machen wollte. Zur Aufklärung der Verbrechen, die in der NS-Zeit in Coppenbrügge verübt wurden, tragen sie kaum bei. Auch noch im Jahre 2015 – 70 Jahre nach Kriegsende – ging der Entscheidung der Gemeinde, die Druckkosten einer Buchpublikation aufzubringen sowie Archivrecherchen finanziell zu fördern, eine politische Kontroverse voraus.1 Mit der Entscheidung der Gemeinde für die Publikation rückten die bislang weitgehend unerschlossenen Gemeindeakten in den Blickpunkt, die – wenig archivgerecht – in großen Kartons auf dem Dachboden des Museums sowie zum kleineren Teil in der Fleckensverwaltung lagern. Der mühseligen Arbeit, diese Bestände auf Daten zu den Coppenbrügger Juden zu sichten, hat sich Dr. Mario Keller-Holte mit großer Sorgfalt und Geduld unterzogen. Die Recherche förderte eine Unzahl von wertvollen Informationen zutage. Der Zugang zur ortsgeschichtlichen Sammlung von Jürgen Holzapfel (Coppenbrügge) bedeutet einen weiteren Glücksfall für das Buch. Seine Sammlung umfasst einen umfangreichen Bestand an Fotos von Häusern und Personen, wertvolle Dokumente, aber auch so entscheidende Hilfsmittel wie eine Konkordanz der alten Hausnummerierung mit der heutigen Hausbezeichnung. Das Buch ist den ehemaligen Coppenbrügger Juden gewidmet, von denen niemand, der die Vertreibung in der NS-Zeit überlebte, in seine Heimat zurückgekehrt ist. Ihre Lebenslinien und Schicksale im Detail darzustellen und möglichst lebendig werden zu lassen, ist die Absicht des Verfassers. Das Buch beschreibt einen Zeitraum von annähernd 350 Jahren. Je weiter die Geschehnisse zurückliegen, desto dürrer ist in der Regel die Überlieferung. Aber auch für die NS-Zeit besteht sie vorrangig aus Behörden-, also Täterakten. Jüdische Selbstzeugnisse haben sich mit ganz wenigen Ausnahmen nicht erhalten. Das ehemals so reiche jüdische Leben im Ort ist nicht nur vergangen, sondern weitgehend verschwunden, ja vernichtet. Es musste für dieses Buch – soweit überhaupt möglich – mühsam rekonstruiert werden. Dabei will das Buch alles aufbewahren, was über die einzelne Person in Erfahrung zu bringen ist. Aus

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den kleinteilig erscheinenden Feinheiten in Lebensabläufen setzt sich am Ende ein Bild zusammen, das die Entwicklung hin zum Vernichtungsantisemitismus in aller Schärfe konturiert. Um die Lesbarkeit zu verbessern, verbannt das Buch einen großen Teil der Textdokumente in den Anhang. Bei den vielfachen biographischen und genealogischen Angaben wird in der Regel auf eine Herkunftsangabe verzichtet. Quelle sind Personenstandsregister, die vor allem im Niedersächsischen Landesarchiv-Hauptstaatsarchiv Hannover, im Kreisarchiv Hameln-Pyrmont sowie in der Fleckensverwaltung und im Gemeindearchiv Coppenbrügge aufbewahrt werden. Das Buch werden vor allem Coppenbrügger Bürgerinnen und Bürger lesen. Die positive Resonanz, die der öffentliche „Werkstattbericht“ des Verfassers am 10. September 2015 fand, lässt hoffen, dass die Intention des Verfassers, mit dem Buch „Versöhnungsarbeit“ zu leisten, sich erfüllt. Zum Verständnis der Barbarei der NS-Zeit gehört nicht nur die Erinnerung an die Opfer, sondern auch die Beschreibung des Handelns derer, die als Täter, als Funktionäre oder auch nur als Mitläufer zum Geschehen beigetragen haben. Für die in Coppenbrügge lebenden Nachkommen mag dies eine schwere Lektüre sein. Hier geht es aber nicht um eine pauschale Verurteilung, zu der wir als Nachgeborene ohnehin nicht das Recht haben, sondern um das Festhalten historischer Fakten, um Erkenntnis und den Versuch zu verstehen, auch wenn manchmal nichts zu verstehen ist. Der jüdische Historiker Saul Friedländer 2 schreibt: „Die Verfolgungs- und Vernichtungstaten der Nazis wurden von gewöhnlichen Menschen begangen, die in einer modernen Gesellschaft lebten und handelten, welche der unseren nicht unähnlich ist, in einer Gesellschaft, die sie ebenso hervorgebracht hatte wie die Methoden und Werkzeuge zur Durchführung ihrer Handlungen; die Ziele dieser Handlungen dagegen wurden von einem Regime, einer Ideologie und einer politischen Kultur formuliert, die alles andere als gewöhnlich waren. Diese Beziehung zwischen dem Ungewöhnlichen und dem Gewöhnlichen, die Verschmelzung der auf weite Strecken gemeinsamen mörderischen Potentialitäten der Welt, die auch die unsere ist, mit der eigentümlichen Besessenheit des apokalyptischen Feldzugs der Nationalsozialisten gegen den Todfeind, den Juden, verleiht der ‚Endlösung der Judenfrage‘ sowohl universelle Bedeutung als auch historische Besonderheit.“ Wo es zum Schutz von Angehörigen möglich und gerechtfertigt schien, sind die Namen der damals Beteiligten anonymisiert worden.

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Vorwort

Der lange Zeitraum der Erarbeitung und der große zeitliche Abstand zum Geschehen der Vertreibung und Vernichtung der Juden haben dem Buch hoffentlich gut getan. Als abgeschlossen kann eine derartige Forschungsarbeit gleichwohl nicht gelten. Bedauerlich ist, dass nur wenige Abbildungen jüdischer Personen erschlossen werden konnten.

Dank Ein großer Dank geht an Mario Keller-Holte, dessen Rechercheergebnisse ungemein hilfreich waren. Seine Archivarbeit sowie seine freundschaftliche Hilfe und Kritik bei der Fertigstellung des Manuskripts gingen weit über das Normale hinaus. Nicht weniger hoch ist der Beitrag von Jürgen Holzapfel zu gewichten, der seine wertvolle Sammlung und sein umfangreiches historisches Wissen ohne Zögern zur Verfügung gestellt hat. Als Zeitzeugen standen u.a. zur Verfügung Martin Adler, New York, Ludwig Appel, Coppenbrügge, Ilse Baks, Hess. Oldendorf, Thea Döpke, Coppenbrügge, Gerhard Holzapfel, Coppenbrügge, Günther Meir Levy, Israel, Wilhelm Rokahr, Coppenbrügge, und Gerhard Schlichtmann, Wuppertal. Neben den Zeitzeugen sind Gernot Hüsam, der Vorstand und die Mitarbeiter des Museumsvereins Coppenbrügge, Georg und Renate Brandt, Coppenbrügge, Henner Meywerk, Brünnighausen, Rudolf Bandick von der Firma WINI in Marienau sowie Andrea Wegener von der Fleckensverwaltung und Maren Leweke vom Standesamt Coppenbrügge hilfreich gewesen. Gerhard Schlichtmann, Wilhelm Rokahr und Karl-Heinz Brandt haben das Entstehen des Buches über einen langen Zeitraum begleitet und den Verfasser ermutigt. Frau Berit Nolte vom Verlag Jörg Mitzkat danke ich herzlich für die Geduld, die sie mit dem Autor hatte, und für die gelungene Gestaltung des Buches.

Bernhard Gelderblom im November 2016

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Einleitung Die frühesten Zeugnisse über Juden in Coppenbrügge reichen in das Jahr 1630 zurück. Gut 300 Jahre später bereitete das NS-Regime dem jüdischen Leben in Coppenbrügge mit der Vertreibung von Oskar und Lieschen Levy nach Hannover am 27. Dezember 1938 und ihrer Deportation ins Ghetto Riga im Dezember 19412a ein mörderisches Ende. Länger als 300 Jahre lebten Juden in Coppenbrügge, für den ländlichen Raum eine verhältnismäßig umfangreiche Zeitspanne.3 Einzelne Familien lassen sich über sechs Generationen verfolgen. Das jüdische Leben ist Teil der lokalen Geschichte. Wie lebten Juden und Christen in den Dörfern der Grafschaft Spiegelberg bzw. des späteren Amtes Coppenbrügge zusammen? Konnten die jüdischen Familien im Rahmen der bis ins frühe 20. Jahrhundert von Obrigkeit und Adel bestimmten hierarchisch gegliederten Gesellschaft ein eigenes religiöses, kulturelles und wirtschaftliches Leben entfalten? Die Enge der Dörfer nötigte Christen und Juden, Bauern, Handwerker und Händler zu wirtschaftlicher Zusammenarbeit und zum Austausch. Juden waren ab dem 19. Jahrhundert auch Mitglieder der dörflichen Vereine, die für das gesellschaftliche Leben wichtig waren. Bildeten wirtschaftliche und gesellschaftliche Beziehungen wirksame Hindernisse gegenüber der Ausbreitung von Judenhass, der sich immer wieder wie in Wellen über das christliche Abendland ausbreitete? Wie war es auf dem Hintergrund dieser über 300 Jahre langen gemeinsamen Geschichte möglich, dass 1933 aus Nachbarn Menschen wurden, die ihrer reli­ giösen Herkunft wegen diskriminiert wurden, dass aus Freunden Feinde und schließlich Opfer wurden? Die Hauptverantwortung lag ohne Zweifel bei den NS-Machthabern, den NS-Parteifunktionären und ihren Helfern, den Bürokraten in der Kreisverwaltung in Hameln, in der Landesverwaltung in Hannover und der Parteiführung sowie der Regierungsspitze in Berlin. Aber nicht wenige haben vor Ort die Ausgrenzung der Juden in den Dörfern unterstützt oder gar vorauseilend befördert. Wir stoßen auf eine große Bandbreite menschlichen Verhaltens, auf Mutige und Mitleidige, aber auch auf Volksverdummer, Hetzer und Verhetzte. Um das Leben der Juden im christlich geprägten Umfeld und ihr Zusammenleben mit den Christen in den Dörfern des Amtes Coppenbrügge besser verständlich zu machen, wird zuerst ein knapper Einblick in die „großen Linien“ der Geschichte von Juden und Christen in Deutschland gegeben.

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