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J.-U. Niehoff, J.-G. Niehoff: Rehabilitation: Sollen, Wollen, Können

all jenen Faktoren, die A. Antonovsky unter dem Begriff des „Sense of Coherence“ subsumiert (comprehensibility, meaningfulness, manageability). Das verweist darauf, dass dieser „Sense of Coherence“ Teil eines rehabilitativen (wie auch präventiven) Konzepts sein sollte, also eben keine habituelle, gleichsam biologisch determinierte individuelle Verhaltenskonstante ist. Die Annahme, das salutogenetische Modell würde einen paradigmatischen Wandel von der Fürsorge für benachteiligte Menschen hin zu einem Nachfrage- und Konsumentenmarkt in der Rehabilitation begründen, kann in ihrer politischen Konzeptualisierung kaum nachvollzogen werden. Für eine solche Begründung taugen Antonovsky und die ICF nicht. Das Konzept des „Sense of Coherence“ ist ein handlungsorientierendes Konzept für die Prävention und die Rehabilitation vor allem deshalb, weil es die aktive Formierung und Unterstützung von Wissen, Motivation und Handlungsfähigkeit zum Leitbild rehabilitativer Maßnahmen macht. Hieraus leitet sich das ICF-Konzept ab, das gerade nicht darauf aus ist, Behinderung und soziales Handicap zu individuellen Eigenschaften zu erklären, sondern als sozial bestimmte Relation von Individuum und Umwelt erklärt. Das Wollen des Individuums ist Teil dieser relationalen Beziehung, nicht Indikator einer fest fixierten biologischen Determinante. Die Auseinandersetzung zwischen den Konzepten aktiver und angebotsorientierter Hilfen zum Ausgleich von physischen, psychischen und sozialen Nachteilen auf der einen Seite und dem souveränen Marktakteur, genannt „Kunde“, auf der anderen Seite, kann mithilfe der Salutogenese für Letztere nicht gewonnen werden. Jeder Versuch in diese Richtung ist Missbrauch und folgt tatsächlich anderen Leitideen. Antonovsky taugt also keineswegs für eine Entgegensetzung von Fürsorge und entscheidungssouveränen Marktakteuren im Sinne der SGB IXBegründung [2]. Das „Wollen“ der Rehabilitanden und ihre Entscheidung sind nicht nur eine Voraussetzung erfolgreicher Rehabilitation. Sie sind ggf. das erste Ergebnis Perfusion 04/2013

26. Jahrgang

einer geglückten (oder misslungenen) Zusammenarbeit von Rehabilitand und Therapeut. Eines der wichtigsten gesundheitswissenschaftlichen Fragestellungen ist deshalb die nach den physischen, psychischen und sozialen (einschließlich biografischen) Ursachen für die offensichtlich erhebliche Varianz in der Ausformung des Sense of Coherence. In der verkürzten Alltagswahrnehmung reicht diese Varianz von der Wiedererlangung bzw. Besserung der Teilhabefähigkeit bis zum sog. „Rentenbegehren“. Sie schließt, zumindest implizit, die Frage nach der Präferenz und der realen Möglichkeit für eine ambulante oder stationäre Rehabilitation ein. Beispiel: Ich will doch aber arbeiten! Rehabilitationsziel: Vorbereitung auf neuen Arbeitsplatz (ambulante Pflege), Überwindung der Angst vor dem Autofahren Rehabilitationsdiagnosen: 1. Trauerreaktion 2. Posttraumatische Belastungsreak­ tion 3. Chronische Schmerzzustände 4. Rezidivierendes Lumbalsyndrom 5. Arterielle Hypertonie 6. Adipositas Stellungnahme nach stationärer Rehabilitation: Wegen massiver dysfunktionaler Bewältigungsstrategien verbunden mit fixierten Trauerritualen scheint ein funktionaler, teilhabender Alltag derzeit trotz dringendem Arbeitswunsch kaum möglich. Die Patientin wird arbeitsunfähig entlassen. Eine ambulante Psychotherapie er­ scheint dringend geboten. Die Patientin scheint darüber hinaus regelhaft weiterer stationärer (rehabilitativer) Aufenthalte zu bedürfen, um das Funktionsniveau aufrechterhalten zu können. Kommentar: Nach unserer Erfahrung ist Arbeitswunsch die Regel, nicht die Ausnah-

me. Vor der Erfüllbarkeit dieses entscheidenden Teilhabeziels stehen aber ggf. Hürden, die gegen die Einsicht der Betroffenen tatsächlich aus dem Krankheitsbild folgen. Was also wollen Rehabilitanden? Dem Rechtsverständnis folgend wollen sie sehr Verschiedenes, nämlich Individuelles. Dennoch darf wohl unterstellt werden, dass sie tatsächlich mehrheitlich Selbstbestimmung und Teilhabe wünschen. Die Interpretation von Selbstbestimmung und Teilhabe und der realen Chancen, diese zu erreichen, wird jedoch erheblich individuell, sozial und kulturell variieren. Dies ist unter Umständen auch dann der Fall, wenn Rehabilitanden zwar hoch motiviert sind, für sich Selbstbestimmung und Teilhabe zum Leitbild zu machen, ggf. aber das Motiv der sozialen Absicherung durch eine Rentenleistung schwerer wiegt und somit zum Ziel der beruflichen und sozialen Rehabilitation im Widerspruch stehen kann. Diesen inneren Konflikt in ein evolutionsbiologisch begründetes „moral hazard“ [16, 17] umzudeuten, würde (nicht nur für die Leistungen zur Rehabilitation) jeden Anspruch auf soziale Leistungen als gegen die biologische Natur des Menschen gerichtet einordnen. Diese Diskussion wird offenbar gegen jede empirische Evidenz am Leben erhalten [18], zumindest in Bezug auf jene, die Leistungen in Anspruch nehmen. Das Wollen und Verhalten von Individuen ist nie abstrakt. Es zielt auf die erfolgreiche Bewältigung der konkreten sozialen Lebensumstände (Familie, Freunde, Arbeit, Community etc.), weil eben in diesen sich das individuelle Verhalten als „richtig“ oder „falsch“ bewähren muss. Es ist unverzichtbar, das Rehabilitationsziel selbst zum Gegenstand einer gemeinsamen Entscheidung von Rehabilitand und Therapeut zu machen. Stationäre Rehabilitation setzt auf zeitlich begrenzte und intensive bzw. in ihrer Abfolge dichte Maßnahmen. Sie dienen ggf. nicht allein der Erlangung eines konkreten Selbständigkeitsziels, sondern auch der Vermittlung von Techniken eigenaktiver Rehabilita­tion sowie der Vorbereitung auf längere © Verlag PERFUSION GmbH


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Perfusion 4 2013 internet by Sibylle Michna - Issuu