Im Zeichen des Zebras

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Armand Roux

Im Zeichen des Zebras Aufzeichnungen eines Überlebenden über das KZ-Außenlager Holzen und den Todesmarsch in das KZ Bergen-Belsen


Gefördert mit einem Druckkostenzuschuss von: Bildungsvereinigung „Arbeit und Leben Holzminden e.V.“ Landkreis Holzminden Stadt Celle Samtgemeinde Eschershausen-Stadtoldendorf Ev.-luth. Kreiskirchenamt Holzminden-Bodenwerder GEW Kreisverband Holzminden DGB Kreisverband Holzminden

Herausgegeben von der Bildungsvereinigung „Arbeit und Leben Holzminden e.V.“ Redaktion: Dirk Bode und Detlef Creydt Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-95954-002-5 Copyright bei den Autoren und beim Übersetzer Umschlagvorderseite: Camille Delétang: Das KZ Holzen (nach 1945) Umschlagrückseite: Dr. Armand Roux, Foto Familie Roux


Armand Roux

Im Zeichen des Zebras Aufzeichnungen eines Überlebenden über das KZ-Außenlager Holzen und den Todesmarsch in das KZ Bergen-Belsen Buchenwald – Holzen – Drütte – Celle – Bergen-Belsen

Aus dem Französischen übersetzt von Dirk Bode Mit einer Einführung von Jens-Christian Wagner

Verlag Jörg Mitzkat Holzminden 2015


Dédicace Je dédie cette traduction à Evelyne Zylberman-Dachs, qui a survécu avec sa mère et sa soeur les camps de Ravensbrück et Bergen-Belsen et à son père qui a survécu les camps de Buchenwald et Holzen, le bombardement de Celle et mourut après la libération du camp à Bergen-Belsen. à Danielle Kupecek qui a survécu avec sa soeur parce que sa mère clairvoyante a arraché l’étoile jaune et s’est cachée avec ses enfants. à Raymonde Frazier qui a rassemblé ses soeurs et s’est enfuie à l’aide d’une passeuse de Paris en ‚Zone Libre‘ pour y rejoindre son père, dont la mère a été assassinée à Auschwitz. à Robert Frank, dont toute la famille fut assassinée à Auschwitz. à la famille Roux en souvenir de son grand-père.

Ich widme diese Übersetzung Evelyne Zylberman-Dachs, die mit ihrer Mutter und Schwester aus Ravensbrück und Bergen-Belsen zurückkam; deren Vater Buchenwald, Holzen und das Celler Massaker überlebte und in Bergen-Belsen nach der Befreiung des Lagers starb. Danielle Kupecek, die - wie auch ihre Schwester - überlebte, weil ihre klarsichtige Mutter den gelben Stern abriss und sich mit ihren Töchtern versteckte. Raymonde Frazier, die ihre Schwestern in Paris an die Hand nahm, mit Hilfe einer Schleuserin über die Demarkationslinie in die ‚freie Zone‘ zum Vater floh und deren Mutter in Auschwitz ermordet wurde. Robert Frank, dessen ganze Familie in Auschwitz ermordet wurde. der Familie Roux zum Gedächtnis ihres Großvaters. Dirk Bode


Inhaltsverzeichnis

Einführung: Zeugnisse des Grauens und der Humanität Jens-Christian Wagner

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Vorgeschichte 19 Dirk Bode Im Zeichen des Zebras Die Aufzeichnungen des Dr. Armand Roux 25 Abschied von Buchenwald und dritte touristische Reise 15. September 1944

25

Camping ... und langsamer Tod 17. September 1944

35

Evakuierung auf dem Schienenwege – Bombardierung in Celle – Fußmarsch nach Bergen-Belsen 4. bis 10. April 1945

111

Bergen-Belsen – Vernichtungslager – Die Erlösung 10. bis 15. April 1945

133

Das britische Hospital von Bergen-Belsen 29. April 1945

164

Befreiung und Rückkehr auf Frankreichs Boden 31. Mai 1945

178

Schlussbemerkung

184

Nachtrag in Briefen: Dr. Roux an Eugène Geffel General de Gaulle an Dr. Roux

185


Inhalt 6 Liste der Verstorbenen und Repatriierten Armand Roux

188

Biografie von Armand Roux Dirk Bode

195

Nachwort des Ăœbersetzers Dirk Bode

199

Lagerstruktur und organisierter Widerstand im KZ Holzen – Machtkampf um Funktionsposten zwischen Franzosen und Polen 209 Detlef Creydt

Anhang: Bildnachweis 217 Danksagungen 220


7 Einführung

Einführung Zeugnisse des Grauens und der Humanität Die KZ-Erinnerungen von Armand Roux und der Quellenfund von Celle von Jens-Christian Wagner Bahnhof Celle, 8. April 1945. Bis hierhin war es ihnen gelungen, ihre Dokumente sicher bei sich zu tragen. Doch nun, nur wenige Tage vor ihrer Befreiung, verloren die beiden Franzosen Armand Roux und Camille Delétang doch noch, was ihnen so wichtig war: Schriftliche Aufzeichnungen und rund 150 heimlich angefertigte Häftlingsporträts aus dem Kommando „Hecht“, einem Außenlager des KZ Buchenwald bei Holzen im Weserbergland. Amerikanische Flugzeuge griffen an diesem Tag den Güterbahnhof Celle an, um einen frontnahen Verkehrsknotenpunkt zu zerstören. Was die Piloten nicht ahnten: In den Güterwaggons, die sie am Bahnhof bombardierten, befanden sich 3000 KZ-Häftlinge, die ihre Bewacher in das nahe KZ Bergen-Belsen bringen wollten. Mehrere Hundert Häftlinge starben bei dem Luftangriff, weitere 170 Menschen ermordeten SS, Wehrmacht, Polizei und Zivilisten bei der anschließenden Hatz auf flüchtige Gefangene.1 Camille Delétang und Armand Roux überlebten das Massaker, doch in dem Durcheinander wurde ihnen das Bündel mit den Zeugnissen entrissen. Jahrzehnte galten die Zeichnungen und Dokumente als verschollen. Doch im Sommer 2012, mehr als 67 Jahre danach, tauchten sie völlig überraschend wieder auf. Ein älterer Herr aus Celle meldete sich in der Thüringer KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Seine Schwiegermutter habe ihm im Sommer 1945 nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft ein Heft mit Zeichnungen und Dokumenten übergeben, die offenbar aus einem KZ stammten. Ob man in der Gedenkstätte Interesse daran habe, fragte er. Selbstverständlich hatte man Interesse, und wenige Tage später kam der 91-Jährige, begleitet von seiner Tochter, persönlich nach Nordhausen, um das Heft zu übergeben. Als die Archivarin 1 Vgl. Bernhard Strebel, Celle April 1945 revisited. Ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, Bielefeld 2008.


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die in Leinen gebundene Kladde öffnete, konnte sie ihren Augen kaum trauen: Ordentlich gefaltet lagen darin über 150 Häftlingsporträts und Skizzen mit Datumsangaben zwischen September 1944 und März 1945, dazu handschriftliche Krankenrevier-Aufzeichnungen und ein eng beschriebenes Tagebuch auf Französisch mit Einträgen von Herbst 1944.2 Ortsangaben, Namen und Häftlingsnummern machten es möglich, recht schnell festzustellen, woher die Zeugnisse stammten und wie sie entstanden waren. Unterschriften wiesen die beiden Urheber aus: Die Zeichnungen stammen von Camille Déletang, die schriftlichen Dokumente von Armand Roux, dem Häftlingsarzt in Holzen. Die beiden sind keine Unbekannten. Oberst Camille Delétang (1886-1969) war Anfang 1944 als ranghoher Kommandeur der Résistance in Le Mans verhaftet und im Sommer 1944 über das KZ Buchenwald nach Holzen verschleppt worden. Er überlebte die Deportation und wurde später Präsident des französischen Veteranen-Dachverbandes „Fédération Nationale André Maginot“. Der Arzt Armand Roux (1886-1960), der zweite Urheber der Zeugnisse aus Holzen, hatte sich als Bürgermeister der Landgemeinde Latillé bei Poitiers geweigert, deutsche Bekanntmachungen auszuhängen. Außerdem hatte er Waffen für die Alliierten versteckt. Auch er war Anfang 1944 verhaftet und über die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald nach Holzen deportiert worden. Hier schrieb er das Tagebuch, das sich in dem Fund von Celle befand. Wie Camille Delétang überlebte Armand Roux die KZ-Haft und konnte in seine Heimat zurückkehren. Als Résistance-Kämpfer und Gründungsmitglied des französischen Verbandes der Überlebenden von Bergen-Belsen ist er in seiner Heimat auch heute noch präsent: Die Hauptstraße von Latillé trägt seinen Namen. Vor Ort hingegen, in Holzen, erinnert bis auf einen im Wald versteckten „Ehrenfriedhof“ wenig an das Konzentrationslager und seine Insassen. Das KZKommando „Hecht“ war im letzten Kriegsjahr Teil eines ausgedehnten Lagerund Baukomplexes im Hils gewesen, einem bewaldeten Höhenzug zwischen Eschershausen und Alfeld im südlichen Niedersachsen. Nach dem Willen von Rüstungsminister Albert Speer und Luftwaffen-Chef Hermann Göring sollten hier – wie auch andernorts im Deutschen Reich, etwa in Mittelbau-Dora – in 2 Nahezu alle Zeichnungen aus dem Fund und Teile der Texte von Armand Roux sind abgedruckt in: Jens-Christian Wagner (Hg.), Wiederentdeckt. Zeugnisse aus dem Konzentrationslager Holzen. Begleitband zur Ausstellung, Göttingen 2013.


9 Einführung

Abb.1 E. Labreux – Portrait von Camille Delétang (29.9.1944) „… für den heldenhaften Monsieur Delétang, zur Erinnerung an eine grauenhafte Gefangenschaft in Eschershausen 29. September 1944 ...“


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einer Stollenanlage unterirdische Produktionsstätten entstehen, unter anderem für das Volkswagenwerk, das im Hils vor Luftangriffen geschützt V1-Flügelbomben zu montieren plante. Bis zu 10.000 Menschen mussten seit Sommer 1944 für den Bau der Untertagefabriken Zwangsarbeit leisten, unter ihnen KZHäftlinge, sowjetische und italienische Kriegsgefangene, zivile Zwangsarbeiter, Insassen des Zuchthauses Hameln und sogenannte „jüdisch Versippte“. Zu ihrer Unterbringung richteten die Behörden rund um Eschershausen und Holzen dicht an dicht mehrere Lager ein, darunter auch das Kommando „Hecht“.3 Camille Delétang und Armand Roux gehörten Mitte September 1944 als erst kurz vorher in das KZ Buchenwald deportierte Résistance-Kämpfer zu den ersten Häftlingen, die in das neue Außenlager „Hecht“ überstellt wurden. Feste Unterkünfte gab es noch nicht. So wurden die Neuankömmlinge erst einmal in einem Zeltlager untergebracht, das von der örtlichen Hitler-Jugend Anfang August errichtet worden war. Es befand sich auf den Wiesen des Greitberges in der Nähe der Stollenanlagen. Die sanitären Bedingungen in den ungeheizten und bald mit Ungeziefer verseuchten Zelten waren katastrophal, und die harten Arbeitsbedingungen auf den Baustellen im Stollen und über Tage schwächten die Häftlinge weiter. Bereits nach wenigen Wochen waren die ersten Todesfälle zu beklagen. Unter den wiedergefundenen Dokumenten des Häftlingsarztes Armand Roux befindet sich ein handgeschriebener Zettel mit Datierung vom 22. Oktober 1944, der eine Ahnung davon vermittelt, unter welchen Bedingungen die Häftlinge in dem Lager litten: „Beton-, Terrassierungs-, Maurerarbeiten verursachen bei Menschen, die an den Beruf nicht gewöhnt sind, Wunden an den Händen sowie Unfälle“, meldete Roux an das Krankenrevier im Hauptlager Buchenwald. Und er fuhr fort: „Die Schuhe der Arbeiter verletzen ihre ungeschützten Füße, es gibt keine Socken. Außerdem verursacht die unzureichende Ernährung Ödeme, Skorbut und Verdauungsstörungen. Es gibt keine Medikamente gegen Bronchitis, Rippenfellentzündung, keine Schmerzmittel, kein Herztonikum.“4 3 Zur Geschichte des Lagers „Hecht“ in Holzen vgl. Manfred Grieger, Das KZ-Außenlager „Hecht“ in Holzen bei Eschershausen, in: Wagner, Wiederentdeckt, S. 184-191, Detlef Creydt/August Meyer, Zwangsarbeit für die Wunderwaffen in Südniedersachsen 1943-1945, Bd. 1, Braunschweig 1993, S. 23 ff., sowie Detlef Creydt, Zwangsarbeit für Industrie und Rüstung im Hils 1943 – 1945, Bd. 4, Holzminden 2001, S. 127-145. 4 Wagner, Wiederentdeckt, S. 45.


11 Einführung

Abb. 2

Camille Delétang: Dr. Armand Roux 17.1.1945


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Auch die Zeichnungen von Camille Delétang dokumentieren das behelfsmäßige Zeltlager, in dem die Häftlinge anfänglich untergebracht waren. Erst ab November 1944 gab es feste Unterkünfte in neu errichteten Baracken unmittelbar am Ortsrand der 600-Seelen-Gemeinde Holzen. Zum Jahresende war das Lager mit etwa 500 Insassen belegt, vor allem Franzosen, Polen und Tschechen. Überwiegend handelte es sich um politische Häftlinge, die in ihren Herkunftsländern wegen Widerstandes gegen die deutschen Besatzer verhaftet und ins Konzentrationslager deportiert worden waren. Im Februar 1945 kamen viele jüdische Häftlinge hinzu, die aus dem geräumten KZ Auschwitz stammten. Mit ihrer Ankunft erhöhte sich die Anzahl der Gefangenen in Holzen auf über 1100. Zugleich schnellten die Todeszahlen nach oben. Vor Ort starben insgesamt mindestens 30 Häftlinge. Tatsächlich war die Todesrate aber deutlich höher, denn die SS brachte immer wieder Häftlinge, die sie als arbeitsunfähig aussonderte, im Austausch gegen „frische“ Gefangene zurück nach Buchenwald. Dort starben sie nach wenigen Tagen. Camille Delétangs Zeichnungen zeigen, wie Häftlinge die Leichen ihrer Kameraden vom Lager zum Dorffriedhof nach Holzen brachten. Auf einer Skizze notierte er detailliert die Grablagen und Namen der dort anonym Bestatteten, damit sie später identifiziert werden können – allerdings vergebens, denn nach dem Krieg ließen lokale Behörden die Toten exhumieren und als „Unbekannte“ auf einen Ehrenfriedhof in einem nahe gelegenen Wald bestatten. Mit der 2013 aufgefundenen Skizze ist es möglich, einigen vermeintlich Unbekannten die Namen zurück zu geben. Andere Motive Camille Delétangs zeigen Momentaufnahmen aus dem Häftlingsalltag – die Zwangsarbeit im Stollen etwa oder Appelle im Lager. Sehr eindrucksvoll sind Skizzen, die auf die Selbstbehauptung gegenüber der SS verweisen und auf eine enge Zusammenarbeit der französischen Résistance-Kämpfer mit Angehörigen des polnischen Widerstandes. Am 19. Januar 1945, zwei Tage nach dem Einrücken der Roten Armee in Warschau, zeichnete Delétang die Vision des befreiten Polens: Im Vordergrund steht der polnische Lagerälteste und blickt auf die angetretenen Arbeitskommandos. Hinter dem Lagerzaun sieht man die Hügel des Weserberglandes und im Hintergrund die Ostsee, über der die Sonne aufgeht. In den Strahlen der aufgehenden Sonne stehen die Worte „Polska 1945“ und „Warszawa“.


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