Die Hochzeit des Figaro

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Spielzeit 2024/25

Die Hochzeit des Figaro

Oper von Wolfgang Amadeus Mozart

„Die Möglichkeiten der Sprache sind größer als die der Macht.“
Peter Turrini

Die Hochzeit des Figaro

Le nozze di Figaro

Opera buffa in vier Akten von Wolfgang Amadeus Mozart

Libretto von Lorenzo da Ponte nach der Komödie „La folle journée ou

Le mariage de Figaro“ von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Die Uraufführung fand am 1. Mai 1786 am Burgtheater in Wien statt.

Graf Almaviva

Gräfin Almaviva

Susanna, Verlobte des Figaro

Figaro

Cherubino, Page des Grafen

Marcellina

Bartolo, Arzt

Basilio, Musiklehrer

Don Curzio, Richter

Barbarina, Tochter des Antonio

Antonio, Gärtner des Grafen und Onkel von Susanna

Maciej Kozłowski

Antje Bornemeier

Franziska Ringe / Melissa Domingues

Alexandru Constantinescu

Pihla Terttunen

Elisabeth Starzinger

Jovan Koščica

Semjon Bulinsky

Bassem Alkhouri

Soobhin Kim

Thomas Rettensteiner

Opernchor, Extrachor und Kinderchor des Theaters Vorpommern

Philharmonisches Orchester Vorpommern

Liebe Gäste, wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen aus urheberrechtlichen Gründen untersagt sind. Vielen Dank.

Musikalische Leitung

Nachdirigat

Inszenierung

Bühne

Kostüme

Licht

Chöre

Dramaturgie

Musikalische Assistenz

Musikalische Hospitanz

Regieassistenz & Abendspielleitung

Regiehospitanz

Inspizienz

Soufflage

Übertitel & Übertitelinspizienz

Alexander Mayer

David Behnke

Wolfgang Berthold

Stefan Rieckhoff

Julia Klug

Roland Kienow

Jörg Pitschmann

Katja Pfeifer

David Behnke, David Grant, David Wishart

Stefan Schuster

Frida Jasper

Alice Bouzanne

Lisa Henningsohn

Saskia Becker

Katja Pfeifer, Alice Bouzanne

Premiere in Stralsund am 10. Mai 2025

Aufführungsdauer: ca. 3 Stunden, Pause nach dem 2. Akt

Aufführungsrechte: Neue Mozartsausgabe, Alkor-Edition Bärenreiter, Kassel

Ausstattungsleiterin Eva Humburg Technischer Direktor Christof Schaaf

Bühnentechnische Einrichtung Andreas Flemming Toneinrichtung

Hagen Währ, Samuel Zinnecker Leitung Bühnentechnik Michael Schmidt

Leitung Beleuchtung Kirsten Heitmann Leitung Ton Daniel Kelm Leitung

Requisite Alexander Baki-Jewitsch, Christian Porm Bühne & Werkstätten:

Produktionsleiterin Eva Humburg Tischlerei Stefan Schaldach, Bernd

Dahlmann, Kristin Loleit Schlosserei Michael Treichel, Ingolf Burmeister

Malsaal Anja Miranowitsch, Fernando Casas García, Sven Greiner

Dekoration Paul Gebler Kostüm & Werkstätten: Gewandmeisterinnen

Annegret Päßler, Carola Bartsch Modisterei Elke Kricheldorf Ankleiderinnen

Ute Schröder, Petra Westphal Maske Tali Rabea Breuer, Jill Dahm, Antje Kwiatkowski, Kateryna Maliarchuk, Ilka Stelter, Philipp Gielow

„Will

der Herr Graf den Tanz mit mir wagen?“

Figaro

Vier Jahre lang kämpft Pierre Augustin Caron de Beaumarchais gegen das Verbot seines Stückes „Figaros Hochzeit oder Der tolle Tag“ durch König Ludwig XVI. Der Streit nimmt politische Dimensionen an: Die Öffentlichkeit wirft Ludwig Unterdrückung und Tyrannei vor. Die erste Aufführung findet im Frühjahr 1784 statt und dauert fünf Stunden, immer wieder unterbrochen durch Beifallsstürme und tumultartige Szenen im Publikum.

Dass fünf Jahre später in Paris die Bastille erstürmt werden wird, weiß zu diesem Zeitpunkt noch niemand, obwohl Ludwig XVI. sein Verbot der Komödie mit dem Satz „Wenn ich dieses Stück genehmigte, wäre es völlig inkonsequent, nicht gleich die Bastille einzureißen“ begründet haben soll. In jedem Fall ist aber allen – natürlich auch dem Autor selbst – die Tatsache bewusst, dass das Stück puren politischen Sprengstoff bedeutet. Hier werden Ständeordnungen nicht nur infrage gestellt, sondern – schlimmer noch – der Lächerlichkeit preisgegeben. Das anarchistische Lachen aus der Feder eines

Mannes, der selbst schon alles erlebt hat. Als Sohn eines Uhrmachers geboren, kommt Pierre Augustin Caron als Harfenlehrer der Töchter Ludwigs XV. an den Hof zu Versailles und nutzt die Gunst der Umstände: Er heiratet sich in den Adelsstand und heißt von da an Pierre Augustin Caron de Beaumarchais.

Schon bald steigt er zum Sekretär des Königs auf, für den er mal als Berater, mal als Spion oder Waffenhändler arbeitet und dabei nennenswerten Reichtum anhäuft. Ab 1767 widmet er sich seinem literarischen Talent: Er schreibt Stücke, fälscht Urkunden, wird der Fälschung überführt und verliert die bürgerlichen Ehrenrechte. Doch die spitze Feder bleibt ihm: In seinen Memoiren wird er Korruptionsfälle offenlegen, Namen nennen. Auch beginnt er, politisch brisante Komödien zu schreiben, in denen er den Adel verlacht und die gesellschaftlichen Zustände anprangert. 1775 erscheint das erste Stück seiner Trilogie um den pfiffigen Figaro, „Der Barbier von Sevilla“. Ihm folgen 1785 „Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit“ und schließlich 1792 „Der zweite Tartuffe oder Die Schuld der Mutter“. Immer wieder muss Beaumarchais gegen Aufführungsverbote kämpfen und immer wieder findet er Schlupflöcher, durch die er seine Manuskripte doch verbreitet.

So gelangt „Die Hochzeit des Figaro“ in deutscher Übersetzung auch nach Wien. Die Schauspieltruppe von Emanuel Schikaneder studiert die Komödie ein, die Aufführung am 3. Februar 1785 am Kärntnertortheater wird allerdings von Kaiser Joseph II. verboten. Die gedruckte Fassung jedoch bleibt im Umlauf – und fällt bei dem KomponistenLibrettisten-Gespann Mozart / da Ponte, vielleicht gerade wegen des Verbots, auf fruchtbaren Boden.

Wolfgang Amadeus Mozarts eben erst eingeschlagener Weg in Richtung Deutsche Spieloper, den er 1782 mit der „Entführung aus dem Serail“ be-

schritten hatte, wird ihm vom selben Kaiser abgeschnitten. 1783 lässt dieser die Deutsche Oper Wien schließen und entlässt das gesamte Ensemble. Mozart sieht sich daher gezwungen, wieder dem italienischen Weg zu folgen, der einen scheinbaren Rückschritt in alte Opernmuster bedeutet. Nicht aber, wenn das richtige Team zum richten Zeitpunkt eine zündende Idee hat: Mit einem kongenialen Librettisten wie Lorenzo da Ponte an seiner Seite wagt Mozart den Neuanfang: weg von den alten, mythologischen Stoffen mit ihren moralisch überhöhten Werten, hin zu echten Menschen auf der Bühne und zeitgemäßen Themen.

„Und wenn es dann möglich wäre, zwei gleich gute Frauenzimmerrollen hineinzubringen. Die eine müsste seria, die andere Mezzo-Charaktere sein – aber an Güte – müssten beide Rollen ganz gleich sein. Das dritte Frauenzimmer kann aber ganz buffa sein, wie auch alle Männer, wenn es nötig ist“, schreibt Mozart 1783 an seinen Vater und schildert hiermit im Grunde schon die Figurenkonstellation des „Figaro“, noch bevor er Beaumarchais‘ Komödie kennt. Auch wird ihn die Subversivität des Stoffes gereizt haben. Doch ist es nicht die Französische Revolution, die Mozart hier im Sinn hat, auch nicht die große politische Bühne, sondern die feine Insubordination, die festgefahrene Gesellschaften ins Schwanken bringt. Dass Figaro letztendlich über den Grafen siegt, mag als kleine Genugtuung für Mozart gelten, war dieser doch wenige Jahre zuvor selbst mit einem Grafen aneinandergeraten und hatte dabei den Kürzeren gezogen: „Da schmeißt er mich zur Türe hinaus und gibt mir einen Tritt in den Hintern … Das Herz adelt den Menschen. Und wenn ich schon kein Graf bin, so habe ich vielleicht mehr Ehre im Leib als mancher Graf. Und Hausknecht oder Graf: Sobald er mich beschimpft, so ist er ein Hundsfott“, waren Mozarts Worte nach seiner (offenbar bühnenreifen) Entlassung aus den Diensten des Grafen d’Arco. Doch „Die Hochzeit des Figaro“ als einen pri-

vaten Rachefeldzug anzusehen, griffe viel zu kurz. Indem er – wie zuvor auch Beaumarchais – ein (vermeintliches) feudales Vorrecht wie das „Ius primae noctis“, also das Recht, als erster mit der Braut eines Untergebenen zu schlafen, nicht nur aushebelt, sondern ganz allgemein die Fähigkeit des Grafen, bei einer seiner Angestellten zum Zuge kommen zu können, infrage stellt, zweifelt er sowohl die intellektuelle als auch moralische Überlegenheit des Adels an. Die mal feinen, mal tiefergehenden Nadelstiche im Libretto sind von da Ponte meisterlich gesetzt und erweisen sich auch noch in Zeiten wirksam, in denen die Rollen tolldreister Grafen durch milliardenschwere Unternehmer ersetzt werden. Doch Mozart beschreitet auch musikalisch neue Wege. Zwar scheint er oberflächlich noch dem Prinzip der traditionellen Oper zu folgen, indem er sich an die groben formalen Regeln hält, doch dehnt er sie in alle Richtungen wie ein Korsett, dass er nicht direkt sprengen, aber doch maßgeblich weiten will. Schon bei der Figurenkonstellation fällt auf, dass die klassische Einteilung in ein hohes ernstes (seria) und ein niederes komisches (buffo) Paar nicht mehr funktioniert. Zwar lässt sich die Partie der Gräfin durchaus als „seria“ bezeichnen, die Handlungsweise des Grafen ist aber weder hoch noch ernst. Und auf der anderen Seite trägt Susanna immer wieder nachdenkliche

Züge, die so gar nicht zu einer BuffoExistenz passen mögen. Hier verschieben sich die Rollenfächer und mit ihnen die Standesgrenzen. Auch kommt bei „Figaro“ den Rezitativen eine neue Wertigkeit zu. Waren Rezitative ursprünglich bloße Mittel zum Zweck, um die Handlung vorwärtszutreiben und wichtige Informationen zu vermitteln, während Arien, Ensembles und Chöre den Kern der Oper bildeten, so dreht Mozart hier den Spieß um. Die Rezitative sind es, die die Basis der Oper bilden, in rasantem Tempo die Handlung mehr und mehr verwickeln, sodass sich die Zuhörer*innen schon bald nach den wenigen Momenten der Ruhe (und der Reflexion) in den Arien und Ensembles zu sehnen beginnen. Von der Beschaulichkeit der klassischen Opera ist bei Mozarts „Figaro“ nichts zu spüren. Vielmehr ist man an die Comme-

dia dell’arte erinnert, an ihre Art der Stegreifkomödie, bei der alle handelnden Figuren versuchen, anderen Fallen zu stellen, in die sie dann meist selbst hineintappen. Und man erkennt schon den Weg, den Rossini mit seinem „Barbier von Sevilla“ dreißig Jahre nach der Uraufführung von Mozarts Oper konsequent weiterführen wird, indem er den Bühnenwahnsinn in völligem textlichen Nonsens gipfeln lässt.

Mozart geht diesen Schritt nicht, denn es sind keine Commedia-dell’arte-Typen, die hier handeln. Es sind Charaktere, Menschen, die in einem Moment typengerecht komisch über die Bühne poltern, im nächsten aber innehalten und zu Charakteren werden mit all ihren Sehnsüchten, Stärken und Schwächen. Denn Mozart interessiert vor allem eins: das Menschliche.

„Man muss die Welt nicht verstehen. Man muss sich darin zurechtfinden.“

Was bisher geschah: „Ein verliebter Alter will morgen sein Mündel heiraten; ein junger Liebender mit mehr Geschick kommt ihm zuvor und macht es noch am gleichen Tag zu seiner Frau, vor der Nase und im Haus des Vormunds.“

So weit Beaumarchais‘ Zusammenfassung seines Stückes „Der Barbier von Sevilla“, das die Vorgeschichte zur „Hochzeit des Figaro“ darstellt. Der „verliebte Alte“ heißt Bartolo. Er beschäftigt eine Haushälterin namens Marcellina, die für ihn weit mehr als nur eine Haushälterin ist und darüber hinaus eine gewisse Finesse im Umgang mit Geld an den Tag legt. Aus dem „jungen Liebenden“ und dem „Mündel“ ist mittlerweile ein herrschaftliches Ehepaar geworden: Gräfin und Graf Almaviva. Wen Beaumarchais in seiner kurzen Zusammenfassung unerwähnt ließ, ist der Namensgeber beider Stücke: Figaro, der Barbier von Sevilla. Hochverschuldet musste er sein Friseurgeschäft aufgeben und sich Geld bei Marcellina leihen. Im Kleingedruckten dieses fatalen Vertrages war zu lesen, dass er sich im Falle anhaltender Insolvenz mit Haut und Haaren der Gläubigerin zu ergeben habe.

Längst hat Figaro diese Klausel vergessen, er steht mittlerweile im Dienst des Grafen und kurz vor der eigenen Hochzeit mit Susanna, der Zofe der Gräfin.

Hier beginnt Mozarts Oper, eine rasante Charade voller kindlicher Spielfreude und menschlicher Tragik, temporeicher Rezitative und lyrischer Arien, vieler Briefe, echter Intrigen, zahlreicher Beteiligter und einer Hochzeit.

Susanna und Figaro möchten heiraten. Alles ist geplant und könnte reibungslos über die Bühne gehen, wären da nicht noch andere Begehrlichkeiten …

„Wenn jemand der Anwesenden etwas gegen diese Verbindung einzuwenden hat, möge er jetzt sprechen oder auf ewig schweigen.“

Eine Formel, die durchaus Sinn macht, aber einen ganzen Theaterabend ruinieren könnte, würden doch alle Konflikte, die die geplante Hochzeit heraufbeschwört, damit in kürzester Zeit angesprochen und geklärt werden. So aber …

Figaro Seit seiner Zeit als Barbier in Sevilla ist viel passiert. Er hat seine Unabhängigkeit aufgegeben und ist als Angestellter des Grafen auf dessen Anwesen gezogen. Dort hat er sich in Susanna verliebt, und es scheint, als würde sein zukünftiges Leben nun in geregelten Bahnen verlaufen. Doch so schnell kommt Figaro nicht zur Ruhe. Und Pläne schmiedet er immer noch gerne …

Susanna In ihr hat Figaro seine Meisterin gefunden. Bisweilen ist sie sogar schneller mit den Plänen bei der Hand als Figaro – auch hat sie in der Gräfin eine loyale Chefin, was man von dem Verhältnis zwischen dem Grafen Almaviva und Figaro nicht behaupten kann. Aber das ist zu Beginn der Oper noch alles Nebensache, denn erst einmal freuen sich Susanna und Figaro auf ihre Hochzeit.

Graf Almaviva hat zwar nicht ursächlich etwas gegen die Eheschließung seiner beiden Angestellten einzuwenden, möchte aber seine Macht (und seine Potenz) unter Beweis stellen, indem er noch vor der Hochzeit eine Nacht mit Susanna verbringt. Am liebsten geht er nächtens im Garten auf die Jagd. Dass er mit einer

liebenden Frau zusammenlebt, vergisst er bisweilen.

Marcellina hat schon lange ein Auge auf Figaro geworfen und auch ein Papier gegen ihn in der Hand: einen Schuldschein, der ihr die Ehe mit Figaro garantiert, sollte er seine Schulden nicht zurückzahlen können. Und Figaro ist notorisch pleite.

Cherubino steht Begriffen wie „Ehe“ und „Treue“ eher liberal gegenüber. Er liebt die Liebe als solche und die Gräfin und Susanna und Barbarina. Was er nicht so sehr liebt, sind Militäruniformen. Frauenkleider hingegen mag er sehr und Briefe – Briefe aller Arten.

Bartolo ist Arzt, Anwalt, Angestellter – was gerade benötigt wird. Und vor allem ist er seit dieser Sache in Sevilla Figaros Feind. Wie gut, dass Marcellina jetzt einen Schuldschein gegen Figaro in der Hand hat.

Don Curzio nimmt Marcellinas Schuldschein in seiner Eigenschaft als Richter genau unter die Lupe und – wird im Sinne der Gläubigerin entscheiden.

Barbarina ist die Tochter des Gärtners Antonio, der wiederum der Onkel von Susanna ist. Barbarina ist Cherubino gegenüber sehr loyal, verliert aber leider manchmal entscheidende Gegenstände, was einerseits zu Verwirrung, andererseits zu einer hübschen kleinen Arie führt.

Antonio liebt seinen Garten. Wenn jemand – beispielsweise durch einen Sprung vom Balkon – seine Blumen zertritt, muss er den Schuldigen ausfindig machen.

Basilio ist Musiklehrer. Es braucht immer einen Musiklehrer in einer solchen Oper. Schon in Sevilla unterrichtete er Rosina, die jetzige Gräfin Almaviva.

Landleute Man darf nie vergessen, dass es außerhalb des kleinen Kosmos, den das gräfliche Paar und ihre Angestellten bewohnen, noch mehr Menschen gibt. Menschen, die Figaro bisweilen für seine Zwecke instrumentalisiert und die ein deutlich hörbares Auftreten haben, um ihrem – oder Figaros – Ansinnen entsprechenden Nachdruck zu verleihen.

Gräfin Almaviva unterscheidet sich von allen anderen – musikalisch wie menschlich. Man könnte meinen, sie sei die einzige Erwachsene, aber täte man ihr da nicht Unrecht? Denn auch sie ist eine junge liebende Frau. Doch sie weiß, was Leid bedeutet und kann es auch ausdrücken.

„Opern und Vorabendserien erhöhen Ihre Intrigenkompetenz.“

Von bereitwilligen Bienchen und betrügerischen Blümchen

Was lebt, muss sich vermehren. Dazu braucht es ein zweites Lebewesen. Also muss das erste zum zweiten gelangen oder Mittel finden, die Kopulation über größere Distanzen hin zu vollziehen. Es muss unter Umständen einen Go-between einsetzen. Der macht das nicht freiwillig; denn nichts, was lebt, ist von Natur aus hilfreich. Kuppeldienste werden nur geleistet im Gefolge einer Verlockung, einer Bestechung, einer Falle, einer List. …

Die Schöpfung lügt. Wohin man blickt, ist Täuschung. Selbst so gutmütige Geschöpfe wie die Erdbeere und die Sonnenblume geben etwas vor, was sie nicht sind. Die Erdbeere tut, als wäre sie eine einzige Frucht, die Sonnenblume, als wäre sie eine einzige Blüte. Denn nur so werden die Go-betweens, die für die Fortpflanzung sorgen müssen, auf die beiden überhaupt aufmerksam. Wie bei den Menschen erscheinen Lüge, List und Täuschung in der Natur auf zweifache Weise, bald als Simulation, bald als Dissimulation. Die Simulation spiegelt etwas vor, was nicht der

Fall ist. … Die Dissimulation wiederum spielt nichts vor, sondern verbirgt und verheimlicht die wahre Beschaffenheit. Sie entzieht so das mögliche Opfer den gierigen Blicken …

Die unabsehbaren Simulations- und Dissimulationsmanöver alles Lebendigen, vom harmlosen Bluff der Sonnenblume bis zur erlesenen Tücke des Ameisenlöwen, sind Ergebnisse der Evolution, nicht gewollt also, nicht beabsichtigt, sondern eines Tages durch Mutation und Selektion entstanden und durch erhöhte Überlebenschancen erhalten, ohne Absicht. Die ganze Tirade über die lügende Schöpfung ist also eine einzige naive Projektion menschlicher Kategorien auf die Natur. So weiß und sagt es die Naturwissenschaft, seit Darwin die Lehre von der Unveränderlichkeit der Geschöpfe widerlegt und die langsame Evolution an die Stelle der plötzlichen Kreation gesetzt hat. Dennoch wird das Monopol der Lüge seit alters dem Menschen zugesprochen …

So simuliert in der Menschenwelt der Hochstapler den reichen Mann, mit al-

len Zeichen der Vornehmheit und der begüterten Lebensführung. So dissimuliert der Spion oder der „schlafende“ Terrorist seine wahre Beschaffenheit, indem er unauffällig und freundlich unter freundlichen Nachbarn lebt, bis seine Stunde kommt.

Schließlich gehören auch wir zu dieser Welt des Lebendigen, zur Natur, die gekennzeichnet ist durch Lüge, Täuschung und tödliche Hinterlist.

In dem Maße, in dem der Satz: „Die Schöpfung lügt“ Geltung hat, in dem Maße müssen auch wir an der biologisch gesteuerten Hinterlist partizipieren. Vielleicht nährt sich die dunkle

Bezauberung, die seit jeher von der planvollen Täuschung, der souverän geführten Intrige ausgeht, aus unserem angeborenen Anteil an der universalen Fallenstellerei. Vielleicht sind die Erzählungen der Naturwissenschaftler, die uns von den Strategien der Tiere und Pflanzen berichten, auch auf biologischer Ebene verwandt mit den Geschichten der Dichter und Dichterinnen aller Zeiten, die uns von den Täuschungsmanövern bald böser und bald guter, bald verliebter und bald machtgieriger, bald verfolgender und bald verfolgter Leute berichten.

Peter von Matt

„Mein Ziel ist es, die Armen reich und die Reichen arm aussehen zu lassen.“

Tür auf, Tür zu –

Figaro kommt auf die Bühne

Es ist eine der leichtesten und zugleich schwersten Aufgaben, die „Hochzeit des Figaro“ zu inszenieren. Leicht ist es, weil Mozarts und da Pontes Gespür für Worte und Musik, für Situationen und Proportionen dem Werk so eine Selbstverständlichkeit verleihen – keine Note, kein Satz ist hier verschenkt, alles passt zusammen, ist genau durchdacht und gleichzeitig doch unterhaltsam – ein genialer Wurf. Und schwer, weil dieser Geniestreich zweien gelungen ist, die es verstehen, einem ganzen Gesangsensemble gleichermaßen gerecht zu werden, eine äußerst verwickelte Handlung zu erzählen und dabei in Musik und Sprache die Extreme zwischen rasendem Irrsinn und tiefgründiger Lyrik auszuloten. All dies legen Mozart und da Ponte in einer ausladenden Oper vor, die nun auf die Bühne gebracht werden muss. Verhandelt werden die Schicksale von nicht weniger als elf Protagonist*innen. Alle haben eine Vorgeschichte, werden ein Nachleben haben und alles scheint in einem einzigen Ereignis zu kulminieren, der Hochzeit von Susanna und Figaro, die allerdings

immer wieder aus dem Zentrum der Betrachtung rutscht und mehrfach verschoben wird. Gut, dass sie wenigstens zentraler Bestandteil des Titels ist, denn eigentlich geht es hier weniger um eine Heirat, sondern um die Irrungen und Wirrungen einer Reihe von mehr oder minder exzentrischen Persönlichkeiten, die einen tollen Tag lang versuchen, sich im Beziehungsdickicht einer Palastgemeinschaft zurechtzufinden.

Hier wird durchaus Wert gelegt auf den äußeren Anschein, die Fassade. Kleidung spielt eine wichtige Rolle. Man ist, was man trägt – wechselt man die Kleidung, schlüpft man in eine andere Haut. So verleiht die Kleidung einem beides: Sicherheit und Selbstbewusstsein einerseits, aber auch so viele Scheinidentitäten, wie die Kleiderstange eben hergibt. Die Verortung des eigenen Zimmers innerhalb des Schlosses korreliert mit der gesellschaftlichen Bedeutung der eigenen Person. Es macht einen Unterschied, ob man gräflich auf der „Tapetenseite“ der Wand lebt, oder sie von ihrer kulissenhaften Rückseite her wahrnimmt. Doch auch das hat seine Vorteile, führt es den Angestellten doch

immer vor Augen, wie fragwürdig der schöne Schein ist, wie sperrholzdünn die Grenze zwischen Herrschaft und Angestellten und wie schnell sie fallen und mit Füßen getreten werden kann. Auch die Behauptung von einzelnen Räumen oder Schicksalen, die sich voneinander abgrenzen ließen, erweist sich bei genauerer Betrachtung als unhaltbar. Was ist hier überhaupt noch sicher? Die flirrende Umgebung und das Hochglanzparkett, über das alle schliddern, liefert die Antwort: Nichts! In dieser Oper ruht niemand in sich selbst, hat keiner die Fäden ganz in der Hand. Nicht Figaro, der das gerne von sich behaupten würde, aber bei den überwiegend weiblichen Intrigen nicht mitkommt; auch nicht Susanna, die noch am ehesten den Überblick behält. Nicht die Gräfin, die zwar ihre Sehnsüchte kennt, aber nicht weiß, wie sie ihnen näherkommen kann. Auch Cherubino nicht, der, dauerliebestrunken weder weiß, wer er ist, noch was er tut. Und vor allem nicht der Graf, der glaubt, die Macht in Händen zu halten und am Ende die größte aller Abbitten leisten muss.

Was bleibt also? Wenig Sicherheit und viel Spaß, der daraus erwächst, sich in der Kulissenhaftigkeit des Daseins freier und schneller bewegen zu können als gewöhnlich. Hier wird keine Realität mit ernsten Konsequenzen behauptet, sondern eine Screwball-Komödie gespielt. Eins ergibt das andere, das Spiel wird immer temporeicher, verwickelter, irrsinniger und lauter, denn hier wird alles übertrieben: die großen Roben, die lauten Schuhe, das rasende Tempo, die dauernden Briefwechsel, die aberwitzigen Intrigen – bloß eins nicht: die Gefühlswelten. Wenn die Gräfin leidet, dürfen wir dem Gefühl und Mozarts Musik trauen, ebenso wie der Unsicherheit Cherubinos im Angesicht der Liebe, oder der ehrlich gemeinten Bitte des Grafen um Verzeihung, denn hier ist eben nicht alles Spiel und Spaß. Die ruhigen Momente des Innehaltens sind die Augenblicke größter Aufrichtigkeit in dieser Oper. Doch wie im richtigen Leben sind sie meist nur von kurzer Dauer – und dann beginnt das Spiel von neuem.

Impressum

Herausgeber: Theater Vorpommern GmbH

Stralsund – Greifswald – Putbus

Spielzeit 2024/25

Geschäftsführung: André Kretzschmar

Textnachweise:

Redaktion: Katja Pfeifer

Gestaltung: Öffentlichkeitsarbeit TVP

1. Auflage: 500

Druck: Flyeralarm www.theater-vorpommern.de

Soweit nicht anders bezeichnet, handelt es sich bei den Texten um Originalbeiträge von Katja Pfeifer für dieses Heft. Der Text von Peter Matt entstammt folgendem Buch: Matt, Peter von: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München 2008. Die Zitate auf den Umschlagseiten entstammen folgenden Werken: Turrini, Peter: Der tollste Tag (1972) frei nach Beaumarchais; in: Turrini-Lesebuch. Stücke, Pamphlete, Filme, Reaktionen etc. Ausgewählt und bearbeitet von Ulf Birbaumer. Wien, München Zürich 1978; Horvath, Ödön von: Figaro lässt sich scheiden. Berlin 2015.

Bildnachweise:

Die Fotos stammen von Peter van Heesen. Sie entstanden auf der Klavierhauptprobe am 29.4.2025.

Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und

Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.

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