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Das Wesen aus der Wollmütze
Fotos: Voigt & Kranz UG
Känguru im Vogelpark Marlow mit der Flasche aufgezogen
Sammy ist weg. Irgendwo auf diesem Freigelände muss das kleine Känguru sein, da ist sich Anja Walther-Fuchs sicher. Vielleicht sitzt es unter einem Busch. Oder ist intensiv damit beschäftigt, Gras zu fressen, und hört nicht, dass seine Mutter ruft.
Denn das ist die Biologin seit etlichen Wochen: die Ersatzmutter. Zwei Fläschchen mit leckerer Milch hat sie dabei und obwohl Sammy nun schon recht groß gewachsen ist, nimmt er sie gern – zumal es bei der Gelegenheit immer noch ein paar Streicheleinheiten gibt.
Doch erstmal bleibt er verschwunden. Zwischen Büschen, Bäumen und Steinen hüpfen etliche Kängurus umher, auch Jungtiere, aber keins reagiert auf die Rufe. Und so langsam erkennt auch Anja Walther-Fuchs ihren Schützling nicht mehr so ohne weiteres aus der Ferne. „Aber er würde herkommen, wenn ich ihn rufe“, sagt sie. „Er würde den Kopf heben und die Ohren aufstellen.“
Und dann ist Sammy plötzlich doch da, schmiegt sich in die Arme seiner Retterin und fängt sofort an zu trinken. Eine Pfote legt er besitzergreifend an das Fläschchen –ganz so, wie Menschenbabys es auch tun. Und er schluckt ganz schnell, als ob ihm jemand etwas wegnehmen könnte.

Eine ganz besondere Verbindung
Angefangen hat diese besondere Beziehung mit einem Drama: An einem ungewöhnlichen kalten Morgen im Vorfrühling fand eine Tierpflegerin das winzige Känguru verlassen und völlig ausgekühlt mitten auf dem Rasen der Anlage. „Da war nicht mehr viel Leben drin, er konnte sich nicht bewegen oder trinken. Aber wir wollten trotzdem versuchen, ihn zu retten.“ In einer Wollmütze mit Wärmflasche taute der Kleine buchstäblich wieder auf. Nach einigen Stunden konnte Anja Walther-Fuchs versuchen, ihn zu füttern. Aber erst in der Nacht, als alles still war, nahm er zum ersten Mal die angerührte Katzenmilch an. „Sie ist natürlich nicht perfekt, weil sich Känguru-Milch im Laufe der Zeit verändert und an die Entwicklung des Jungen anpasst“, erklärt die Biologin. Aber das Jungtier trank sie gern, bekam tagsüber fünf oder sechs Mal das Fläschchen, außerdem nachts noch zwei Mal. „Er lag in seiner Mütze im Rucksack neben meinem Bett, da fing es dann an zu rappeln, wenn er Hunger hatte.“
Vieles lässt sich mit einem Baby vergleichen – sie weiß das, denn sie hat selbst einen kleinen Sohn. „Füttern, kuscheln, da sein. Wenn Sammy mich vermisst, ruft er mit einem speziellen Ton. Und wenn ihm etwas nicht passt, wird gefaucht.“

Rucksack mit lebendigem Inhalt
Nicht mal ein Kilogramm wog das Tierchen zu Anfang, war – ohne Schwanz – knapp 20 Zentimeter lang. „Wir nehmen an, dass er damals etwa fünf oder sechs Monate alt war.“ Anja Walther-Fuchs hatte bereits Erfahrung mit solchen Winzlingen: Vor mehreren Jahren hatte sie schon einmal eines aufgezogen.
Zu Anfang nahm sie Sammy überall mit, verpackt in der Wollmütze, die als Beutel-Ersatz diente und ihrerseits im Rucksack steckte. „Ich habe beides nie gewaschen, damit der Geruch erhalten bleibt. Das wäre ja bei seiner Mutter auch so gewesen.“
Bennett-Kängurus sind in Australien heimisch, leben aber auf vorgelagerten Inseln und werden nicht so groß wie die auf dem Kontinent. Warum seine eigene Mutter Sammy aus dem Beutel geworfen hat, weiß niemand. Und sie hat auch später keinen Kontakt mehr zu ihm aufgenommen.

Aus der Mütze herausgewachsen
Aber Sammy ist inzwischen groß geworden, wiegt etwa drei Kilogramm. Die Fläschchen mit der Katzenmilch gibt es nur noch einmal am Tag. Tagsüber ist er bei seinen Artgenossen auf der Anlage, frisst Gras und Blätter – auch das hat seine Ziehmutter zu Hause mit ihm geübt.
Und die anderen Känguru-Kinder haben schon Kontakt zu ihm aufgenommen. „Ich glaube, es ist alles gutgegangen“, lächelt die erfahrene Tierpflegerin. „Er hat sich gut eingelebt.“
Heute Morgen hat Sammy unterdessen auch das zweite Fläschchen geleert, langsam fallen ihm die Augen zu. Seine Pflegemutter holt die Wollmütze, Sammy verschwindet fast völlig darin. Ein bisschen später wird er sich wieder unter seine Artgenossen mischen und auf der weitläufigen Anlage verschwinden. Und bald wird er für die Mütze einfach zu groß sein.