UNIQUE #06/12

Page 1

Aber hier leben, nein Danke!

# 06/12

//EDITORIAL Liebste dahinschmelzende Leser*innenschaft, Widrige Umstände erschweren die Produktion. Doch als Kämpferinnen* des geflügelten Wortes scheuen wir keine Mühen und Plagen. Im Gegenteil: Wir lassen uns von stickender Hitze und grölenden Fußballfans ebenso wenig abschrecken wie von Prüfungsstress, Abgabeterminen oder sich breit machender Urlaubsreife. Hier ist sie also, die nigel-nagel-neue Juni-Ausgabe der Unique, gespickt mit allerlei journalistisch-literarischen Kleinoden. Diesmal informiert euch das InternationalRessort besonders ausgiebig über palästinensi1 schen und indischen LGBTQAI?* -Aktivismus, Frauenrechte in Ägypten, die Unabhängigkeit Algeriens und die Festung Europa. Da wir dem Fußball an diesem Wochenende sowieso nicht entkommen, gibt’s auch eine Analyse über dessen politische Dimensionen; ein weiterer Artikel beschäftigt sich mit den Zusammenhängen von Fremdenfeindlichkeit und Kapitalismus und dem Versagen des Antirassismus an der Uni. Der Geschichtsunterricht dreht sich diesmal um den Justizpalastbrand, den antisemitischen Al-Quds-Tag sowie um Kinder von KZ-Häftlingen und deren Umgang mit der Geschichte ihrer Eltern. Dazu passend und ebenso geschichtsträchtig freuen wir uns über zwei Repliken auf Artikel aus der Unique 05/12 zum Gedenken an den 8. Mai 1945. Wie du erfährst, was der Staat alles über dich weiß, erklärt dir das Rechtsinfokollektiv, während die staatskritische, anonyme Masse der Guy-Fawkes-Masken-TrägerInnen auseinandergenommen wird. Überhaupt beschäftigt sich diesmal der ganze Schwerpunkt mit dem Thema Datenschutz – mehr dazu, inklusive exklusiver Redaktions­datenerhebung, bietet der Teaser.

S. 2 ÖH KOMMENTAR // RECHTSBERATUNG S. 3 AUSKUNFTSBEGEHREN // FREMDENFEINDLICHKEIT UND KAPITALISMUS S. 4 „WE ARE CHANGING SOCIETY, VERY VERY SLOWLY, BUT WE ARE CHANGING IT“ S. 5 DIE ,FESTUNG EUROPA‘ WIRD AUSGEBAUT // TRANSGENDER ODER HIJRA? S. 6 VIELFACHKRISE IN EUROPA // KAIRO 678 S. 7 BLECHAS ALGERIEN S. 8 TERMINE S. 9 ASPHALT & NEONLICHT // OPFER AM PRANGER S. 10 WE‘RE NOT BAD PEOPLE, WE JUST COME FROM A BAD PLACE // FUSSBALL UND DISKRIMINIERUNG S. 11 „AUSCHWITZ UND RAVENSBRÜCK WERDEN IMMER PRÄSENT SEIN“ S. 12 SEXUALERZIEHUNG ZWISCHEN STRICKNADELN UND COLA-SPÜLUNGEN // ÖSTERREICHISCHE KELLER S. 13 DER JULIAUFSTAND 1927 S. 14 ÖSTERREICH, DU OPFER! // DAS IST DER VOLLE ERNST! S. 15 I AIN‘T ANONYMOUS // WER SCHWEIGT, STIMMT ZU S. 16 MYTHOS HALBSPRACHIGKEIT SCHWERPUNKT AB S. 17: D4T3N$CHU1Z?! S. 18 LAW AND ORDER OR: RACISM AND CULTURE S. 19 DATENSPEICHERUNG UND DISKRIMINIERUNG S. 20 DIE VDS WEISS, WAS DU DIE LETZTEN MONATE GETAN HAST S. 21 ACTA UND DIE KRAKEN S. 22 DOWNLOADING KUNST. S. 23 DANIEL UND NADINE FICKEN IM SOMMER IN FRANKFURT S. 24 „WIR LEBEN IN EINER BOOMENDEN PARTIZIPATIONSKULTUR“

Viel Eis, angenehmen Schlaf und Lesespaß wünschen eure traumatisierten Uniques* 1

Zeitung

1-3.indd 1

der

ÖH

Uni

Wien

/

/

Nr.

0 6/12

/

/

Österreichische

Post

AG/Sponsoring.Post

04Z035561 S

/

/

w w w.unique-online.at

/

E-Mail:

unique@reflex.at

no wonder they are called „The Letter-People“!

/

ÖH

Uni

Wien

Website:

w w w.oeh.univie.ac.at

19.06.12 19:33


unileben Sommerpause?....................

ÖH-KOMMENTAR

Langsa m nähern wir uns dem Ende des Sommersemesters und damit auch dem des Studienjahres. Es wird also Zeit für einen kleinen Rückblick auf das Studienjahr 2011/2012. Bildungspolitisch musste munter weiterdemonstriert werden – wie auch schon in den Jahren zuvor. Auch eine Kurzbesetzung des Audimax war dabei sowie unermüdliche Protestfrühstücke der Studierenden der Internationalen Entwicklung. Doch leider konnte die Abschaffung des Bachelors der IE genau so wenig wie die (temporäre) Einführung der Studienbeiträge ab nächstem Semester verhindert werden. Das Rektorat pocht bei der Einhebung der Gebühren und der Rückzahlung auf ein (hoffentlich erfolgendes) ‚Kippen‘ des Gesetzes durch den Verfassungsgerichtshof und vorerst auf das Vertrauen der Student_innen. Will es doch laut eigener Argumentation nur „rechtliche Klarheit“ schaffen und die Politik zwingen, sich endlich zu einer Entscheidung durchzuringen. Dies hätte auch bei der Einhebung eines symbolischen Wertes von z. B. einem Euro erreicht werden können. Schließlich ist doch nicht nur dem Rektorat klar, dass Studienbeiträge in der jetzigen Höhe real nichts an der finanziellen Situation der Universitäten verbessern können, Student_innen damit aber weiter massivem Druck ausgesetzt werden. Dieser hat sich innerhalb der letzten Jahre ohnehin schon massiv verstärk. Bereits jetzt müssen 40% der Studierenden im Schnitt 20 Stunden in der Woche lohnarbeiten, um überhaupt studieren und nebenbei auch etwas leben zu können. Sei es durch die Kürzung der Familienbeihilfe bis nur noch 24 oder auch die Streichung der Zuschüsse zur Krankenversicherung, die nun doppelt so hoch ist. Geschenkt wird Student_innen in Zukunft also weiterhin nichts. Außer ,freier‘ Zeit, die dann en masse auf diejenigen wartet, die die STEOP nicht bestehen. In manchen Studien kann dies dann eine unfreiwillige Wartezeit von bis zu einem knappen Jahr bedeuten, sollten Betroffene nicht das Pech haben, auch den zweiten oder dritten Antritt nicht zu schaffen, denn das hat dann eine lebenslange Sperre für das Wunschstudium zur Folge. Auch hier wird die ominöse ,Politik‘ als Hauptverantwortliche gesehen, die sich der Probleme des Hochschulsektors nicht annehmen will. Dass aber das von vielen Rektor_innen hochgelobte Universitätsgesetz von 02 (UG02) den autonomen monokratischen Handlungsrah men für all diese Verschlechterungen mit sich gebracht hat, darf nicht außer Acht gelassen werden. Und so bleibt auch als ÖH nichts anderes übrig, als nächstes Jahr weiterhin Sand ins Getriebe der universitären muffigen Talare zu streuen, nicht zu resignieren und weiterhin den Verschlechterungen entgegenzutreten.

//BILDSTRECKE Hauntings von Kin Chui Hauntings ist der zweite Teil der dreiteiligen Fotoserie First World Nation since 2006. Die einzelnen Bilder stellen eine Dekonstruktion des nationalen Narrativs Singapurs, des Geburtslandes des Künstlers, dar. Sie erforschen die Prozesse, die die Leben der Individuen, die in der hyper-kapitalistischen Gesellschaft Singapurs leben, durchdringt. Kin Chui arbeitete ursprünglich als Kameramann und Bühnenbildner in der Filmund Fernsehindustrie Singapurs. Seit Chui in Wien lebt, beschäftigt er sich stark mit den Prozessen des Kolonialismus und dessen Überbleibseln in der modernen Gesellschaft. Aktuell bereitet er sich auf seine ­Diplomarbeit in der Post-Conceptual-Klasse von Marina Gržinić an der Akademie für Bildende Künste Wien vor.

Julia Kraus

//IMPRESSUM Herausgeber und Medieninhaber: Verein für Förderung studentischer ­Medienfreiheit; Unicampus AAKH, Hof 1, Spitalgasse 2-4, 1090 Wien; ­­ Tel. 0043-(0)1-4277-19501 Redaktion: Soma Mohammad Assad, Dorothea Born, Oona Kroisleitner, Tamara Risch Mitarbeiter_innen dieser Ausgabe: Christoph Altenburger, Kübra Atasoy, Soma Mohammad Assad, Claudia Aurednik, Elena Barta, Lucia Bischof, Julian Bruns, Michael Fischer, E. G., Stephan Grigat, Leo Hiesberger, Julia Kraus, Oona Kroisleitner, Hanna Lichtenberger, Myra Lobe, Fridolin Mallmann, Nona Net, Florian Pawlik, Ako Pire, J. R., Verena Rechberger, ein Aktivist der Offensive Gegen Rechts, Laurin Rosenberg, SASKIA, Natascha Strobl, Alessandro Volcich, Dominik Wurnig Layout: Iris Borovčnik Lektorat: Anna-Lena Berscheid, Karin Lederer Bildstrecke: Kin Chui Illustrationen: Iris Borovčnik, Oona Kroisleitner Anzeigen: Wirschaftsreferat ÖH Uni Wien, inserate@oeh.univie.ac.at, Tel. 0043-(0)1-4277-19511 Erscheinungsdatum: 22. 06. 2012 Kritisch den Mächtigen, hilfreich den Schwachen, den Tatsachen verpflichtet – aber hier leben, nein Danke!

Das Sozialreferat informiert .....................................

RECHTSBERATUNG

Häufig kommt es vor, dass Eltern ihren studierenden Kindern den Unterhalt verwehren. Oder dass nach einem Unfall der/ die Unfallgegner_in kein Schmerzensgeld zahlt. Für diese rechtlichen Probleme unterhält die ÖH Uni Wien eine Rechtsberatung. Zusätzlich gibt es dort zum Beispiel Beratung bezüglich Prüfungsanrechnungen oder zum Thema Wohnungskündigung. Falls du also rechtliche Beratung zu einem der genannten Themen oder jedem anderen Thema brauchst, dann wende dich an unsere Rechtsberatung. Der

Anwalt Ingo Riss hilft dir nicht nur bei der Beurteilung der rechtlichen Lage, also ob du Rechte oder Pflichten hast, sondern auch, dabei deine Rechte durchzusetzen. Um einen Termin zu vereinbaren, ist es am einfachsten eine E-Mail an den Anwalt zu schreiben unter www.anwalt-riss.at. Ansonsten sind die Termine für die Rechtsberatung jeweils Montags von 17:00 bis 19:00 Uhr im Besprechungszimmer der ÖH Uni Wien. Dieses Semester allerdings nur noch einmal am 18.06. Die Rechtsberatung ist natürlich kosten-

los. Weitere kostenlose Rechtsberatung bietet die Rechtsanwaltskammer in der Rotenturmstraße 13. Weitere Infos bekommst du im: Sozialreferat der ÖH Uni Wien 1090, Spitalgasse 2, Hof 1 (Universitätscampus Altes AKH) Tel. 0043-(0)1-42 77 DW 195 53 od. 195 54 Montag bis Freitag 9 bis 13 Uhr, Montag bis Donnerstag 14 bis 16 Uhr E-Mail: sozialreferat@oeh.univie.ac.at

02

1-3.indd 2

19.06.12 19:33


unileben

Was weiß der Staat? ..........................................

AUSKUNFTSBEGEHREN

Du hast das verfassungsgesetzlich garantierte Recht, vom Staat und seinen Behörden zu erfahren, ob und welche personenbezogenen Daten bisher über dich gespeichert wurden und warum. Dieses Recht ist das „Auskunftsbegehren nach dem Datenschutzgesetz“ und ist gratis. Gerade in Anbetracht der jüngsten Gesetzesänderungen ist dieses Recht auf Information über deine Daten besonders wichtig: Denn zusätzlich zu den bisherigen Möglichkeiten können Polizei und Verfassungsschutz seit 1. April 2012 im Rahmen geheimdienstlicher Tätigkeiten und zur „präventiven Analyse im Sinne des Staatsschutzes“ weit mehr Informationen über dich sammeln als bisher. Auch deine Vorratsdaten über dein Handy und deinen ­ E-Mail-Verkehr werden nun präventiv für sechs Monate gespeichert. Grund genug, um beim Innenministerium, der Polizei und dem Verfassungsschutz nachzufragen, was über dich gespeichert wurde und wird. Wir empfehlen, ein Auskunftsbegehren bei folgenden Polizeibehörden zu machen: – Bundesministerium für Inneres (BMI) – Sicherheitsdirektion (SD) deines Bundeslandes – falls es in deiner Stadt eine Bundespolizeidirektion (BPD) gibt, auch dort.

Besonders interessant sind die Datenbanken des Verfassungsschutzes, (Elektronisches Dateninformationssystem (EDIS)), der Polizei (Elektronisches Kriminalpolizeiliches Informationssystem (EKIS)) oder die nationale Datenbank für das SchengenAbkommen. Die Behörde muss dir binnen acht Wochen antworten (Postweg einrechnen!). Also merk’ dir das Versanddatum. Schick’ dein Auskunftsbegehren zur sicheren Dokumentation am besten per Telefax oder eingeschriebenem Brief. Aus bestimmten Gründen kann dir die Auskunft jedoch verweigert werden: z. B. wegen eines laufenden Verfahrens. Pro Kalenderjahr kannst du bei jeder Behörde einmal ein kostenloses Auskunftsbegehren stellen. Möchtest du im selben Jahr ein zweites Auskunftsbegehren einbringen, kostet dieses eine geringfügige Gebühr. Weitere Infos, ein Muster und eine Schritt-fürSchritt-Anleitung für ein Auskunftsbegehren findest du unter: http://rechtsinfokollektiv.org/ http://wasweissderstaat.gras.at/ http://argedaten.at/

Rechtsinfokollektiv

FREMDENFEINDLICHKEIT UND KAPITALISMUS Michael Fischer

Vor knapp 30 Jahren zog der Be- denfeindlichkeit. Dieses Fehlen einer tieferge- die Unterschiedlichkeit der Menschen in vergriff Islamophobie von Teheran henden Analyse ist der Grund für die Popularität schiedenen Weltregionen auch nur aus deren in die Welt hinaus, um nach der dieser Theorie in gleichsam universitären wie Natur abgeleitet werden. Die Vorstellung der ‚Rasse‘ trat erst nachträglich hinzu und legitiJahrtausendwende Universitäts- linksliberalen Kreisen. mierte die Vorstellungen der kulturellen DiffeSeminare und linke Diskussionen renz in Zeiten, in denen Rassentheorien in der im Sturm zu erobern. Französi- Bürgerliche Ökonomie Wissenschaft fast unhinterfragt vertreten wursche Marxisten und Marxistin- Doch genau diesen Zusammenhang gilt es den. Nach 1945 war der Rassebegriff diskredinen wie Étienne Balibar leisteten nachzuzeichnen, denn wie konnte in einer Ge- tiert, doch die Leerstelle wurde durch die Bemit ihrer Theorie vom „Rassismus sellschaft, die sich doch einmal Gleichheit auf griffe ‚Identität‘ und ‚Kultur‘ gefüllt. ohne Rassen“ die Vorarbeit dazu; die Fahnen geschrieben hatte, Fremdenfeinddie Terroranschläge des 11. Sep- lichkeit entstehen? Dazu müssen wir uns die Das Versagen des Antirassismus Ökonomie genauer ansehen. Die tember und die Hetze der FPÖ ge- bürgerliche bürgerlichen Ideale der Freiheit und Gleich- Dieser Schein der natürlichen Ungleichheit gen die Muslime in Österreich ab heit entstammen der Zirkulationssphäre und der Menschen wäre wie folgt aufzulösen: Die 2006 besorgten den Rest. scheinen dort auf. Dem steht jedoch die Un- verschiedenen Gruppen von Menschen ha2

D

em Islamphobie-Ansatz zufolge hetzt eine kriegstreibende Allianz, die von den Antideutschen bis zur extremen Rechten reicht, gegen Muslime und den Islam, um ihr neoli1 berales Programm zu realisieren. Dass die extreme Rechte einen Ethnopluralismus vertritt, der die Muslime und Muslima aus Europa ausweisen will, ihren Kampf im Nahen Osten gegen den US-Imperialismus aber mit Wohlwollen verfolgt, passt nicht in die Theorie, genau so wenig wie das Bündnis der ungarischen Jobbik mit dem iranischen Regime. Das Erklärungsmodell der Islamophobie steht damit in der linken Tradition der Beschäftigung mit dem Rassismus. Auch sie wird als Spaltungsinstrument der herrschenden Klasse oder der neoliberalen Clique verstanden. Gänzlich übersehen wird dabei der strukturelle Zusammenhang von Kapitalismus und Frem-

gleichheit in der Produktion gegenüber. Der Kolonialismus entsteht, bedingt nun die Möglichkeit der Fremdenfeindlichkeit und daraus folgend des Rassismus. Gesellschaften, die von den europäischen Kolonisatoren und Kolonisatorinnen erobert wurden, waren sowohl von der Kultur als auch vom Stande der Produktivkräfte von Europa verschieden. In den Kolonien war es aufgrund der rückständigen Produktivkraftentwicklung notwendig, auf Ausweitung und Extensivierung der Mehrarbeit zu setzen. Um also für den Weltmarkt konkurrenzfähige Waren zu produzieren, waren die Kolonisierten ständig dazu gezwungen, die Ware Arbeitskraft unter ihrem Wert zu verkaufen, was sie dann selbst in der Sphäre der Zirkulation zu Ungleichen oder ‚Minderwertigen‘ machte.3 In einer Gesellschaft, in der Menschen davon ausgehen, dass die Gesetze ihrer Wirtschaftsform aus der menschlichen Natur entspringen, kann

ben aufgrund regional verschiedener Natureinflüsse eine unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklung durchlaufen. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Stoffwechselprozesses mit der Natur, darin formt der Mensch durch Arbeit nicht nur die Natur um, sondern dieser Prozess formt auch ihn und seine Gedanken. Dies beeinflusst dann wiederum die Art, wie er sich vergesellschaftet. Diese teilweise isolierte Entwicklung von Gesellschaften kam aber mit der Etablierung des Weltmarktes, spätestens im 19. Jahrhundert, an sein Ende. Karl Marx beschrieb dies in seinem wohl bekanntesten Werk Manifest der Kommunistischen Partei folgendermaßen: „Die nationale Absonderung und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebens-

weise.“ 4 Von Marx keinesfalls als Kritik an der Gleichmacherei des Liberalismus beabsichtigt, war er davon überzeugt, dass das Proletariat die Gegensätze weiter vermindern könnte. Die ‚eine‘ Menschheit sollte realisiert werden. Im heutigen Antirassismus hofft man dagegen nicht mehr auf diesen Universalismus, sondern erkennt in ihm den zu bekämpfenden Rassismus. Die kulturelle Eigenart der ‚Völker‘, die in Folge von geschichtlichen Zufälligkeiten und der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur entstand, wird unabhängig von deren Inhalt gegen jeden Universalismus verteidigt. Alain ­Finkielkraut zufolge versucht der heutige Antirassismus deshalb, den Rassismus durch ein Denksystem zu bekämpfen, durch das er sich historisch etablierte: „Wie die alten Lobsänger der Rasse halten die gegenwärtigen Fanatiker der kulturellen Identität den einzelnen im Gewahrsam seiner Zugehörigkeit. Wie jene setzen diese die Unterschiede absolut und zerstören im Namen der Mannigfaltigkeit der einzelnen Kausalität jede den Menschen gemeinsame Natur oder Kultur.“ 5 Anmerkungen: 1 Vgl. http://www.jungewelt.de/2012/05-12/001.php, Zugriff 6.6.2012 2 Vgl. Stephan Grigat: Fetisch und Freiheit. Freiburg 2007, S. 307 3 Vgl. ebd., S. 307-308 4 Karl Marx: Manifest der Kommunistischen Partei. Stuttgart 2005, S. 40 5 Vgl. Alain Finkielkraut: Die Niederlage des Denkens, Hamburg 1989, S. 85

03

1-3.indd 3

19.06.12 19:33


internationales

„WE ARE CHANGING SOCIETY, VERY VERY SLOWLY, BUT WE ARE CHANGING IT“

Elena Barta

From a eurocentric perspective, being politically active in the Middle East is seldom connected with LGBTIQ1 activism. Queer groups, their struggles and achievements are not widely known or acknowledged by the European Left. Aswat is one of two groups for LGBTIQ people within the Palestinian community, meaning that Aswat organises queer Palestinians that come from and/or live both in Israel and in the Palestinian territories.2 Unique took the chance to meet with an activist* from Aswat to talk about activism, women’s safe spaces in the LGBTIQ community, sexuality and education.3 What kind of work do you do as Aswat? Aswat is a secular group for queer Palestinian women*, who self-identify as lesbian, bisexual, transsexual, transgender or intersex. We mainly work in three fields: The first is providing a safe and inclusive space, which we create by having meetings with our members. Most of our members are not openly gay, so discussing LGBTIQ topics is quite important. The second one is empowerment. We organise workshops for the women* in our group, from creative writing to soft skills like leadership, etc. The third and very important field of our work is networking and publications. In this field, we work together with other organisations and provide information for our members and the broader public. We also organise workshops through other organizations who host our representatives, and last year, we had the first series of workshops organised by Aswat for activists and service providers. How do you create a safe space for queer women*? What does that mean? First of all, a safe space is about personal security: Nobody knows where we meet or the location of our office. Sadly, this is very important

to our members. Homosexuality is not a topic we talk about in our society. A lot of women* in the group thought that they were the only lesbian Palestinian women* in the world. You may have heard about LGBTIQ people within the Jewish community, but if you try to find information in Arabic on the internet, you will only find negative stuff, quotes from the Bible or the Quran for example. So providing an empowering positive space is very important on an individual level. When I first went to an open evening – well, not entirely open due to security reasons – I had the feeling of finally getting to know people who had gone through similar experiences. Growing up I didn’t know that something besides heterosexuality existed and the whole process of figuring out your sexuality was not easy as a woman* in my so­ciety. Some parents are very strict when it comes to knowing where their daughters are. A lot of girls have a curfew at a certain time, many women* in our society aren’t financially independent until they somehow decide to move out, which is only possible if you have a ,real‘ reason, like studying in a different city. So most of our members find ways to sneak out and lie to their parents to come to our meetings, which means that having seminars for a week, a weekend or even a whole day sometimes means excluding people. Is Aswat the only organisation of its kind in the area? There are two Palestinian queer organisations, there is al-Qaws for Sexual & Gender Diversity in Palestinian Society, which is an open group, and Aswat, which is a women* only group. The name Aswat means “voices”, because it was important for us to raise the voices of women* in the queer community, but we do a lot of projects together. The biggest one so far is our support phone line. It is the first line giving support in Arabic, giving people the chance to talk about queer issues in their own language and helping them to figure out their stuff. We are also in touch with organisations and groups in Lebanon, Syria and Egypt although not all of them are legal, since homosexuality itself is illegal in certain countries. This means we mostly work together online, share work expe-

rience and publications and meet from time to time at seminars abroad. We try to learn from queer organisations around the world, especially when it comes to spreading our ideas. Since we’re Palestinians living under Israeli jurisdiction, fighting to change laws is very far from our reality but campaigning is huge for us. Many schools for example don’t talk about sexuality, and having sex before marriage seems to be something that does not exist. Unfortunately we are not allowed to go to schools and run educational processes there, so we focus a lot on educational processes within our organisation, working with personal experience and making ourselves known. What kind of campaigns do you organise? Campaigning is not always easy. A year ago we wanted to advertise the support phone line in as many places as possible. We paid for a week of advertising on a website, but they took it off after a few hours because they got so many angry calls. So we focus on sticker campaigns and try to go to as many places as possible, like universities, cafes and public areas. We also published a book sharing the individual stories of members, as information helps youn-ger people to feel safe and ok with themselves. An important aspect of what we do is providing information in Arabic, because again, if you are a teenager and try to understand what it is you are feeling, you are constantly surrounded by homophobic comments. A lot of teenagers only know the word gay as in „you are gay means you have been sexually harassed“, so reclaiming words is part of our activism. As the word for gay men in Arabic has such a negative connotation, the LGBTIQ community invented a new word: “mithli” for men* and “mithliyyi” for women*. The word “mithl” stands for “homosexuality” and for “same” as in equal and has no negative connotations.4 The publication and the phone line were huge achievements for us as a group, especially considering that our first meeting ten years ago took place in one of the members’ flats and that the group started as an internet mailing group. Now we are able to celebrate our 10year anniversary with an open conference at this year’s IDAHO5, so we are changing society, very very slowly, but we are changing it.

How do students in your university react to Aswat campaigns or your activism? My university is an open university, with Jewish and Arab people from the entire country.­Homosexuality is sometimes mentioned in courses, but still a lot of students think that nothing exists besides heterosexuality in the Arab society. I’ve met fellow students that claim to have no problems with homosexual Jewish couples, but simply deny the existence of queer people within the Arab community. Personally, studying makes some things easier, but not all of them. I’ve been in Aswat for four years now and in the beginning I had to lie to my parents, tell them that I stayed with a friend to be able to go to the meetings or just be able to meet girlfriends. Because I’m older now and because I spend a lot of my time doing queer activism, things are better now, although my mum still thinks I’m going to a feminist organisation. Being active in Aswat has given me a lot of empowerment. If it weren’t for all the people I’ve met during these years, I would still be struggling in terms of identity but also in terms of myself as a person. Being organised as a lesbian in a queer group makes you feel so much better about yourself. It makes you more courageous and self-confident to deal with the world. Notes: 1 LGBTIQ stands for Lesbian Gay Bisexual Transgender Transsexual Intersexual and Queer. 2 Although Aswat’s main office is located in one city, their meeting places vary from meeting to meeting. Most of them are held either in the North or the South of Israel. 3 The Interview was held during an International Seminar on LGBTIQ Topics in Germany in April 2012. The interview language was English and remains untranslated to keep the original words of the interviewed person. 4 The word for homosexuals therefore is ‚mithli al-jens‘ (jens=sex). The previous word for gay man ‚Luti‘ is connected with the story of Lut in the Bible and with Sodom and Gomorrah where allegedly the people practiced homosexuality, in addition to other evil practices, and got punished for it. Whereas the former word for lesbians ‚Suhaqiyyi‘ refers to lesbian sex itself where certain parts of the female body are ‚pressed‘. 5 IDAHO stands for International Day against Homophobia and takes place on the 17th of May.

04

1-3.indd 4

19.06.12 19:33


internationales

DIE ,FESTUNG EUROPA‘ WIRD AUSGEBAUT Auf der Flucht nach Europa star- das Bauprojekt zu realisieren, das jedoch auch ben 2011 allein im Mittelmeer auch 73% der Griech_innen begrüßen. mindestens 1.500 Menschen. Restriktive Einwanderungsgesetze Illegale Einwanderung als Wahlerschweren den legalen Weg kampfthema massiv. Doch der EU genügt dies Kurz vor der Präsidentenwahl in Frankreich nicht und sie baut die ,Festung nannten Innenminister Claude Guéant und Europa‘ immer weiter aus. Hans-Peter Friedrich, sein deutscher Amtskolle-

I

m Februar 2011 begann der Bau eines Grenzzauns zwischen Griechenland und der Türkei. Im Januar sagte der damalige Minister für ,Bürger_innenschutz‘ Papoutsis: „Jetzt planen wir, einen Zaun zu bauen, um die illegale Migration abzuwehren.“ Menschen, die fliehen, weil ihr Leben massiv bedroht ist, werden selbst als Bedrohung dargestellt, die ,abgewehrt‘ werden muss. Diese Sprache prägt unter anderem einen Diskurs, wonach Europa einen Abwehrkampf führen muss, weil es sonst zugrunde geht, d. h. seinen Wohlstand verliert. Deutschland und Österreich waren unter den sieben Ländern, die auf Griechenland den größten Druck ausübten,

ge, das Ziel, Grenzkontrollen an den SchengenGrenzen für 30 Tage wieder zu ermöglichen. Dies ist mit dem Vorwurf an Griechenland und Italien verbunden, diese würden ihre Grenzen gegen illegale Einwander_innen nicht schützen. Begründet wird dies mit der vermeintlichen Bedrohung der ,nationalen Sicherheit‘. Johanna Mikl-Leitner schloss sich diesem Vorwurf an. Derweil mühte sich die griechische Regierung, ihren Wähler_innen zu demonstrieren, dass sie sehr wohl den ,Kampf ‘ gegen illegale Einwander_innen aufgenommen hat. Die Polizei kontrollierte in Athen jede Person, die sie nach ihrer optischen Beurteilung als potenzielle illegale Einwanderin erachtete. Wenn sie keine gültigen Papiere hatte, wurde

sie festgenommen und später mit einer 30-tägigen Duldung entlassen. Danach wurde sie abgeschoben. Der damals im Amt währende sozialistische Minister für ,Bürger_innenschutz‘, Michalis Chrysochoidis, versuchte damit, auf Kosten der Flüchtlinge einem zunehmend rassistischen Diskurs zu entsprechen, um so der rechtsextremen Partei Goldene Morgenröte das Wasser abzugraben. Diese geht noch weiter und fordert, dass die Landesgrenze zur Türkei „gegen Menschen“ vermint werde.

Eine Privatagentur ,schützt‘ Europa Nicht nur Grenzschützer_innen aus Griechenland kontrollieren die Grenze zur Türkei, sondern auch Mitarbeiter_innen der EU-Grenzagentur Frontex. Abschiebungen gehören zu deren Hauptaufgabenfeldern. ,Bewährt‘ hat sie sich neben ihrem Einsatz in Griechenland bereits auf der Insel Lampedusa. Am 3. Juni 2009 organisierte die Agentur eine Sammelabschiebung am Flughafen Wien-Schwechat. Im Herbst 2011 gestand das EU-Parlament Frontex

Julian Bruns

noch mehr Befugnisse zu. Nun dürfen auch eigene Fahrzeuge, Hubschrauber etc. angeschafft werden. Dabei kommt es bereits jetzt immer wieder zu Verletzungen der Menschenrechte durch Frontex-Mitarbeiter_innen: Flüchtlingen wird auf See kein Wasser gegeben; ihnen wird gedroht, ihr Boot zu versenken, falls sie nicht umkehren; sie werden beschossen, wenn sie versuchen, den griechischen Grenzfluss Evros zu überqueren. Geplant ist, demnächst neue technische Hilfsmittel wie Drohnen und elektronische Schleusen einzuführen. Die Industrie verspricht sich davon lukrative Aufträge und die EU möchte sich als Global Player für ,Sicherheitstechnologie‘ etablieren. Dass dabei Menschen sterben und Menschenrechte permanent verletzt werden, spielt nur eine untergeordnete Rolle. Am 7. Juni 2012 beschlossen die EU-Innenmister_innen, dass künftig wieder Grenzkontrollen im Schengenraum für bis zu zwei Jahre möglich sein sollen. Die Kritik seitens des EU-Parlaments an dem Beschluss richtet sich v.  a. gegen die Einschränkung der Reisefreiheit der Europäer_innen. Die Konsequenzen für die Flüchtlinge werden kaum erwähnt.

TRANSGENDER ODER HIJRA?

VERSCHIEDENE AUFFASSUNGEN SEXUELLER IDENTITÄTEN IN INDIEN Verena Rechberger

Dass durch einen Aufenthalt in Indien gesellschaftspolitische Fragen aufgeworfen werden, war mir bereits vor meinem Reiseantritt klar. So enthielt bereits der Visumsantrag neben den Kategorien Mann bzw. Frau ein Kästchen für die Kategorie Transgender. Zum Verständnis von Transgender in Indien klärte mich Mandar auf. Mandar lebt bei seiner Familie in Pune (Indien), studiert Philosophie und identifiziert sich selbst als Transgendermann.

A

ber in Indien ist alles ein wenig anders. So sind mit Transgender die bereits in den indischen Mythen des Ramayana bzw. Mathabaratha erwähnten Hijra gemeint. Dennoch handelt es sich bei Hijra um eine Subgruppe von Transgender, nämlich ausschließlich Male to Female. Hijras sind Personen, welche als physiologische Männer oder Intersexuelle geboren wurden und von ihrer Familie entweder verstoßen wurden oder geflohen sind. Sie selbst identifizieren sich als drittes Geschlecht, Transgender, transsexuelle Frauen, weibliche Männer oder Androgyne. Manche Hijras lassen sich durch ein ‚Entmannungsritual‘ ihre männlichen Geschlechtsteile entfernen. Dieses Ritual ist im Vergleich zu den Kosten einer medizinisch durchgeführten, operativen

Geschlechtsumwandlung auch für sozioökonomisch benachteiligte Personen leistbar. Zahlreiche Hijra-Communities sind im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu angesiedelt, wo sie jedes Jahr Ende April / Anfang Mai zu Ehren ihrer hinduistischen Gottheit Aravan ein 18-tägiges Fest feiern. Wie viele Transgender-Personen weltweit erfahren Hijras eine extreme Diskriminierung in Sachen Gesundheit, Wohnen, Bildung, Arbeit, Gesetz und allen anderen Bereichen, in denen die Bürokratie durch die Unfähigkeit der Zuteilung von Hijras in entweder weibliche oder männliche Kategorien versagt. Für die geschätzten 30.000 Transgender-Personen des Bundesstaates Tamil Nadu wurde jedoch im April 2008 das weltweit erste welfare board eingerichtet, wodurch zumindest das Überleben gesichert werden soll. Aufgrund ihrer enormen Diskriminierung sind das Segnen von Neugeborenen (Nordindien), Betteln und Prostitution ihre wichtigsten Einkommensquellen. Nicht selten sind sie dabei auch Vergewaltigungen ausgesetzt. Personen, die sich als Transgendermänner (Female to Male) identifizieren, werden im Gegensatz dazu häufig als ‚westliche Idee‘ verworfen. Gleichzeitig aber wird Female to Male CrossDressing als Modeerscheinung aus dem Westen akzeptiert. So hat Mandar mit seinem Eintritt in die Militärschule die hüftlangen Haare zu einem Kurzhaarschnitt gestutzt und den Sari gegen Jeans und Hemden gewechselt. Zu der Situation von Transmännern in Indien meint er:

„Good and bad, as some things are not seen as a problem. For example wearing so called masculine clothes. And female sexuality overall is still not much talked about by masses. Being a biological female, some things are fine. But yes, when you want to come out, things may get worse. Specifically family issues. And there still being a lack of strong external support system (NGOs), it’s all too difficult.“ Seine Eltern waren die ersten Personen, bei denen er sich geoutet hat. Nachdem diese ihn zuerst belächelten, gerieten sie in Rage. Wegen der Diagnose ‚gender identity crisis‘ wurde er schließlich zu zwei unterschiedlichen Psychiatern in Behandlung geschickt. Mittlerweile wird das Thema in der Familie totgeschwiegen. „I’m not out to everybody. I got to know the term [transgender] for the first time, when I was in 11th grade, through psychology books. I mentioned it in my diary writings. I have recently found the diaries. I first tried to come out to my parents. And I also accepted the terminology ‚gender identity crisis‘ in the beginning.“ Gemeinsam mit einigen anderen Transgendermännern versucht er, eine erste Supportgruppe in Pune einzurichten. Denn als Transgendermann fühlt er sich in mehrfacher Hinsicht als eine Minderheit innerhalb der Minderheit und in einschlägigen Supportgruppen 1 der LGBT -Communities unterrepräsentiert. „Initally, there was a question as to where should I enter? But as I am having my own

philosophical and sexual reform now, I don’t mind entering any group who accepts transpeople – whatever majority it has of.“ Durch die Vernetzung mit den Supportgruppen in der naheliegenden Großstadt Mumbai (Bombay) soll eine psychologische, soziale und auch finanzielle Unterstützung ermöglicht werden. Und diese gegenseitige Unterstützung wird dringend benötigt, um bestehende Ängste und Unsicherheiten zu teilen. „I am afraid of being raped by a man. Not for all the social drama it has attached to, but that’s something really insulting to my heterosexual trans-identity.[…] I am not afraid of public and religious attacks and all that. I won’t mind running for my life. I don’t consider myself a warrior. So, I am not pressurized from within. And being a transgender is just a part of my life – a color of me. Besides, there are many roles that I have taken up.“ Anmerkung: 1 Lesbian/Gay/Bisexual/Transgender Quellen: Trans Realities: A Legal Needs Assessment of San Francisco’s Transgender Communities, Shannon Minter and Christopher Daley. Ramaswami Mahalingam: Essentialism, Culture, and Beliefs About Gender Among the Aravanis of Tamil Nadu, India. Sex Roles, Vol. 49, Nos. 9/10, November 2003 www.thehindu.com/2008/05/05/stories/20080505 60090700.htm

05

1-3.indd 5

19.06.12 19:33


internationales

VIELFACHKRISE IN EUROPA Hanna Lichtenberger Kaum ein Tag vergeht ohne Meldungen über die Wirtschafts-, EU- und EURO-Krise in den Medien. Vor Kurzem erschien ein Sammelband mit dem Titel Die EU in der Krise – Zwischen autoritärem Etatismus und europäischem Frühling der Assoziation kritischer Gesellschaftswissenschaft, der sich aktuellen Krisenprozessen widmet. Ausgangspunkt ist Alex Demirovićs Zeitdiagnose der Vielfachkrise, die neben der Überakkumulationskrise des Kapitalismus auch andere Gesellschaftsbereiche als krisenhaft beschreibt (etwa die Reproduktions-/ökologische Krise). Der Sammelband widmet sich verschiedenen Momenten der multiplen Krise. In den ersten beiden Beiträgen liegt der Fokus auf den polit-ökonomischen Krisenprozessen und Aspekten der Krisenbearbeitung. Die Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa versucht, Hegemonieprojekte herauszuarbeiten, die eine neue europäische Integrationsweise ermöglichen sollen. Lukas Oberndorfer zeichnet gekonnt nach, wie neoliberale Austeritätspolitik im Projekt der European Economic Governance auf Dauer gestellt wird. Mit Nicos Poulantzas Konzept des Autoritären Etatismus resümiert er, dass sich auf europäischer Ebene in der gegenwärtigen Krise das Verhältnis von Konsens auf Zwang verschiebt. Die EU-Sparpolitik wird nicht konsensual, sondern ohne Einbindung breiter gesellschaftlicher Gruppen durchgesetzt. Darüber hinaus widmet sich der Band dem „Schengen-Regime“ (Kasparek/Tsianos), den Protestbewegungen in Spanien (Cuevas), der Frage von Lobbyismus (Eberhardt) wie auch einer post-kolonialen Perspektive auf Europa (Krämer) und der räumlichen Dimension der Krise (Wolff). Wer einen spannenden Einblick in aktuelle sozialwissenschaftliche Forschung zu den Facetten der Vielfachkrise bekommen möchte, der_dem ist der Band wärmstens als Sommerlektüre zu empfehlen. Forschungsgruppe <Staatsprojekt Europa> (Hg.) (2012): Die EU in der Krise. Zwischen autoritärem Etatismus und europäischem Frühling. Münster: Westfälisches Dampfboot. 16,40 EUR.

KAIRO 678 Mohamed Diabs Regiedebüt ­Kairo 678 zeichnet das Bild der traurigen Realität von Frauen in der ägyptischen Gesellschaft. Im Film lässt er seine weiblichen Hauptfiguren dagegen rebellieren.

D

as Setting ist Kairo kurz vor dem Sturz von Hosni Mubarak. Fayza, Angestellte in einem staatlichen Büro, ist auf den überfüllten Bus angewiesen, da ein Taxi auf Dauer zu teuer wäre. Die Linie, die sie täglich nutzt, ist die 678. In dieser wird sie regelmäßig begrapscht, doch die Täter kommen immer ungestraft davon. Seba, eine Galeristin, wird nach dem Besuch eines Fußballspiels mit ihrem Ehemann von einer Horde Männer weggezerrt und vergewaltigt. Nelly, die sich in der Stand-up-Comedy behaupten will und nebenbei in einem Call-Center arbeitet, wird zuerst von einem Autofahrer angemacht, der sie dann gewalttätig wegschleift. Jede Einzelne von ihnen setzt sich auf unterschiedliche Weise zur Wehr. Fayza, indem sie den Tätern in den Unterleib sticht; Seba bildet eine Frauen-Selbsthilfegruppe und Nelly versucht es auf dem rechtlichen Weg – sie klagt den Täter an. Dass sich Frauen zur Wehr setzen, ist in Ägypten keine gern gesehene Sache. Sexuelle Übergriffe an Frauen sind noch immer ein Tabuthema, obwohl sie täglich stattfinden. Im Film ist Nelly die erste Frau überhaupt, deretwegen ein Prozessfall wegen sexueller Belästigung läuft. In Wirklichkeit sind wenige Fälle,

Soma Mohammad Assad

wie der von Lara Logan, bekannt. Die US-Journalistin wurde während einer Berichterstattung über die Freude der ÄgypterInnen wegen Mubaraks Rücktritt im Februar 2011 am Tahrir-Platz von einer Masse Männer von ihrem Kamerateam abgedrängt und sexuell belästigt. Nellys Schritt, den Täter anzuklagen, erregt öffentliche Aufmerksamkeit. Sie wird zu einer Talkshow eingeladen und muss feststellen, dass kaum jemand hinter ihr steht. Ein Zuseher beschuldigt sie, den Übergriff selbst provoziert zu haben. Er behauptet, es gäbe sonst keine sexuellen Übergriffe und wirft ihr vor, dass sie mit dieser Anklage dem Ansehen Ägyptens schade. An dieser Szene zeigt sich die verquere Logik des islamisch-konservativen Bürgers. Der Täter wird überhaupt nicht erwähnt, da automatisch von der Schuld der Frau ausgegangen wird. An der Frau haftet nicht nur die Ehre der Familie, sondern der ganzen Nation. Was der Sexualtäter getan hat, sei schandhaft, aber was sie tut – darüber zu reden – sei noch schandhafter. Doch eine hat Nelly mit ihrem Schritt erreicht: Fayza. Sie ruft während der Sendung unter falschem Namen an, um sie zu unterstützen und ihrer Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass jede Frau, so wie Nelly, Anklage erheben kann. „I didn’t do anything strange. That’s what I should have done.“ Eine Szene, die ausdrücken soll, dass Rechtsschutz und Anspruch der Opfer darauf, besonders im Fall von sexueller Belästigung, in der ägyptischen Gesellschaft nicht akzeptiert sind. Dies liegt nicht nur an der damaligen Mubarak-Diktatur, sondern auch daran, dass nach wie vor das islamische Recht, die

Scharia, maßgeblich ist. Nicht willkürliches Handeln soll durch dieses limitiert, sondern die Loyalität zu Gott gewahrt werden; das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist somit, falls es doch existiert, nachrangig.

Gegengewalt Die individuellen Grenzen müssen also persönlich ausgehandelt werden. Deshalb reagiert Fayza, aus Selbstschutz, mit Brutalität – wie es die Täter tun: sie sticht ihnen in die Genitalien. Wie ihre Belästiger mit Gewalt zu antworten, scheint die einzig wirksame Methode zu sein. Eine Zeit lang wirkt diese gewalttätige Alternative erfolgsversprechend. Die Männer halten sich in den Bussen von den Frauen fern und Nelly überlegt, aufgrund des familiären wie gesellschaftlichen Drucks die Anklage fallen zu lassen. In dieser Situation trifft sie auf Seba, die sie unterstützen möchte. Die drei Frauen, geeint durch die erfahrene Gewalt, entschließen sich, gemeinsam gegen Belästiger vorzugehen. Das feministische Trio wirkt etwas märchenhaft, doch durch die Überzeichnung der Realität kann ihr Tun als durchaus realistische Handlungsaufforderung an das Publikum verstanden werden. Durch dieses vom Regisseur verwendete Stilmittel des magischen Realismus wird der Wirklichkeitsbezug greifbar.

Quer zur Wirklichkeit Dass der Film über die Grenzen der Wirklichkeit hinaus weist, zeigt die Rechtslage in

Ägypten. Nach wie vor gibt es kein Gesetz, das sexuelle Übergriffe kriminalisiert. Es gibt Plattformen wie harrasmap.org, denen Frauen anonym ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung melden können, was jedoch nur von wenigen genutzt wird. Die Scham, darüber zu reden, ist zu groß. Dies drückt sich auch in der Figur von Fayza aus. In einer scheinbar ausweglosen Situation identifiziert sie sich aus der Ohnmacht heraus mit dem Täter. Vor der Prozessszene noch treffen sich die drei Frauen, und Fayza gibt Seba und Nelly die Schuld, dass Frauen belästigt werden, weil sie sich zu reizend kleiden und vorehelichen Sex haben würden. Die Protagonistinnen wirken nun nicht mehr einseitig als widerspruchslose Opfer. Die Szene zeigt, wie sich die rigide Moral übergeschlechtlich reproduziert. Am eindrucksvollsten ist, dass der Regisseur auf eine authentische Weise die allgemeine Situation der Frauen, unter Berücksichtigung der sozialen Unterschiede, darstellt. Jedoch werden die Motivationen der männlichen Figuren und wie sie zu Tätern werden, nur grob umrissen. Und der islamische Charakter der Gesellschaft, der die Auslebung individueller Lust so weit wie möglich verhindert, wird nur angedeutet. Gegenwärtig ist die unmittelbarste Möglichkeit, dem Umstand, dass die Täter ungestraft davon kommen, entgegenzuwirken, die rechtliche – also bürgerliche – Gleichstellung aller Geschlechter. Kairo 678 (2010), 100 min., Regie: Mohamed Diab. Ab­ September 2012 auf DVD erhältlich.

06

1-3.indd 6

19.06.12 19:33


internationales

BLECHAS ALGERIEN

Vor 50 Jahren erlangte Algerien die Unabhängigkeit von Frankreich. Prominente österreichische Sozialdemokraten waren aktiv daran beteiligt.

V

or 50 Jahren wurde das Abkommen von Évian unterzeichnet. Frankreich und die algerische Front de Libération National (FLN) beendeten damit den achtjährigen Kolonial- und Unabhängigkeitskrieg, dem über 150.000 Algerier und Algerierinnen und etwa 25.000 Franzosen und Französinnen zum Opfer gefallen waren. Dem Waffenstillstand von Évian folgte im Juli 1962 die formale Unabhängigkeitserklärung Algeriens. Der keineswegs nur von französischer Seite mit extremer Grausamkeit geführte algerische Unabhängigkeitskrieg war in den 1950er- und 1960erJahren ein zentraler Bezugspunkt für die europäische Linke. Die Erfahrungen der FLN wurden von Generationen von Linken studiert; die Methoden aus der ‚Schlacht um Algier‘ fanden international Eingang in die Handbücher der counterinsurgency; und Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde avancierte zum Klassiker. Der Historiker Marcel van der Linden hat darauf hingewiesen, dass die europäische Solidaritätsbewegung mit der FLN der erste Versuch war, „die Möglichkeiten und Grenzen der politischen Kooperation von Linken und Muslimen auszuloten.“ Maßgeblich daran beteiligt waren Mitglieder der SPÖ. Schon in der Nachkriegszeit war in Österreich eine Fluchthilfeorganisation für oftmals noch jugendliche Fremdenlegionäre entstanden, die sich an den französischen

Stephan Grigat

Kolonialkriegen nicht mehr beteiligen wollten. Daraus entstand in den 1950er-Jahren eine Gruppe, die nicht nur publizistisch in die Diskussion über Algerien intervenierte, sondern mit Spendensammlungen, Botendiensten, Solidaritätsreisen und einem Deserteurshilfswerk für Soldaten der französischen Armee praktische Unterstützung für die FLN organisierte. Mit Erwin Lanc und Karl Blecha waren spätere Außen- und Innenminister der sozialdemokratischen Reformregierungen der 1970er- und 1980er-Jahre unmittelbar in die oftmals am Rande der Legalität angesiedelten Aktionen involviert. Mit Bruno Kreisky und Rudolf Kirchschläger unterstützten der spätere Kanzler und der spätere Bundespräsident die Hilfe für die FLN.

Nazis & die FLN Der rechte Flügel der SPÖ agitierte gegen eine blinde Unterstützung des islamisch geprägten Panarabismus und verwies auf die historische Kooperation dieser Kräfte mit dem Nationalsozialismus, die sich in Form von Waffenlieferungen ehemaliger SS-Führer an die FLN bis in die Gegenwart fortsetze. Der Historiker Fritz Keller beschreibt in seiner Studie Gelebter Internationalismus die Begeisterung ehemaliger Nazis für die gegen Frankreich gerichtete Politik der FLN und zitiert einen linken Algerienreisenden des Jahres 1964, der seine Eindrücke lapidar so zusammenfasste: „Für den Sozialismus sind hier alle. Für Hitler auch.“ Am Beginn der Algeriensolidarität in Österreich stand die Kooperation mit der Jami’at al Islam, deren Hauptaufgabe darin bestand, sich für die 3.000 islamischen

Nazikollaborateure aus Zentralasien und dem Balkan einzusetzen, die sich in Österreich aufhielten. Zentrale Figur der Jami’at al Islam und Mittelsmann zu den linken Algerienaktivisten war Smail Balic, der während des Zweiten Weltkriegs pronazistische Schriften veröffentlicht und die Bestrebungen von Amin al-Husseini, dem wüst antisemitischen Mufti von Jerusalem, bei der Aufstellung bosnischer SS-Divisionen unterstützt hatte.

„Trägerrakete des Antiim­­ perialismus“­ Während in der BRD schon während des Unabhängigkeitskrieges militärische Exzesse des Antikolonialismus und grausame Bestrafungsaktionen in den Reihen der FLN zumindest thematisiert wurden, fand Vergleichbares in Österreich kaum statt. In Frankreich setzte sich Claude Lanzmann, der Regisseur von Shoah und langjähriger Herausgeber der von JeanPaul Sartre und Simone de Beauvoir gegründeten Zeitschrift Les Temps Modernes, anfänglich leidenschaftlich für die algerische Unabhängigkeit ein, beteiligte sich an Protesten gegen die Massaker der französischen Kolonialmacht und traf die Führer der FLN, stellte aber recht bald ernüchtert fest: „Ich hatte geglaubt, man könnte gleichzeitig für die Unabhängigkeit Algeriens und die Existenz des Staates Israel sein. Ich hatte mich getäuscht.“ Chronisten der österreichischen Aktivitäten konstatieren heute eine große Naivität von Blecha & Co, die jede irgendwie nach Sozialismus klingende Verlautbarung der FLN begierig aufgegriffen hätten,

während sie sich für die erzreaktionäre Politik des algerischen Antikolonialismus, die rigide gegen Café-Besuche, Missachtung des Ramadan und Alkoholkonsum vorging, kaum interessierten. Von Karl Blecha ist bis heute kein kritisches Wort zur vorbehaltlosen Unterstützung der FLN zu vernehmen. Der ehemalige Innenminister bezieht sich im Vorwort zur erwähnten Studie von Keller auf Otto Bauer, der verkündet hatte, die „antikolonialistische Revolution“ würde „durch ihren unausbleiblichen Erfolg vor allem die Bewegung der demokratischen Sozialisten stärken – und das weltweit.“ Blecha, der Ausbildungslager des militärischen Flügels der FLN besucht hat, scheint das auch heute noch zu glauben. Er bezeichnet die Algerien-Solidarität als „eine Trägerrakete des Antiimperialismus“, behauptet und bedauert aber, dass sie „in Österreich keine nachhaltige Wirkung hatte.“ Dem kann man getrost widersprechen: Kreiskys Hofierung der PLO, als sie noch offen zur Vernichtung Israels aufrief, hat ebenso in der linken Algeriensolidarität der 1950er- und 1960er-Jahre ihre Grundlegung erfahren wie das Verhalten gegenüber dem Iran unter Khomeini, dem genau jener Erwin Lanc als erster westlicher Außenminister 1984 seine Aufwartung machte, der rund 20 Jahre vorher in die Unterstützung der FLN involviert war. Diese unkritische Haltung gegenüber islamischen Bewegungen findet ihren Nachhall noch in der Gegenwart, beispielsweise wenn mit Thomas Nowotny Kreiskys ehemaliger Sekretär im Kanzleramt fordert, doch endlich die radikalislamistische Hamas als Gesprächspartnerin anzuerkennen.

07

1-3.indd 7

19.06.12 19:33


feuilleton THEORIE/LESUNG/INFORMATION ** Jeden 1. Dienstag im Monat, ab 20:00 Uhr: Prekär Café – Veranstaltungen zur Auseinandersetzung mit dem Thema Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen. In der W23 (1010, Wipplingerstraße 23) www.prekaer.at/

** Mittwoch, 20. Juni, 19:00 Uhr: FLASHMOB? Podiumsgespräch. Donnerstag, 21. und Freitag, 22. Juni, 14:00 bis 18:00 Uhr: Ausgewählt Flashmobclips & Statements. In der Medienwerkstatt (1070, Neubaugasse 40a) www.medienwerkstatt-wien.at/

** Mittwoch, 20. Juni, 19:00 Uhr: Hypeout für Burnout? Feminismen diskutieren. Mit Katharina Prinzenstein, freie feministische Wissenschafterin. Im Depot (1070, Breite Gasse 3) www.depot.or.at/

AKTIONEN ** Jeden 3. Freitag im Monat, 16:30 Uhr: CRITICAL MASS – der Frühling ist da und Rad fahren ist ökologisch, leise, lebenswert, platzsparend, lustig, ökonomisch, sexy und engagiert! Treffpunkt: Schwarzenbergplatz, pünktlich ;) www.criticalmass.at/ ** Mittwoch, 4. Juli/8. August/5. September, 17:00 Uhr: Ideen sammeln mit dem Kulturreferat. Freuen uns auf dein Kommen und mitgestalten! Infos: kultur@oeh.univie.ac.at Im ÖH Uni Wien Kulturreferat (1090, Spitalgasse 2/Hof 1) ** Jeden Donnerstag, ab 16:00 Uhr: ReparierBAR – Werkstatt offen ab 16:00 Uhr, Essen und geselliges Beisammensein ab 20:00 Uhr In der Bikekitchen (1150, Goldschlagstr. 8) www.bikekitchen.net/

ESSEN ** Jeden Montag und Donnerstag, 16:00 20:00 Uhr: Café & Vokü (Volxküche = gemeinsames Kochen und Essen für alle) In der Schenke (1080, Pfeilgasse 33) www.umsonstladen.at/ ** Jeden Mittwoch, 15:00 Uhr: Veganer Eltern/Kinder Treff. Im Kindercafé Lolligo (1010, Fischerstiege 4-8) www.lolligo.net/ ** Jeden Donnerstag, ab 20:00 Uhr: VOKÜ in der „Subversiven Kantine“ – gemeinsam mit PolitDiskuBeisl (Vorträge, Filme, Diskussionen) Im EKH (1100, Wielandgasse 2–4) www.med-user.net/~ekh ** Jeden Freitag, 9:00– 17:00 Uhr: WUK-Wochenmarkt – Lebensmittel, Pflanzen, Samen, Erde – kontrolliert biologisch, regional, nachhaltig, engagiert einkaufen.biologisch, regional & nachhaltig einkaufen. Im WUK Hof (1090, Währingerstraße 59) www.wuk.at/ ** Jeden 1. Sonntag im Monat, ab 14:00 Uhr: Weiberfrühstück! Mit leckerem veganem Buffet gegen Staat, Patriarchat und (Hetero-)Sexismus. Im EKH (1100, Wielandgasse 2–4) med-user.net/~ekh ** Jeden 3. Sonntag im Monat, Kochen ab 17:00 Uhr, Essen ab 20:00 Uhr: FoodcoopVokü – Auseinandersetzung mit Lebensmittelversorgung bei gutem Essen, offen für alle! Im uoqbon (1150, Geibelgasse 23) uoqbon.obda.net

** Jeden Dienstag, ab 20:00 Uhr: Fohlen-flitzen: die offene STUTHE-Impro – einfach vorbeikommen! Mehr Infos auf http://www.stuthe.com/ page.php?id=49 Im Initiativen-Raum des WUK (1090, Währingerstraße 59) www.wuk.at/ ** Jeden 1. Mittwoch im Monat, 15:00–17:00 Uhr: Fahrrad-Flohmarkt und Selbsthilfe-Werkstatt. Nächste Termine: 4. Juli und 1. August. Im WUK-Hof (1090, Währingerstraße 59)

www.wuk.at/

MUSIK & FEIERN

** Freitag, 22. Juni, 18:00 Uhr: Vortrag: IWW – Jimmy John’s Workers Union. Infos: auf der Amerling-HP. Im Amerlinghaus (1070, Stiftgasse 8) www.amerlinghaus.at/

** Montag, 25. Juni, 19:00 Uhr: Gespräch und Diskussion: Wohnen – Soziale Arbeit – Sozialpolitik. Wohnen als sozialpolitische Herausforderung. Im Depot (1070, Breite Gasse 3) www.depot.or.at/

FILM/THEATER/PERFORMANCE ** 21. Juni bis 23. Juni, 14:00 bis 22:00 Uhr: Fragile Zone. Räume der Performance, des Genusses, der Beobachtung, Reflexion & Ruhe werden zu Schauplätzen theatraler Handlungen & Happenings. In der Schule des Theaters (1070, Hermanngasse 31) ** Dienstag, 26. Juni, 20:30 Uhr: Auftritt der offenen Improvisationstheatergruppe der Stuthe („Flexgruppe“). Eintritt: freie Spende. Im Initiativenraum im WUK (1090, Währingerstraße 59) www.wuk.at/

** 29. Juni bis 22. Juli, täglich 21:30 Uhr: KINO UNTER STERNEN. Eintritt frei. Infos: www.kinountersternen.at/ Am Karlsplatz/ Resselpark ** 5. Juli bis 23. August, täglich 21:30 Uhr: Viennale wie noch nie – Kino im Grünen Wiens. Infos: www.kinowienochnie.at/. Im Augarten (1020, Obere Augartenst. 1) ** 3., 4., 10., 11. August: VOLXkino im Gschwandner. Weitere Infos im Internet folgen. Im Gschwandner (1170, Geblerg. 38–40) www.gschwandner.at/

TERMINE!

** Jeden 2. Samstag im Monat, ab 19:00 Uhr: 1bm Freestylesession – An der improvisierten Darbietung rythmischer Texte erfreuen + beteiligen. Im Einbaumöbel (1090, Gürtelbogen 97) www.1bm.at/

** Jeden 1. Sonntag im Monat, ab 19:00 Uhr (gemeinsam kochen ab 16:00 Uhr): TÜWIs JAMSESSION. Im Tüwi (1190, Peter-Jordan-Straße 76) tuewi.action.at/

** Mittwoch 27. Juni 2012, 20:00 Uhr: Que[e]r goes holiday goes Saisonabschlusspart. Zeitig kommen, Preise abräumen, Bowle trinken, Dancefloor shaken. In der W23 (1010, Wipplingerstraße 23) wipplinger.blogspot.com/

** Mittwoch, 20. Juni, ab 17:00 Uhr: Party: „10 Jahre WUK faktor.i“ Im Werkzeug H (1050, Schönbrunnerstraße 61)

** Mittwoch, 4. bis Sonntag 8. Juli: HAUS & HOFFEST! Fall out ball (bring your falloutfit). schnaps making, welding, climbing and stealing and/or scavenging workshops included. Im EKH (1100, Wielandgasse 2–4) www.med-user.net/~ekh/

** Samstag, 23. Juni, 23:00 Uhr: KLUB SIR3NE „Zahl Was Du Willst“ SPECIAL @ Fluc Wanne. Im Fluc (1020, Praterstern 5)

** Donnerstag, 5. bis Samstag, 7. Juli: Urban Art Forms Festival. Schwarzlsee, Unterpremstätten/Graz. www.urbanartforms.com/

** Freitag, 22. Juni 2012, 23.00 Uhr: Bretterbodendisko. Eintritt: 3€. Nächster Termin: 22. Juni (Einstimmung auf durchtanzte Sommernächte inklusive) Foyer, Bar im Künstlerhaus (1010, Karlsplatz 5a) www.brut-wien.at/ ** Mittwoch, 27. Juni, ab 21:00 Uhr: Songwriters Night als künstlerische Plattform. Eintritt: freie Spende. Im Cafe Concerto (1160, Lerchenfelder Gürtel 53) www.cafeconcerto.at/ ** 26. bis 28. Juli: Drittes Popfest. Eintritt frei. Infos: www.popfest.at/ Latenightparty in der brut. Am Karlsplatz www.brut-wien.at/

TREFFPUNKTE ** Bis 1. Juli: * EM SAUNA – schwimmen schauen tanzen. In der Pratersauna (1020, Waldsteingartenstraße) * Fußball im Schikaneder: Live-Übertragung mit Gewinnspiel. Im Schikaneder (1040, Margaretenstraße 24) * public viewing in der Bunkerei: (1020, Obere Augartenstraße 1a) ** Einmal im Monat: Die Thewi lädt alle Frauen, Lesben, Transgender- und Intersex- Personen zum *Frauenraum. Im Bagru-Thewi-Raum (1080, Berggasse 11) www.thewi.at/ ** Montag bis Freitag, 10:00 bis 18:00 Uhr; Samstag bis 15:00 Uhr: Belesen sein in der ersten feministischen Buchhandlung. ChickLit (1010, Kleeblattgasse 7) www.chicklit.at/

** Jeden Montag und Donnerstag, 16:00– 20:00 Uhr: Kostnixladen, Café, Anarchistische Bibliothek & Archiv, Theoriebüro. In der Schenke (1080, Pfeilgasse 33) www.umsonstladen.at/

** Jeden Donnerstag, ab 20:00 Uhr: Politdiskubeisl Im EKH (1100, Wielandgasse 2-4) www.med-user.net/~ekh

** Jeden Montag, 13:00–19:00 Uhr und Freitag, 15:00–23:00 Uhr: Baekerei. Café, Barbetrieb, Plena, Diskussionen. Textilwerkstätte & Veranstaltungsbereich geplant. Im Baekerei (1150, Tannengasse 1 / Ecke Felberstraße 30) www.dasbackerei.at/

** Jeden Donnerstag, ab 20:00 Uhr: Subversives Freiräumchen zum Abschalten und Revolutionen planen mit Stil – links, subversiv, mit Flirtfaktor. In der Rosa Lila Villa, 1. Stock (1060, Linke Wienzeile 102) www.villa.at/

** Jeden Mittwoch und Freitag, 17:00 bis 20:00 Uhr: Die Biliothek – von unten. Infos: www.bibliothek-vonunten.org/ read – resist – rebel – revolt In der W23 (1010, Wipplingerstraße 23) wipplinger.blogspot.com/

** Jeden 1. Donnerstag im Monat, 20:00 Uhr: Volxlesung – mensch kann lesen, singen, rappen, stricken oder einfach nur zuhören, pausen werden angenehm beschallt. Im Einbaumöbel (1090, Gürtelbogen) www.1bm.at/

** Jeden 3. Mittwoch im Monat: FRAME_in: Screeing queer-feministischer, do-it-yourself, low-budget Dokumentarfilme. Eintritt frei, freie Spende. Im Schikander (1040, Margaretenstraße 24) www.schikander.at/ ** Zweiwöchentlich am Freitag, 16:00 Uhr: Kinderkino. Infos: auf der Homepage. Im Lolligo Kindercafé (1010, Fischerstiege 4-8) www.lolligo.net/

AUSSTELLUNGEN ** Bis 22. Juli, täglich 00:00–24:00 Uhr: Kunst im öffentlichen Raum: STREET ART PASSAGE VIENNA, Übergang zwischen Breite Gasse und MQ Areal. Eintritt frei. ** Bis 12. August, täglich 10:00–18:00 Uhr (außer Mo.): Besetzt! Kampf um Freiräume seit den 70ern. Im Wien Museum Karlsplatz (1040, Karlsplatz 8) www.wienmuseum.at/ ** Bis 2. September, täglich 10:00 bis 19:00 Uhr: TECHNOSENSUAL. Elektronische Textilien und tragbare Technologien internationaler DesignerInnen. Eintritt frei. Im quartier21 (1070, Museumsplatz 1) www.quartier21.at/ ** Bis 2. September: „Schmatz Mampf Schlürf“ – Mitmachausstellung für Kinder, weil essen schön & lustvoll ist. Im Zoom-Kindermuseum (1070, Museumsplatz 1) www.kindermuseum.at/ ** Bis 28. Februar 2013: Schaufenster – Ulrike Lienbacher. Kartenhaus (Fotoarbeit): Irritation und Endlosigkeit im öffentlichen Raum. Bei der Kunsthalle Wien (1070, Museumsplatz 1)

** Jeden Donnerstag und Freitag, 18:00– 24:00 Uhr: Baröffnungszeiten des Frauencafé Wien! Im Frauencafé (1080, Lange Gasse 11) www.frauencafé.com/ ** Jeden Freitag 16:00–19:00 Uhr: Kindercafé – offen für alle! Im Kindercafé Lolligo (1010, Fischerstiege 4-8) www.lolligo.net/ ** Jeden Samstag, ab 20:00 Uhr: SilentBar Freie Preise, selber denken! Im PerpetuuMobile 2.3 (1150, Geibelgasse 23) kukuma.blogsport.eu/

08

1-3.indd 8

19.06.12 19:33


feuilleton

Asphalt & Neonlicht

E. G.

... DER GROSSE TEST: BIST DU EIN RAVEKID? Heute Abend gibt es die Party! All deine FreundInnen werden hinschauen, eine_r deiner LieblingsDJs legt auf und laut Facebook-Zusage wird auch der_die Typ_in vorbeischauen, den_die du sooo toll findest … Mach den Test, rechne deine Punkte zusammen und finde heraus, ob du auf eine lange Technonacht vorbereitet bist!

OPFER AM PRANGER

Ako Pire

Seit 1970 haben Millionen von denen die deutsche Polizei zumindest dieses Menschen am Montagmorgen Mal das Handwerk legen konnte. Praktisch jede ein Gesprächsthema: Tatort – Folge war eine 90minütige Geisterbahn durch eine der ältesten Sendungen kleinspießbürgerliche Ideologeme. der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Österreichs und Tatort Gesellschaft Deutschlands. Spätestens seit Demgegenüber stellte Tatort einen Fortschritt der Persiflage in Walulis sieht dar. Höhepunkt dieser Entwicklung war der fern1 wissen auch jene, die Sonn- Duisburger Tatortkommissar Schimanski. In tagabend etwas Besseres zu tun Der Pott (1989) kämpft er Seite an Seite mit streihaben, um die oftmals sehr frag- kenden ArbeiterInnen gegen die Schließung eiStahlwerkes und klärt nebenbei einen Mord würdigen Drehbücher, die extrem nes auf. Die Folge beginnt mit einem vorgelesenen platten Charakterzeichnungen Zitat aus dem Spiegel, wonach die Einrichtung wie auch um die eher maue Dra- von Sonderpolizeiverbänden zur Verwendung maturgie Bescheid. durch große Konzerne geplant sei. Sie zeigt in Dabei war Tatort eine der TV-Neuerungen der 1970er-Jahre und löste die langjährige Krimiserie Stahlnetz ab. In dieser waren Gangster abgrundtief böse, wahlweise Halbstarke, die auch sonst die Sitten der guten Gesellschaft ablehnten und die bundesrepublikanische Jugend verdarben. Oder die Bösen waren kosmopolitisch daherkommende Bürgerliche ohne jede Moral,

9 bis 12 Punkte: Du bist das ultimative Party-Animal! Gut ausgestattet bist du überall dabei. Du weißt, wo die angesagtesten Raves stattfinden und niemand ist je verlegen, dich zu fragen, wo es weitergeht und ob du ihm_ihr noch ein bisschen Zauberpulver für den Endspurt borgst. Aber pass auf dich auf: du wirst schnell merken, wer wahre Freund_innen sind, wenn du einmal eine Pause einlegst!

6. Wie oft gehst du fort? A) Eigentlich bin ich immer fort: Donnerstag warmtrinken, Freitag bis Montag raven und danach schlafe ich zwei Tage lang. B) Einmal am Wochenende, manchmal aber auch nur alle zwei Wochen. C) So gut wie nie. Eigentlich nur zu besonderen Anlässen oder um Leuten einen Gefallen zu tun.

5 bis 8 Punkte: Job und Party unter einen Hut zu bringen ist für dich kein Problem. Du bist ein_e alte_r Techno-Häsin_Hase, aber kennst deine Grenzen ganz genau. Ein-, zweimal im Jahr feierst du so riiichtig ausgelassen, sonst schaust du auf dich. Auf Partys kannst du allerdings oft nicht mehr mitreden, da du die Community kaum mehr kennst und auch nicht weißt, was dieses „Porto Pollo“ ist, von dem alle reden.

3. Welche Substanzen sind in deiner Tasche? A) Natürlich nichts! An meinen Körper kommen nur Bier und Wasser. B) Bisschen was zum Kiffen, vielleicht schnorr ich mir vor Ort eine Line Speed. C) Ich war grad noch bei meinem_meiner Dealer_in: Feinstes MDMA und so eine absurde ­Research-Substanz …

5. Wie geht es nach der Party weiter? A) Äh… nach der Party? Ich hoffe doch, das liegt in weiter Zukunft, ich habe mir bis Dienstag nichts vorgenommen! B) Spätestens um 6 Uhr früh will ich im Bett liegen. C) Afterhour zu zweit!

nur halb

0 bis 5 Punkte: Irgendwie haben Partys einen gewissen Reiz auf dich, aber du merkst es auch: das ist nicht dein Ding. Die Rituale des Feierns sind dir fremd und ehrlich gesagt interessierst du dich mehr fürs Beobachten als fürs Ausprobieren. Darum kannst du vom Wochenende auch selten etwas anderes erzählen als das was die Anderen erlebt haben. Aber Hey, lass dich doch einfach mal gehen und scheiß auf alles, was Mutti dir einst verboten hat!

2. Welche Accessoires dürfen nicht fehlen? A) Meine riiiiiesige Sonnenbrille. Die trage ich drinnen und draußen! B) Ich muss nichts weiter mitnehmen. Schlüssel, Geldbörse, Handy, Tschick, das war’s. C) Natürlich trage ich meine Sennheiser-Kopfhörer, sollen ja alle gleich sehen, dass ich Musikfreak bin!

4. Mit wem gehst du zur Party? A) Ich treffe mich vorher mit meiner Wochenend-Clique zum Vorglühen, danach ziehen wir gemeinsam weiter! B) Alleine, denn ich kenn dort eh alle! C) Mit meinem Boyfriend/Girlfriend.

Auswertung: Frage 1: A: 1 // B: 2 // C: 1 Frage 2: A: 2 // B: 0 // C: 2 Frage 3: A: 0 // B: 1 // C: 2 Frage 4: A: 1 // B: 2 // C: 0 Frage 5: A: 2 // B: 0 // C: 1 Frage 6: A: 2 // B: 1 // C: 0

1. Was ziehst du an? A) Schwarz – wie immer! B) Ich habe mir was Hippes bei Donautracht/ OMGITM/… bestellt und werde es heute erstmalig ausführen! C) Ich geh gleich von der Arbeit aus hin, keine Zeit zum Umziehen.

ArbeiterInnenbewegungspathos eine Allianz aus Staat, Geheimdiensten und Gewerkschaftsbürokratie, die die Werksschließung gegen den Widerstand der Bevölkerung durchzusetzen versucht. Dabei wird nicht mit starken Bildern gespart, z. B. als migrantische und weiße Frauen sich eine Schlägerei mit der Bereitschaftspolizei hinter der deutschen Hecke liefern, die Kommissar Schimanski dann zugunsten der Nichtuniformierten beendet.

Der Niedergang der ArbeiterInnenbewegung macht sich aber auch im zivilgesellschaftlichen Terrain Tatort bemerkbar, wenngleich die ideologische Funktion, die bei Stahlnetz prekär wurde, weiterhin problemlos ausgefüllt wird. In Tatort werden gesellschaftliche Debatten aufgegriffen und in das Krimiformat verpackt. Mi­gration, Sterbehilfe, Sozialkürzungen – sogar die Ausrichtung schwäbischer Familienunternehmen an den Shareholder Values wurde schon zur Folie für das sonntägliche Morden. Vor allem bei kontroversen und ‚privaten‘ Themen gilt: Der/die TäterIn ist das strukturellste Opfer. Der ‚Behinderte‘, die brave Tochter etc. Das schreibt ihre Positionen einerseits auf einen Opferstatus fest, ohne dabei tatsächliche TäterInnen zu benennen. Die Täterin ist eine unstrukturierte Gesellschaft ohne konkrete AkteurInnen. Gleichzeitig wird jede mögliche Identifikation mit dem/der ‚TäterIn‘ unterbunden. Die ‚einfühlsame‘ Polizei in diesem Zusammenhang gehört wohl zu den bedeutendsten Neuerungen gegenüber Stahlnetz. Passiert der Mord dagegen im großen Milieu, kann man sich auf die Polizei verlassen: Mit voller Härte wird gegen skrupellose UnternehmerInnen, die sich nicht nur einem Mord, sondern gar der Gier

schuldig gemacht haben, ermittelt – auch wenn der Chef vom Chef vom Chef Druck macht, riskieren die TatortkommissarInnen ihre Karrie2 ren . Strukturelle Ursachen verschwinden dabei vollkommen, stattdessen wird reduziert auf den Kampf ‚gute Polizei‘ gegen ‚böse UnternehmerInnen‘ oder aber ‚überforderte Polizei‘ gegen irgendwie eh alle, die Schuld sind, dass die Opfer sich an der sie peinigenden Gesellschaft rächen. Beiden gemein ist, dass der repressive Charakter der Polizei, der sich eben nicht gegen alle, sondern gegen Bestimmte richtet, vollkommen unter den Schreibtisch fällt, wovon nicht zuletzt die dargestellte völlige Ignoranz gegenüber bürgerlichen Freiheiten zeugt. Anmerkungen: 1 Entweder: www.youtube.com/watch?v=9QENcN-srE0 oder siehe Youtube „Der typische Tatort in 123 ­Sekunden“ 2 Alternativ beliebt im Kontext der ‚größeren‘ (‚organisierten‘) Kriminalität (aber nicht nur dort), ist das Eindringen der Bösewichte in das Privatleben der KommissarInnen. Ein Thema, dass z. B. die deutsche Polizeigewerkschaft regelmäßig gegen die namentliche Kennzeichnung ihrer Mitglieder auf Demonstrationen ins Feld führt.

09

1-3.indd 9

19.06.12 19:33


gesellschaft

WE‘RE NOT BAD PEOPLE, WE JUST COME FROM A BAD PLACE Fridolin Mallmann Der New Yorker Brandon erfüllt eigentlich alle Aufnahmebedingungen für den Club der liberalen Glücksversprechungen. Gutaussehend und materiell gesichert zieht er durch die Straßen New Yorks von einem sexuellen Stelldichein zum nächsten. Aber in seinen Eskapaden schwingt eine Dissonanz mit. Eskapaden, die frei jeglicher Erotik, frei von sinnlichem Begehren sind. Selbst die lustvolle Spannung, welche zwischen Brandon und den Objekten seiner Begierde aufscheint, ist bloßes Mittel, die erwünschte Triebabfuhr herzustellen. Der zur Sucht verkommene Sexus bedient sich erotischer Verführungskünste einzig noch, um das nutzbar zu machen, was der Nutzbarkeit enthoben sein sollte. Sinnlichkeit, sei diese nun alleine oder gemeinsam in der Liebe erfahren, scheint kaum mehr möglich, wird zunehmend zu einer verblassenden Erinnerung an eine Zeit, als die alles durchdringende Kälte noch nicht in den deutschen Vernichtungslagern zur Lebensdoktrin erhoben wurde. Erinnerung an eine Zeit also, in der es noch Hoffnung gab. Hoffnung, dass es erst nie soweit kommen würde, dass das Individuum gegen die selbstgeschaffene Ökonomie und Ideologie obsiegen würde. Nun aber, wo selbst die letzten Spuren dieser Hoffnung zu verschwinden drohen, scheint das Subjekt nur noch schwerlich fähig, die Wege aus der eigenen Misere zu entdecken. Es steht vor einer Welt, der es nichts mehr zu sagen hat, die zu empfinden es genauso wenig befähigt scheint, wie sie zu begreifen. Brandon findet in der reduzierten Form des eigenen Körpers, der ganz auf die Natur entsprungene Mechanik zusammengeschrumpft scheint, den letzten Rückzugsraum. Ein symptomatisches Refugium, das durch die absolute Willkür und Lustlosigkeit seiner selbst vor dem Tod bereits kapituliert, die Auflösung des Individuums zu Gunsten des Nichts antizipiert. Shame (2011), 101 min., Regie: Steve McQueen. Seit April auf DVD erhältlich.

FUSSBALL UND DISKRIMINIERUNG Die Fantribüne ist genauso wenig unpolitisch wie das Handeln von Verbänden und Vereinen. Manche haben dies erkannt und unternehmen, wenngleich innerhalb der Logik des kommerzialisierten Fußballs, etwas gegen Diskriminierungen, andere nicht.

D

ass Fußball keine Erlebniswelt losgelöst von gesellschaftlichen Tendenzen ist, ist eine so banale Erkenntnis, dass sie eigentlich kaum der Rede wert scheint. Die Frage scheint nur zu sein, wie verschiedene Vereine, Verbände und Fangruppen damit umgehen. Beim Österreichischen Fußballbund (ÖFB) ist diese banale Erkenntnis aber bis heute nicht angekommen. Das kritische Fußballmagazin 90 Minuten veröffentlichte vor kurzem einen Bericht, in dem Bilder eines Schiedsrichter_innenseminars des ÖFB gezeigt werden, auf denen offizielle (!) Folien mit sexistischen Witzchen in bester Ma1 rio-Barth-Qualität zu sehen sind. Die einzige Schiedsrichterin verließ das Seminar und reichte auch wenig später ihren Rücktritt ein. Dass beim ÖFB weder Problembewusstsein noch

Handlungsbedarf in irgendeinem Bereich, der sich mit Diskriminierungen auseinandersetzt, besteht, ist hinlänglich bekannt und wenig verwunderlich. Der Deutsche Fußballbund (DFB) ist auch nicht als Speerspitze eines linken, nicht-kommerziellen Fußballs zu bezeichnen, initiiert aber immerhin beachtliche Initiativen gegen Homophobie, Sexismus, Rassismus und Antiziganismus. Diese widersprechen natürlich nicht den Logiken des kommerzialisierten Fußballs und schon gar nicht des soften PartyNationalismus, der während der WM 2006 entstanden und dem Konstrukt von Nationalteams 2 immanent ist. Dieser Nationalismus zementierte erst recht wieder misogyne und homophobe Männlichkeitsvorstellungen.

Rechte und linke Fans Im Vereinsfußball sollte es mehr Freiräume geben, um antidiskriminierende Initiativen zu setzen. In der Bundesliga tut sich da recht wenig. Im Gegenteil: Während offen rechtsextreme Gruppierungen für eine Zeit aus dem Stadion verschwunden waren, kriechen sie jetzt wieder, ohne große Gegenwehr des Vereins, zurück. Das zeigt sich am deutlichsten bei den Unsterblichen der Austria Wien. Auch bei anderen Verei-

Natascha Strobl

nen sind vor allem homophobe ‚Fan‘gesänge an der Tagesordnung. In Deutschland regt sich bei einigen Fangruppierungen Widerstand gegen Homophobie. In Mainz wurde das fünfjährige Bestehen des queeren Fanclubs Meenzelmänner mit einer riesigen Choreographie vom ganzen Stadion gefeiert.3 Als im Spiel Borussia Dortmund gegen Werder Bremen im März 2012 die Dortmunder Fangruppe Desperados ein homophobes Plakat präsentierte, reagierten die Werder Fans, indem sie selbst „Schwuler, schwuler SVW“ sangen und so zeigten, dass sie Homophobie verurteilen.4 Das bedeutet nicht, dass alles eitel Sonnenschein ist, aber diese Schlaglichter zeigen, dass sich etwas tut. Dezidiert linke Vereine und deren Fanclubs arbeiten vor allem auch in unteren Ligen schon lange an einer antikapitalistischen, antisexistischen, antihomophoben und prinzipiell antidiskriminierenden Aneignung des Fußballs. Dazu zählen Vereine wie der FC St. Pauli, der Wiener Sportklub oder der AS Livorno und deren Fans. Beim FC St. Pauli engagieren sich Verein und Fans im Aktionsbündnis gegen Homophobie und Sexismus Sankt Pauli. Die FreundInnen der Friedhofstribüne sind der Fanclub des Wiener Sportclubs. Sie veranstalten den Ute Bock Cup und engagieren sich gegen

Homophobie, Sexismus und Diskriminierung. Dass deren Aktionen und Inhalte nun auch von anderen übernommen werden, ist durchaus als Erfolg zu bezeichnen. Anmerkungen: 1 Siehe:http://90minuten.at/index.php/90minutenfuss­ball/25-oebundesliga/73156-kochen-putzen-schieds­richterinnen-beim-oefb [07.06.2012] 2 Hier die Folien einer Ring-Vorlesung von Ulrich Brand und Georg Spitaler zum Thema Party-Nationalismus und Fußball: http://evakreisky.at/2008/rvo08/8.4.. pdf [07.06.2012] 3 Hier zu sehen: http://www.queerfootballfanclubs. org/index.php?id=137&tx_ttnews[tt_news]=58&cHa sh=3206418de50fdc3d15659ddf67da139b 4 Die ganze Geschichte sowie die scharfe Distanzierung des BVB gibt es hier nachzulesen: http://fuss ballvonlinks.blogsport.de/2012/03/19/meine-fressedortmund/ [07.06.2012] Weiterführende Literatur: Ronny Blaschke – Angriff von Rechtsaußen: Wie Neonazis den Fußball missbrauchen. Verlag Die Werkstatt (2011). Kritische Fußballmagazine/Initiativen: Ballesterer, 11 Freunde, www.fußballvonlinks.tk/, www.queerfootballfanclubs.de/

10

1-3.indd 10

19.06.12 19:33


gesellschaft

„AUSCHWITZ UND RAVENSBRÜCK WERDEN IMMER PRÄSENT SEIN“ Claudia Aurednik

Die Kinder von KZ-Häftlingen sind von den Traumata ihrer Eltern geprägt. Die Lagergemeinschaft Ravensbrück/ Freundeskreis e. V. hat zu dieser Thematik das Buch Kinder von KZ-Häftlingen – eine vergessene Generation herausgegeben.

M

eine Mutter geriet in Panik, als bei uns daheim einmal ein Sonntagsbraten angebrannt war. Der Geruch erinnerte an den Gestank des Krematoriums in Ravensbrück“, erzählt Rosel Vadehra-Jonas in Erinnerung an ihre Mutter, die als kommunistische Widerstandskämpferin verfolgt und im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück interniert war. Der in Israel geborene Joram Bejarano ist der Sohn von Esther Bejarano, eine der letzten Überlebenden des Mädchenorchesters von Auschwitz. Die traumatischen Erlebnisse seiner Mutter waren Joram lange unbekannt: „Erst als meine Mutter Anfang der 80er Jahre begann, sich darüber öffentlich zu äußern, haben wir dann Details gehört – vorher gar nichts oder nur wenig. Es war schon klar, dass sie im KZ war und dass die Angehörigen ermordet wurden.“ Rosel Vadehra-Jonas und Joram Bejarano sind beide als Kinder von KZ-Häftlingen im damaligen Westdeutschland aufgewachsen.

festgestellt. Denn Rosels und Jorams Eltern waren durch ihre Zeit als Opfer des NS-Terrors im KZ traumatisiert. Nahezu alle ehemaligen KZHäftlinge leiden bis an ihr Lebensende an dem ,Überlebenden-Syndrom‘, das in der Psychologie auch als ,Holocaust-Syndrom‘ oder ,KZSyndrom‘ bezeichnet wird. Es umfasst einen Komplex von psychischen und körperlichen Spätfolgen auf die Extrembedingungen im Konzentrationslager. Neben den Misshandlungen, den Torturen, der systematischen Folter und dem psychischen Extremstress kamen bei einigen auch die Folgen der an ihnen durchgeführten medizinischen Experimente hinzu. Im zunehmenden Alter kehren bei den ehemaligen KZ-Häftlingen die Erinnerungen wieder zurück. Rosel Vadehra-Jonas war langjährige Vorsitzende der Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis und erinnert sich an die letzten Tage ihrer Mutter: „Es war für mich sehr schmerzlich zu sehen, dass sie auf dem Sterbebett die Verfolgung von Neuem erlebte. Wenige Tage, bevor sie einem Krebsleiden erlag, schrie sie mich unter dem Einfluss von Schmerzmitteln an: ‚Hol die Gestapo, ich unterschreibe das Protokoll!‘“

west- und ostdeutschen sowie österreichischen Nachkriegsbevölkerung. Roma und Sinti wurden als Opfer des NS-Regimes jahrzehntelang ignoriert. Eine gezielte intensive psychologische und medizinische Betreuung bekamen die KZ-Überlebenden in den Nachkriegsjahren nicht. „Wie sollten die Eltern das Erlebte ertragen? Es gab keine Psychologen, die sich um sie kümmerten. Also wurde das Erlebte innerhalb der Familie zum allgegenwärtigen Thema. Die gesundheitlichen Folgen für die Eltern wurden immer sichtbarer“, erzählt Josef Pröll, der heute u. a. auch Referent der KZ-Gedenkstätte Dachau ist. In Josef Prölls Familie waren beide Elternteile als politische Häftlinge in verschiedenen Lagern interniert. Der Großvater mütterlicherseits wurde im KZ Dachau ermordet, zwei seiner Onkel kamen ebenso im KZ ums Leben. Er reflektiert darüber: „Das Naziregime hat nicht nur meine Ursprungsfamilie und damit in erster Linie meine Eltern vollkommen verändert. Lange Zeit nach 1945 waren wir ‚KZler‘. Von Behörden wurde Mutter lange wie eine Vorbestrafte behandelt. Wegen ‚Vorbereitung zum Hochverrat‘ war sie im Frauengefängnis Aichach und im KZ Moringen.“

Ablehnung durch die Nachkriegsgesellschaft

Rückkehr zur Kindheitserinnerung

Die KZ-Überlebenden und deren Kinder wurden nach 1945 mit den nationalsozialistischen Lebenslanges Leiden unter dem Kontinuitäten innerhalb von Politik und Gesellschaft konfrontiert. Die Mehrheitsgesell‚KZ-Syndrom‘ schaft reagierte auf sie ablehnend und ignoDass ihre Eltern anders als die Eltern ihrer Klas- rant. Jüdische Überlebende litten unter dem senkollegInnen waren, haben sie bereits als Kinder­ nach wie vor grassierenden Antisemitismus der

Von der Mehrheitsgesellschaft unverstanden und im Bewusstsein, dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus nicht gewollt war, gründeten die KZ-Überlebenden nach ihrer Befreiung Zusammenschlüsse wie das Internationale Auschwitz-Komitee oder die Lagergemeinschaft Ravensbrück & FreundInnen.

Die Komitees und Zusammenschlüsse waren und sind für die Überlebenden und ihre Angehörigen ein wichtiger Halt und ein wichtiger Ort des gegenseitigen Verständnisses. Die Slowakin Eva Bäckerova lebte ab 1942 mit ihrer jüdischen Familie im Versteck und wurde 1944 gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer dreijährigen Schwester nach Ravensbrück verschleppt. Der Vater kam im KZ Ebensee ums Leben, die Schwester im KZ Ravensbrück. Eva Bäckerova ist 1993 Mitbegründerin der Organisation The Hidden Child, die vor drei Jahren in eine europäische Assoziation jüdischer Kinder, die den Holocaust überlebten, umgewandelt wurde. Während der Gründungsphase hat sie zum ersten Mal über ihr Überleben gesprochen: „Das Allerwichtigste jedoch war, dass wir nach vielen Jahren in unsere Kindheitserinnerungen zurückkehrten und beginnen konnten, über das zu sprechen, das wir so lange Jahre verborgen hatten, wovon wir nicht sprechen konnten, weil diese Traumata aus der Kindheit – physische und auch psychische – tief in unserem Unterbewusstsein saßen und wir sie von dort nicht hervorholen wollten […] Heute haben die meisten von uns keine Probleme damit, die Ereignisse auszusprechen und über sie zu sprechen, nicht nur untereinander, sondern auch in Gemeinschaft mit Nichtjuden, Gespräche mit Schülern und Studenten in Schulen zu führen, in Funk und Fernsehen aufzutreten. Wir sind offener geworden, freier.“ Literatur: Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e.  V. (Hg.): Kinder von KZ-Häftlingen – eine vergessene Generation. Münster: Unrast 2011.

11

1-3.indd 11

19.06.12 19:33


gesellschaft

SEXUALERZIEHUNG ZWISCHEN STRICKNADELN UND COLA-SPÜLUNGEN Seit mittlerweile fünf Jahren erzählt das Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch (MUVS) die Geschichte der weiblichen Fruchtbarkeit und ihrer Bekämpfung. Über ein Museum der etwas anderen Art.

sich mit dem Schwangerschaftsabbruch und dem langwierigen Kampf um dessen Legalisierung. Ein ‚fliehendes‘ Piktogramm symbolisiert den Einfluss und das Interesse verschiedenster Institutionen am Körper und der Fruchtbarkeit der Frauen. „Wer fehlt hier?“, fragt Pichler in die Runde. Schweigen. „Die Frau selbst. Ihre Interessen sind die einzigen, die nicht wahrgenommen werden.“ Verwunderung. Dass unter Kaiserin Maria Theresias Constitutio Criminalis ontagmorgen, 09:00 Uhr: Die erste Schul- Frauen, die eine illegale Abtreibung durchfühklasse des Tages versammelt sich im vor- ren ließen, gemeinsam mit ihren Helfer_innen deren der beiden Ausstellungsräume – Ver- den ‚Tod durch das Schwert‘ erfahren mussten hütung lautet die erste Station. Gerade gegen und erst 1945 die letzte Frau wegen einer gesetEnde des Sommersemesters ist das Museum zeswidrigen Abtreibung hingerichtet wurde, vollends ausgebucht. Es dient als eine will- hören viele zum ersten Mal. Auch, dass bis in kommene Abwechslung für Lehrer_innen, die 1970er-Jahre Gefängnis für sie und die soum ihren Aufklärungsunterricht zu variieren. genannten ‚Engelmacher_innen‘ an der TagesZwischen den beleuchteten Boxen, die diver- ordnung stand, können sich die durchschnittse Verhütungsmethoden des letzten Jahrhun- lich 15-jährigen heute nicht mehr vorstellen. derts ausstellen, ist reges Getuschel zu hören. Bis zur Errungenschaft der Fristenregelung Anna Pichler, eine Mitarbeiter_in des Mu- 1975, die Schwangerschaftsabbrüche unter geseums, stellt sich vor und beginnt die Reise wissen Bedingungen straffrei stellte, wurden von den Anfängen der Verhütungsmethoden diese meist auf Küchentischen in Hinter- oder zur heutigen Lage. Verwunderung, Entsetzen Esszimmern durchgeführt. Tausende Frauen und Staunen begleiten fortan den Vormittag. sind dabei durch Fehler während des EingrifNeben historischen Fakten und amüsant wir- fes gestorben, qualvollen Schmerzen waren kenden Anekdoten über Versuche, beispiels- sie alle ausgesetzt. Abbildungen von Frauenweise mit Coca-Cola-Scheidenspülungen eine körpern mit in die Gebärmutter eingeführten Schwangerschaft zu verhindern, werden die Stricknadeln – eine der häufigsten Methoden, Schüler_innen über aktuelle Verhütungsme- um die Fruchtblase aufzustechen – verdeutlithoden aufgeklärt und zu Safer Sex ermutigt. chen den grausamen Umgang mit unfreiwillig Nach anfänglichem Gekicher beginnen die Ju- schwanger gewordenen Frauen und lassen ihre gendlichen, sich bald mit ihrer eigenen Sexu- verzweifelte Situation erahnen. Zum Ende der alität auseinanderzusetzen und stellen sehr zweistündigen Sexualaufklärung ist das Inteoffen interessierte Fragen, die in der Schule resse geweckt. Viele wollen bleiben, um sich vielleicht so gar nicht möglich gewesen wären. noch weiter umzusehen. Auch die am Empfang Beantwortet werden sie alle. ausliegenden Petitionen für gratis Verhütungsmittel und Schwangerschaftsabbruch auf Krankenschein werden nach dem Besuch von fast Von Engelmacher_innen und allen Schüler_innen mit voller Überzeugung Küchentischen unterschrieben. Einige wollen sogar Formulare Nach etwa einer Stunde wechseln wir in den zwei- mitnehmen, um sie von ihren Schulkolleg_inten Raum. Dieser Teil des Museums ­beschäftigt­­ nen unterschreiben zu lassen.

M

Zwischen Anerkennung und Ablehnung Seit fünf Jahren werden Schulklassen wie diese der Schwangerschaftsprävention im MUVS angenähert. Seither befindet sich das Museumsteam auf einem Balanceakt zwischen Anerkennung und Ablehnung. Von Beginn an wurde das weltweit einzigartige Museum vielfach ausgezeichnet. „Die Museumsfachleute sind ganz hin und weg, dass es uns so bewundernswert gelungen ist, Menschen zu erreichen“, erzählt Christian Fiala, Gründer des Museums und Gynäkologe. Trotz des Ansturms sind beispielsweise Steuererleichterungen bei Spenden (wie sie als Anreizsystem bei vielen anderen Museen in Österreich existieren) nicht genehmigt worden. „Das Bildungsministerium hat uns eigentlich schon anerkannt, aber Molterer, damals Finanzminister, hat das – aufgrund von Protesten aus fundamentalistisch religiösen Kreisen – unterbunden“, sagt Fiala. Von ähnlichen Problemen mit radikalen Abtreibungsgegner_innen erzählt Pichler während ihrer Führung den Schüler_innen: „Wir werden von religiösen Fundamentalisten und Fundamentalistinnen als Tötungsmuseum bezeichnet.“ Noch immer können Abtreibungsgegner_innen fast problemlos Frauen, die die im selben Haus liegende Abtreibungsklinik aufsuchen, oder Menschen, die das Museum besuchen, auf ihrem Weg beschimpfen und angreifen. Seit Jahren geforderte Schutzzonen werden von den Regierungsbeteiligten nicht umgesetzt. „Es ist ein Zeichen der Frauenfeindlichkeit dieser Republik, das Frauen in dieser Krisensituation nicht geschützt werden, sondern Freiwild für irgendwelche religiösen Fundamentalisten und Fundamentalistinnen werden“, meint Fiala dazu.

Zu den Anfängen Als 2007 das Verhütungsmuseum im 15. Wiener Gemeindebezirk eröffnet wurde, war das

Oona Kroisleitner

vorrangige Ziel klar: „Menschen zu helfen, dass sie sich besser in ihrer Sexualität schützen können“, so Fiala, „viele Paare verhüten nicht, obwohl sie wüssten, wie sie es könnten und dass sie es sollten. Das ist so ein modernes Paradoxon – es ist eine Frage des Bewusstseins.“ Die Frage, wie (junge) Erwachsene nun an das Thema heranzuführen sind, war die schwierigere: „Wir konnten kein Museum über die neuesten Verhütungsmethoden machen. Da kommt ja niemand, weil alle glauben, dass sie sich bestens auskennen“, erinnert er sich. Darum wurde das Thema einfach von der entgegengesetzten Seite aufgerollt und ein Museum über die ältesten Methoden der Verhütung wurde geschaffen. „Da braucht niemand ein Problem haben, sich einzugestehen, dass man sich nicht auskennt – wer hat denn schon mal ein Fischblasenkondom in der Hand gehabt?“ Dass ebendiese Erzählungen über die prekäre Situation von Frauen vor Einführung der Fristenregelung und ihrem Kampf zur Selbstbestimmung über ihre eigenen Körper heute noch immer wichtig sind, zeigt sich nicht zuletzt in den aktuellen frauenfeindlichen Forderungen nach Abtreibungsverboten – wie sie eben erst in der Türkei oder im amerikanischen Vorwahlkampf aufkamen. Sie sind essentiell für die Bewusstseinsbildung, dass es eben keine Selbstverständlichkeit ist, über den eigenen Körper selbst bestimmen zu können. „[Weil] die Jüngeren kaum eine Vorstellung davon haben, was sich Frauen vor gar nicht so langer Zeit alles erkämpfen mussten, ist es wichtig, dass sie es erfahren. Dieses Wissen kann vielleicht noch einmal entscheidend für sie sein.“ (Johanna Dohnal) Infos: Adresse: Mariahilfer Gürtel 37 / 1. Stock, 1150 Wien Öffnungszeiten: Mi bis So 14:00– 18:00 Uhr http://de.muvs.org/ Audioführung telefonisch abrufbar: 0043-1-23630000 (Verhütung) 0043-1-23630001 (Abbruch)

ÖSTERREICHISCHE KELLER ... // Außenminister Darabos bezeichnete in einem Interview mit der Presse den israelischen Außenminister Liebermann als „unerträglich“. Zudem kritisierte er, Israel würde „Außenfeinde“ wie den Iran in den Vordergrund stellen, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Die Drohungen Israels an den Iran seien „entbehrlich“ und der Iran nicht soweit, dass er eine Bombe bauen könne. Schön, wenn das Weltbild so einfach ist! // Während diverse Meinungsmacher darum bemüht sind, Antisemitismusvorwürfe gegen Darabos herunterzuspielen, schweigt sich die österreichische Öffentlich-

keit bezüglich der Todesfatwa gegen den ExilIraner, Regimekritiker und Rapper Shahin Najafi beharrlich aus. Michael Köhlmeiers Aufruf, „die Worte zu finden“ verhallt im Leeren. // Die erzkatholische Internetplattform gloria.tv rief zu einer Gegenkundgebung gegen die „Parade der Nacktheit“, wie sie die Regenbogenparade bezeichnen, auf, deren TeilnehmerInnen bekanntlich für die „Schamlosigkeit und Pervertierung von Sexualität“ demonstrieren. Gut, dass sie für uns beten! // Auf eine Anfrage von Albert Steinhauser, Justizsprecher der Grünen, zu wie vielen Verurteilungen gleichgeschlecht-

licher Beziehungen es nach dem § 207b StGB seit 2006 gekommen ist, verweigerte Justizministerin Beatrix Karl die Auskunft, mit der Begründung, der Aufwand dafür sei ihr zu groß. Hat es denn so viele schwulenfeindliche Verurteilungen gegeben, Trixi? // Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Wiederbetätigung gegen einen Lokalpolitiker der FPK, der als Jurist in der Opferfürsorge für Opfer des Nationalsozialismus tätig war. Nun, Kärnten war wohl schon immer anders. // Auf Initiative von Gerhard Kubik (SPÖ) wird Sexarbeit im Prater bei Tageslicht verboten, was auch die Wirtschafts-

kammer freut, da nun diese „wichtige Freizeitoase“ in der Hauptsaison frei von „Beeinträchtigungen durch die anwesenden Damen“ sei. // Bei einer Umfrage unter JungwählerInnen kommt die FPÖ mit 17% auf Platz eins, die Piraten liegen vor SPÖ und ÖVP. Vielleicht ist es sogar gut, dass ca. 12% nicht wählen würden. // Martin Graf, die Wievielte? Alle Skandale um den FPÖ-Politiker aufzuzählen, würde wohl den Umfang sämtlicher österreichischer Keller sprengen. Der von den Grünen eingebrachte Abwahlantrag gegen den dritten Nationalratspräsidenten scheiterte jedenfalls erneut. // ...

12

1-3.indd 12

19.06.12 19:33


gesellschaft

DER JULIAUFSTAND 1927 Am 15. Juli jährt sich zum 85. Mal das Ereignis, das als Justizpalastbrand in die österreichische Geschichte eingegangen ist. Ein Ereignis von dem Christian Broda1 später sagte: „Der brennende Justizpalast am 15. Juli 1927 ist für mich zum Symbol des Kampfes gegen das Unrecht geworden.“ Unrecht, das seinen Ursprung in einer Auseinandersetzung im Ort Schattendorf, einem Dorf im Burgenland, in dem damals etwas mehr als 2.000 Menschen lebten, nahm. Bei einer Demonstration des Republikanischen Schutz2 bundes kam es zu einem folgenschweren Schusswechsel. Die rechtsextreme Frontkämpfervereinigung hatte eine Versammlung organisiert, was sich die in Schattendorf vorherrschende Sozialdemokratie nicht gefallen lassen wollte. Dementsprechend wurde eine Gegendemonstration organisiert und die Versammlung im Gasthaus Tscharmann gestört. Als die Schutzbundangehörigen abzogen, eröffneten drei Frontkämpfer das Feuer und töteten dabei den Kriegsinvaliden Matthias Csarmits und den achtjährigen Josef Grössing. Das Begräbnis der beiden wurde zu einer Massenkundgebung. Ein mehrstündiger Generalstreik sollte die Solidarität des Proletariats verdeutlichen. Bei einer Kundgebung in Wien warnte der sozialdemokratische Bürgermeister Karl Seitz vor einer zunehmenden Faschisierung der Gesellschaft.

„Ein klares Urteil“ Am Abend des 14. Juli 1927 wurde schließlich das Ergebnis des Geschworenenprozesses verkündet: Die drei Angeklagten wurden in allen Anklagepunkten freigesprochen; eine Nachricht, die sich wie ein Lauffeuer in den Wiener Arbeiter*innenbezirken verbreitete. Erste Demonstrationen gegen das Urteil folgten. Die unterschiedlichen Sichtweisen des Urteils wurden durch die Reaktionen der parteinahen und Partei-Zeitungen deutlich. Während die Arbeiterzeitung3 mit „Die Arbeitermörder frei gesprochen“4 titelte, sprach die christlichsoziale Reichspost von einem „klaren Urteil“. Schon vor

Prozessbeginn schob sie die Verantwortung der Sozialdemokratie zu: „Die ganze Angelegenheit Schattendorf stellt sich als eine von der sozialdemokratischen Leitung zielbewußt herbeigeführte Affäre dar.“ 5 Als Reaktion wurde ein spontaner Generalstreik ausgerufen, ausgelöst durch das Abschalten der Elektrizität durch die Arbeiter*innen der E-Werke, die Telefon- und Telegraphenämter folgten und in vielen Betrieben wurden spontane Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen in die Innenstadt organisiert. Die ersten Arbeiter*innen, die im ersten Bezirk ankamen, waren die der E-Werke. Vor dem Hauptgebäude der Universität Wien kam es dann zu Zusammenstößen. Die Polizei hatte sich auf der Unirampe postiert, hinter ihr versammelten sich Student*innen, die sich über die vorbeiziehende Demonstration lustig machten, woraufhin ein Teil der Demonstration versuchte, die Rampe zu stürmen und dort auf heftige Reaktionen der Polizei stieß. Gleichzeitig wurde ein Demonstrierenden von Magistratsbeamt*innen vor dem Burgtheater von berittener Polizei, mit gezogenen Säbeln, auseinandergetrieben.

Der fliegende Funke Der nächste Demonstrationszug zog von der Oper in Richtung Parlamentsgebäude und wurde in Richtung Schmerlingplatz getrieben. Dort wurden Barrikaden errichtet und mit Steinwürfen auf die Angriffe der Polizei reagiert. Es folgte der erste Einsatz von Schusswaffen durch die Polizei, die Demonstrant*innen wandten sich als Reaktion dem Justizpalast zu, wo eine größere Polizeieinheit postiert war. Diese floh in das Gebäude und schoss von dort in die Menge, die versuchte, in den Justizpalast einzudringen, was ihnen schließlich auch gelang. Akten, Gesetzestexte, Möbel, Kaiserbilder und Ähnliches wurden aus den Fenstern geworfen, angezündet und das gesamte Gebäude fing Feuer. Eine Polizeistation sowie die Redaktion der Reichspost wurden in Brand gesetzt. Die Polizei versuchte weiterhin, die Demonstration aufzulösen; um dies zu erreichen, wurde das Feuer auf die Demonstrant*innen eröffnet. Als Reaktion hierauf wurden zwei Polizeistationen in Hernals angegriffen. Die traurige Bilanz des 15. Juli: 89 tote Demonstrant*innen, fünf tote Polizis-

Laurin Rosenberg

ten sowie hunderte Verletzte. Als Hauptverantwortlicher wurde der Wiener Polizeipräsident Johann Schober ausgemacht. Er hatte die Polizei mit Militärwaffen ausgestattet und den Schießbefehl gegeben, nachdem der von ihm eingeforderte Einsatz des Bundesheeres abgelehnt wurde. Das Herausragende an den Protesten gegen das „Schandurteil“ 6, an denen sich um die 200.000 Menschen beteiligt haben, ist die Tatsache, dass es sich um eine spontane Erhebung des Proletariats handelte. Die sozialdemokratische Parteispitze hatte stattdessen versucht, die Demonstrant*innen zu beschwichtigen und von ihren Taten abzuhalten. Weder die Partei noch die Gewerkschaftsorganisationen hatten die Demonstrationen organisiert, der Protest wurde rein von der Basis getragen. Rosa Jochmann7 fasste die Ereignisse des 15. Juli folgendermaßen zusammen: „Niemand hatte uns aufgefordert, zu demonstrieren, doch traf ich auf der Ringstraße viele Bekannte. Wir marschierten eine ganze Weile schweigend, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Wir fühlten uns eins in unserer Empörung über dieses Unrecht. Wir waren zutiefst in unserem Rechtsempfinden verletzt.“

Reaktion und Debatte Als Reaktion auf die Julirevolte rief die SDAP zu einem Generalstreik auf: „Die ganze österreichische Arbeiterschaft könne und dürfe nicht dulden, daß die Wiener Arbeiter auf der Straße wie Hasen abgeschossen werden. Die Macht der Arbeiterklasse liegt in ihren wirtschaftlichen Kampfmitteln.“ 8 Der Streik selbst blieb aber ohne Folgen. Die sozialistische wie auch die kommunistische Internationale beschlossen Solidaritätserklärungen. Die innerparteiliche Debatte wurde sehr heftig ausgetragen. Der spätere Bundespräsident Karl Renner kritisierte etwa die Demonstrant*innen stark, ganz im Gegensatz zu Max Adler, der die Proteste verteidigte. Er sprach „[…] von der Bereitschaft des Proletariats, für das, was es als recht Recht erkennt, sofort auch mit der Tat einzutreten.“ 9 Es herrschte weitestgehend Einigkeit darüber, dass die Parteiführung hätte schnell reagieren und sich an die Spitze der Proteste setzen müssen. Die For-

derung nach einer Aufarbeitung der Ereignisse wurde im Parlament durch die bürgerliche Mehrheit verhindert. Einer von der Stadt Wien eingesetzten Kommission wurde die Arbeit nahezu verunmöglicht. Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielte der Bundeskanzler Ignaz Seipel, der keine Berührungsängste 10 mit dem Nationalsozialismus hatte. In einer Rede im Nationalrat verteidigte er den Einsatz der Polizei und sprach davon, keine Milde mit den Demonstrant*innen walten zu lassen, was ihm den Beinamen des „Prälaten ohne Milde“ einbrachte. Seit 2007 erinnert eine Gedenktafel im 1928 bis 1931 neu errichteten Justizpalast an die Ereignisse des 15. . Julis: „[…] Die Ereignisse dieser Zeit, die schließlich im Bürgerkrieg des Jahres 1934 mündeten, sollen für alle Zeit ­Mahnung sein.“  Anmerkungen: 1 Broda war im kommunistischen Widerstand gegen Austrofaschismus und Nationalsozialismus aktiv, später wechselte er zur SPÖ, war Justizminister und wurde als solcher vor allem wegen seiner „kalten Amnestie“ von NS-Verbrechen kritisiert. 2 Der Republikanische Schutzbund war eine bewaffnete Organisation der Sozialdemokratischen Arbeiter[sic!]partei (SDAP) und sollte vor allem eigene Veranstaltungen und Demonstrationen sichern. 3 Von Victor Adler 1889 gegründete Parteizeitung der österreichischen Sozialdemokratie, 1991 aus finanziellen Gründen eingestellt. 4 http://www.dasrotewien.at/bilder/d37/AZ_15Juli 1927.pdf 5 zitiert nach Hindels, 15. Juli 1927, 1987 6 http://www.dasrotewien.at/bilder/Kleines_Blatt_ 15Juli1927.pdf 7 Rosa Jochmann war sozialdemokratische Funktionärin, Widerstandskämpferin und später im KZ Ravensbrück interniert. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie u. a. Vorsitzende der SPÖ-Frauen, sowie der sozialistischen Freiheitskämpfer (heute Bund sozialdemokratischer Freiheitskämpfer/innen, Opfer des Faschismus und aktiver Antifaschist/inn/en) 8 zitiert nach Hindels, 15. Juli 1927, 1987 9 zitiert nach Hindels, 15. Juli 1927, 1987 10 Seipel schloss alle antimarxistischen Gruppen zum „Bürgerblock“ zusammen, darunter waren auch nationalsozialistische Gruppen.

13

1-3.indd 13

19.06.12 19:33


politik Einige kontextualisierende Gedanken zu einer aus dem Zusammenhang gerissenen Phrase...........

ÖSTERREICH, DU OPFER!

Im Kampf ums Gedenken artikuliert sich eine sehr gegenwärtige Lebensnot des bürgerlichen Individuums: Seine Sehnsucht nach versichernder Identität in einer Welt kapitalistischer Verwertung, in der aus Prinzip gar nichts sicher ist. Wesentlicher Fixpunkt dieser Sehnsucht ist die Nation. Das hat historische und systematische Gründe. Die Sehnsucht nach nationaler Identität hatte in Deutschland und Österreich lange mit einer Vergangenheit zu kämpfen, die sich nicht so leicht integrieren ließ: mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Schuld- und Erinnerungsabwehr waren die Formen, mit denen doch mit dem nationalen Kollektiv sein Friede gefunden werden konnte. Jede Erinnerung an die Verbrechen des NS musste im Sinne der nationalen Identifikation verdrängt werden. Im Zuge der Europäisierung des Gedenkens wurde der Holocaust zum negativen Gründungsmythos der westlichen Staaten. In den Ländern der TäterInnen gelang es dadurch, einen produktiveren Umgang mit der eigenen Geschichte zu finden und die Grenze zwischen TäterInnen und Opfern zu verwischen, da nun nur mehr vom universalen Leid aller die Rede ist. Die ewige Gegenwart kapitalistischer Verwertungszwänge und die prinzipielle Unsicherheit des Lebens im Kapitalismus haben die Nation als unwillkürliche Projektionsfläche einer festen ursprünglichen Ordnung und Gemeinschaft hervorgebracht, die sich in der Volksgemeinschaft manifestiert. Dieser ideologische Reflex lässt sich einerseits auf der Ebene des Individuums in seiner spezifischen bürgerlichen Verfasstheit und andererseits auf der Ebene des entstehenden Nationalstaats genauer nachzeichen. Die bürgerliche Individuation ist prinzipiell krisenhaft. Formal frei und gleich, also voll verantwortlich, muss sich das bürgerliche Subjekt ständig in neuen Konkurrenzsituationen bewähren, in denen es konkret unfrei ist und bleibt. Die bürgerliche Eigentumsordnung enthält den allermeisten Menschen die Mittel, die sie bräuchten, um ihr eigenes und ihr gemeinschaftliches Leben verantwortlich zu planen und zu entwickeln, systematisch vor. Es herrscht Privateigentu m an Produktionsmitteln und Vereinzelung in der Lohnabhängigkeit. Derart über

konkurrierende Privatarbeiten vermittelt wälzt sich der Gesellschaftsprozess als ganzer von einer Krise zur nächsten, die ökonomischen Dynamiken sind von ihrem Prinzip her so überwältigend wie unkontrollierbar. Nation und nationale Identität kommen ins Spiel, weil die kapitalistische Akkumulation im bürgerlichen Staat territorial organisiert ist. Die grundlegenden Denkformen nationalistischer Ideologie ergeben sich aus den genannten Ohnmachtserfahrungen unter Vergesellschaftungszwängen. Zentral dabei sind Projektionen einer historisch tief verwurzelten kollektiven Identität, einer vorpolitischen Gemeinschaft, die ein ganz bestimmtes Kollektiv umschließt und alle anderen ausschließt. Spezifisch bürgerlich daran ist die unterstellte Gleichheit aller Kinder der Nation, die umgekehrt alle anderen zu fremden, wesentlich verschiedenen Menschen macht. Begründet wurde diese Identität über eine gemeinsame Natur, über gemeinsame Kultur und Geschichte, oft auch über beides in wilder Mischung. Entscheidend ist der ideologische Ertrag: Die Nation wird als vorpolitische Einheit imaginiert, als unverbrüchliche Gemeinschaft, aus der sich Ansprüche auf privilegierten Schutz und Fürsorge ergeben. Das ist gemeint, wenn von Tradition und Heimat die Rede ist. Das Bild einer tiefgründenden nationalen Identität stiftet Sinn und Sicherheit, wo religiöse Gewissheiten sprichwörtlich entwertet sind und wo ständische Privilegien vom kapitalistischen Markt weggefegt werden. In Österreich heißt das konkret: völkische Raserei und manifest antisemitische Ressentiments. Der Kampf ums Erinnern und ums kollektive Gedächtnis ist also der Kampf darum, wer zu welchen Bedingungen dazugehören darf und wer im Zweifelsfall ausgeschlossen wird. Ihre Funktion besteht darin, historische Legitimation für gegenwärtige politische Ansprüche zu stiften. „Wer das nicht versteht, dem werde ich es nicht erklären können.“ (Hermann Gremliza 1993, Konkret Kongress)

Myra Lobe

Eine Replik auf den Text „Überall nur Opfer“.........................................

DAS IST DER VOLLE ERNST!

„Das kleine Ich bin Ich“ hat es sich in der Ausgabe 05/12 der Unique zur Aufgabe gemacht, die Aufruftexte aller Mobilisierungen rund um den 8. Mai einer gründlichen Kritik zu unterziehen. Problematisch daran sind nicht nur einige der inhaltlichen Argumente, sondern auch der Standpunkt, von dem aus der Text geschrieben wurde. Im Kern besagt der Text Überall nur Opfer, der 8. Mai könne nicht als Tag der Befreiung begangen werden, da er im Gegenteil der Tag der Niederlage ‚der Deutschen‘1 sei. Und genau in dieser These liegt das zentrale Problem der Argumentation. Denn was hier vorgenommen wird, ist eine Homogenisierung ,der Deutschen‘, die weder theoretisch noch empirisch haltbar ist. Es werden eben jene Menschen dadurch unsichtbar gemacht, die Opfer des Nationalsozialismus wurden und ebenso jene, die aus den unterschiedlichsten Gründen Widerstand dagegen geleistet haben. All diese Menschen wurden befreit und sie haben ein gutes Recht, das auch zu feiern. Es geht dabei aber keineswegs darum, zu behaupten, dass am 8. Mai niemand besiegt wurde. In der Auseinandersetzung um die Bedeutung dieses Datums muss es gerade heute darum gehen, zu bestimmen, wer in welcher Tradition steht und in welcher Position er/sie sich zur

heutigen Gesellschaft befindet, die durch die spezifische Geschichte überdeterminiert ist. Aus einer politisch-strategischen Sichtweise muss das Datum mit einer bestimmten Bedeutung aufgeladen werden. Meines Erachtens ist es hier wichtig, den 8. Mai als Tag der Befreiung zu positionieren, allerdings nicht als Befreiung des ‚ersten Opfers Österreich‘, sondern als Befreiung für alle, die bis heute politische Positionen vertreten, die vor diesem Datum mit massiver Verfolgung verbunden waren und für alle, die aufgrund antisemitischer, rassistischer oder homophober Motive verfolgt wurden.2 Als aktiver Linker kann für den Autor hier kein Zweifel bestehen, dass der 8. Mai eine Befreiung darstellt, insofern sie ihm erlaubt, heute (unter diversen Einschränkungen) politisch aktiv zu sein und in der Zeitschrift der ÖH-Uni Wien mit anderen eine Debatte über strategische Fragen zu führen. Das bedeutet noch lange nicht, zu behaupten, nach 1945 wäre der Nationalsozialismus und seine Ideologie kraft der Befreiung im Nichts verschwunden. Themenverfehlung? Ein weiterer Vorwurf, der in dem Text des „kleinen Ich bin Ich“ gegen das Bündnis Offensive gegen Rechts erhoben wird, besteht quasi in der Themenverfehlung durch Überbetonung der FPÖ. Gerade das unterscheidet den Aufruftext von den anderen und macht seinen zentralen politischen Einsatz aus. Für die Offensive gegen Rechts geht es am 8. Mai nicht nur um ein paar Burschis und um Geschichtspolitik, sondern darum, dieses Datum in Bezug zum aktuellen Auf-

stieg der Rechten in der Krise zu setzen. Der 8. Mai und noch stärker der WKR-Ball haben die wichtige Stellung deutschnationaler Burschenschaften in der FPÖ als eine offene Flanke gezeigt. Es ist eben der volle Ernst der Lage, der wir uns stellen müssen. Wir sehen uns mit einer Situation konfrontiert, in der die rechtsextreme FPÖ3 davor steht, nach den nächsten Wahlen stärkste Kraft zu werden. Vor diesem Hintergrund gilt es den ernsthaften Versuch zu unternehmen, diesem Aufstieg etwas entgegenzusetzen und hier müsste die Debatte ansetzen.

Ein Aktivist der Offensive gegen Rechts Anmerkungen: 1 Das kleine Ich bin ich: Überall nur Opfer. Ein Nachruf der Aufrufe zum 8. Mai, Unique 5/2012, S. 7. 2 Diese Bestimmung von Befreiung bedeutet aber nicht, dass politische Aktivitäten von links nicht nach wie vor oftmals Repressionen ausgesetzt sind und Rassismus, Antisemitismus und Homophobie nicht nach wie vor drängende Probleme darstellen. 3 Auch die Verwendung dieses Begriffs wird der Offensive gegen Rechts vorgeworfen. Eine Debatte über den Extremismusbegriff ist natürlich wichtig, allerdings auch immer mit der Frage verbunden, ob es als Pendant einen ‚Linksextremismus‘ gibt, oder z. B. einen Linksradikalismus, der sich nicht in das Schema eines Hufeisens einordnen lässt.

14

1-3.indd 14

19.06.12 19:33


politik

I AIN‘T ANONYMOUS

Leo Hiesberger

Kein Zeitungsbericht über ACTA Anspruch und Wirklichkeit Individuum und Kollektiv und keine Demonstration gegen die Vorratsdatenspeicherung Dass dieses Recht jedoch nicht als universel- Zugleich wirkt die Anonymisierung der einzelverstanden, sondern nur partikular für nen Anons als Katalysator zur Bildung einer ohne das mittlerweile berühmte les sich selbst in Anspruch genommen wird, wäh- kollektiven Identität, die die individuelle nekühle Grinsen der Guy-Fawkes- rend man es zugleich den auserwählten Geg- giert und in der das Recht auf Anonymität zur Maske. Avancierte sie in den ner_innen implizit abspricht, zeigt etwa die Pflicht umschlägt. Während Anons, die ihre letzten Jahren zum universellen Veröffentlichung der privaten Telefonnum- Identität outen, als namefags gemobbt werSymbol des Widerstandes ge- mern und Adressen von Urheberrechtsakti- den, kokettiert das Kollektiv in seinen Intergen die Tendenz zum totalitären vist_innen durch das Anonymous-Kollektiv. netbotschaften mit dem potentiellen Terror, Überwachungsstaat, sollte die Hinter der Anonymität verschanzt sich der den es als unsichtbare Massenbewegung geum den ‚Anderen‘ umso ungehemmter gen reale oder imaginierte Feind_innen loszuVorstellung einer in die Anony- Mob, bloßzustellen. Emanzipatorische Praxis dage- lassen imstande ist: „You have nowhere to hide, mität regredierenden Masse im gen bedarf des Lichtes der Öffentlichkeit, in because we are everywhere […] For each of us Gegenteil ein handfestes Unbe- dem die Einzelne für ihr Handeln Verantwor- that falls, ten more will take his place […] We hagen bereiten. tung übernehmen kann. Nicht nur in diesem are Anonymous. We are Legion. We do not for-

N

eben den diversen Occupy-Bewegungen ist es vor allem das Internetkollektiv Anonymous, welches diese Maske zu ihrem Symbol auserkoren hat. Angesichts des veritablen Kleinkrieges, den sich die Aktivist_innen mit der Church of Scientology liefern, sowie ihrer großteils illegalen Aktionen gegen staatliche Unterdrückung und Zensur, ist das von ihnen propagierte Recht auf Anonymität als einzig wirksamer Schutz gegen Verfolgung durchaus nachvollziehbar.

Punkt klaffen Anspruch und Wirklichkeit von Anonymous weit auseinander. Zwar versteht man sich als anti-hierarchisches, demokratisches und prinzipiell allen offenstehendes Kollektiv, wird diesem Anspruch aber in vielerlei Hinsicht nicht gerecht. Die Letztentscheidung etwa über die berüchtigten DDoSAttacken zum Lahmlegen von Servern und Websites liegt in den Händen weniger Anons. „As with the animals on Orwell’s farm, all Anonymous are equal, but some are more equal 1 than others.“

2

give. We do not forget. Expect us.“  Mag man auch die konkreten Aktionen des AnonymousKollektivs gegen die Websites autoritärer Regimes, rechtsextremer Organisationen oder fundamentalistischer Sekten begrüßen, legitimiert dies mitnichten den faschistoiden Duktus, der nicht zu Unrecht an die Bekenner_innenvideos ebenfalls vermummter Djihadisten erinnert. Die Auflösung des Indviduums in die uniforme Masse, sein Verschwinden in der Unkenntlichkeit, ratifiziert dabei nur den der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft inhärenten Zug zur

WER SCHWEIGT, STIMMT ZU Am 18. August ist wieder der alQuds-Tag, an dem sich weltweit IslamistInnen und ihre SympathisantInnen um die Fahnen des antisemitischen Terrors scharen. In Wien stößt sich kaum jemand an der größten regelmäßig stattfindenden antisemitischen Kundgebung.­

S

eit 1979 dient der von Ayatollah Khomeini ausgerufene Jerusalem- bzw. al-Quds-Tag als Tag der ‚Befreiung Jerusalems‘. Eine Befreiung, die nicht das Wohl der PalästinenserInnen zum Ziel hat, sondern auf die Vernichtung des jüdischen Staats zielt. Oder wie es der gegenwärtige Oberste Führer Khamenei ausdrückt: „Der Fußmarsch am al-Quds-Tag ist der Protestruf der Muslime gegen das Krebsgeschwür Israel in der islamischen 1 Welt.“  Der Aufmarsch wird mittlerweile auch in europäischen Hauptstädten von SympathisantInnen des iranischen Regimes organisiert. Auch in Wien wird es von einem ,Internationalen Palästinakomitee‘, das mit dem khomeinistischen Bildungs- und kulturzentrum in Verbindung steht. An diesem Kampftag demonstrieren die Islamist-

Innen, wie sie all ihre konfessionellen und nationalen Spaltungen überwinden und worin ihre politische Einheit besteht: im grenzenlosen Hass auf Israel und dem, was sie als westliche Freiheit verabscheuen. So werden die Flaggen der islamistischen Terrorgruppen Hisbollah und Hamas geschwungen und in Flugblättern wird ein antisemitischer Antikapitalismus propagiert, der – unter Respektierung des Verbotsgesetzes – eine ‚zionistische‘ Lobby für weltweite Krisen und Kriege verantwortlich macht. Dabei bietet der Glaube an eine Weltverschwörung der Hochfinanz und die manichäische Aufspaltung des Produktionssystems in einen zügellosen ‚Raubtierkapitalismus‘ und eine wohltätige Marktwirtschaft durchaus Anschlussfähigkeit für säkulare rechte und linke AntisemitInnen. Auch riefen schon Wiener Neonazis zum Mitmarschieren am hiesigen Ableger auf, wo sie gemäß dem Motto „Palästina den Palästinensern“ ihre Vernichtungsfantasien befriedigen dürfen. Denn immerhin: Würde eine derartige Kundgebung von Neonazis organisiert, sie wären, eindeutig unterlegen. In einem entsprechenden Forum ist ein User neiderfüllt: „Das ist ja mal was ganz Neues. Man darf in Deutschland demonstrieren und den Tod von Israel sich aufs Plakat schreiben?“ Und tatsächlich, linksliberale bis linksradikale,

­ ivellierung der je unterschiedlichen IndividuN en. Das anonyme Kollektiv ist nicht, wie fälschlicherweise angenommen, emanzipatorisches Gegenstück zur Kälte bürgerlicher Subjektivität, sondern umgekehrt ihr faschistischer Vollzug. „Den Menschen wurde ihr Selbst als ein je eigenes, von allen anderen verschiedenes geschenkt, damit es desto sicherer zum gleichen werde.“ 3 Die Begründung, durch die Anonymität werde der Unterschied zwischen schwarz und weiß, Mann und Frau umstandslos, taugt nicht. Umstandslos sollten diese – wie auch alle anderen – Unterschiede zwischen den Menschen werden, insofern sie keinen Schicksalsspruch über erfahrenen Respekt, Lebenschancen und persönliche Freiheit darstellen dürfen; nicht jedoch, indem die Unterschiede in Uniformität aufgelöst werden. Anmerkungen: 1 http://www.dmagazine.com/Home/D_Magazine/2011/April/How_Barrett_Brown_Helped_ Overthrow_the_Government_of_Tunisia.aspx 2 http://www.youtube.com/watch?v=b1pMNZ3mK4M 3 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften. Band 5. Frankfurt a. M. 2003, S. 35.

Alessandro Volcich

sich jedenfalls als antifaschistisch bezeichnende Gruppen reagieren auf Vernichtungsdrohungen gegen Israel apathisch. „Stoppt die Rechten“ gilt wohl nur für die Autochthonen.

Verratene Freiheit Denn eigentlich sollte es mittlerweile unnötig sein, den menschenverachtenden Charakter des iranischen Islamismus besonders zu erwähnen. Und trotzdem schweigt die antifaschistische Mehrheit beharrlich, wenn es um antizionistischen Antisemitismus geht. Dies hat mit einem „well-founded scepticism“ gegenüber einer universalistisch begründeten „democracy promotion“ zu tun, wie es 2009 in einem von u. a. Judith Butler und Slavoj Žižek unterzeichneten Aufruf hieß. Ihre Verachtung ‚verwestlichter‘ Freiheitsforderungen gesellt sich zu der von ‚Reformislamisten‘ wie Mir Hossein Mousavi. Žižek sagte etwa in der australischen Talkshow Q&A: „My hope is with Mousavi. He is definitely not the Ahmadinejad corruption, but he is also not a socalled pro-western liberal. He is something authentically third way.“ Eine als ‚Dialog der Kulturen‘ verbrämte politische Indifferenz schlägt zuweilen auch in offene Kooperation um, wenn etwa, wie zuletzt

in Wiener Volkshochschulen, Veranstaltungen der iranischen Botschaft zur islamischen Revolution abgehalten werden und jede Kritik daran ignoriert wird. Die iranischen Säkularen bekommen so nur Bilder von Regimetreuen aus Europas Straßen anstatt Zeichen internationaler Solidarität, die sie stärken würden. Das Bewusstsein, im Stich gelassen zu werden und keinen Ort politischen Asyls zu haben, arbeitet der Angst zu, die sich doch für freies Handeln und Denken lösen muss, um jeder antisemitischen Märtyrerideologie entgegenzuarbeiten. So wie es am al-QudsTag 2009 mitten in Teheran gegen die antiisraelischen Slogans gerichtet erschallte: „Nicht Gaza, nicht Libanon – mein Leben für Iran!“ Womit nur ein Iran gemeint sein kann, der nicht die islamische Revolution zum Fundament hat. Anmerkung: 1 http://jungle-world.com/von-tunis-nach-teheran/ 1525/ Literatur zum al-Quds-Tag: American Jewish Committee Berlin (Hg.): Antisemitismus „Made in Iran“: Die internationale Dimension des Al-Quds-Tages“. Berlin 2006. Unter: www.ajcgermany.org/

15

1-3.indd 15

19.06.12 19:33


wissenschaft

MYTHOS HALBSPRACHIGKEIT Von der Mär, mehrsprachige­Kinder würden durchwegs ­ Gefahr laufen, keine ihrer Sprachen ­,ad­äquat‘ zu beherrschen.

N

ils Erik Hansegård führte den Begriff der Halbsprachigkeit erstmals 1968 ein. Halbsprachigkeit (oft auch ,doppelte‘ Halbsprachigkeit oder Semilingualismus) bezeichnet das angeblich weit verbreitete Phänomen, Menschen, die zwei- oder mehrsprachig aufwachsen, würden weder ihre Erst- oder Herkunftssprache noch die Zweitsprache ausreichend beherrschen. Beobachtet wurde dies anhand des Sprachgebrauchs der finnisch-sprachigen Minderheit in Schweden, deren Kompetenz in beiden Sprachen für defizitär erklärt wurde. Sechs Faktoren indizieren nach Hansegård Halbsprachigkeit: 1.) Größe des Vokabulars, 2.) Korrektheit der Sprache, 3.) Grad des Automa1 tismus, 4.) Bildung von Neologismen , 5.) das Meistern der Sprachfunktionen, 6.) Bedeutung 2 und Vorstellung. Das österreichische Institut für Familienforschung findet: „Halbsprachigkeit bedeutet konkret, dass z. B. in beiden Sprachen abstraktere Begriffe wie ,links/rechts‘ oder Grundfarben nicht beherrscht oder komplexere Satzstrukturen nicht verstanden werden. Liegt Halbsprachigkeit erst einmal vor, ist sie nur sehr schwierig und mit großem pädagogischen Aufwand zu überwinden.“ 3 Warum dieser Ansatz abzulehnen ist, soll im Folgenden erläutert werden. Denn zum einen reiht sich Halbsprachigkeit in die Bernstein’sche Defizittheorie ein, die in den 1970er Jahren den Sprachgebrauch niedrigerer sozialer Schichten als defizitär und restringiert betrachtet und somit diesen Schichten auch weniger entwickelte kognitive Fähigkeiten zusprach.4 Zum anderen liegt diesem Begriff eine sehr normative Perspektive auf Sprache und Sprachgebrauch zugrunde, die gerade von der Linguistik, die sich in weiten Teilen als deskriptive Disziplin versteht, stark abgelehnt wurde. Außerdem verdrängen alle Wissenschaftler*innen, die an Halbsprachigkeit forschen, die Realitäten bilingualen Spracherwerbs und -gebrauchs. So ist die Vorstellung von bilingualen Sprecher*innen als doppelt Einsprachige (deshalb auch ,doppelte‘ Halbsprachigkeit) weiterhin verbreitet, was wissenschaftliche Erkenntnisse und jahrzehntelange Arbeit negiert. Alle Argumente für die Existenz der so genannten ‚Halbsprachigkeit‘ lassen sich besonders unter Beachtung der Faktoren bilingualen Spracherwerbs leicht widerlegen.

Testmethoden Problematisch sind zunächst einmal die Testmethoden, mit denen Sprache beobachtet und eingestuft wird. Für die Erhebung der Sprachkompetenz gibt es verschiedene Sprachstandstests, nach denen Sprecher_innen (meist Kin-

der im Schulalter) eingestuft werden können. Diese Tests weisen jedoch oft vielfältige Mängel auf.5 Berühmt ist das Beispiel einer Testsituation, in der Bernstein fragt: „Wo ist das Buch?“. Kinder, die in einem vollständigen Satz antworten wie „Das Buch liegt auf dem Tisch.“ ordnet er einem elaborierten Sprachgebrauch zu. Kinder, die mit Hinzeigen und „Hier!“ antworten, hätten, obwohl genauso ,korrekt‘ und verständlich, einen defizitären Sprachgebrauch.6 Andererseits stellt sich auch immer die Frage, wessen Sprache getestet wird. Die Beobachtung, dass eher akademische Register des Deutschen als Norm für eine deutsche Standardsprache angenommen werden, drängt sich auf.7

Größe des Vokabulars Sprecher*innen aller Sprachen verfügen über verschiedene Register, auf die sie nach Belieben zugreifen können. Eine Mechanikerin* verfügt z.  B. über ein großes Fachvokabular, das viele andere Menschen vermutlich gar nicht kennen. Die Größe des Vokabulars zu messen ist daher von Natur aus ein schwieriges Unterfangen, stellt sich doch auch die Frage, wie dies geprüft werden soll und – sollte dies überhaupt möglich sein – welche Aussagen damit getroffen werden können. Die meisten Menschen sprechen zusätzlich zu der in der Schule erlernten Standardsprache einen Dialekt oder Soziolekt, was in ein weiteres Vokabular einführt. Wie politisch die Entscheidung der Grenzziehung zwischen Dialekt und Sprache ist, zeigt beispielsweise die Trennung in Bosnisch, Kroatisch und Serbisch nach dem Zerfall Jugoslawiens. Alle Menschen verwenden für verschiedene Situationen unterschiedliche Sprachen und das verwendete Vokabular wird oftmals an die jeweiligen Sprechsituationen angepasst. In keiner Sprache werden wir vollkommen Zugang zu allen Wörtern haben. So haben bilinguale Sprecher_innen nicht in jeder Sprache exakt das gleiche Vokabular; quantitativ gesehen ist ihr Vokabular in den meisten Fällen dennoch größer als das monolingualer Sprecher_innen. Die Möglichkeit, ein bestimmten Sprachschatz zu erwerben, ist aber auf keinen Fall eingeschränkt.

Korrektheit der Sprache Auch ein akademischer Sprachgebrauch ist nur ein Register und sollte nicht als ideale Sprache angesehen werden. In der Linguistik spielen Intuition und Sprachbeschreibung eine große Rolle. Es ergibt daher mehr Sinn, eine Sprache nach ihrer Verständlichkeit zu beurteilen, als Aussagen über ihre Korrektheit zu treffen. So sind Sätze mit vielfacher Rekursion in Schachtelsätzen zwar vielleicht grammatikalisch ,korrekt‘, aber noch lange nicht akzeptabel. Z. B. ist die Angewohnheit, in langen Sätzen zu antworten, ein Phänomen bildungsbürgerlicher Erziehung, das in der Schule erwartet wird, worauf aber Kinder aus bildungsfernen Schichten nicht vorbereitet werden. Das gilt auch für viele Kin-

Kübra Atasoy

der mit Migrationshintergrund, deren Familien­ sie beim Erwerb des bildungsbürgerlichen Registers oft nicht unterstützen können. Das macht ihre Sprache nicht mehr und auch nicht weniger ,korrekt‘.

Grad des Automatismus Dieser Ausdruck meint die natürliche, automatische Prozessierung der Sprache. Das bedeutet, dass Sprecher_innen linguistische Regeln anwenden können, also ob die Sprecher_innen automatisch flektieren oder einen Plural anwenden können. Hier wird vielfach eine schriftsprachliche Kompetenz abgefragt, die sich zum Zeitpunkt der Tests bei Kindern noch in einer Entwicklungsphase befindet.

Bildung von Neologismen Ein Blick auf den bilingualen Sprachgebrauch zeigt, dass dieser von verschiedenen Faktoren geprägt ist. In den seltensten Fällen kann mensch auf alle Register, die in einer Sprache verwendet werden, auch in der anderen zugreifen. Der Schwerpunkt, welche Sprache häufiger verwendet wird, verändert sich auch mit der Zeit. Ein besonderes Merkmal ist zudem das CodeSwitching, bei dem, oft mitten im Satz, zwischen verschiedenen Sprachen gewechselt wird. Die Forschung zum ,Kiezdeutschen‘ zeigt, dass Neologismen Zeichen sprachlicher Entwicklung sind. Die Idee, Neukreationen seien ein Defizit, entspricht einem konservativen Weltbild und hat rein gar nichts mit der Realität von Sprache zu tun.

Meistern der Sprachfunktionen und Bedeutung und Vorstellung Hier geht es darum, dass Sprecher_innen in der Lage sein sollen, alle Funktionen ihrer Sprache zu verwenden. Dies unterstütze nach Jim Cummins, einem führenden Vertreter der Halbsprachigkeitsthese, eine kognitive und emotive Entwicklung. Diese Annahme ist jedoch leicht hinterzufragen: Denn Tests, die eine Schriftsprache überprüfen, können keine valide Aussage über die kognitiven Fähigkeiten eines Kindes treffen. So ist auch die Idee, dass kognitive Entwicklung direkt von linguistischer abhängt, schwer belegbar und kontrovers.8 Außerdem werden die spezifischen Umstände der Testsituation im Testverfahren nicht berücksichtigt.9 Es kann einem Kind schwerfallen, in der Prüfungssituation, vor einer fremden Person oder in einer jeweiligen Sprache etwas auszudrücken. Ein Kind mag diesen Test nicht bestehen, doch daraus zu schließen, seine kognitive Entwicklung sei eingeschränkt, ist ein höchst einseitiger Zugang.

Bilingualismus als Problem Der größte Mangel der These der ‚Halbsprachigkeit‘ dürfte aber die fehlende empirische

Evidenz sein. Schon früh nach Aufkommen des Begriffs hat B. Loman (1974) nach Beweisen für diese These gesucht und wurde nicht fündig. Zusätzlich gibt es von Cummins widersprüchliche Aussagen über die Einstufung von Kindern bei diesen Tests. So hält er fest, dass es oberflächlich keine Probleme mit dem Spracherwerb bzw. der Kompetenz der getesteten Kinder 10 gibt. Er nennt dies surface fluency und hält abschließend fest, dass sich der Begriff nicht als 11 linguistisches Werkzeug eignet . Auf einer politischen Ebene ist an dem Begriff zu kritisieren, dass er sozio-ökonomische Faktoren komplett ausblendet und – noch schlimmer – diese als linguistische Defizite tarnt. Das trägt zu einer komplett unbegründeten Problematisierung des Bilingualismus bei. Vor dem Hintergrund, dass der Großteil dieser Welt zumindest bilingual ist, wirkt die Pathologisierung der Mehrsprachigkeit völlig absurd. Denn Mehrsprachigkeit ist die Norm, Einsprachigkeit die Ausnahme. Die Schlussfolgerung sollte also sein, allen Kindern durch wirklich fördernden Sprachunterricht und die Anerkennung ihrer Lebensrealitäten eine tatsächliche Partizipation in der Gesellschaft zu ermöglichen. Quellen: 1 Neologismen = sprachliche Neukreationen 2 Nils Erik Hansegård. Tvasprakighet eller halvsprakighet? med ett tillägg „De språliga minoriteterna av Thomas Lundén“ Aldus/Bonniers, Stockholm, 1968. 3 http://www.oif.ac.at/service/zeitschrift_beziehungsweise/detail/?tx_ttnews[tt_news]=776&cHas h=1bb9d4ba0a2a961e9937fb86369180dd 4 Basil Bernstein. Class, codes, and control. Vol. 4, The structuring of pedagogic discourse. Routledge, London; New York, 1971. 5 Jeff MacSwan. The threshold hypothesis, semilingualism, and other contributions to a deficit view of linguistic minorities. Hispanic Journal of Behavioral Sciences, 22(1): 3–45, 2000. 6 Basil Bernstein. Class, codes, and control. Vol. 4, The structuring of pedagogic discourse. Routledge, London; New York, 1971. 7 Ingrid Gogolin / Wissenschaftliches Kolloquium. Migration und sprachliche Bildung. Waxmann, Münster 2005; Sara Fürstenau and European Cultural Foundation. Mehrsprachigkeit in Hamburg: Ergebnisse einer Sprachenerhebung an den Grundschulen in Hamburg. Waxmann, Münster; New York; München; Berlin, 2003. 8 Marylin Martin-Jones and Suzanne Romaine. Semilingualism: A Half-Baked theory of communicative competence. Applied Linguistics, 7(1): 26–38, 1986 9 Ebd. 10 Jim Cummins. Cognitive/academic language proficiency, linguistic interdependence, the optimum age question and some other matters. Working Papers in Bilingualism, 19: 197–205, 1979. 11 Skutnabb-Kangas, Tove & Toukomaa, Pertti (1976). Teaching migrant children’s mother tongue and learning the language of the host country in the context of the sociocultural situation of the migrant family, Report written for Unesco. Tampere: University of Tampere, Dept of Sociology and Social Psychology, Research Reports 15, 99 p.

16

1-3.indd 16

19.06.12 19:33


D4t3n$chu1z?! Für diese Ausgabe haben wir unsere Autor_innen in die Welt der virtuellen Daten geschickt. Aber beginnen wir doch zuerst bei Null: Datenschutz, was ist das eigentlich? Der Begriff ‚Datenschutz‘ entstand in der Mitte des 20. Jahrhunderts, doch gibt es bis heute keine einheitliche Begriffsdefinition. Unter ‚Datenschutz‘ werden verschiedene rechtliche Bereiche subsumiert: das Recht auf Privatsphäre, der Schutz vor Datenmissbrauch oder das Recht, selbst über Frei-, Weitergabe und Verwendung der eigenen personenbezogenen Daten zu bestimmen. Das Recht auf Privatsphäre ist in Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gesichert. Die individuelle Kommunikation wird unabhängig von den verwendeten technischen Hilfsmitteln als Teil des Privatlebens geschützt. Folglich ist die gesamte private Telekommunikation staatlicher Intervention vorbehalten. Ebenso wurde der Schutz von personenbezogenen Daten in einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) unter Art. 8 erfasst. So weit, so geschützt. Der Clou der Sache liegt aber ein paar Zeilen weiter – in Absatz 2 des zitierten Vertrages. Die kleine Ausnahme, die so klein gar nicht ist. Diese Bestimmung erlaubt den Eingriff einer öffentlichen Behörde insofern, als er in den jeweiligen Bundesgesetzen vorgesehen ist. Aber natürlich nur dann, wenn er für die ‚nationale Sicherheit‘, die ‚Ruhe und Ordnung‘ im Land, die ‚Moral‘ oder aber für das ‚wirtschaftliche Wohl‘, etc. von Nöten erscheint. So ausgenommen, so allumfassend. Ähnliches findet sich in der Grundrechtscharta der EU, dort wurde zwar der Schutz der personenbezogenen Daten normiert, die Ausnahme wird jedoch auch hier schnell zur Regel.

Den inhaltlichen Einstieg in unseren Schwerpunkt bringt der Artikel auf Seite 18. Hier wird ein Blick auf den aktuellen Sicherheitsdiskurs und die daraus resultierende Sicherheitsparanoia gelegt. Die vorherrschende Law and Order-Politik und ihre oft rassistische Motivation werden streng unter die Lupe genommen. Gleich gegenüberliegend wird in Datenspeicherung und Diskriminierung auf Seite 19 die Situation der koreanischen Minderheit in Japan beleuchtet. Diese wird nicht nur aus allen demokratischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, auch die Pflicht zur Fingerabdruckabgabe gilt bis heute nur für sie. In welche Richtung sich die gesetzlich vorgesehenen Eingriffe des Staates in die Persönlichkeitsrechte entwickeln und was das für die Bürger_ innen bedeutet, erläutert der Artikel auf Seite 20 am Beispiel der eben in Kraft getretenen Vorratsdatenspeicherung (VDS). Es wird der Frage nachgegangen, wie Informationen à la ‚wann-hat-wer-wo-wie-langemit-wem-telefoniert‘ eine treffende Analyse über soziale Kontakte und Netzwerke geben können. Auch die Aushebelung der Unschuldsvermutung durch die verdachtsunabhängige Speicherung dieser Daten wird thematisiert. Eine Seite weiter geht es dann um Kampagnen gegen ebensolche gesetzlich geregelte Eingriffe in den Datenschutz. Die VDS ist wie das AntiCounterfeiting Trade Agreement (ACTA) heiß umstritten und von vielen Seiten stark diskutiert. Die Logos und Plakate der Gegner_innen verwenden oft eine stark antisemitisch konnotierte Bildsprache, welcher sich der Artikel auf Seite 21 annimmt. Downloading Kunst beschreibt auf Seite 22 den Spagat von Künstler_­ innen, einerseits von der Kommerzialisierung der Kunst leben zu müssen, andererseits kapitalistische Verhältnisse zu kritisieren und der daraus resultierenden Umgang mit Urheber_innenrechten und neuen Medien. In Daniel und Nadine ficken im Sommer in Frankfurt wird ein praktischerer Zugang zum Datenschutz gewählt: Passwörter. Wie gut oder eigentlich besser gesagt schlecht wir unsere Daten schützen, wenn wir und Millionen andere Passwörter wie „123456“ verwenden, und wie ganz einfach sichere Passwörter erstellt werden können, erklärt der Artikel auf Seite 23. Auf der letzten Seite bieten wir ein Interview mit Ramón Reichert. Der Buchautor und Gastprofessor für neue Medien an der Uni Wien spricht mit der Unique über iPhone Apps, den Arabischen Frühling und die Reichweite sozialer Netzwerke.

Zum Abschluss haben wir noch eine Unique-interne Datenabfrage gemacht. Und weil wir nicht nur auf Passwörter wie „ficken“ stehen, sondern auch noch nachlässig mit unseren eigenen Daten umgehen, wollen wir euch die Ergebnisse natürlich nicht vorenthalten: - 8 von 8 Mitarbeiterinnen* können ‚dialektisch‘ begriffsgerecht anwenden. - 7 von 8 Mitarbeiterinnen* wurden zu dieser Umfrage gezwungen. - 6 von 8 Mitarbeiterinnen* haben einen Facebook-Account. - 5 von 8 Mitarbeiterinnen* stehen unter Hipsterverdacht. - 4 von 8 Mitarbeiterinnen* haben falsche Daten angegeben. - 3 von 8 Mitarbeiterinnen* haben zur Zeit einen Sidecut. - 2 von 8 Mitarbeiterinnen* haben zur Zeit lackierte Fingernägel. - 1 von 8 Mitarbeiterinnen* dieser Umfrage ist fiktiv. - 0 von 8 Mitarbeiterinnen* haben ein Eulen-Tattoo. 17

1-3.indd 17

19.06.12 19:33


D4t3n$chu1z?!

LAW AND ORDER OR: RACISM AND CULTURE Christoph Altenburger

In der Law and Order Policy zeigt sich nicht nur der kulturrassistische Gehalt in der öffentlichen Sicherheitsdebatte, sondern es drängt sich erneut die Frage auf, was es mit dem bürgerlichen Recht in der heutigen Welt überhaupt auf sich hat.

F

olgt man den inländischen Medien, könnte man meinen, Österreich sei von allen Seiten bedroht: egal ob es sich um „muslimische TerroristInnen“, „Linksextreme“, oder „Kriminelle aus dem ehemaligen Osten“ handelt. 2007 ereignete sich dann schlussendlich jenes Ereignis, nach dem sich so viele schon klammheimlich sehnten: Österreich wurde endlich in einem Terrorvideo erwähnt. Fast war man dazu geneigt, einen Seufzer der Erleichterung zu vernehmen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Ter1 rorismusbekämpfung geht von 300 radikalen Muslimen und Muslima in Österreich aus – immerhin machen diese 0,0036% der Gesamtbevölkerung aus. In der Logik der Konservativen und Rechten eine scheinbare Legitimation für ihre Sicherheitspolitik. Es liegt also die Frage nahe, woraus sich das Bedürfnis speist, einen solchen Sicherheitsdiskurs zu pflegen. Um eine mögliche geschichtliche Parallele aufzuziehen: Als der Kalte Krieg noch tobte und der Bolschewismus an die Türen der Industriestaaten klopfte, war die sogenannte ,Red Scare‘ das beliebte Hobby westlicher Sicherheitsbehörden und füllte die freien Nachmittage der CIA. KommunistInnen schienen hinter allen Ecken zu lauern. Leider hielten diese nicht lange genug durch und der Versuch des Staatssozialismus entpuppte sich allzu schnell als ein ziemlich erfolgreicher Modernisierungsversuch kapitalistischer Verhältnisse. Das ko-

operatistische Gesellschaftsmodell feierte den unangefochtenen Siegeszug, der soziale Kitt war in der klassenlosen Klassengesellschaft hergestellt. Lange ließ man jedoch nicht darauf warten, ein neuer Feind musste her. Die äußerliche Feindprojektion dient in der Regel immer bestens dazu, identitäre Sinnstiftung in der Nation zu fördern. Andernfalls könnte einmal die seltsame Frage aufkommen, ob es in einer Nation nicht mehr Trennendes als Verbindendes gibt. Norbert Trenkle schreibt dazu in seinem Essay Kulturkampf der Aufklärung: „Nicht zufällig nimmt die Beschwörung des islamischen Fundamentalismus als neuer globaler Bedrohung fast punktgenau mit dem Untergang des Ostblocks seinen Anfang, war doch ,dem freien Westen‘ mit dem Zusammenbruch des ,Realsozialismus‘ nicht nur ein politischer Gegner [sic], sondern vor allem auch eine wichtige Projektionsfläche für die kollektive Identitätsbildung und die Legitimationsproduktion verlo2 ren gegangen.“ Der aktuelle Sicherheitsdiskurs und die damit entfesselte Sicherheitsparanoia dienen als Projektion dafür, den sozialen Kitt zu festigen, die inneren AusreißerInnen unter Kontrolle zu bekommen und gegen das ,Böse von außen‘ vorzugehen. Es geht hier nicht um die Behauptung, die gesellschaftlichen Zustände im Realsozialismus oder in islamischen Ländern seien die sympathischere Alternative zum westlichen Lebensstil – vielmehr geht es um die funktionelle Bestimmung einer Projektion, deren Kern, ein vermeintlich reales Bedrohungsszenario, eher dem Verfolgungswahn bürgerlicher und rechter ParanoikerInnen entspricht als empirischen Tatsachen.

Was rechtens ist Zwar führt der von Samuel Huntington heraufbeschworene Kulturkampf in erster Linie

zu rassistischen Projektionen, einer seiner Nebeneffekte besteht aber nicht weniger darin, dass soziale Konflikte zunehmend kulturrassistisch aufgeladen werden und zum Stelldichein nationaler Exzesse führen. Der Sicherheitsdiskurs wendet sich dabei nicht nur gegen die ,äußeren Feinde‘, sondern soll innere Homogenität gewährleisten: mit den Terrorgesetzen wird dann gegen TierrechtlerInnen oder Uni-brennt-AktivistInnen mobil gemacht. Hier sollte jedoch nicht der liberale Klageruf nach einem Gesetz widerhallen, das sich seiner Grenzen wieder bewusst wird. Der marxistische Rechtstheoretiker Eugen Paschukanis verstand unter dem Recht kein stupides Instrument der herrschenden Klasse, sondern ein „reales Prinzip der Verrechtlichung menschlicher Beziehungen in der auf universalisiertem Warentausch beruhenden kapitalistischen Produktionsweise“ 3. Auch Michel Foucault versuchte eine Genealogie der Machtstrukturen zu erarbeiten und lässt sich mit den Ansätzen Paschukanis’ durchaus in Einklang bringen. Die Durchführung öffentlicher Hinrichtungen galt im 18. Jahrhundert noch als gesellschaftlicher Pflichttermin. Für Foucault galt es jedoch, in der Moderne das körperlose Strafsystem zu analysieren. Was die „Reformer [sic] gegen den Despotismus des Schafotts zur Geltung gebracht haben“4 war eben nicht die „Begründung eines neuen Strafrechts auf gerechteren Prinzipien, sondern vielmehr die Etablierung einer neuen Ökonomie der Strafgewalt und die Gewährleistung einer besseren Verteilung dieser Gewalt dergestalt, daß sie weder an einigen bevorzugten Stellen zu stark konzentriert noch unter ­gegensätzlichen Instanzen zu sehr aufgeteilt, sondern in homogenen Kreisläufen verteilt ist, die den Gesellschaftskörper überall gleichmäßig durchdringen.“5 Nicht das personale Strafsystem feudaler

Verhältnisse bestimmt heute die bürgerliche Rechtsordnung, sondern eben diese ist Teil einer Gesellschaft, in der es beständig um die Disziplinierung, die Kontrolle und letzten Endes die Unterwerfung der Körpertätigkeiten geht. Diese Disziplinierungsordnung wird zur allgemeinen Herrschaftsform. Kritik am Recht kann also nicht der wehleidige Ruf danach sein, dass das Recht wieder zu seinen alten liberalen Formen findet. Denn diese Bahnen hat die rechtliche Entwicklung nie verlassen: das Recht ist keine von der Gesellschaft unabhängige Sphäre, in der unpolitische Entscheidungen auf der Basis irgendwelcher Gleichheitsprinzipien geltend gemacht werden. Das Recht ist immer die Zuspitzung gesellschaftlicher Verhältnisse, wie ihr funktioneller Bestandteil zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Dabei ist es genau so wenig ein Instrument der herrschenden Klasse, so wenig es auch universelle Gerechtigkeit gewährleistet. Es selbst wird geformt von gesellschaftlichen Verhältnissen, deren kulturrassistischer Bestandteil heute kaum leugbar ist. Insofern muss der Kampf gegen die Exzesse der rechtlichen Entwicklung, von ACTA bis zur Vorratsdatenspeicherung, ein Kampf gegen das System sein – es wird nie eine gerechte Disziplinierung im Kapitalismus geben, weil es eine gerechte Disziplinierung gar nicht geben kann. Anmerkungen: 1 http://www.news.at/articles/0737/542/184905_s5/ islamischer-extremismus-oesterreich 2 http://www.krisis.org/2008/kulturkampf-der-aufklaerung 3 Vgl. Eugen Paschukanis: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe. Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 1969. 4 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Suhrkamp Verlag,Frankfurt am Main 1992. 5 Ebda.

18

1-3.indd 18

19.06.12 19:33


D4t3n$chu1z?!

DATENSPEICHERUNG UND DISKRIMINIERUNG ... am Beispiel des fingerprint ­refusal movements in Japan. Ein einzigartiges Ereignis?

S

eit der Zeit der japanischen Kolonialisierung Koreas lebt eine ethnische koreanische Minderheit von variierend etwa 700.000 bis 2 Millionen Personen in Japan. Im Jahr 1985 verweigerten über 10.000 ethnische KoreanerInnen in Japan fast zeitgleich die für Nicht-(ethnische)JapanerInnen vorgeschriebene Abgabe ihrer Fingerabdrücke zur Datenspeicherung. Damit setzte eine verschiedentlich diskriminierte und von sämtlichen demokratischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossene Minderheit ein Zeichen politischen Protests gegen die Beschneidung ihrer Persönlichkeitsrechte.

Hintergrund (Anti-Assimilierung) Von 1910 bis 1945 war Korea japanische Kolonie, während dieser Zeit suchten viele landlos gewordene KoreanerInnen in Japan Arbeit oder wurden in den späteren (Kriegs-) Jahren zwangs1 weise als Arbeitskräfte dorthin umgesiedelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg, unter amerikanischer Besatzung, fand sich die japanische Regierung in der Situation, einen neuen Umgang mit den im Land verbliebenen KoreanerInnen suchen zu müssen. 1946 fiel die Entscheidung, den ehemaligen Opfern der Kolonialisierung (in erster Linie TaiwanesInnen und KoreanerInnen) die japanische StaatsbürgerInnenschaft zu entziehen. Von 1950 bis 1963 bedeutete das für viele Menschen aus nordkoreanischen Gebieten de facto Staaten- und somit Rechtlosigkeit, für alle Nicht-offiziellJapanerInnen den Verlust von Wahlrecht und staatlichen Leistungen. Japanische Nationalität wird per ,ius sanguinis‘ (Abstammungs2 prinzip) verliehen, d. h. ein Anrecht darauf hat, wessen Mutter oder Vater die Nationalität trägt. Eine erwachsene Person, die um die Staatsbürgerschaft ansucht, muss darüber hinaus ein tadelloses Polizeizeugnis als Beweis für einen guten Charakter vorweisen und einen japanischen Namen annehmen. Tatsächlich überschnitten sich lange die offizielle Position der japanischen Regierung, die ausdrückte, es sei wünschenswert, wenn alle Nicht-Assimilierten sich innerhalb eines gewissen Zeitrahmens zur Rückkehr in ihr Heimatland entschließen3 und diejenigen der beiden offiziellen koreanischen Interessenvertretungen ­(Choren-Soren und Mindan), die sich hauptsäch-

lich für den Erhalt und die Wahrung süd- respektive nord-koreanischer Kultur und Tradition einsetzten. Letztere lehnten deshalb assimilierungs- oder integrationspolitische Ansätze ab. Die Einführung des Sonderstatus ,permanent resident‘ wirkte für die langjährig und teilweise in zweiter oder dritter Generation in Japan lebende Minderheit nur bedingt als Erleichterung und blieb in ihrer Handhabung diskriminierend.

Protest/ Symbolik Ethnische KoreanerInnen mit diesem Sonderstatus mussten von 1952 an jährlich ihre Fingerabdrücke neu registrieren lassen. Dieser Maßnahme einen konkreten Nutzen für die japanische Regierung zuzuschreiben fällt schwer, eher ist sie wohl als symbolischer Akt der Ausgrenzung und Kontrolle zu verstehen. Nicht von ungefähr erweckt die Abgabe von Fingerabdrücken, die auch im Zuge von Strafverfahren eingefordert wird, den Eindruck, Subjekte würden dadurch ,kriminalisiert‘.4 Die FingerabdruckverweigerInnen von 1985 stehen in einer Tradition von Einzelfällen der vorhergehenden Jahre, doch in diesem besonderen Jahr war nicht nur die Anzahl der Fälle besonders hoch, sondern weit verbreitet in über 35 Regionen vorzufinden. Da den VerweigerInnen Geld- und sogar Haftstrafen drohten, bildeten sich unabhängige Gruppen, die Unterstützung und Rechtshilfe anboten. Die offiziellen Interessenvertretungen hielten sich aus dem Konflikt weitestgehend heraus. In der Bewegung floß deshalb auch unterschiedliche Motivationen zusammen. Als Gründe für die Verweigerung der Fingerabdruck-Abgabe wurden ethnische Diskriminierung und die Sonderbehandlung von ,KoreanerInnen‘, die sich zunehmend in die japanische Gesellschaft eingebunden fühlten, genannt. Die meisten von ihnen waren in Japan geboren, viele mit

Japaner*innen verheiratet, viele ­ beherrschten ausschließlich die japanische Sprache und ihre Lebensplanung war nicht auf eine ,Rückkehr‘ nach ­Korea angelegt.Voraus gingen dem Konflikt seit Ende der 1970er-Jahre schrittweise und sehr zögerlich eingeführte Erleichterungen für ,permant residents‘ wie Zugang zu Sozialwohnungen, da sich die Regierung im Zuge eines neuen Problembewusstseins für die zunehmende Überalterung der japanischen Gesellschaft und den steigenden Bedarf an jungen Arbeitskräften von ihrer bisherigen Exklusions-Linie zu verabschieden begann. Solche Entscheidungen orientierten sich jedoch nicht direkt an den Bedürfnissen der ethnischen Minderheit, die, noch immer von sämtlichen demokratischen Entscheidungs- und Mitbestimmungsprozessen ausgeschlossen, erst in dem fingerprint refusal movement ein Sprachrohr für ihre Situation und Forderungen fand. Die staatlich angeordnete Diskriminierung wurde zur Kritik am Staat umfunktioniert.

Jetzt Die Abgabe von Fingerabdrücken blieb bis 1993 verpflichtend, allerdings in weniger kurzen Abständen eingefordert (was weitere Massen-Proteste erschwerte, da weniger Menschen gleichzeitig zur Fingerabdruck-Abgabe gezwungen waren). 1989, zum Geburtstag des neuen Kaisers, erlangten inhaftierte VerweigerInnen Amnestie. Sozialleistungen für ,permant residents‘ wurden ausgebaut (etwa Teilhabe am Gesundheitswesen). 2006 wurde die Abnahme von Fingerabdrücken im Zuge von Anti-Terror-Gesetzen wieder eingeführt, mit Ausnahmeregelungen für ,permanent resident‘- bzw. ZainichiKoreanerInnen. Von Gleichberechtigung kann dennoch keine Rede sein: behalten Personen ihre koreanischen Namen oder legen starken Wert auf den Bezug zur koreanischen Kultur, so stellen sie

J. R.

die lange propagierte Homogenität der japanischen Nation in Frage. Sie müssen auch heute noch ständig eine ,permanent residency card‘ mit sich tragen, haben kein allgemeines Wahlrecht und ihre Unterrepräsentation i­n prestigeträchtigen ­Berufen (z. B. Universitätsprofes­sor­ In) bezeugt anhaltende Benachteiligungen.

Hier Die Situation der KoreanerInnen in Japan scheint besonders schlimm, weil es eine große Gruppe von Menschen betrifft, die sich zwischen den Extremen Assimilierung und Ausgrenzung bewegt und über wenig Möglichkeiten verfügt, sich für ihre Rechte und Alternativen (etwa: doppelte Staatsbürgerschaft) einzusetzen. An ihrem Beispiel sollte aufgezeigt werden, wie sich der Umgang mit Daten als praktisches oder symbolisches Instrumentarium verwenden lässt, weltweit. In denselben Kontext fällt etwa das französische Programm Oscar5 oder auch örtliche Verfahren mit Flüchtlingen, von denen Fingerabdrücke und identitätssichernde Unterlagen verlangt werden. Auch an diesen beiden Beispielen wiederholt sich der Umstand von Wehrlosigkeit der betroffenen Gruppen, deren Wahrung ihrer Rechte nicht im Interesse des (National-)Staats liegt. Anmerkungen: 1 Die offizielle Bezeichnung für sie und ihre Nachkommen lautet Zainichi-Nord/Süd-Koreaner, Zainichi bedeutet in etwa: Aufenthalt in Japan. 2 Im Gegensatz dazu: ,ius solis‘‘, bei dem der Geburtsort die Staatsbürgerschaft festlegt. In Österreich gilt ebenfalls das ,ius sanguinis‘. 3 Masuyama Minoro, Leiter des Büros für Ein- und Auswanderer, 1969: „Es ist nicht im Interesse Japans, dass die hier lebenden KoreanerInnen dauerhaft bleiben.“ 4 Die Speicherung von Daten und Schutz von Persönlichkeitsrechten stehen dabei in Japan freilich in einem anderen Kontext: dort gilt für japanische StaatsbürgerInnen ein doppeltes Meldesystem von Wohnortmeldung und -registrierung im Koseki (Familienstammbuch), das i. d. R. bei Bewerbungen vorgelegt werden muss. Es umfasst detaillierte, persönliche Informationen und stand bereits in der Kritik, der Diskriminierung von unehelichen Kindern, allein-erziehenden Müttern und anderen Minderheiten Vorschub zu leisten. 5 Oscar (Outil simplifié de contrôle des aides au retour – deutsch: vereinfachtes System zur Kontrolle der Hilfen zur Rückkehr): Programm mit Datenbank, errichtet zur Organisation von Abschiebungen v. a. von Sinti und Roma. Dort werden ebenfalls Fingerabdrücke verwendet.

19

1-3.indd 19

19.06.12 19:33


D4t3n$chu1z?!

DIE VDS WEISS, WAS DU DIE LETZTEN MONATE GETAN HAST Florian Pawlik

Am 1. April trat in Österreich die Vorratsdatenspeicherung (VDS) in Kraft. Sie sorgt dafür, dass sämtliche Kommunikationsdaten von allen Menschen in Österreich verdachtsunabhängig für ein halbes Jahr gespeichert werden. Kritiker_innen sehen darin einen gravierenden Eingriff in individuelle Persönlichkeitsrechte.

A

m 28. April 2011 beschloss der österreichische Nationalrat mit den Stimmen von SPÖ und ÖVP eine Änderung des Telekommunikationsgesetzes (TKG 2003), welche die Speicherung personenbezogener Kommunikations1 daten neu regeln sollte. Mit dem Gesetzestext ermöglichte die Regierung die sogenannte Vorratsdatenspeicherung. Ein knappes Jahr später trat im April dieses Jahres das Gesetz in Kraft. Seither müssen Telekommunikationsprovider sämtliche kommunikationsbezogenen Informationen über Einzelpersonen für sechs Monate präventiv speichern und bei Bedarf staatlichen Ermittlungsbehörden zur Verfügung stellen. Je nach Kommunikationsbereich werden verschiedene Daten festgehalten: – wann wer im Internet mit welcher IP-Adresse unterwegs war – wer mit wem und wann telefoniert hat – wer mit wem und wann SMS geschrieben hat – wer wem und wann E-Mails geschrieben hat Bei Mobiltelefonen kommen zusätzlich noch die internationale Mobilteilnehmer_innenkennung (IMSI), die Internationale Mobilgerätekennung (IMEI) und die Standortbestimmung (Cell-Id) des Mobiltelefons als gespeicherte Datensätze hinzu. IMSI und IMEI sind jeweils bis zu fünfzehnstellige Seriennummern. Erstere ordnet die SIM-Karte eindeutig einer_m Nutzer_in zu, Zweitere ist eine international zugeordnete Erkennungsnummer eines Mobiltelefons. Die Cell of Origin (Cell-Id) überträgt die ungefähren geografischen Koordinaten eines Mobiltelefons. Sie tut dies anhand der jeweiligen Funkzelle, in die ein_e Mobilfunknutzer_in eingeloggt ist. Aus den gesammelten Informationen lassen sich in Folge Bewegungsprofile erstellen, mitgeführte Mobiltelefone können gleichzeitig als Bewegungsmelder eingesetzt werden. Aus der Interaktion des Mobiltelefons mit Funkzellen über sechs Monate hinweg lassen sich häu-

fig frequentierte Orte, Routen sowie Aufenthaltsdauern rekonstruieren. Aus den gewählten Kontakten und der Häufigkeit, wie oft mit einer Person telefoniert, gemailt oder SMS geschrieben wurde, lassen sich detaillierte Analysen über soziale Kontakte, deren Intensität und persönliche Verbindungen anstellen. Diese Maßnahmen zielen nicht nur auf Menschen, die konkreter Straftaten verdächtigt werden, ab. Die Erhebung und Speicherung der Informationen erfolgt verdachtsunabhängig und betrifft damit sämtliche Personen, die innerhalb Österreichs über einen Zugang zu Festnetz, Internet und/oder Mobilfunk verfügen – was im digitalen Zeitalter einer Totalerfassung der Bevölkerung gleichkommt.

Was das mit Europa zu tun hat ... Die Vorratsdatenspeicherung, um die es in der heutigen Form geht, basiert auf einer Richtlinie des Europäischen Parlaments (2006/24/ 2 EG) vom März 2006. Diese Direktive verpflichtet die assoziierten EU-Staaten zur Umsetzung der vorgelegten Überwachungsmaßnahmen im jeweiligen nationalen Kontext. In Artikel 1 der Richtlinie lautet es dazu: „Mit dieser Richtlinie sollen die Vorschriften der Mitgliedstaaten [...] harmonisiert werden, um sicherzustellen, dass die Daten zum Zwecke der Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten, wie sie von jedem Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht bestimmt werden, zur Verfügung stehen.“ Dabei ist die Richtlinie kein konkretes, für alle Staaten gleichsam wirkendes Gesetz, das unterschiedslos in der gesamten EU in gleicher Weise anzuwenden ist. Vielmehr stellt die ,Harmonisierung‘ der Überwachung einen Umsetzungsrahmen der EU dar, innerhalb dessen die einzelnen Nationalstaaten ihre konkrete Umsetzung in nationale Gesetze zu forcieren haben. In Artikel 4 heißt es dazu: „Die Mitgliedstaaten erlassen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die gemäß dieser Richtlinie auf Vorrat gespeicherten Daten nur in bestimmten Fällen und in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht an die zuständigen nationalen Behörden weitergegeben werden. Jeder Mitgliedstaat legt in seinem innerstaatlichen Recht [...] Bedingungen fest, die für den Zugang zu auf Vorrat gespeicherten Daten gemäß den Anforderungen der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit einzuhalten sind.“

Das heißt: Die einzelnen Länder sind zur prinzipiellen Umsetzung der VDS verpflichtet, ansonsten drohen Strafzahlungen. Aber auch wenn die Europäische Union Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung festschreibt, liegt es immer noch im Ermessen der jeweiligen Regierungen, die Regelungen gemäß ihrer Landesverfassungen zu adaptieren. Der Verweis, die VDS komme ,aus Brüssel‘ und da könne mensch halt nichts dagegen machen, ist falsch. Au contraire, der zitierte Artikel 4 verweist gar auf die beschränkte Verfügbarkeit von Persönlichkeitsdaten für staatliche Behörden. Richtig hingegen ist die Anmerkung, dass die VDS als Ganzes nur auf EU-Ebene zu kippen ist. Auf nationaler Ebene kann lediglich eine landesspezifische Anpassung der Vorratsdatenspeicherung erwirkt werden. Als Dauer der Speicherung schlägt das europäische Parlament einen Zeitraum von sechs Monaten bis zu zwei Jahren vor. So lange müssen in der gesamten EU die Kommunikationsdaten aller Bürger_innen dem Zugriff staatlicher Behörden lückenlos zur Verfügung stehen.

Keine Kritik ist auch keine ­Lösung Die Vorratsdatenspeicherung wurde von Beginn an von verschiedenen Seiten stark kritisiert. So wird bezweifelt, ob die zusätzliche Überwachung überhaupt einen Nutzen habe; und wenn ja, ob dieser Nutzen im Verhältnis zur gravierenden Schwere der Maßnahmen stehe. Weiters wird kritisiert, dass verdachtsunabhängig gespeichert wird. Die Bürger_innen stünden somit unter einem kollektiven Generalverdacht. Die Unschuldsvermutung gelte also nicht, wenn es

um die Speicherung persönlicher Daten gehe. Außerdem gäbe es zu Ermittlungszwecken Maßnahmen, die weit weniger in die individuellen Persönlichkeitsrechte eingriffen und schonender mit sensiblen Daten umgingen. Der zentrale Kritikpunkt lautet darüber hinaus, dass das Gesetz in seiner gegenwärtigen Form mit der österreichischen Verfassung unvereinbar sei, da die VDS tief in die Grundrechte eines jeden Individuums eingreife. Unterstützt wird diese Behauptung von Urteilen aus Bulgarien, Deutschland, Rumänien und Tschechien. Dort wurde die vorgelegte Vorratsdatenspeicherung als nicht konform mit den Verfassungen erklärt und musste zurückgenommen werden. In Österreich läuft seit Inkrafttreten des Gesetzes eine Kampagne3 des AK Vorratsdatenspeicherung mit dem Ziel, eine kollektive Verfassungsklage gegen den Grundrechtseingriff einzureichen. Stellt der Verfassungsgerichtshof tatsächlich eine entsprechende Unvereinbarkeit des umformulierten Telekommunikationsgesetzes fest, müsste – zumindest vorerst – die Vorratsdatenspeicherung als Ganzes zurückgenommen werden. Die Einschätzungen über die Erfolgsaussichten der Sammelklage, an der sich schon etwa zehntausend Menschen beteiligen, variieren. Die Sammelklage soll Mitte Juni eingereicht werden, mit einem Ergebnis in diesem Jahr wird nicht gerechnet. Anmerkungen: 1 http://www.parlinkom.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/ I/I_01074/fnameorig_206852.html 2 http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ. do?uri=CELEX:32006L0024:DE:HTML 3 https://www.verfassungsklage.at/

20

1-3.indd 20

19.06.12 19:33


D4t3n$chu1z?!

ACTA UND DIE KRAKEN In den letzten Monaten sorgte das Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA)1 für Aufsehen. Über die Bedrohungsszenarien der Kritiker*innen.

E

in riesiger Krake mit grimmigem Gesichtsausdruck sitzt auf der Erdkugel und hält sie in seinen Tentakeln gefangen. So könnte das Logo der Stopp-ACTA-Kampagne beschrieben 2 werden, die von Piratenparteien aus mehreren Staaten initiiert wurde. Die gleiche Beschreibung passt jedoch auch auf eine Karikatur von Josef Plank, die 1938 in der antisemitischen Propagandazeitschrift Der Stürmer veröffentlicht wurde. Während der ACTA-Krake ein Stirnband mit den Flaggen der Schweiz, der USA, von Japan und der EU trägt, schwebt über dem Kraken der Karikatur im Stürmer ein Davidstern. Zudem wird die Bedrohung des Kraken im Stürmer dadurch verstärkt, dass die Tentakel blutige Löcher in die Erdkugel reißen. Trotz dieser Unterschiede sind die Ähnlichkeiten des Motivs und der Bildkomposition auf den ersten Blick erkennbar und werfen Fragen auf. Bezog sich der Grafiker von der Schweizer Piratenpartei bewusst auf die antisemitische Propaganda-Karikatur? Wenn mensch ihm das nicht unterstellen möchte, sind diese Ähnlichkeiten dann purer Zufall?

Der Krake Nachdem auf dem Blog Isis Welt3 bereits 2010 die Ähnlichkeit dieser Bilder festgestellt und auf dem ehemaligen NPD-BLOG.INFO4 (inzwischen Publikative.org) ausführlicher kritisiert wurde, versuchten viele Pirat*innen, die Antisemitismusvorwürfe zurückzuweisen. Sie verwiesen darauf, dass der Grafiker des Logos die PlankKarikatur nicht gekannt hätte und die Bilder eigentlich Unterschiedliches aussagen würden. Zudem wird auf die Offenheit bei der Interpretation eines Logos und die notwendige Reduktion der Komplexität bei der Erstellung hingewiesen.5 Kurz gesagt: Die Piratenparteien zeigten kein Verständnis für die Kritik, weshalb, auch zwei Jahre nachdem diese Ähnlichkeiten thematisiert worden sind, das Logo unverändert und an zentraler Stelle auf der Kampagnenseite platziert ist.6

Die Kritikresistenz der Pirat*innen ist auffallend und ärgerlich, sie beantwortet aber nicht die Frage, wie dieses Logo, abseits von aktiver Bezugnahme oder purem Zufall, zustande kommen konnte. Das Motiv, der Krake, wird in politischen Bildern relativ häufig verwendet, um eine akute Bedrohung darzustellen. Vor allem die Tentakel sind dabei vielseitig einsetzbar: So drücken sie einen sich ausbreitenden Zugriff auf Kontinente oder Länder aus und können gleichzeitig ein gewaltvolles Erdrücken oder Verbohren symbolisieren. Einzelnen Tentakeln werden manchmal Eigenschaften zugeschrieben, die vom zentralen Kopf des Kraken gesteuert werden. Während die Tentakel für die klar erkennbaren Ereignisse im Vordergrund stehen, verweist der Kopf des Kraken auf eine dahinterliegende, geheime und zentrale Macht. Somit entsprechen Krakendarstellungen oft dem Denkmuster, das Verschwörungstheorien zugrunde liegt. Wenig überraschend überschneiden sich auch die vermeintlich Schuldigen oder ,Bösen‘, wenn der Kopf des Kraken als Jude*, Kapitalist* oder einer Kombination daraus dargestellt wird.

Der Datenkrake Nun werden Kraken als Metaphern aber sehr vielseitig eingesetzt und ein beträchtlicher Teil davon bringt weder offensichtlichen Antisemitismus noch Verschwörungstheorien zum Ausdruck. So ist der Begriff des ,Datenkraken‘ beispielsweise ein geflügeltes Wort in Diskussionen über Datenschutz. Er bezeichnet vor allem Unternehmen oder Institutionen, die Daten sammeln und oft auch einen kritisierbaren Umgang mit ihnen pflegen. Vor allem Google und Facebook werden gerne als Datenkraken angeprangert. Was diese Kraken-Metapher vergleichsweise unverfänglich macht, ist die Tatsache, dass damit in den allermeisten Fällen sehr spezifische und konkrete Kritik geübt wird. Zudem wird der Krake nicht als geheime Macht identifiziert, sondern als jene Institution, die ohnehin im Vordergrund steht. So steht beispielsweise der gleiche Name auf dem Kraken, der auch bei jedem Suchvorgang groß am Bildschirm erscheint. Nichtsdestotrotz ist die Kraken-Metapher kein Zufall, sondern be-

Nona Net

zieht seine Wirkung aus der Bedrohung, die von diesem Bild ausgeht und bei dessen Etablierung antisemitische Propaganda eine große Rolle spielte.

muster, das mit einer historischen Kontinuität durch Kraken-Metaphern symbolisiert wird.

Bedrohungsszenarien

Inzwischen wurde ACTA von drei Ausschüssen des EU-Parlaments abgelehnt und die Fraktionen der Liberalen, Linken, Grünen und Sozialdemokrat*innen haben sich bereits gegen das Abkommen ausgesprochen. Offen bleibt, welche Rolle die Bedrohungsszenarien rund um ACTA für diese Ablehnung gespielt haben. Für zukünftige Kampagnen zum Schutz der Privatsphäre oder der persönlichen Daten stellt sich aber die Frage der Perspektive. Eine Politik, die eine undifferenzierte Angst schürt, zielt auf große Aufregung ab, nimmt dabei aber Folgen in Kauf, die im konkreten Fall von ACTA Anknüpfungspunkte für Verschwörungstheorien bietet. Währenddessen arbeiten viele sachliche Kritiker*innen genauso entschlossen daran, ACTA zu verhindern. Eine solche Kritik führt hingegen zu spannenden Fragen nach der Post-ACTA-Perspektive, wie Interessen von Künstler*innen berücksichtigt werden können und wie das Internet die Vorstellung von Urheber*innenschaft verändert.

Wer gegen geplante Maßnahmen kampagnisieren möchte, muss auf negative Auswirkungen und Gefahren hinweisen. Diese Informationen können sehr unterschiedlich aufbereitet und vermittelt werden. Im Fall von ACTA passiert das zum Beispiel über ein siebenminütiges YouTube-Video7 des losen Kollektivs Anonymous, dessen deutschsprachige Version allein weit über drei Millionen Mal angesehen wurde. Untermalt von tiefen Tönen in ansteigender Lautstärke wird ein beängstigendes Bedrohungsszenario konstruiert: Sobald ACTA beschlossen sei, werde „jede Information im Internet […] genau gescannt. Du, deine Familie und deine Freunde werden pro forma gleich mitüberprüft.“ Doch das Abkommen eigne sich nicht nur zur Überwachung des virtuellen Datenverkehrs: „Diese gewalttätige Durchsetzung von Urheberrechten ist natürlich auch ein hervorragendes Werkzeug zur Unterdrückung aller Information.“ Schließlich werden die Gefahren von ACTA zusammengefasst. So seien die Konsequenzen „furchtbar“ und würden unter anderem „Internetzensur, beschränkte Meinungsäußerung, […] totale Überwachung all deiner Netzaktivitäten, Verlust der Freiheit und der Bürgerrechte“ umfassen. Auch über das Zustandekommen von ACTA gibt das Video Auskunft. Das Abkommen sei „das Resultat geheimer Lobbyarbeit zwischen Regierungen und Verbänden der Industrienationen“. Ausgehend von ACTA zeichnet Anonymous ein dystopisches Bild, das Ansätze von Verschwörungstheorien enthält. Nicht nur Zensur, auch Überwachung will demnach eine kleine Gruppe im Geheimen durchsetzen.8 Vielleicht hatte der Designer des Stopp-ACTA-Kraken eine ähnliche Vorstellung im Kopf, denn das Logo bringt dieses Bedrohungsszenario sehr gut zum Ausdruck. Damit lässt sich auch die Ähnlichkeit zum Kraken im Stürmer erklären: Es braucht weder eine aktive Bezugnahme noch puren Zufall, sondern nur ein gewisses Denk-

Politik der Angst?

Anmerkungen: 1 Eine leicht verständliche Zusammenfassung von ACTA und der Kritik daran bietet dieses Video: http://www.youtube.com/watch?v=ytr14nRfNgo 2 „Piratenpartei“ ist ein Eigenname, der geschlechtergerechte Schreibweisen nicht berücksichtigt, und wird in diesem Artikel nicht verändert. 3 http://isis-welt.blog.de/2010/03/13/piratenkrake-8170527/ 4 http://www.publikative.org/2010/07/22/krake-200/ 5 http://blog.stephanurbach.de/?p=227 6 Die ungebrochene Verwendung des Logos löste vor vier Monaten nochmals eine Debatte aus, die von Julia Seeliger beschrieben wird: http://faz-community. faz.net/blogs/allerseelen/archive/2012/02/09/mypersonal-krakengate.aspx 7 http://www.youtube.com/watch?v=9LEhf7pP3Pw 8 Dass Teile von Anonymous keine Berührungsängste zu den antisemitischen Verschwörungstheorien der Illuminati und der New World Order haben, zeigt beispielsweise folgendes Video: http://www.youtube. com/watch?v=RZB22Z7dNJM

21

1-3.indd 21

19.06.12 19:33


D4t3n$chu1z?!

DOWNLOADING KUNST. ZWISCHEN AUTONOMIE UND WARE – KUNST IM DIGITALEN ZEITALTER SASKIA

Die Kunst, ohnehin ein schwer weitestgehend unabhängig davon zu arbeiten, zu fassender Begriff, steht zwi- geschehen in der Produktion von Kunst: ein schen dem Anspruch an größt- Werk wie etwa eine gigantische Figur aus verMaterial bleibt unverwertbar; das möglicher Unabhängigkeit der gänglichem beim Betrachter erweckte Gefühl im Angesicht Künstler*innen sowie der Werke einer einmaligen Tanzaufführung wird niemals selbst und dem Einfluss gesell- Eigentum. Allerdings: Die Tanzaufführung lässt schaftlicher Entwicklungen, dem sich filmen und so eröffnet der Umgang mit besie sich nicht entziehen kann. Im reits entstandener, oft zumindest teilweise reDiskurs um den Wert ‚geistigen produzierbarer Kunst ein neues Problemfeld. Eigentums‘ zeigt sich, wie gerade neue Medien und Plattformen für Kopie und Verdigitalisierung Kunst deren Einbindung ins kapi- Wo hört Imitation auf, wo fängt Diebstahl an? talistische System erneut in Fra- Diese Frage betrifft quasi alle Kunstarten, von ge stellen. der ‚hohen Kunst‘ bis zur Populärkultur. Lässt

W

ährend Künstler*innen früher zumeist als Auftragskünstler*innen tätig waren, sind sie im Gegensatz dazu heute von keinen Mäzen*innen, Schulen oder Stilrichtungen und weniger denn je von Erwartungen an die Wahrung der Tradition gebunden. Kunst wird auch weiterhin ‚gelehrt‘, allerdings mit dem Anspruch, Künstler*innen eigeninitiativ und selbstständig Kunst schaffen zu lassen. Jedoch besteht neben dieser neuen Freiheit der Kunst auch ein System der Kunstvermarktung über Galerien, Plattenproduktionsfirmen, Künstler*innen-Vermittlungs­ agenturen etc., aus dem auszubrechen eine echte Herausforderung darstellt. Ob Internet und Co. hier Hilfestellung leisten können oder eher schaden, ist dabei noch nicht geklärt. Denn Kunst entsteht im Allgemeinen durch Menschen – und diese bewegen sich in einer sozialen, politischen und auch ökonomischen Realität. Allein der Zugang zu künstlerischer Ausbildung ist noch immer beschränkt und bevorzugt erwiesenermaßen finanziell unabhängige Personen mit (kultureller) Vorbildung. So stellt die Lebensrealität von Künstler*innen ein Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit finanzieller Mittel zur Lebenserhaltung und zur weiteren Schaffung von Kunst einerseits und einem im Gegensatz zu solchen Sachzwängen stehenden Kunst-bezogenen Idealismus dar. Der Umgang der Künstler*innen in ihrer jeweiligen Situation mit der Frage nach dem Zugang zur eigenen Kunst stellt oft eine bewusste Positionierung zum kapitalistischen System dar. Versuche, sich das System zu Nutze zu ­machen, sich ihm zu entziehen, dagegen oder

sich ‚Kunst‘ wiederholen oder kopieren und unkompliziert bis uneingeschränkt verbreiten, so muss auch eine Auseinandersetzung von Künstler*innen mit dem ‚Schutz‘ ihrer Kunst folgen. Zunächst geht es dabei auf einer theoretischen Ebene um die Unterscheidung zwischen künstlerischer Idee und dem Kunstwerk an sich. So scheint die Position eines Malers vielleicht noch verständlich, der seine Werke lediglich im Rahmen einer Ausstellung präsentiert, wo Ort und Zeitraum das Kunsterlebnis mitbestimmen und der deshalb jegliche (online-)Veröffentlichung verweigert, weil die unvermeidbare Abweichung vom Original dessen Wahrnehmung verzerrt. Im Gegensatz dazu stehen beispielsweise Street Art, die bewusst den öffentlichen Raum sucht, digitale Galerien und Museen, die gratis Zugang zu und sogar Abruf von Kopien der Werke gewährleisten, neue Bücher, die sich online downloaden lassen und bei denen Autor*innen den Umgang mit Urheberrecht festlegen, sowie Künstler*innen, die in Blogs den Entstehungsprozess eines Projekts beschreiben und so quasi jeden Schritt und Gedankengang live miterlebbar machen. Hier werden die Werke unwiderrufbar in eine anonyme Welt frei hinausgegeben; was weiter mit ihnen geschieht, wird dieser überlassen. Sowohl Werke wie auch Ideen und ‚Arbeitsweisen‘ können dadurch auf- oder abgewertet werden - und dies nicht nur im Sinne des Marktwerts. Was ‚geistiges Eigentum‘ ist und wie damit zu verfahren sei, kann nicht mehr nur der oder die Künstler*in entscheiden. Zwischenstellen, wie es im Fall von Musik z. B. Produktionsfirmen oder die Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungs-

rechte (GEMA) sind, schalten sich ein. Und auch auf bundespolitischer Ebene gibt es gesetzliche Regelungen für den Umgang mit Kunstwerken, etwa im Urheberrechtsgesetz. So legt dieses ganz klare Regeln vor, durch die der/die Künstler*in, in der Position als Urheber*in, das ausschließliche Recht zugesprochen bekommt, sowohl die eigene Kunst in irgendeiner Form zu verwerten (§14), zu vervielfältigen (§15) oder zu verbreiten (§16). Doch die Grenzen verfließen, wenn das Nachspielen oder Nachtanzen eines Liedes oder einer Performance prinzipiell möglich sind, eine berühmte Tanzlehrerin aber nicht wünscht, gefilmt zu werden, um ihre Technik schwer nachvollziehbar zu halten und dies nur gegen Bezahlung ermöglicht. Geschichten werden in verschiedensten Varianten reproduziert, trotzdem muss ein Filmemacher sich die Rechte eines Buches für eine Produktion erkaufen. So ist gerade das Filmen von Darstellungen aus Theater, Musik und Kunst verboten, solange keine Einwilligung zu dieser Nutzung von dem/der Urheber*in vorliegt – es geschieht dennoch.

Die Suche nach Mittelwegen Neben den extremen Positionen des absoluten Sich-Verschließens und dem Anspruch, Kunst frei verfügbar zu halten, gibt es auch immer wieder Versuche, einen Mittelweg zu finden. In der Musik gibt es die Möglichkeit des freien Downloads, der sich gegen eine freiwillige Spende anbietet, wodurch grundsätzlich allen Menschen die Möglichkeit gegeben wird, am Produzierten teilzuhaben. Manche Bilder finden sich online zur Ansicht, allerdings ohne Downloadfunktion, was einen Zugang ohne Vervielfältigungsmöglichkeit zulässt. Existenzängste können für Rezipient*innen von Kunst genauso real sein wie für den/die Künstler*in selbst. Gerade der starke illegale Konsum von künstlerischen Werken über nicht von Künstler*innen selbst freigegebene Downloads könnte Künstler*innen aufgrund einer finanziellen Not in Bedrängnis bringen und damit auch an der weiteren Produktionen hindern. Wenn die eigene Kunst vor der digitalen Außenwelt abgeschottet wird und sie so nur den Menschen vorbehalten bleibt, die über geeignete finanzielle Mittel verfügen, um sich Kunst auf marktübliche Weise anzueignen, widerspricht das jedoch zumeist dem Idealismus der Kunst und sie vergeht sich an sich selbst. Denn schließlich

liegt es doch prinzipiell im Interesse vieler Künstler*innen, ihre Werke zugänglich zu machen, zur Schau zu stellen, dem Urteil preiszugeben, Reflexion zu ermöglichen und klassischerweise dadurch in die jeweilige Gesellschaft hineinzuwirken.

Kein Wert – nichts wert? Letztlich eröffnen und verschließen sich viele Möglichkeiten schon durch den Wandel hin zu jener Kunst, welche selbst mithilfe digitaler Medien produziert wurde. Wer würde schließlich behaupten, es sei das Gleiche, sich zuhause einen Film anzusehen wie ins Theater zu gehen? Denn während das Publikum im Theater an den Moment gebunden ist, kann der Film einfach unterbrochen werden. Vielleicht zeigt aber gerade auch diese Unmittelbarkeit, die während eines Theaterstücks erlebt wird, dass Kunst durch einfache und selbstverständliche Reproduktion an Bedeutung und damit an Wert verliert. So ist es wohl schon allein finanziell schwer vorstellbar, dass jemand ein Orchester oder vielleicht auch nur ein Quartett in seiner Wohnung spielen lässt, während man sich beiläufig um seine Wäsche kümmert. Durch Medien wie das Radio, mp3 oder Seiten wie YouTube ist es dagegen eine absolute Selbstverständlichkeit geworden, jederzeit, in beinahe jeder Lebenssituation, zu fast allem Zugang zu haben. Das eröffnet natürlich noch nie dagewesene Informations- und Rezeptionsmöglichkeiten. Doch verändert sich nicht gerade auch durch diese Flut an Informationsmöglichkeiten auch unser Verständnis für einzelne Kunstwerke? Wenn jeder alles immer konsumieren kann, wie viel Wert, wie viel Bedeutung kommt dem Geschaffenen dann noch zu? Neben diesen starken Veränderungen und auch Problemstellungen, die durch den leichten Zugang zu Kunst entstanden sind, eröffnen sich durch die neue soziale Stellung allerdings auch viele Möglichkeiten, Kunst als ein Medium zu sehen, mit dessen Hilfe man an einem Wandel teilhaben kann. Einem Wandel für das Selbstverständnis im Umgang mit Kunst, aber auch einen für das Verständnis unserer Werte und Normen im Allgemeinen.

22

1-3.indd 22

19.06.12 19:33


D4t3n$chu1z?!

DANIEL UND NADINE FICKEN IM SOMMER IN FRANKFURT Lucia Bischof

Digitale Sicherheit ist ein fast allgegenwärtiges Thema. Nutzer_ innen können selbst ganz leicht einiges dazu beitragen, ihr digitales Leben sicherer zu gestalten, wenn einige Tipps rund um die Passwortwahl berücksichtigt werden.

2

009 wurden im Wiki des Chaos Computer Clubs (CCC) mehrere 100.000 Passwörter, Profilbilder etc. von Online-Singlebörsen veröffentlicht. Unter den Portalen fanden sich Seiten wie ma-flirt.de (bekannt dafür von Neonazis frequentiert zu werden) oder auch flirtdatings.de. Der CCC distanzierte sich von dieser Aktion. Eine Auswertung dieser Passwörter zeigte jedoch, dass die zehn beliebtesten Passwörter allesamt in wenigen Sekunden ausgelesen werden könnten. So fand sich auf Platz Eins „123456“, gefolgt von „ficken“, „passwort“, „schatz“ und „baby“ – unter den Top 10 auch noch 6.) sommer 7.) hallo 8.) frankfurt 9.) daniel 10.) nadine. Dieses Phänomen beschränkt sich jedoch nicht auf Deutschland. So hat zum Beispiel http://erratasec.blogspot.co.at 1 eine Analyse von 20.000 phpBB-Passwörtern durchgeführt, die ergab, dass die drei häufigsten Passwörter mit 3,03% „123456“, mit 2,13% „password“ und mit immerhin noch 1,45% „phpbb“ waren. Abseits vom Sieger „123456“ zeigte sich, dass 16% der gewählten Passwörter Vornamen und 14% Tastaturmuster wie „qwerty“ sind. Wird eine Kombination aus Zahlen und Buchstaben verlangt, ist „password1“ ganz weit vorne mit dabei.

,Passwortdiebstahl‘ Es zeigt sich also, dass Benutzer_innen immer noch sehr einfache Passwörter wählen, um ihre Accounts zu schützen. Es stellt sich die Frage, ob überhaupt ein Programm notwendig ist, um auf Profile mit solchen Passwörtern zuzugreifen.

Wenn jedoch von ,Datenschutz‘, ,Sicherheit im Internet‘ oder ,Passwortsicherheit‘ etc. gesprochen wird, wird grundsätzlich nicht davon ausgegangen, dass ein_e Bekannte_r sich unerlaubterweise Zugang verschafft (obwohl auch davon abzuraten ist, Bekannten* Passwörter anzuvertrauen) oder einzelne Accounts spezifisch gehackt werden (außer es handelt sich um Signifikante Personen ,des öffentlichen Lebens‘ i. e. Prominente*, Politiker*innen). Denn in der Regel werden ganze Netzwerke auf einmal gehackt und mehrere tausend bis 100.000 Passwörter gleichzeitig ausgelesen. Im Folgenden werden drei der verschiedenen Methoden dafür kurz vorgestellt.

Dictionary Attacks Bei dieser Methode des Erratens von Passwörtern wird eine Liste an Wörtern automatisch als Passwort ausprobiert. Erfolgbringend ist diese Methode nur, wenn es sich beim Passwort auch um eine sinnvolle Zeichenkombination handelt. Viele Dienste setzen ein oberes Limit für falsche Eingabeversuche, wodurch der Wörterbuchangriff verunmöglicht wird. Abseits davon bieten Sonderzeichen, Groß- und Kleinbuchstaben und nicht sinnvolle Zeichenkombinationen einen relativ guten Schutz gegen diese Art des Datendiebstahls.

Brute Force Attacks Der einfachste Lösungsansatz beim Erraten von Passwörtern ist es, einfach alle potentiellen Lösungen auszuprobieren. Brute Force, ein Angriff mit ,roher Gewalt‘, wird der Vorgang genannt, bei dem alle Zeichenkombinationen durchprobiert werden. Auch wenn eine Brute-Force-Attacke theoretisch jedes Passwort findet, kann durch ein gut gewähltes Passwort die Wahrscheinlichkeit, dieses in absehbarer Zeit zu erraten, sehr gering gehalten werden. Um sich eine besseres Bild von der benötigten Zeit und der damit verbundenen Sicherheit des eigenen Passworts zu machen, hier eine Tabelle:

Rechenzeit eines Brute-Force-Angriffs bei 1 Milliarde Schlüsseln pro Sekunde: Passwortlänge Zeichenraum

4 Zeichen

5 Zeichen

6 Zeichen

7 Zeichen

8 Zeichen

9 Zeichen

10 Zeichen

26 [a–z]

< 1 Sek.

< 1 Sek.

< 1 Sek.

8 Sek.

4 Min.

2 St.

2 T.

52 [A–Z; a–z]

< 1 Sek.

< 1 Sek.

20 Sek.

17 Min.

15 St.

33 T.

5 J.

62 [A–Z; a–z; 0–9]

< 1 Sek.

< 1 Sek.

58 Sek.

1 St.

3 T.

159 T.

27 J.

96 (+ Sonderzeichen)

< 1 Sek.

8 Sek.

13 Min.

21 St.

84 T.

22 J.

2.108 J.

(Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Passwort)

Social Engineering Die erfolgreichste Art, an fremde Passwörter zu kommen, zielt weder auf die Schwachstellen von Computersystemen noch auf schlechte Passwörter ab, sondern auf den Menschen an sich. Ob mit Phishing-E-Mails („Ihr Passwort wurde aus Sicherheitsgründen zurückgesetzt. Klicken Sie hier, um es zu ändern.“), oder mit einem Telefonanruf („Hallo, hier spricht die ITAbteilung. Wegen eines Server-Updates müssen wir Ihr Passwort ändern ...“), die meisten Passwortdiebstähle und Betrugsversuche erfolgen noch immer direkt zwischen Menschen und sind deswegen auch nur mit Aufklärung und Verständnisvermittlung zu verhindern.

Zusätzliche Gefahren und einfache Lösungen

je länger desto besser. Den gesamten zur Verfügung stehenden Zeichen- und Symbolraum ausnutzen, was bedeutet, Passwörter mit Großund Kleinschreibung, Zahlen und Nummern zu verwenden. Außerdem sollten Passwörter nicht ,recycelt‘ also mehrmals für verschiedene Anwendungen verwendet werden. Da eine lange Zeichenkette ohne Sinn mit Sonderzeichen schwer zu merken ist – wer merkt sich schon „u}u€S+AH0s{]“? – gibt es auch einfachere Wege, solche Passwörter zu kreieren und sie sich auch zu merken. Eine Möglichkeit besteht darin, sich einen Satz zu überlegen, dessen Anfangsbuchstaben das Passwort ergeben. So ein Satz kann zum Beispiel lauten „Auf twitter verbringe ich 90% meines Tages & es kostet mich 0€!“ daraus ergibt sich das Passwort „Atwvi90%mT&ekm0€!“. Ein solches 17-stelliges Passwort mit Sonderzeichen, Groß- und Kleinbuchstaben zu entschlüsseln ist de facto nicht machbar und trotzdem ist es relativ leicht zu merken. Und sollte das dann doch zu schwer zu merken sein, lässt sich auch aus den 10 beliebtesten Passwörtern ein guter Schutz für persönliche Daten machen, etwa mit D&NfiSiF&s9Msz3! (Daniel & Nadine ficken im Sommer in Frankfurt & sind 9 Monate später zu 3!). Mit so wenig benötigter Umstellung sollte es dann auch wirklich für niemanden mehr ein Problem sein, ein sicheres Passwort zu haben.

Sollten die Passwörter dann ausgelesen sein, ist in erster Linie der Zugriff auf eben jenes Konto möglich. Sollte jedoch dieselbe E-Mail-Adresse in Kombination mit demselben Passwort und evtl. sogar mit demselben Benutzer_innennamen auf mehreren Plattformen benutzt werden, ist es ein leichtes, auch an die dort gespeicherten Informationen heranzukommen. Ebenso unangenehm kann es sein, wenn das gehackte Passwort aus persönlichen Daten besteht, so wurde dann nicht nur der Zugriff auf eben jenes Konto ermöglicht, sondern auch gleich noch das Geburtsdatum Anmerkungen: 1 oder die Telefonnummer mitgeliefert. Das ,Besondere‘ an phpBB ist, dass irgendwelche Doch solche Gefahren lassen sich relativ einPasswörter gewählt werden können und es keine Mifach umgehen. Grundsätzlich gilt für Passwörter:­ nimalanforderungen gibt.

23

1-3.indd 23

19.06.12 19:34


D4t3n$chu1z?!

„WIR LEBEN IN EINER BOOMENDEN PARTIZIPATIONSKULTUR“ Dominik Wurnig

Seit 2010 ist Ramón Reichert Gastprofessor für Neue Medien am Wiener Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Der Autor des Buches Amateure im Netz forscht und lehrt zu Internetkultur, Comics, Medientheorie und Film. Im Oktober 2012 erscheint sein neues Buch Die Macht der Vielen beim Bielefelder transcript-Verlag. Mit Unique sprach er über den Arabischen Frühling, Facebook-Sabotage und runtastic. Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck sagte in einem Interview über den Internetdienst Twitter: „Ich hätte mir gewünscht, wir hätten das schon 1989 gehabt.“ Macht das Web 2.0 die Welt besser? Die Frage kann ich in dieser Tragweite nicht beantworten. Aber man kann sicherlich beobachten, wenn man soziale und politische Bewegungen anschaut – Stichwort Arabischer Frühling – dass die sozialen Medien wesentlich dazu beigetragen haben, so etwas wie eine kritische Öffentlichkeit herzustellen. Twitter, Facebook oder YouTube haben Möglichkeiten, die andere Medien nicht aufweisen: Sie sind dezentral, sie können durch viele weitergetragen werden und sie können annähernd in Echtzeit reagieren. Das heißt, sie sind ähnlich wie eine Druckschrift, eine Zeitung oder ein Flugblatt im 19. oder 20. Jahrhundert neue Hilfsmittel für ­Aufstände? Bei einer personalisierten Repräsentation, einem namentlich ausgewiesenen Blog zum Beispiel, kann man zu einer politisch verfolgten Person werden. Und dieser Blog kann dann auch zensuriert oder gesperrt werden. Bei einer Facebook-Geschichte ist das schon viel schwieriger, weil das durch viele andere Personen einfach weitergetragen wird. Insofern kann man sagen, die gefährlichste Waffe im Internet ist der Gebrauch der sozialen Medien als Verbreitungsmedium – durch viele an viele. Die wichtigste Frage für diese Bewegungen im arabischen Raum ist: Wie kann ich möglichst rasch und effektiv eine virtuelle Menge versammeln, die eine Meinungshoheit repräsentiert?

Aber man liest oft in Analysen oder Zeitungsartikeln über Ägypten: Der entscheidende Fehler aus der Sicht des Regimes war es, das Internet abzudrehen, weil dadurch die Leute auf die Straße oder auf den Tahrir-Platz gegangen sind, um nicht vom Informationsfluss abgeschnitten zu sein. Stimmt das? Das Internet kann man nicht einfach so abdrehen. Man kann das Handynetz abdrehen, das ist zentral reguliert. Aber die vielen Akteur­ Innen, die sich über Facebook organisieren, die kann man zentral nicht abdrehen. Und auch die Zusammenarbeit zwischen China und Google, um gemeinsam eine Grammatik unerwünschter Wörter zu erarbeiten, ist sozusagen eine verspätete Polizeitechnik, weil dadurch die Leute anderswohin ausweichen; wie zum Beispiel auf Dating-Plattformen, um dort politisch zu kommunizieren, wo man eigentlich früher über Liebe und FreundInnenschaft kommuniziert hat. Das Internet hat die Arabische Revolution nicht ermöglicht oder erfunden, aber es ist ein ganz wesentlicher Verstärker. Allgemein zum Web 2.0: Wie beeinflusst es junge Menschen auf der ganzen Welt? Die grundsätzliche Attraktivität ist die, dass Jugendliche einen ganz großen Bedarf haben, über sich selbst zu kommunizieren, weil sie ihre sozialen Rollen noch nicht gefunden haben. Sie versuchen, permanent Anerkennung zu lukrieren, nachzufragen, wo sie in der Gruppe und generell auch sozial stehen. Das heißt, dass die Frage der Gruppenzugehörigkeit ungelöst ist und immer wieder von Neuem verhandelt werden muss. Sind denn die Begriffe Web 2.0 oder MitmachNetz noch aktuell? Unbedingt. Ja. Wir leben in einer boomenden Partizipationskultur, nur hat es sich von dieser Graswurzelmentalität abgelöst. Das Doit-yourself ist jetzt im kommerziellen Mainstream fix angekommen. Es hat sich von diesem politischen oder politisch motivierten Kontext – Stichwort Zivilgesellschaft, BastlerInnen, AmateurInnen – abgelöst und ist zu etwas Unspektakulärem in der Star-Fan-Kommunikation geworden. Ein kritischer Einwand könnte hier lauten: Wie weitreichend ist die Teilhabe der Fans? Ist die Userin oder der User einfach nur Content-LieferantIn, der oder die seinen oder ihren Teil abliefert, aber dann im weiteren Entscheidungs- oder Redaktionsprozess nicht mehr miteinbezogen ist? Wir haben sehr viele Anbie-

terInnen, die dieses Partizipationspotential sehen und erkennen, aber die UserInnen für ihren Beitrag nicht gebührend honorieren, weder finanziell noch symbolisch. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist die Video-Hommage Behind the mask für Michael Jackson. Für dieses Video wurde das kreative Potential der Fans ausgebeutet. Aber grundsätzlich ist die Partizipation dann interessant, wenn den Fans die Möglichkeit geboten wird, an einem Produkt von Anfang bis zum Ende mitzuarbeiten und mitzugestalten, und die Entscheidungen von der Konzeptidee bis zur Produktwerbung auch kollektiv zu treffen. Das heißt nur dann haben sie einen Nutzen daraus? Nur dann kann man von einer basisdemokratischen Partizipation und einer gleichberechtigten Zusammenarbeit sprechen. Wenn man die Kreativität und Innovation von UserInnen wirklich ernst nehmen will, dann muss man dem Ganzen größeren Gestaltungsspielraum geben. Es gibt aber auch sehr viele solche Projekte – kollaborative Filme usw. –, die redaktionelle Entscheidungen wirklich transparent machen und die Diskursgeschichte der kollektiven Ausverhandlungsprozesse auch im Netz öffentlich machen. Aber das heißt, kollektive, basisdemokratische und emanzipatorische kulturelle Produkte bleiben weiterhin am Rand, und der Mainstream ist weiterhin reine Distribution? Eine one way show? Ja, das ist one way. Ich werde von einer Agentur adressiert und ich schicke an eine Zentrale meinen Content. Das ist im Grunde wie ein Call-in bei einer Fernsehshow: Ich rufe an, hinterlasse meinen Beitrag und was damit genau passiert, das entzieht sich meiner Kontrolle. Das berühmteste Beispiel hierfür – man nennt das auch Episodenbeteiligung oder Omnibusfilm – ist der YouTube-Film Life in a day. Es gibt eine Ausschreibung, jede und jeder kann etwas einsenden und daraus wird etwas ausgewählt. Sind die goldenen Zeiten von Facebook vorbei? Vor dem Hintergrund eines anhaltenden Datenalarmismus und einer allgemeinen Privatsphären-Sensibilisierung könnte es zu einem Umschwung kommen. Wenn die Facebook-Mitglieder dazu übergehen würden, Fake-Profile im Front-End-Bereich anzulegen, dann könnte es zu einer nachhaltigen Destabilisierung der Profileinträge kommen. Damit könnte Facebook

seine kommerzielle Bewirtschaftung der Daten und Informationen der NutzerInnen nicht mehr durchführen. Dann wäre die goldene Zeit von Facebook dahingehend vorbei, ein Geschäftsmodell zu sein, das auf den Daten der UserInnen ein Prognosemodell für die Werbewirtschaft aufbaut. Wenn Millionen von Profileinträgen unzuverlässige Informationen wiedergeben, dann bricht das gesamte System der sozialstatistischen Auswertung im Back-End-Bereich zusammen. Gibt es in diese Richtung organisierte Formen der, wenn man so will, Facebook-Sabotage? Nicht wirklich, aber es gibt jetzt die Initiative Facebook 2. Dort wird thematisiert, dass Facebook ein politisch korrekter Raum ist, der vor allem über den Like-Button affirmativ organisiert ist: Man soll diesen euphorischen, positiven Ton pflegen. Man soll der Netiquette entsprechend keine sexistischen, rassistischen oder homophoben Inhalte posten. Und Facebook 2 versucht genau diesen gereinigten Kommunikationsraum, für den Facebook steht, zu durchbrechen: Hier wird nur das gepostet, was der politischen Korrektheit nicht entspricht. Facebook 2 ist eine Gruppe auf Facebook, die man nicht findet und zu der man eingeladen werden muss. Sie hat ungefähr 30.000 Mitglieder und ist quasi eine negative Gegenwelt zum Original. Es gibt sehr viele Anwendungen zur Selbstbeobachtung und -messung oder zur Erstellung von Statistiken über sich selbst: Was ist kritikwürdig an Apps wie runtastic oder dem Perioden-Fruchtbarkeitskalender Lily? Die Transparenz meiner Aktivitäten für FreundInnen und Bekannte wird ganz klar durch Apps angeschoben, die ein neues Niveau der statistischen Durchdringung des Subjekts ermöglichen. runtastic ist eine App, die es mir ermöglicht, die Lauffortschritte einer ­ Userin oder eines Users über einen historischen Zeitraum zu verfolgen und die Person interaktiv beim Joggen zu begleiten. Über Buttons kann ich motivieren, anhupen, klatschen, Zurufe machen und dergleichen. Das ist ein Set an Wissenstechniken, die aus dem Bereich des Managements, der Arbeitswissenschaft und der Kontrolltechnologien wie der Polizeiwissenschaft kommen, die jetzt über die Apps eingeführt werden. Dies entspricht einer neuen statistischen Sichtbarmachung von Subjektivität bei Facebook, die es früher nicht in diesem Ausmaß gegeben hat.

24

1-3.indd 24

19.06.12 19:34


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.