Präsentation der Publikation von Elena Pierazzo: „A rationale for digital documentary editions“. Literary & Linguistic Computing, vol. 26, no. 4, 2011. Oxford University Press. Wir möchten heute über Elena Pierazzos Überlegungen zum Thema der “Digitalen Diplomatischen Editionen” sprechen. Die Unterschiede zu traditionell in Buchform verlegten Transkriptionen und einige “Best Practices” für das neue Medium werden am Beispiel eines dreijährigen, vom „Arts und Humanities Research Council“ von Großbritannien geförderten Projektes erläutert. Der Sinn des Projektes war es, die in verschiedenen Bibliotheken aufbewahrten Manuskripte der Belletristik von Jane Austen kostenfrei ins Internet zu stellen. Zur Veranschaulichung, vorab ein praktisches Resultat der Arbeit: das handschriftliche Faksimile-Manuskript - in diesem Fall der Anfang von Kapitel 10 des Werks “Persuasion” bzw. “Überzeugung” – und links dessen Ausgabe in XML-Transkription. Die akribische Entzifferung verworfener Gedanken der Autorin fällt sofort ins Auge. Worum soll es also in dieser Präsentation gehen? Zunächst einmal einige Definitionen, dann Gedanken zu neuen Möglichkeiten der digitalen Transkription für die Literaturforschung mit Fokus auf Sinn, Nutzen und Kosten, einige konkrete Beispiele der besonderen Herausforderungen, und schließlich praktische Gedanken zur Umsetzung. Für diejenigen, die - wie ich - wenig über Jane Austen wissen, am unteren Folienrand einige Eckdaten zum Leben: Jane wurde siebzehnhundertfünf-und-siebzig in bescheiden-bürgerliche Verhältnisse geboren und fing früh mit dem Schreiben an. Erste erhaltene Manuskripte stammen aus dem Jahr siebzehnhundertsieben-undachzig, die letzten von kurz vor ihrem Tod im Alter von 41 Jahren. Nicht Teil dieser Sammlung sind ihre wohl bekanntesten Werke, die Romane, die erst in der Zeit nach achtzehn-hundert-elf entstanden. Rechts ihr Grabstein in der Kathedrale von Winchester. Was versteht die Autorin des Artikels also unter einer “diplomatischen Edition”? Es handelt sich um eine Transkription, die insoweit möglich die Charakteristika der Vorlage, des Manuskripts – im Englischen des “Diploma” oder “Exemplar” - in moderner Typographie bewahrt. D.h. es werden originalgetreu Zeilen- und Seitenumbrüche, Kürzel und verschiedene Buchstaben wiedergegeben. Seit Neuerem ist es auch möglich, die genaue Topographie und Kollokation der Schriftzeichen auf dem Papier zu kodieren, sowie funktionelle Zeichen und Markierungen zu kennzeichnen. So würde die “diplomatische Edition” zum Ersatz des Faksimiles, also der photographisch exakten Reproduktion. Es handelt sich aber um ein Derivat, eine Transkription, zugleich Akt als auch Produkt einer editoriellen Arbeit. Pierazzo präzisiert, dass es weiterer Arbeitsschritte bedarf - Korrekturlesen, Annotation und Publikation - bevor das Derivat formal dem Betrachter dargestellt wird. Im Hinblick auf die Frage, was eine “diplomatische Edition” ausmacht, erinnert die Autorin an die von Michael Sperberg-McQueen 2009 aufgestellten Thesen: Erstens, es gibt unendliche Fakten um ein literarisches Werk; Zweitens, eine Edition kann nur einen beobachtbaren und rekonstruierbaren Teil dieser unendlichen Fakten festhalten; Drittens, jede Edition wählt eine spezifische Blickweise auf diese Auswahl. Eine praktische Einschränkung stellt der Druck mit beweglichen Lettern dar: die individuelle Form und Laufweite der Schreibschrift geht verloren. So bedarf es einer Interpretation, einer selektiven Anpassung, zur Bewahrung der Intention. Es handelt sich um eine Translation, eine Überführung von einem semiotischen System – dem des Manuskripts – in ein anderes: die Druckform. Diese Übersetzung ist irreversibel, es gehen Komplexität und Inhalte unwiderruflich verloren. Es bedarf daher umsichtiger und fundierter Entscheidungen bei der selektiven Auswahl von Aspekten durch den Herausgeber. Hierbei sollte der leitende Grundsatz die wissenschaftliche Objektivität sein. Der Interpret muss über die Fähigkeit verfügen, Fakten und Informationen korrekt darzustellen, ohne Meinungsfärbung oder Hinzutun persönlicher Gefühle.