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Wandering Tour Ulrike Hofer Irrlichtern durch Bochum around Bochum

37 Ulrike Hofer Irrlichtern durch Bochum

von Ivan Moudov The Pavilion und lockt die Besucher- *innen in den Innenraum. Erst wenn man sich den im Raum verteilten Lautsprechern annähert, lässt sich etwas aus dem sich gegenseitig überlagernden Sound herausfiltern, ja verschiedene Textsequenzen verstehen. Moudov hat in der Trauerhalle jenen bulgarischen Künstler*innen, die in diesem Jahr nicht auf der Biennale in Venedig vertreten sein können, eine akustische Bühne eingerichtet. Dass Bulgarien in diesem Jahr überhaupt einen Pavillon bespielt, ist eine seltene Ausnahme. Ein Salon zurückgewiesener Künstler*innen, ein Pavillon für Bulgarien auf einem Friedhof im Ruhrgebiet? Hier entstehen viele Fragen.

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Nach einer angeregten Diskussion zur Bedeutung nationaler (Nicht-)Repräsentation in der zeitgenössischen Kunst schwingen wir uns wieder aufs Rad. Verschiedenste Eindrücke rauschen an uns vorbei: Auf einem Balkon dreht sich ein hausförmiges Windspiel lebhaft, bunt gemusterte Schaufensterpuppen drängen durch die Scheibe einer Auslage ins nachmittägliche Bewusstsein. Frisch in leuchtenden Farben gestrichene Gründerzeithäuser erzählen mit aufwendig gestalteten Fassaden von wiederbelebtem Prunk. Unsere Tour führt nun zum Hof Bergmann in Bochum Laer, einem Gemeinschaftswohnprojekt in ansprechendem Fachwerk und mit großem Garten. Der Bau der Autobahn in direkter Nachbarschaft macht dieses ländlich anmutende Idyll mit Tieren auf zwei Hektar Fläche überhaupt erst möglich, da Grundstückspreise und -mieten durch die Lärmbelästigung erschwinglich werden. Dahinter liegt fast verborgen das historische Rittergut Haus Laer. Über den Opelring fahren wir weiter zum ehemaligen Opelgelände, das heute in Umwandlung zum so genannten MARK 51°7 begriffen ist.

Der Kontrast zwischen dem einstigen Industriestandort und der zuvor erfahrenen Naturidylle könnte größer nicht sein. Steht man vor dem neu hochgezogenen und in seiner Größe überwältigenden DHL-Mega-Paketzentrum, kann man gleichzeitig dem weiter andauernden Abriss von Teilen des Opelwerks beiwohnen. In der Ferne wiederum lässt sich das Wandbild von Stefan Marx am Hochhauskomplex im Camillo-Sitte-Weg erahnen. Mit den Worten „I love you lots more than you know“ zitiert es eine Textzeile aus Woody Guthries Song The Dying Miner, in dem ein Bergwerksunglück in den USA besungen wird. „Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.“ Walter Benjamin Die Vermittlung des Ruhr Ding setzt auf das Prinzip des Irrlichterns. Im Rahmen eines umfangreichen Programms gab es die Möglichkeit, nicht nur die Ausstellung, sondern auch die Wege zwischen den Projekten und die unterschiedlichen Räume der Städte zu erforschen. Ziel war ein möglichst offen gehaltenes, gemeinsames Er-fahren der Umgebung, das Sammeln von Beobachtungen sowie die gemeinsame Reflexion der gewonnenen Eindrücke. Ulrike Hofer nimmt uns mit auf ihren Weg durch Bochum. Unsere Tour beginnt am Hauptbahnhof. Über den Kortumpark geht es mit dem Rad unter lichtdurchfluteten Baumkronen entlang durch ein Wohngebiet. Wir sind auf dem Weg zum Zentralfriedhof Freigrafendamm. Der Haupteingang mit der großen Trauerhalle ist der einzige nahezu unverändert gebliebene Baukomplex der Stadt, der im Rahmen der nationalsozialistischen Umgestaltungsfantasie, Bochum zur so genannten Gauhauptstadt Westfalen-Süd zu machen, realisiert wurde. Unser Blick schweift einen herantuckernden Traktor mit einem Teddybären als Beifahrer. Auf der anderen Seite sehen wir bereits die Ansammlung von Grabplatten auf der Ausstellungsfläche eines Steinmetzes, die den Zentralfriedhof am Ende der Straße ankündigen.

Über den Friedhof, auf dem uns Wochenendausflügler- *innen, Radfahrer*innen und Familien mit Ball spielenden Kindern entgegenkommen, geht es weiter —unter einem Dach aus Weiden gedehnt, fast still. Flirren von Lichtstrahlen durch raschelnde Blätter, Vogelgezwitscher und das Brummen der unweit parallel verlaufenden Straße begleiten uns. Unerwartet taucht plötzlich eine Schnellstraße auf, die die Anlage autogerecht zerteilt, bevor man die Trauerhalle Havkenscheid im Osten des Friedhofs erreicht. Die brutalistische Betonarchitektur aus den 1970er Jahren mit buntverglasten Fenstern empfängt die Besucher*innen ohne einschüchternde Geste, inmitten einer nahezu intimen, innenhofähnlichen Umgebung. Man kann ein Stimmengewirr vernehmen, das aus der Halle dringt. Es gehört zur hier präsentierten Arbeit

Wandering Tour around Bochum “Not to find one’s way around a city does not mean much. But to lose one’s way in a city, as one loses one’s way in a forest, requires some schooling.” Walter Benjamin Communicating Ruhr Ding: Territories works on the principle of aimless wandering. In conjunction with an extensive programme, there was the opportunity not only to explore the exhibition itself but also the routes between the projects and the varied spaces within the cities. The aim here was to join in a shared experience, kept as open as possible, of the surroundings, to gather observations and to participate in reflection on our collected impressions. Ulrike Hofer took part in an Irrlichter Tour through Bochum and takes us with her. Our tour begins at the main station. Via Kortumpark we cycle through a residential area beneath a roof of trees flooded with light. We’re making our way to the central cemetery Freigrafendamm. The main entrance with the large mourning hall is the only building complex in the city to have remained virtually unchanged since it was built as part of the Nazi transformational fantasy to turn Bochum into the “Gau capital” of Westphalia-South. We catch sight of a tractor puttering towards us with a teddy bear in the passenger seat. On the other side we can already make out the assembly of gravestones mounted in the display area of a mason, announcing the central cemetery at the end of the road. Our trip continues through the cemetery, passing weekend trippers, various cyclists and families with children playing ball —overhead a canopy of willows, nearly silent. Just shimmering rays of light, rustling leaves, twittering birds and, close by, the deep rumble of traffic from the road running parallel to ours accompany us. Quite unexpectedly, a motorway suddenly surfaces, cutting a car-friendly division through the grounds, before we reach the mourning hall Havkenscheid located in the east of the site. The 1970s Brutalist concrete architecture with colourful glass windows receives visitors without

Im Schwarz der Wand klingt das Stereotyp einer einst vom Kohlestaub dunkel gefärbten Region nach. Radikale Veränderungen der Arbeitswelten thematisieren auch Louis Henderson und João Polido in der Soundinstallation Composition, die in dem denkmal geschützten D2-Gebäude präsentiert wird. In den leer stehenden Fabrikhallen des Opelgeländes gespielte Samples und deren aufgenommene akustische Echos werden darin mit Jazz und Blues, House und Techno in solch einer Lautstärke kombiniert, dass die Fenster klirren und unsere Körper regelrecht von innen beben.

Über langgezogene Straßen führt uns unsere Rückfahrt wieder durch Wohngebiete. Ein Passant grüßt überrascht und freundlich. Schließlich erreichen wir den Schlusspunkt unserer Tour im atelier automatique, das mit seiner Memory Station zur Begegnung zwischen den Generationen einlädt. Unter dem von einer Zeitschrift entliehenen Titel Emanzenexpress werden hier Dokumente feministischer Kämpfe in den 1980er und 90er-Jahren aus drei Bochumer Frauenarchiven gezeigt. Zahlreiche Flyer und Infoblätter finden sich an den Wänden. Und so endet unsere Tour gemeinsamen Irrlichterns an einem Ort, der die zuvor physisch erlebten Räume der Stadt wirkungsvoll ergänzt —durch die Erzählung von vormals verschütteten, nicht gesehenen und nicht gehörten Geschichten. Ein neuer Blick auf vergangene Zeiten, die gerade in ihrer Widerspenstigkeit auch Impulse für Gegenwart und Zukunft zu geben vermögen.

Ulrike Hofer mit Manischa Eichwalder und Moritz Kotzerke im Team der Kunstvermittlung

the slightest intimidating gesture in the midst of almost intimate surroundings resembling a courtyard. We hear a buzz of voices wafting out from the hall. This is part of the work being presented here by Ivan Moudov, The Pavilion, which entices visitors into the building’s interior. Only on getting closer to the loudspeakers distributed around the space can certain elements, even individual sequences of text, be filtered out of the over-layered sound being emitted from all sides. In the mourning hall Moudov has created an acoustic stage for all the Bulgarian artists who could not be represented this year at the Venice Biennale. The very fact that Bulgaria even hosted a pavilion in this year’s Biennale is a rare exception. Are we entering a salon of rejected artists, a pavilion for Bulgaria on a cemetery in the Ruhr region? Many questions are raised.

After a stimulating discussion about the meaning of national (non-)representation in contemporary art we once again mount our bikes. As we continue our ride all manner of impressions flash past us: on a balcony we see a house-shaped wind-chime rotating briskly; colourfully patterned shop-window dummies surge out through a window display into our afternoon consciousness. Gründerzeit-period houses, tokens of revived splendour, with elaborately designed facades and freshly painted in vibrant colours whizz past us. Our tour now takes us to the ‘Hof Bergmann’ (Bergmann farm) in the Laer district of Bochum, a cooperative living project in an appealing half-timbered house with a large garden. It was only thanks to the construction of a new autobahn in its direct vicinity that this seeming pastoral idyll with farm animals on two hectares of land became possible: noise pollution reduced real estate and rent prices to affordable levels. Almost hidden behind this project lies the historic manor estate ‘Rittergut Haus Laer’.

Taking the Opelring circular road we cycle on towards the former Opel plant that in its current transformation has now become the socalled MARK 51°7. The contrast between the erstwhile industrial site and the natural idyll we have just emerged from could hardly be greater. Standing in front of the freshly erected and, in sheer size, overwhelming DHL Mega-Paketzentrum (DHL parcel centre) you can simultaneously witness the still continuing demolition of sections of the old Opel plant. Yet in the distance we just make out the mural by Stefan Marx on the high-rise complex on CamilloSitte-Weg. With the words “I love you lots more than you know” it quotes a line from Woody Guthrie’s song The Dying Miner which tells of a mining accident in the USA. The black surface of Marx’s mural echoes the stereotyped image of the region when it used to be coated in a dark film of coal dust. Radical changes in the worlds of work are also the subject addressed by Louis Henderson and João Polido in their sound installation Composition which is presented in the listed monument D2 building. The samples that are played in the abandoned factory halls of the Opel plant, together with recordings of their acoustic echo with jazz and blues, house and techno, and played at such high volume that the window panes rattle and our bodies veritably shudder from within.

Cycling down long straight roads, the return leg of our trip again takes us through residential districts. A surprised passer-by gives a friendly wave. Finally we reach the end of our tour in the atelier automatique which with its Memory Station invites visitors to participate in an encounter between the generations. Here, under the title Emanzenexpress (Libbers’ Express), borrowed from a magazine, documentation of feminist struggles in the 1980s and 1990s from three Bochum-based feminist archives are on display. Numerous flyers and leaflets are mounted on the walls. Thus our shared tour of aimless wandering ends up in a place where the spaces of the city we previously physically experienced are supplemented to great effect —with an account of formerly submerged, unseen and unheard stories. A fresh perspective onto a bygone period which in its downright unruliness can also offer stimulation for the present and the future. Ulrike Hofer with Manischa Eichwalder and Moritz Kotzerke from the art education team.