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Céline Berger, Katrin Winkler

Unter diesem Titel lädt Urbane Künste Ruhr jedes Jahr insgesamt zehn Künstler*innen ein, im Ruhrgebiet zu leben und zu arbeiten. Für die zwei zwölfmonatigen Residenzen, die mit dem gemeinsam mit dem Ringlokschuppen veranstalteten Projekt Silent University Ruhr verknüpft sind, kommen die Künstler*innen nach Mühlheim an der Ruhr. Zusätzlich gibt es acht dreimonatige Aufenthalte, die zusammen mit KunstVereineRuhr realisiert werden. Die Vereinigung der Kunstvereine verfügt über Erfahrungen aus vielfältigen Residenzprogrammen und bietet mit insgesamt 16 über das ganze Ruhrgebiet verteilten Häusern ideale Vernetzungsmöglichkeiten. Hier können sich die Resident*innen ihren Aufenthaltsort im Ruhrgebiet selber aussuchen.

Céline Berger und Katrin Winkler sind seit dem Frühjahr 2019 zeitgleich für jeweils drei Monate in Bochum. Über diese Begegnung haben sie begonnen, die Stadt gemeinsam zu erkunden, und sich dabei über vieles unterhalten. Sie haben sich Filme gezeigt und ihr Sprechen darüber aufgenommen. Entstanden ist daraus eine Erkundung der Gegend —und der visuellen Sprache, die uns umgibt.

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Elevator Pitch Fangen wir mit unserer Tour durchs Museum an?!

Ja, der Simulator, der den Schacht runterfährt… Mit vielen anderen Touristen!

Und weißt du was, vielleicht hat in diesem Aufzug niemand wirklich etwas gespürt? Die Bilder rauschen vorbei… Das ist eine schöne Analogie für uns hier, oder? In dieser Box zu sein und die Bilder vorbeirauschen zu sehen. Dieser Aufzug, das war irgendwie vertikale Zeit, hoch und runter.

Die Besichtigungstour hat sich eher wie horizontale Zeit angefühlt: Uns von Station zu Station —durch diese Zeitleiste des technologischen Fortschritts geleitet. Und danach sind wir alleine rumgelaufen und die Zeit ist kollabiert.

Wir haben uns verirrt (lachen)! Wir haben uns verirrt und kleine Details gesehen,

und haben verschiedenen Sprachen zugehört und auf Knöpfe gedrückt. Und Kindern zugeschaut, die auf Maschinen klettern…

Every year, Urbane Künste Ruhr invites ten artists who live and work in the Ruhr area to join the project. For the two twelve-month residencies, which are linked to the projects of the Silent University Ruhr run together with the Ringlokschuppen, the artists are invited to stay in Mühlheim an der Ruhr. There are also eight three-month residencies which Urbane Künste Ruhr runs together with the KunstVereineRuhr. Drawing on a wealth of experience in terms of residency programmes, this union of art associations offers valuable networking opportunities in its 16 locations around the Ruhr area. In these programmes, residents are free to choose where they stay.

Céline Berger and Katrin Winkler have both been in Bochum since spring of 2019 for their three-month residencies. They began to explore the city together and shared ideas with each other. They showed each other films and recorded their exchanges. The result is an exploration of the region and of the visual language that surrounds us.

Elevator Pitch Let’s begin with our museum tour?!

Yeah, the simulator, going down into the mine... With a lot of other tourists!

And maybe no one really felt anything in this elevator, you know? The images rushing by… That’s a nice analogy for us here, no? Being in this box and having the images rushing by. This elevator, that was vertical time somehow, going up and down.

The guided tour felt more like horizontal time, taking us station after station through that timeline of technological progress... And afterwards we walked around by ourselves and time collapsed.

We got lost (laughing)! We got lost and saw small details,

And listened to different languages and pushed buttons. And saw kids climbing up machines…

„Darf ich Sie vermessen?“

Die Frage in Jean Rouchs Film —was mir an dieser Frage gefällt, ist... es ist eine umgekehrte Ethnographie, oder? Im Kontext des Films: dieser Typ aus Niger, der nach Paris kommt und diesen Ort verstehen will. Es ist sehr lustig und befreiend, wie er Passanten anhält, um sie zu vermessen. Und es ist traurig, denn die Methoden, die er anwendet, sind die Gleichen, denen er und seine Vorfahren schon ausgeliefert waren.

Ich mag die Direktheit, die Leichtigkeit und die Verspieltheit der Frage. Sie steht auch in Verbindung mit der Geschichte der Fotografie und Bertillon und Messgeräten… das Portrait als brutales Messinstrument des menschlichen Körpers zur Klassifizierung, Standardisierung und Definition dessen, was normal sein soll oder nicht. Die ganze Geschichte von... Machtverhältnissen, Rassismus und Freiheitsentzug und all das. Hm, ok, wir lesen es auf die gleiche Weise.

Was du umgekehrte Ethnographie genannt hast, etwa so wie, was sind die Trugschlüsse der Moderne? Und da ist jemand, der all das sieht und es auf eine sehr direkte und kraftvolle Weise offenlegt: ohne Scham, ohne Bereuen.

May I take your measurements?

Darf ich Sie vermessen?

Petit à petit, Jean Rouch, 1969

“May I take your measurements?”

The question in Jean Rouch’s movie, what I like about this question is… it’s reversed ethnography, no? In the context of the film: this guy from Niger coming to Paris and wanting to understand this place. So it’s very funny and liberating how he’s stopping passers-by to take their measurements. And it’s sad because the methods he uses are those which have been used on him before… I like the directness, the lightness and the playfulness of the question too. You can also link it to the history of photography and Bertillon and measurement devices... the portrait as a brutal measurement tool for classification, standardization and definition of what is supposed to be normal or not. This whole history of... power relations, racism and incarcerations and all of that… Hm, ok, we are reading it in the same way.

What you called reversed ethnography, it’s like, what are the fallacies of modernity? And there is someone who sees all that and reveals it in a very direct and powerful way: no shame no regrets.

There is no shortage of ugliness in the world... If one closes ones eyes to it —there would be even more

Es gibt keinen Mangel an Ungeheuerlichem in der Welt... Wenn man die Augen davor verschließt —gäbe es noch mehr

The house is black, Forugh Farrochzād, 1962

Roswitha Du hast mir Bilder von Das Haus ist schwarz gezeigt, dieser Dokumentarfilm einer iranischen Poetin und Filmemacherin…

Ja. Das ist ein sehr starker Film. Forugh Farrochzād betrachtet verunstaltete, verwüstete Körper. Sie ist in der Lage, aus dem Inneren dieser Ungeheuerlichkeit heraus ein empathisches und poetisches Denken zu entwickeln. Das ist es, was Film bewirken kann, in die Dinge eintauchen, die abstoßen und gewalttätig sind und wehtun, mit solch einer poetischen Kraft. Ja, genau. Den Dingen direkt begegnen —nicht wegzuschauen.

In gewisser Weise ist es komplementär zu dem, was du über Film gesagt hast, dass er eine Art Plattform sein kann, ein Treffpunkt… Ja, für mich ist der Film ein Ort der Begegnung, also —während ich einen Film mache, mich Menschen und Orten nähere, versuche ich, einen Raum zu öffnen, in dem Fragen gestellt werden und Meinungen zum Ausdruck gebracht werden können. Und ein Gespräch stattfinden kann. Du hast also kein Drehbuch? Wie fängst du an? Hmmm, es gibt bestimmte Begriffe, über die ich nachdenke, ich recherchiere in Archiven und meine Gedanken kreisen um sichtbare und unsichtbare Geschichten... Aber du hattest auch einen anderen Ausdruck dafür, sowas wie: nicht über jemanden zu sprechen...? So, ja —ich denke, es geht nie darum, über jemanden zu sprechen, sondern um einen Versuch, in der Nähe zu sprechen (speaking-nearby), ein Konzept von Tri  nh Thi  Mi  nh Hà.

Roswitha You showed me images of the house is black, this documentary of an Iranian poet and filmmaker… Yes. It’s such a strong film. Forugh Farrochzād looks at ravaged and devastated bodies. She is able to develop an empathic and poetical thinking from within this ugliness. That’s what film can do, diving into those things which are ugly, violent and hurt with such a poetical power. Yes exactly. Directly facing those things —not turning your eyes away from them.

In a way, it’s very complementary with what you said about film, that it can be this platform, this meeting place... Yes, to me film is a place of encounter, like, while making a film, approaching people and places, I try to open up a space where questions can be raised, voices can unfold, and a conversation can happen.

So you don’t have a script? How do you begin? Hmmm, I have certain words that I am wrapping my head around, doing research in archives and my thoughts are circulating around visible and invisible histories... But you also had another expression for it, like, not speaking about someone...? So, ja —I think it’s never speaking about someone but an attempt to speak nearby, and I took this from Tri  nh Thi  Mi  nh Hà. .

42 Territorien in der Literatur oder warum ist vom Turkish Turn bislang nur in den USA die Rede? Nesrin Tanç

Über die Literatur des ,Potts‘ zu schreiben, ist eine mehrdimensionale Angelegenheit, dabei sticht besonders ein blinder Fleck hervor. Dieser blinde Fleck zieht sich durch die komplette kulturhistorische Literatur- und Kunstwissenschaft. Aber auch durch die Kulturgeschichtsschreibung einer Region oder beispielsweise einer Stadt wie Duisburg. Blickt man in die Buchhandlungen, auf die Straßennamen, in die Leporelli der Theaterhäuser, in die Kalender der Stadtbibliotheken, egal, wohin man blickt, der Blick führt ins Nichts. Es scheint, als habe die Literatur der Einwander*innen aus der Türkei in der Geschichtsschreibung der Region keinen nennenswerten Effekt hinterlassen. Zumindest keinen Effekt, der kultur- oder literaturwissenschaftlich abgebildet worden wäre. Dabei gibt es zahlreiche Werke von Autor*innen aus dem Ruhrgebiet, die die Kulturgeschichte Deutschlands und der Türkei, auch in ihren eigenen Biografien, verbinden.

Als Orhan Pamuk als Literaturnobelpreisträger im Oktober 2017 nach Essen kommt, will er die Lesung in der Lichtburg Essen nicht beenden, ohne auf Duisburg und die Exilant*innen aus der Türkei zu sprechen zu kommen. Pamuk ist als unbekannter Autor in den 1980er durch Lesereihen, die von Exilant*innen aus der Türkei organisiert wurden, regelmäßig nach Duisburg gekommen. Wovon spricht Pamuk?

First Generation Duisburg als Territorium der Arbeit Die 1970er Jahre in Duisburg sind gezeichnet von der Industrialisierung, Überdruckfackeln der Hochöfen und den Türkensiedlungen —der türkmahalle. Im Vergleich mit den anderen Ruhrgebietsstädten leben hier 1980 die meisten Türken. „Die in Duisburg lebenden Kurden sind als Türken registriert“, heißt es in einem amtlichen Informationsblatt. Neben den Arbeitsmigrant*innen und ihren Familien machen zahlreiche Exilant*innen aus der Türkei Halt in Duisburg. So auch Fakir Baykurt. Baykurt ist zu dieser Zeit bereits ein Schwergewicht der sozialistischen Literatur und vor allem der Dorfliteratur, die für die Aufklärung und Bildung einer anatolisch-humanistischen Bildungselite in der Türkei steht. Baykurts literarisches

Territorium sind die Menschen aus Anatolien und des Ruhrgebiets. Sozialistischer Realismus on the Route of Arbeitsmigration.

Baykurt lebte ab 1979 in Duisburg und ist der prominenteste unter den türkischsprachigen Ruhrgebietsliteraten der 1980er Jahre. Er schrieb eine Duisburg-Trilogie Yüksek Fırınlar (Hochöfen), 1983, Koca Ren (Mächtiger Rhein), 1986, Yarım Ekmek (Halbes Brot), 1998, und mehrere Erzählungen über das Ruhrgebiet. Im Jahr 1986 gründete Baykurt den Arbeitskreis Kuzey Ren Vestfalya Türkiyeli Yazarlar Çalışma Grubu (Schriftstellerinnen aus der Türkei in Nordrhein-Westfalen). Baykurt setzte damit ein Zeichen, mit der Aussage, dass Literatur 1) Medium des kulturellen Lebens und der Zeitzeugenschaft und 2) ein Mittel der Partizipation als Grundrecht der Zivilgesellschaft ist.

Auf institutioneller Ebene gelten der im Jahr 2014 eingeführte Fakir Baykurt Kulturpreis der Stadt Duisburg sowie die Benennung des Fakir-Baykurt-Platzes in Duisburg Homberg als bedeutende Ergebnisse des kulturellen Austauschs und der Prägung. Allerdings erscheint der Fakir-Baykurt-Platz, der ein Parkplatz ist, wie eine Verdichtung von Irritationen. Ein Parkplatz vor einem Einkaufszentrum für einen transnational agierenden, sozialistischen Literaten, der sein Leben wesentlich mehr der Bildung gewidmet hat als dem Konsum.

Territorium, Interpretation und Irritation: Baykurt verbrachte bis zu zwanzig Jahre damit, über die Menschen der Region Ruhrgebiet zu schreiben und wird im Jahr 2019 noch immer nicht als Teil der regionalen Literatur des Ruhrgebiets oder zumindest als Teil der Auseinandersetzung mit der Form der ,literarischen Regionaliät‘ hinreichend zur Kenntnis genommen. In den in Deutschland verfassten Werken beschäftigt er sich intensiv mit der geschichtlichen Verantwortung der deutschen Nachkriegsgesellschaft, was wiederum in der Rezeption Baykurts in der Türkei bisher keine Rolle spielt und den anfangs erwähnten blinden Fleck aus der Türkei befördert. Baykurt hat mit seinem Schreiben über das Territorium der Türkei den anatolischen Humanismus begonnen und endet bei den Einwander*innen in Duisburg.

First Generation für alle Bilderbuchbergmänner in Hell Bei Emine Sevgi Özdamar stritten sich zu Anfang ihrer Karriere alle möglichen Akteur*innen darüber, ob sie zur deutschen oder zur türkischen Literatur gehört. Für Textauszüge ihres ersten Romans Das Leben ist eine Karawanserei —hat zwei Türen—aus einer kam ich rein—aus der anderen ging ich raus, 1992, erhielt sie 1991 den IngeborgBachmann-Preis. Ihr Erzählband Mutterzunge aus dem Jahr 1999 versammelt vier Erzählungen, die wie Meilensteine der Literatur zwischen Deutschland und der Türkei wirken: Mutter Zunge, Großvater Zunge, das in Prosa verfasste Theaterstück Karagöz in Alamania (Schwarzauge in Deutschland) und Karriere einer Putzfrau. Erinnerungen an Deutschland. Özdamars Themen sind Theaterbühnen und die Weltliteratur zwischen Deutschland und der Türkei. Sie reagiert auf die dazugehörigen Fragen, indem sie gleichzeitig über kollektive Schuld, die Verantwortung und die Freiheit des Individuums schreibt. Ihre Figuren sind entweder in Deutschland verortet, in der Türkei oder an surrealen Orten, wie dem „Hurenzug“ auf dem Weg nach Europa oder am Tränenteich in einem halb verbrannten Wald, der sich als das Territorium der deutschen Schuld herausstellt.

Writing about the literature of the ‘Ruhr-Pott’ is a multi-dimensional business but it has one particularly prominent blind spot. This blind spot runs right through the whole history of literary and cultural studies. It runs through the writing of the cultural history both of the region and of a city such as Duisburg. If you take a look in the bookshops, at the street names, the theatre’s repertoire leaflets, the diaries of events at city libraries —wherever you look—you see nothing. It seems the literature written by immigrants from Turkey has had no notable effect on the writing of the region’s history: at least no effect that has been represented within cultural or literary history. However, there are numerous works by authors from the Ruhr region who combine the cultural histories of Germany and Turkey in their own biographies.

When Orhan Pamuk visited Essen in 2017 as the winner of the Nobel Prize for Literature, he was unwilling to let his reading at the Lichtburg finish without speaking about Duisburg and its Turkish exiles. Pamuk regularly came to Duisburg as an unknown author in the 1980s on reading tours that were organised by Turkish exiles. What is Pamuk talking about? First Generation Duisburg as a territory for work The 1970s in Duisburg were characterised by industrialisation, the high pressure flames of the blast furnaces and the Turkish settlements —the türkmahalle. In 1980 more Turks lived here than in any other city in the Ruhr region. “The Kurds living in Duisburg are registered as Turks,” one official information leaflet records. In addition to migrant workers and their families, numerous exiles from Turkey settled in Duisburg. For example: Fakir BayTerritories in Literature or Why has the Turkish Turn so far only been talked about in the USA?

kurt. At the time Baykurt was already a heavyweight of socialist literature and above all the village literature that represented the enlightenment and education of an Anatolian humanist educated elite within Turkey. Baykurt’s literary territory was the people of Anatolia and of the Ruhr region: socialist realism on the route of economic migration.

Baykurt lived in Duisburg from 1979 and was the most prominent of the Ruhr region’s authors writing in Turkish in the 1980s. He wrote a Duisburg trilogy Yüksek Fırınlar (Blast Furnace), 1983, Koca Ren (Mighty Rhine), 1986, Yarım Ekmek (Half a Loaf), 1998, as well as numerous short stories about the Ruhr region. In 1986 Baykurt founded the working group Kuzey Ren Vestfalya Türkiyeli Yazarlar Çalışma Grubu (Turkish Writers in North Rhine-Westphalia). This was Baykurt sending a message, that literature is 1) a medium of cultural life and bearing witness to one’s time and 2) a means of participation in and a basic right of civil society. On an institutional level the Fakir Baykurt Prize for Culture awarded by the City of Duisburg and introduced in 2014 and the naming of the Fakir-Baykurt-Platz in Duisburg Homberg can be seen as significant results of cultural exchange and influence. However, the FakirBaykurt-Platz, which is a car park, turns out to be the source of numerous irritations. A car park outside a shopping centre has been named after an internationally active socialist literary figure who spent his life devoted far more to education than to consumption. Territory, interpretation and irritation: Baykurt spent up to twenty years writing about the people of the Ruhr region and yet in 2019 he still does not receive sufficient recognition as part of the Ruhr’s regional literature or at least part of its engagement with the form of ‘literary regionalism’. In the works that he wrote in Germany he shows an intense interest in the historical responsibility of post-war German society, which has so far played no part in the reception of Baykurt in Turkey and has encouraged the blind spot mentioned above from a Turkish viewpoint. Baykurt began by writing about the territory of Turkey, about Anatolian humanism and ended up with immigrants in Duisburg. First Generation for everyone Picture book miners in hell At the beginning of Emine Sevgi Özdamar’s career all manner of people argued about whether she belonged to German or Turkish literature. Extracts from her first novel Das Leben ist eine Karawanserei —hat zwei Türen—aus einer kam ich rein —aus der anderen ging ich raus (Life is a Caravanseri —with Two Doors—I Came in One —and Went Out of the Other), that was published in 1992, won her the 1991 IngeborgBachmann-Prize. Her collection of stories Mutterzunge (Mother Tongue) from 1999 brought together four stories that seem like milestones of literature that lies between Germany and Turkey: Mutterzunge (Mother Tongue), Großvaterzunge (Grandfather Tongue), the stage play written in prose Karagöz in Alamania (Karagöz in Germany) and Karriere einer Putzfrau. Erinnerungen an Deutschland (Career of a Cleaning Woman. Memories of Germany). Özdamar’s themes are theatre stages and world literature between Germany and Turkey. She reacts to the issues associated with them by also writing about collective guilt and the responsibility and freedom of the individual. Her characters are either located in Germany, in Turkey or in surreal places like the “whore train” on the way to Europe or beside the pool of tears in a half-burnt forest that turns out to be the territory of German guilt. Emine Sevgi Özdamar wrote Perikızı —Ein Traumspiel (Perikız —A Dreamplay) retelling Homer’s heroic epic The Odyssey as a commission for RUHR.2010 GmbH at the request of the Artistic Director of Schlosstheater Moers,

Mit der Neuerzählung der Homerschen Heldendichtung Odyssee schreibt Emine Sevgi Özdamar Perikızı —Ein Traumspiel im Auftrag der RUHR.2010 GmbH und auf Einladung des Intendanten des Schlosstheater Moers Ulrich Greb. Özdamars Ruhrpott Odyssee Europa trägt Grundzüge ihres Bildungsromans Die Brücke vom Goldenen Horn, 1998, als auch von der Erzählung Das Mädchen aus dem halb verbrannten Wald, 2007, und stellt einen neuen Umgang mit dem Homerschen Urtext dar: Özdamar verkehrt das Geschlechterverhältnis, indem der klassisch männliche Sagenheld in ihrer Erzählung ein Feenmädchen ist. Özdamars Text erinnert an die neue Hochkultur im Stil von René Pollesch und Christoph Schlingensief, die die Aura klassischer Texte demontieren und in einen brutalen Zusammenhang von Individualität und Illusion stellen. Dadurch wird der universelle Rahmen, in dem sich die Figuren bewegen, vergegenwärtigt, gleichwohl surrealistische und hochpoetische Momente wie halb reale, halb ireeale Zustandsbeschreibungen wirken. Das Traumspiel beginnt mit dem längsten Kapitel „Das Meer steigt, wer weiß warum. Perikızıs Aufbruch“ in Istanbul zu Zeiten der türkischen Republikgründung und erzählt die Geschichte des Feenmädchens Perikızı, das in das Theater vernarrt ist und nach Europa möchte. Bereits auf der zweiten Seite setzt Özdamar die klagende Großmutter von Perikızı ein. Während Perikızı die Perspektive ihrer Großmutter einnimmt und durch ihre Zeitzeugenschaft den Ersten Weltkrieg und die Trauer um Vertreibung und Mord aus Anatolien aus der Sicht der armenischen Toten vergegenwärtigt, sitzen ihre Eltern im Kino und schauen sich den Film Vom Winde verweht an. Es folgt ihre Reise im „Hurenzug“ durch das kriegsverwüstete und traumatisierte Jugoslawien nach Europa und später ins Ruhrgebiet. Özdamar notiert dazu Bühnenanweisungen zum ‚Ruhrpottdialekt‘. Die vorbildlichen „deutschen und türkischen Bilderbuchbergmänner“ steigen aus der Hölle und sollen —der Bühnenanweisung Özdamars folgend —den Ruhrpottdialekt des Kabarettisten Jürgen von Manger und seiner Ruhrgebietsfigur Adolf Tegtmeier übernehmen und den Urtext der Odyssee, explizit die Episode „Darf Odysseus nach Hause?“, rezitieren. Die Konstruktion des Ruhrgebiets als Schauplatz der Odyssee gründet bei Özdamar nicht auf dem regionalen Territorium, sondern trägt das Spezifische des Ruhrgebiets in die Figuren der „deutschen und türkischen Bilderbuchbergmänner“.

Mit zahlreichen Fabelgestalten zeichnet Özdamar die Verwobenheit und die Mehrschichtigkeit der Gewaltpolitik beider Staaten nach. Mit dem Niemand-Werden, dem Nichts-Sein, dem Übersehen-Werden ist es möglich den Gefahren —die in Europa zu drohen scheinen—zu ent

Ulrich Greb. Özdamar’s Ruhr Odyssee Europa bears the main features of her Bildungsroman Die Brücke vom Goldenen Horn (The Bridge of the Golden Horn), published in 1998, as well as those of her story Das Mädchen aus dem halb verbrannten Wald (The Girl From the Half-Burnt Forest), published in 2007, and represents a new treatment of Homer’s text: Özdamar reverses the relationship between the sexes by making the classically male hero of her saga a fairy girl. Özdamar’s text is reminiscent in style of the new high culture of René Pollesch and Christoph Schlingensief, who deconstruct the aura of classical texts and place them in a brutal context of individuality and illusion. By doing this, the universal framework within which the characters operate contemporises both surreal and highly poetic moments that seem like descriptions of states that are half real and half unreal.

The dreamplay starts with its longest chapter “The sea rises, who knows why. Perikızı’s awakening” set in Istanbul at the time when the Turkish republic was founded and tells the story of the fairy girl Perikızı, who is infatuated with the theatre and wishes to travel to Europe. Özdamar introduces Perikızı’s lamenting grandmother as early as the second page. While Perikızı takes on her grandmother’s perspective with an eye witness account that brings the First World War and the mourning for the murder and expulsion from Anatolia from the viewpoint of the Armenian dead into the present, her parents sit in the cinema and watch the film Gone With the Wind. This is followed by her journey to Europe in the “whore train” through war-torn and traumatised Yugoslavia and later on to the Ruhr region. Özdamar adds stage directions on the “Ruhrpott dialect”. The exemplary “German and Turkish picture book miners” climb out of hell and —according to Özdamar’s stage directions —should assume the Ruhrpott dialect of the comedian Jürgen von Manger and his Ruhr character Adolf Tegtmeier and recite the original text of The Odyssey, specifically the episode “Is Odysseys allowed home?”. In Özdamar’s case the construction of the Ruhr region as the location for this odyssey is based not on the territory of the region but carries specific features of the Ruhr region into the characters of “German and Turkish picture book miners”.

Özdamar uses many fairy-tale characters to depict the complex web and many levels of political violence in the two states. By becoming nobody, being nothing and being overlooked it is possible to avoid the dangers that appear to lurk in Europe. Memory plays a challenging role here: it is lacking! Özdamar attests to hollow connections between the historical reconstructions of these “giants of guilty feelings”. The “giants of guilty feelings”, the “whipping nationalist chickens” and the Turkish interpreter have no memory —just as little as the rhizomatic Ruhr region. As a result the individual in Özdamar’s dreamplay is liable to fall apart. For Ödzamar the issue of the individual is linked to processing crimes of violence and genocide. Memory is no longer an original sin and a guilt that must be borne but a condition for the survival of every single person. Next Generation The Map is not the Territory The familiar phrase ‘The Map is not the Territory’ is very helpful in the context of the Ruhr region and the literature and culture of its immigrants from Turkey: the map or the written and visible established history of the territory is not the one that is actually present —which would leave us with blind spots once again.

But is it not the case that revealing the gaps, blind spots and unwritten histories relating to immigrants and their descendants is problematic on several levels? Does this not give expression to a conflict in which it is assumed that the ‘typical German reader’ is ignorant of and lacks access to the narratives of authors such as Emine Sevgi Özdamar, Fakir Baykurt, Yaşar Kemal and Kemal Yalçın —to name only a few? Do academics and students and the decendants of immigrants not count as ‘typical German readers’? The assumption that ‘normal German readers’ would not be familiar with the migrant perspective claims that the migrant perspective is not the rule but the exception. This assumption is based on the unspoken claim that bilingual academics and readers are not ‘normal German’ recipients. Is this not where the reason for the lack of visibility, lack of analysis and inclusion of these texts and authors lies? What about the right to preserve values? Does this right vanish as soon as German citizenship has been attained? Should the descendants of immigrants from Turkey who live in the Ruhr region tell their story and preserve it themselves?

As early as 2001 the American scholar of German literature Leslie A. Adelson pointed out the necessity of a change and transformation in the interpretation of the stories of writers from Turkey and their literature in Germany in her manifesto Against Between. What does this mean exactly? And why does simply naming the demand to be not only in between but at the heart of things cause outrage to the point of visible panic? Adelson talks of a potential Federal German transnational basis analogous to the way these and similar processes are described in Kader Konuk’s Identities in Process, published in 2001, and Azade Seyhans Writing Outside the Nation, published in 2001. In her book The Turkish Turn in Contemporary German Literature: Toward a New Critical Grammar of Migration, 2005, Leslie A. Adelson describes these developments as the ‘Turkish Turn’.

While academic research in the USA attempts to portray the ‘Turkish Turn’ as a necessary change and has received considerable attention and respect, no comparable change of perspective can be found in the study of culture or German literature in Germany itself. Within the reception of literature of the Ruhr region there is not a single analysis that does not refer to a ‘migrant literature’ co-existing alongside a homogenous literature that is not influenced by migration. At the same time almost all studies of the literary landscape in the Ruhr region promise to reveal a literary landscape that is culturally and linguistically diverse. Partial mention is made of Fakir Baykurt and Emine Sevgi Özdamar, though there is a complete lack of any knowledge that embeds them in the Turkish context. This is telling because Özdamar and Baykurt in particular are equally concerned with both Turkish and German cultural history. The border of literary belonging is not one of territory, it is not even one of language, but the absence of any belief that the narratives of immigrants are part of a region and that therefore when the subject is migration a separate story is not being told, but a literary and cultural history which is part of a broader community of memory. Nesrin Tanc is a PHD candidate in literary and cultural studies. Her thesis entitled The order of diversity in the Ruhr area deals with the cultural and literary heritage of Turkish immigrants in the urban community of the Ruhr. Nesrin Tanc is an independent academic consultant, a curator of projects where theory and practice come together, a lecturer in new and comparative literature and cultural studies of immigrant communities

gehen. Das Gedächtnis spielt dabei eine krisenreiche Rolle: Es fehlt! Özdamar attestiert hohle Verbindungen in der Geschichtsrekonstruktion der „Schuldgefühle-Giganten“. Die „Schuldgefühle-Giganten“, die „peitschenden nationalistischen Hühner“ und die türkische Dolmetscherin haben —ebensowenig wie das rhizomatische Ruhrgebiet —kein Gedächtnis. Daran droht das Individuum in Özdamars Traumspiel zu zerbrechen. Die Frage nach dem individuellen Menschen ist bei Özdamar verknüpft mit der Aufarbeitung von Gewaltverbrechen und Genoziden. Das Erinnern ist nicht mehr ein Sündenfall und eine zu tragende Schuld, sondern eine Bedingung für das Überleben jedes Einzelnen.

Next Generation Die Karte ist nicht das Gebiet Der bekannte Spruch The Map is not the Territory ist im Kontext des Ruhrgebeits, der Literatur und Kultur der Einwanderer*innen aus der Türkei sehr hilfreich: The map oder auch die geschriebene und sichtbare, die verwahrte Geschichte des Territoriums ist nicht diejenige, die tatsächlich vorhanden ist. Womit wir wieder bei den blinden Flecken wären.

Aber ist es nicht so, dass das Aufzeigen von Lücken, blinden Flecken und ungeschriebenen Geschichten in Bezug auf die Einwander*innen und ihrer Nachkommen, auf vielen Ebenen problematisch ist? Findet darin nicht ein Konflikt Ausdruck, in dem den ‚typisch deutschen Rezipient*innen‘ ein Unwissen und fehlender Zugang zu den Narrativen von Autor*innen wie Emine Sevgi Özdamar, Fakir Baykurt, Yaşar Kemal, Kemal Yalçın —um nur einige zu nennen —unterstellt wird? Gehören Wissenschaftler*innen und Studierende, die Nachkommen von Einwanderer*innen nicht zu den ‚typisch deutschen‘ Leser*innen? Die Annahme, dass ‚normale deutsche Leser*innen‘, die migrantische Perspektive nicht kennen würden, behauptet, dass die migrantische Perspektive nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist. Diese Annahme fußt auf der unausgesprochenen Festlegung, dass zweisprachige Wissenschalfter*innen und Leser*innen keine ‚normalen deutschen‘ Rezipient*innen seien. Liegt nicht darin der Grund für die fehlende Sichtbarkeit, die fehlende Analyse und Einordnung der Texte und Autor- *innen? Was ist mit dem Recht auf Werterhaltung? Erlischt dieses Recht, sobald die deutsche Staatsbürgeschaft erlangt wird? Sollen die Nachkommen der Einwanderer - *innen aus der Türkei, die im Ruhrgebiet leben, ihre Geschichte selbst erzählen und verwahren? Bereits im Jahr 2001 hat die US-Germanistin Leslie A. Adelson in ihrem Manifest Against between. Ein Manifest gegen das Dazwischen auf die Notwendigkeit der Wendung und Transformation in der Interpretation der Erzählungen von Autor*innen aus der Türkei und ihrer Literatur in Deutschland hingewiesen. Was bedeutet das genau? Und warum löst die bloße Nennung der Forderung, nicht nur Dazwischen, sondern mittendrin zu sein, Empörung bis hin zu sichtbarer Panik aus? Adelson spricht von einem Potential für eine bundesdeutsche transnationale Grundlage, so wie auch Kader Konuks Identitäten im Prozeß, 2001, oder Azade Seyhans Writing Outside the Nation, 2001, diese und ähnliche Prozesse beschreiben. In ihrem Buch The Turkish Turn in Contemporary German Literature: Toward a New Critical Grammar of Migration, 2005, spricht Leslie A. Adelson im Hinblick auf diese Entwicklungen vom Turkish Turn. Während in der US-amerikanischen Forschung mit dem Turkish Turn eine notwendige Wende auszudrücken versucht wird und große Beachtung und Rezeption erfährt, ist in der Germanistik oder Kulturwissenschaft in Deutschland kein vergleichbarer Perspektivenwechsel zu verzeichnen. Innerhalb der Rezeption der Ruhrgebietsliteratur gibt es keine einzige Analyse, die nicht von einer ‚Migrantenliteratur‘ spricht, die neben einer homogen —nicht migrationsgeprägten —Literatur koexistiert. Gleichwohl beinahe alle Studien zu der literarischen Landschaft im Ruhrgebiet eine kulturelle und sprachlich vielfältige Literaturlandschaft aufzuzeigen versprechen. Partielle Nennung finden Fakir Baykurt und Emine Sevgi Özdamar, wobei die wissenschaftliche Einbettung in den turkistischen Kontext gänzlich fehlt. Das ist bezeichnend, weil besonders Özdamar und Baykurt sich gleichermaßen der türkischen und der deutschen Kulturgeschichte widmen. Die Grenze der literarischen Zugehörigkeit ist nicht das Territorium, es ist nicht mal die Sprache, sondern die fehlende Überzeugung, dass die Narrative der Einwanderer*innen Teil der Region sind und daher keine separate Geschichte erzählt wird, wenn es um Migration geht, sondern eine Literatur- und Kulturgeschichte, die Teil einer größeren Erinnerungsgemeinschaft ist.

Nesrin Tanc ist Promovendin der Literatur- und Kulturwissenschaft über Die Ordnung der Vielfalt im Ruhrgebiet zum Thema des kulturellen und literarischen Erbes der türkischen Immigrant*Innen in der Stadtgesellschaft. Tätigkeit als freie wissenschaftliche Beraterin, Kuratorin von Formaten zwischen Wissenschaft und Praxis und Dozentin im Bereich der neuen und vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft der Einwanderungsgesellschaft.

46 Tom Thelen Temporäre Kunst im öffentlichen Raum des Ruhrgebiets —wahllose Erinnerungen

Das 1940 in Essen vom Coca-Cola Chefchemiker Dr. Schetelig erfundene Getränk Fanta machte Mitte der 90er Jahre Fernsehreklame. Jetzt feiere man wieder im Garten. Pool, Bälle, Badehosen. Gegengeschnittene giftgrüne Bilder zeigten schlechtgelaunte Menschen, bei „wirklich coolen Partys“ in „stillgelegten U-Bahn-Schächten“. „Gaanz toll“, der ironische Kommentar. Ja, das hatte was mit dem Alltagsleben zu tun. Denn stillgelegte U-Bahn-Schächte waren eben cool und dieses Getränk, das so orange war wie die SPD-Wahlkampfballons oder die Gewänder der damals gegenwärtigen Bhagwan-Disco-Grinser*innen, war süße Oberfläche und herzlich egal.

Abgesehen davon, dass in Sachen Pools im Garten im Ruhrgebiet extreme Unterversorgung herrschte, hatten Künstler*innen und Nachtlebenmenschen schon seit Jahrzehnten entdeckt, was das Erbe einer sterbenden Industriekultur für Raum-Möglichkeiten barg. Wahrhaft keine solitäre Entdeckung in den öffentlichen Räumen der Welt, doch natürlich eine mit einem besonderen Spin. Denn die Metaphorisierungen des Städtischen nebst falscher Verallgemeinerungen oder der Konstitution eines Übersichtsblickes greifen bei lokalerer Betrachtung ja gerne kurz. Denn: ist eine Fabrik eine Fabric oder eine Factory? Wenn das Ruhr Ding: Territorien in diesem unruhigen Frühsommer 2019 loszog, um die Energien besonderer Ruhr-Orte und Räume mit den Ideen und Konzepten von Künstler*innen aus globalen Kontexten kurzzuschalten, dann steht Kuratorin Britta Peters natürlich auch in einer Tradition. Doch eine solche Tradition kann gerade in der Gemengelage der Konstruktion Ruhrgebiet keine genealogische sein. Sind das hier nicht durch Autobahnen verbundene unwirtliche Inseln, die keine urbane Dynamik entfalten können? Oder, um es mit Dirk E. Haas zu formulieren: „Benötigt das Ruhrgebiet nicht ein gegenüber herkömmlichen Städten andersartiges (textliches und bildliches) Vokabular, um die ihm eigenen Merkmale verstehbar zu machen?“ Die folgenden Lipstick Traces von sehr subjektiv wahrgenommener temporärer Kunst im öffentlichen Ruhrgebietsraum deuten es an. Drei Tage lang das Ruhrgebiet entdecken Das wollte Aufbrechen Amerika 1992. 500 Jahre nach Kolumbus, freilich ohne Atlantiküberquerung. Das Projekt von Eberhard Kloke und den Bochumer Symphoniker- *innen transportierte 500 Menschen per Schiff, Zug und zu Fuß auf eine Konzertreise durch die Städte. Mit Chören und Schauspieler*innen auf Brücken, unter Hochöfen und eisernen Stegen, an ungenutzten Autobahnenden, in Lehmkuhlen. Nebenbei entsteht am Abend des zweiten Tages die Blaupause für die spätere Nutzung der Jahrhunderthalle. Als die erschöpften Reisenden gegen halb 2 Uhr nachts dort eintrafen, sang das Hilliard Ensemble auf einer elektrischen Hebebühne stehend Gesualdos Sabbato sancto. Die Neu- oder auch Wiedergeburt einer Kathedrale. Ein typisches Paradigma: der Raum der Arbeit, der Erschöpfung wie der Wertschöpfung, in kritischer Lesart auch der der Waffenproduktion —transzendiert (oder exorziert?) zum Raum für Kunst und Kultur. Kleinere Zechen und Werkstätten brachten es im Ruhrgebiet ja schon vorher und nachher immer zu Clubs, Diskotheken und Restaurants.

Für Größeres vorgesehen war da ja schon immer die Dortmunder Union-Brauerei. Als hier 1999 die Ausstellung Reservate der Sehnsucht stattfand, wurden sehr besondere Bilder kreiert. Ob der Besucher oder die Besucherin sich durch die Boxsäcke von FLATZ zu einem Stadtpanorama durchkämpfen musste oder über einen Rasen hin zu einer Dan-Graham-Video-Installation flanieren durfte. Schon damals war aber den Macher*innen klar, dass sie hiermit auf einem Terrain angekommen waren, das glatt und „auch dem Kunstbetrieb nicht allzu fremd ist: Documenta, Biennalen, Manifesta, Zentren für Medienkunst, um nur die bekannten Spitzen des Eisbergs zu benennen. Die subtilen Mechanismen der Kommerzialisierung und Standardisierung persönlich/öffentlicher Bedürfnislagen sind trickreich; glaubt man ihnen zu entkommen, ist man ihnen längst schon auf den Leim gegangen“ 1 . Ja, wir haben die Räume, die Kompetenz, das Wissen. Und Angst um das Besondere.

Kunst und Verbrechen War zunächst noch der Verdacht da, dass Kunsthasser - *innen den von Happening-Erfinder und Fluxus-Künstler Allan Kaprow 1979 im Bochumer Einkaufszentrum RuhrPark errichteten Turm aus Autoreifen angezündet hatten, so stellte sich doch alsbald heraus, dass es Kriminelle waren, die von einem Raubzug ablenken wollten. Nam June Paik, Charlotte Moorman, Mauricio Kagel oder Al Hansen, die das Einkaufszentrum in den folgenden Jahren bespielten, machten da wesentlich bessere Erfahrungen mit den Bummler*innen. Es herrschte ein destruktivkrimineller wie auch freundlicher Pragmatismus im Umgang mit der Avantgarde. Ein letzter Ort der Erinnerung Die Kohlenwäsche auf Zollverein. Heute das Ruhr-Museum. Die Aura der entkernten Gewalt-Räume nutzte zunächst die Handwerkskunst und Reklame. Mit seinem ersten Katalog gelang dem Teppichmacher Jan Kath, der übrigens auch mit dem am Ruhr Ding beteiligten Künstler Stefan Marx einen Teppich gemacht hat, der Durchbruch. Er zeigte seine dekonstruierten Bodenbeläge vor aufgelassenen Wänden, auf verschmierten Böden der leeren Betonräume. Heute hat er Stores in den Metropolen der Welt, seinen Showroom aber noch in einer alten Fabrikhalle am Wiesental in Bochum. Die Räume der Kohlenwäsche wurden danach künstlerisch geadelt, in der Schau Gold vor

Schwarz war 2008/2009 der gesamte Essener Domschatz hier zu sehen. Zwei Konfrontationen —welche nun typischer ist für das Ruhrgebiet, muss gar nicht entschieden werden.

Unzählige Projekte später Über Straßen, über Flüsse, durch Stadtteile. Reisen, Odysseen, Partizipationen. Das klingt jetzt müder und relativierender als es ist. Denn dieses Interesse, das stete ästhetische Abarbeiten zeigt die unendlichen Möglichkeiten der Beschäftigung mit dem Leben der Menschen in den großen Städten. Das Ruhr Ding: Territorien ist keine Wiederholung. Britta Peters Konzept nutzt Konzepte des Flanierens, des Umherschweifens, verstärkt die Momente des Reisens, des Ankommens, der Beschäftigung mit sozialen, psychischen, physischen und politischen Grenzen. Davon erzählt vor allem auch die Kunstvermittlung, die in Irrlichter Touren zum Sich-Verlieren einlädt und ein Programm hat, das sich nicht nur um die gezeigten Projekte dreht, sondern auch die Umgebung erforscht. Forschung an der Schnittstelle von Kunst und Stadt könnte man das nennen. Was wir, die Konsument*innen, die Kritiker*innen, die Gäste, Besucher*innen und die Hereinstolpernden damit machen, das hat viel mit dem zu tun, was ist. Der zuweilen räudige Realismus des Ruhrgebiets begegnet vielen Ideen von Kunst. Herauskommen bestenfalls Erfahrungen, Intensitäten, die woanders nicht zu machen sind.

1 Aus der Einführung in die Ausstellung Reservate der Sehnsucht, 1998 in der ehemaligen Unionsbrauerei, Dortmund (https://www.hmkv.de/programm/programmpunkte/ 1998/Ausstellungen/1998_Reservate_der_Sehnsucht.php)

Tom Thelen arbeitet als Journalist im Ruhrgebiet. Als Redakteur und Kritiker beobachtet er seit Jahren Kultur und Kulinarik für viele Magazine und Zeitungen.

centre over the following years, were given a considerably better reception by local residents. The prevailing treatment of the avant-garde tended towards destructively criminal as well as amicable pragmatism. Discovering the Ruhr region in three days That was the idea of Aufbrechen Amerika (Setting off for America), in 1992. Five hundred years after Columbus, obviously without crossing the Atlantic. The project by Eberhard Kloke and the Bochum Symphony Orchestra transported 500 people by ship, train and on foot on a concert expedition through the region’s towns and cities. With choirs and actors performing from bridges, at the foot of blast furnaces and on steel catwalks, on disused motorways, in clay pits. En passant, the evening’s event of the second day spawned the blueprint for the later transformation of the Jahrhunderthalle Bochum as a vast multipurpose cultural venue. When the exhausted travellers arrived there at one thirty in the morning they were received by the Hilliard Ensemble singing Gesualdo’s Sabbato sancto from a raised electric hydraulic platform. The birth (or rebirth) of a cathedral. A typical paradigm: the space of labour, of exhaustion and of added value, and, in a critical variant, also of arms production —is transcended (or exorcised?) into a space of art and culture. In the Ruhr region smaller collieries and workshops have and will always made good as clubs, discos and restaurants.

Clearly, the Dortmund Union Brewery was always destined for something grander. The exhibition Zones of Desire held here in 1999 gave rise to very special images. Irrespective of whether visitors had to fight their way through FLATZ’s punching bags to reach the panoramic view of the city or had the chance to stroll across a lawn to see a video installation by Dan Graham. But even by then it was clear to the event’s makers that they were venturing onto slippery terrain that was also not entirely alien to the art world: documenta, biennials, Manifesta, centres for media art —to name just a few celebrated tips of the iceberg. The subtle mechanisms for commercialising and standardising personal/public needs are tricky. Just when you think you have eluded them, you find they have already long since ensnared you. 1 Well, we have the spaces, the competence, the know-how. And fear of anything special. A last space for memory The coal preparation plant at Zollverein. Today: the Ruhr Museum. The aura of these gutted edifices of power was initially tapped by artisan crafts and advertising. With his first catalogue Fanta, the beverage invented in Essen in 1940 by Coca-Cola’s head chemist, Dr Schetelig, had a TV spot in the mid-1990s: so garden parties are now back in fashion. Pool, beachballs, swimming trunks. Cut to sickly green shots of bad-tempered people hanging out at “really cool parties” in “abandoned railway tunnels”. “Soooo awesome” comes the sarcastic commentary. Yes, such was everyday life back then. Abandoned industrial buildings were simply cool and this drink, which was as orange as SPD’s election campaign balloons or the gowns worn by the then omnipresent ever-grinning Bhagwan disco ravers, was the sweet surface and utterly irrelevant.

Never mind that when it came to pools and gardens the Ruhr region was always extremely undernourished: artists and nightlife lovers had for decades now already found the venue potential concealed in the legacy of a dying industrial culture. In truth, not a unique discovery among all the public spaces throughout the world, but of course one with a particular spin. For, seen from a more local perspective the usual metaphorisations of urban fabric, in tandem with erroneous generalisations or the constitution of a sweeping overview often fall short. Indeed: Has the industrial factory now become a ‘factory’? When Ruhr Ding: Territories set off in this turbulent early summer of 2019, seeking to ally the energies of particular Ruhr places and spaces with the ideas and concepts of artists from global contexts, Britta Peters was of course also following a certain tradition. Yet given the complexity of the Ruhr region as a hotchpotch construct, such a tradition cannot be a genealogical one. Are they, after all, not a cluster of inhospitable islands joined together with motorways, incapable of developing urban dynamism? Or, to echo the words of Dirk E. Haas, “Does the Ruhr region not require a different (textual and pictorial) vocabulary from that of more conventional cities for its own particular features to be comprehensible?”

The following ‘lipstick traces’ of very subjectively perceived temporary art in public space in the Ruhr region suggest as much. Art and crime If it began with the suspicion that art haters had set light to the tower of car tyres erected in 1979 by the ‘inventor of the happening’ and Fluxus artist Allan Kaprow in Bochum’s shopping centre Ruhr-Park, but it soon transpired that the fire was the work of criminals seeking to divert attention from a robbery. Nam June Paik, Charlotte Moorman, Mauricio Kagel or Al Hansen, who all guested in the shopping the carpet designer Jan Kath, who incidentally also created a carpet with Ruhr Ding artist Stefan Marx, achieved a breakthrough. He displayed his deconstructed floor coverings against crumbling walls and on the grimy floors of the empty concrete locales. Today he runs stores in the world’s largest cities, but still maintains his showroom in an old factory hall in the Wiesental district of Bochum. The spaces in the preparation plant were later artificially edified by the presence of the entire Essen Cathedral Treasury which went on display in the 2008/2009 exhibition, Gold in Black. Two confrontations —unnecessary to judge which of them was perhaps more typical for the Ruhr region. Countless projects later Down roads, along rivers, through neighbourhoods. Journeys, odysseys, participations. That sounds perhaps more tired and relativising than it is. Because this interest and relentless aesthetic processing signal the sheer endless possibilities for studying the lives of people in large towns and cities. Ruhr Ding: Territories is not another repetition. Britta Peters’s concept uses the concepts of flânerie, of strolling and aimlessly wandering, it amplifies the aspects of travel and arrival, of preoccupation with social, mental, physical and political boundaries. These same ideas, above all, also drive the art mediation, which in the Irrlichter Tours invites visitors to join in and become immersed, and which proposes a programme that not only focuses on the projects being presented but also explores their respective contexts. Research at the interface of art and city, you could say. What we consumers, critics, guests, visitors and those accidentally drawn on board will make of all this has a lot to do with what there is here. The occasionally shabby realism of the Ruhr region coincides with many ideas in art. The outcome, ideally, are experiences and degrees of intensity that you’ll not get elsewhere. Temporary Art in Public Space in the Ruhr Region —Haphazard Recollections

1 From the German introduction to the exhibition Reservate der Sehnsucht, 1998 in Dortmund. Retrieved from: https://www.hmkv.de/programm/ programmpunkte/1998/Ausstellungen/ 1998_Reservate_der_Sehnsucht.php Tom Thelen is a journalist based in the Ruhr area. A writer and critic, he has reported on food and culture for a range of newspapers and magazines over the years.